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Full text of "Forschungen zur deutschen Theater-geschichte des Mittelalters und der Renaissance. Hrsg. mit unterstützung der Generalintendantur der Königlichen Schauspiele"

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1 

IM 


Lö.tr 


FORSCHUNGEN 

ZUR 

DEUTSCHEN  THEATERGESCHICHTE 

DES  MITTELALTERS  UND  DER  RENAISSANCE 

VON  / 

MAX  HERRMANN 


MIT  129  ABBILDUNGEN 


HERAUSGEGEBEN  MIT  UNTERSTÜTZUNG  DER  GENERALINTENDANTUR 
DER  KÖNIGLICHEN  SCHAUSPIELE 


r\ 


BERLIN 
WEIDMANNSCHE  BUCHHANDLUNG 
1914 


7)/ '■ 


// 


4 

i 


Vorwort. 


Manchem  Leser  mag  die  unten  folgende  Einleitung  dieses 
Buches  zu  anmaßend  erscheinen:  möge  er  sich  durch  das  hier 
im  Vorwort  gebotene  Bekenntnis  versöhnen  lassen,  daß  der  Ver- 
fasser sich  durchaus  bewußt  ist,  in  nicht  wenigen  Punkten  die 
Nachsicht  des  Lesers  sehr  in  Anspruch  nehmen  zu  müssen. 

Den  Forderungen  nämlich,  welche  die  hier  angewendeten  Metho- 
den an  die  Vielseitigkeit  des  Forschers  stellen,  ist  ein  Einzelner  kaum 
gewachsen.  Auf  einer  Reihe  nicht  eben  gleichartiger  Gebiete  der 
Kultur  und  der  Kunst  müßte  er  völlig  zu  Hause  sein;  ganz  beson- 
ders verlangt  die  Notwendigkeit,  vergleichende  Künstegeschichte 
zu  treiben,  eine  gründliche  Schulung  auf  dem  Gebiete  der  Bild- 
kunst, und  ich  weiß  nicht,  ob  der  Fachmann  hier  mit  dem  rrach- 
ti-äglich  Erworbenen  immer  einverstanden  sein  wird,  auch  wenn  er 
im  Auge  behält,  daß  die  Auseinandersetzungen  des  Buches  eigent- 
lich nirgends  mit  dem  Anspruch  auftreten,  die  Bildkunstgeschichte 
selbst  zu  fördern.  Aber  auch  auf  dem  Felde  der  Literaturgeschichte 
wird  durch  die  unabweisbare  Forderung,  über  die  Grenzen  des 
Nationalen  hinauszublicken,  eine  Fülle  der  Kenntnisse  vorausgesetzt, 
die  vielleicht  nur  W.  Creizenachs  von  mir  immer  wieder  neu  be- 
staunte Allbelesenheit  besitzt,  und  es  ist  mir  fraglich,  ob  mein 
instinktives  Bemühen,  die  fremdnationalen  Leistungen  möglichst 
auszuschalten  und  neben  dem  Deutschen  zunächst  nur  das  Inter- 
nationale zu  berücksichtigen,  überall  das  Richtige  getroffen  hat. 
Endlich  mag  im  zweiten  Teil  auch  die  Heranziehung  des  Materials 
Lücken  aufweisen:  es  ist  mir  nicht  gegeben  gewesen,  durch  syste- 
matisch vorgenommene  Forschungsreisen  eine  wirkliche  Vollständig- 
keit herbeizuführen. 

Eine  Anzahl  anderer  Mängel  hängt  mit  der  zeitlichen  Ent- 
stehung des  Buches  zusammen.  Seine  Anfänge  reichen  in  das  Jahr 
1901  zurück;  im  Jahre  1909  war  es  zum  größten  Teil,  aber  eben 
doch  noch  nicht  ganz  vollendet,  und  eben  in  diesem  Jahre  sah 
ich  mich  genötigt,  zu  meiner  ausgebreiteten  akademischen  Tätigkeit 
auch  noch  die  Schriftleitung  der  „Gesellschaft  für  deutsche  Er- 
ziehungs-  und  Schulgeschichte"  zu  übernehmen.  So  beschloß  icii. 
mich  selbst  zum  Abschluß  des  Buches  zu  zwingen,  indem  ich  die 
Drucklegung  alsbald  beginnen  ließ.  Das  Nebeneinanderhergehen 
des  Druckes  und  der  Arbeit  am  Manuskript  hat  nun  einige  Wider- 
sprüche der  Darstellung  herbeigeführt,  auf  die  am  Schluß  des 
Buches,    S.   525  ff.,    besonders    aufmerksam    gemacht    ist;    an    der 


YJ  Vorwort. 

gleichen  Stelle  sind  auch  literarische  Nachträge  notiert,  die  eben- 
falls durch  jene  lange  währende  Entstehung  notwendig  gemacht 
wurden.  Vor  allem  aber  hätte  ich,  wenn  die  Drucklegung  des 
Ganzen  auf  den  Abschluß  des  Manuskripts  hätte  warten  dürfen, 
die  umfangreichen  Auseinandersetzungen  über  die  mittelalterliche 
Schauspielkunst,  die  ursprünglich  nur  als  eine  Hilfs-  und  Neben- 
untersuchung gedacht  waren,  wie  das  Buch  so  manche  enthält,  die 
sich  dann  aber  während  des  Druckes  zu  selbständigem  Leben  aus- 
wuchsen, in  eine  besondere  Abteilung  verwiesen,  während  sie  jetzt 
den  Fluß  der  Gesamtdarstellung  empfindlich  unterbrechen.  In  dem 
unten  folgenden  Inhaltsverzeichnis  sind  diese  Erörterungen  durch 
besonderen  Druck  ebenso  wie  ein  gleichfalls  etwas  zu  lang  geratener 
Einschub  des  zweiten  Teils  als  eigentlich  selbständige  Abschnitte 
gekennzeichnet.  Dagegen  mußte,  da  durch  jene  Erweiterung  der 
Umfang  des  Buches  schon  stark  angeschwollen  war,  ein  ursprüng- 
lich geplanter,  S.  15  Anm.  4  auch  bereits  erwähnter  Anhang  un- 
gedruckt bleiben :  das  Ergebnis  einer  Kollation  der  Hans  Sachsischen 
Handschriften  mit  dem  gedruckten  Text  in  bezug  auf  die  szenischen 
Bemerkungen,  deren  Varianten  in  Goetzes  sonst  so  vortrefflicher 
Hans-Sachs-Ausgabe  gar  nicht  oder  nur  in  sehr  willkürlicher  Aus- 
wahl mitgeteilt  werden.  Ich  werde  meine  Zusammenstellungen  der 
Handschriftenabteilung  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek  über- 
geben, wo  sie  dem  Forscher  ohne  weiteres  zur  Verfügung  stehen 
sollen. 

Für  die  Ermöglichung  jenes  Verfahrens  der  vorzeitigen  Druck- 
legung, ohne  die  das  Buch  vermutlich  auch  heut  noch  unvollendet 
sein  würde,  bin  ich  der  Weidmannschen  Buchhandlung  zu  besonders 
tief  gefühltem  Dank  verpflichtet :  sie  hat  mit  dem  ihr  so  oft  nach- 
gerühmten Verständnis  für  die  Schwierigkeiten,  unter  denen  wissen- 
schaftliche Arbeit  mitunter  zustande  kommt,  aller  Verzögerung 
gegenüber  unerschütterliche  Geduld  bekundet.  Mein  ergebenster 
Dank  gebührt  ferner  dem  Generalintendanten  der  Königlichen  Schau- 
spiele zu  Berlin,  Seiner  Exzellenz  dem  Herrn  Grafen  von  Hülsen- 
Haeseler,  der  sein  lebhaftes  Interesse  für  die  junge  Theater- 
wissenschaft zu  Gunsten  des  vorliegenden  Buches  bekundete:  zur 
Herstellung  der  unentbehrlichen  Illustrationen  überwies  er  mir 
gütigst  die  von  Seiner  Majestät  dem  Kaiser  und  König  zur  Heraus- 
gabe eines  Werkes  über  die  Geschichte  des  deutschen  Theaters 
bewilligte  Summe  von  1  ()()()  Mark.  Ein  letzter,  ganz  besonders 
herzlicher  Dank  endlich  kann  hier  nicht  ausgesprochen  werden, 
weil  der,  dem  er  zukommt,  sich  seine  öffentliche  Bekundung  mit 
aller  Entschiedenheit  verbeten  hat. 

Berlin,  Weihnachten  1913. 

Max  Herrmann. 


Inhalt. 


Einleitung 


Seite 
1 


Erster  Teil: 

Das  Theater  der  Meistersinger  von  Nürnberg. 
Erstes  Kapitel:  Zuschauerraum  und  Bühne 11 

Die  Anlage  der  Bühne  S.  13.  —  Die  Nürnberger  ^Nlarthakirche  als  theatra- 
lischer Schauplatz  S.  14.  —  Nürnberger  Aufführungen  1527—1550  S.  14.  — 
Die  Marthakirche  einst  und  jetzt  S.  16.  —  Inneres  der  Kirche  S.  18.  —  Das 
Predigerkloster  als  Aufführungsort  S.  20.  —  Der  Altarraum  der  Marthakirche 
als  Bühnenraum  S.  21.  —  Podium  und  Abschlußvorhang  S.  23.  —  Hans 
Sachsens  Drama.  Personenzahl.  Raum  hinter  der  Bühne  S.  23.  —  Auf-  und 
Abgänge ,  Richtungen  des  Auftretens  und  Abgehens  S.  24.  —  Terminologie 
der  szenischen  Bemerkungen  S.  28.  —  „Eingehen"  und  „kommen"  S.  29.  — 
Das  Buch  des  Inspizienten  S.  35.  —  Die  Sakristei  S.  36.  —  Das  Podium 
S.  37.  —  Podium  und  Stufen  S.  38.  —  Zwei  Auftrittsorte  S.  38.  —  Auftrittsort 
kämpfender  Heere  S.  39.  —  Stellung  des  Ehrnholts  S.  40.  —  Abgehen  aller 
Personen  am  Schluß.  —  Kanzel  und  Chorstuhl  S.  43.  —  Das  Sitzen  auf  dem 
Theater  S.  45.  —  Nochmals  die  Terminologie  der  szenischen  Bemerkungen 
S.  49.  —  Unregelmäßigkeiten  S.  50.  —  Der  dritte  Bühnenaufgang  S.  50.  — 
Sakristei  und  Bühne  S.  53.  —  Die  zweite  Sakristeitür  als  Höhle,  Ofen,  Grab, 
Fluß  S.  54.  —  Die  ganze  Bühne  S.  55. 
Zweites  Kapitel:  Dekorationen,  Requisiten,  Kostüme 57 

Dekorationen  S.  57.  —  Theatervorhang?  S.  57.  —  Abtragen  der  Toten 
S.  58.  —  Die  Raumverhältnisse.  Möglichkeit  einer  Hinterdekoration  S.  60.  — 
Dekorationsmaterial.  Teppiche  S.  61.  —  Dekorationsmalerei  für  Festlichkeiten 
S.  62.  —  Theaterdekorationen  in  Italien  und  Deutschland  S.  64.  —  Die 
Phantasie  des  Publikums  in  bezug  auf  die  Vorstellung  der  Landschaft,  be- 
obachtet an  Holzschnitten  und  Volksliedern  S.  66.  —  Hans  Sachsens  Phan- 
tasie S.  67.  —  Dekorationsforderungen  der  szenischen  Bemerkungen  S.  68.  — 
Die  Tür  als  Requisit  S.  69.  —  Dialog  und  Phantasie  S.  73.  —  Innenraum 
und  Landschaft  S.  75.  —  Requisiten  S.  78.  —  Die  Materialfrage  S.  79.  — 
Holzschnitzerei  und  Wachsplastik  S.  82.  —  Köpfe  und  Götterbilder  S.  82.  — 
Tiere  auf  der  Bühne  S.  84.  —  Kinder  auf  der  Bühne  S.  86.  —  Das  Schiff 
S.  87.  —  Feuerwerk  S.  90.  —  Lokal-  und  Personalfrage.  Herbeischaffung 
der  Requisiten  S.  91.  —  Aufbewahrungsraum  S.  92.  -  Wegschaffung  der 
Requisiten    S.  97.    —    Abtragen    der    Toten    S.  98.    —    Keine    Theaterdiener 

S    101.   Kostüme    S.  102.   —   Kostüme   in   Hans   Sachsens   Erzählungen 

S.  103.   —    Interesse   der   Zeit   für    die   Tracht    S.  104.  —  Einzelne   Trachten-       y 
bilder    seit   dem   Ausgang   des   15.  Jh.   S.  105.  —  Handschriftliche  Trachten-    ^ 
bücher  höfischen  und  bürgerlichen  Ursprungs  S.  106.  —  Ethnologische  Inter- 


VIII  Inhalt. 

Seite 
essen  S.  107.  —  Spanische  Trachtenbilder  augsburgischen  Ursprungs  S.  108.  — 
Trachteninteresse  in  Nürnberg.  Sigismund  Heldts  Trachtenbuch  S  111.  — 
Trachten  in  der  Bücherillustration  S.  114.  —  Theaterkostüm  im  Mittelalter 
S.  114.  —  Kostüm  des  geistlichen  Theaters  im  16.  Jh.  S.  117.  —  Das  Theater- 
kostüm des  16.  Jh.  und  das  neue  Interesse  an  der  Tracht  S.  118.  —  Theater- 
kostüni  bei  der  Aufführung  weltlicher  Dramen  S.  119.  —  Hans  Sachsens 
Theaterkostüme:  Tradition  und  Neuerungsspuren  S.  120.  —  Ausländische 
Tracht.  Götter  und  Heroen  S.  121.  —  Das  typische  Attribut  als  Kostümmittel 
S.  122.  —  Naive  Benutzung  des  Zeitkostüms;  Mangel  an  Phantasie  S.  124.  ~ 
Stoff  und  Farbe  S.  126.  —  Wiederbelebung  Hans  Sachsischer  Bühnentrachtea 
S.  128.  —  Kostümliche  Betrachtung:  der  Drache  S.  130.  —  Umkleidung  und 
Unterkleidung  S.  131.  —   „Rüstung"  der  „Stulticia"  S.  133. 

Drittes  Kapitel:  Die  Schauspielkunst 137 

Terminologischer  Sinn  der  szenischen  Bemerkungen.  Zwei  schauspielerische 
Stile:  Drama  und  Fastnachtspiel  S.  137.  —  Vollständigkeit  der  szenischen 
Bemerkungen  S.  139.  —  Meistersängerische  Schauspielkunst.  Verzicht  auf 
Individualisierung  S.  141.  —  Die  Rollen  des  Schmidtlein  S.  142.  —  Gründe 
für  die  Rollenzuteilung  S.  145.  —  „Gestus"  und  Aktion  S.  146.  —  Die 
Aktion  auf  Hans  Sachsens  Bühne  S.  147.  —  Kämpfe  auf  der  Bühne. 
Vorbild  des  Turniers  S.  148.  —  Pathetische  Pose  S.  151.  —  Darstellung 
rein  körperlicher  Erlebnisse  S.  152.  —  Sterben,  Schlafen,  Kranksein 
im  ernsten  Drama  S.  152.  —  Körperliches  im  Fastnachtspiel  S.  156.  —  Körper- 
liches in  Hans  Sachsens  epischer  Dichtung  S.  157.  —  Körperliches  auf  dem 
mittelalterlichen  Theater  S.  159.  —  Das  seelische  Erleben:  die  Inhalte 
der  Darstellung.  Gruß.  Leben  der  Sinne  S.  161.  —  Gefühlsleben.  Mehr 
Lust  als  Unlust.  Mehr  Zuneigung  als  Abneigung  S.  162.  —  Lyrisch-pathe- 
tischer Stil  im  ernsten  Drama  S.  163.  —  Die  psychischen  Inhalte  der  Dar- 
stellung auf  dem  mittelalterlichen  Theater  S.  163.  —  Dramentexte  des  Mittel- 
alters als  Untersuchungsmaterial  S.  164.  —  Besonderheiten  der  mittelalterlichen 
Schauspielkunst  S.  165.  —  Ihre  seelischen  Inhalte  S.  166.  —  Die  Mittel 
der  Darstellung  in  der  nürnbergischen  Schauspielkunst.  Akustisches. 
Weinen,  Seufzen  S.  167.  —  Lachen,  Schreien  S.  168.  —  Gefühlsmäßige 
Färbung  des  Vortrags  im  ernsten  Drama  und  im  Fastnachtspiel  S.  169.  — 
Gefühlsmäßige  Färbung  im  mittelalterlichen  Schauspiel  S.  172.  —  Stärke  der 
Stimme  auf  dem  mittelalterlichen  Schauplatz  S.  173.  —  Körperhaltung  bei 
Gefühlserregungen  auf  Hans  Sachsens  Bühne  S.  174.  —  Schauspielerische 
Autosuggestion  im  Mittelalter  und  im  16.  Jahrhundert. 

Die  mittelalterliche  Schauspielkunst  in  Deutschland^)  .,  .    .    .    .     176 

Orundcharakter:  Sparsamkeit  und  Einförniigkeit  der  Gesten  S.  J76.  —  Gesten 
der  biblischen  Vorlage  S.  176.  —  Das  mittelalterliche  Theater:  labile  und 
stabile  Gesten   S.  177.  —    Reichtum   der  Gesten    in   andern   Künsten  S.  17S. 

Die  Gesten  des  weltlichen  Epos  in  Deutschland 178 

Allgemeines  S.  179.  —  Der  Gebärdenstil  der  vorritterlichen  weltlichen  Er- 
zählung S.  181.  —  Der  Gebärdenstil  der  kla.ssischen  Epik  S.  185.  —  Mimik 
und  Gestik  in  den  Nibelungen  und  der  Kudrun  S.  194.  —  Der  nach  klassische 
und  spielmännisclw.  Gebärdenstil  S.  195.  —  Der  Gebärdenstil  der  allegorischen 
und  der  l)iirgertichen   E/>ik  S.  197. 

Schauspielkunst   und   Liturgie 201 

Schauspielkunst  und  Theologie  S.  201.  —  Schauspielkunst  und  Gottesdienst 
S.  202.  —  Die  Gesten  der  Liturgie  S.  202. 


1)  Zur  Ergänzung  vgl.  S.  15!)f.,  163ff.,  172f.,  175. 


Inhalt.  IX 

Seite 
Die  Gesten  der  neu  testnmentlichen  E rziihlunn  in  Den  iscli land    .     .     205 
Stärkere  Gebnndenlieit  als  im  weltlichen  Epos  S.  205.  —  Leichte  Lösnnffen 
und  ihre  Ermöglichung  S.205.  —  Umschwung  durch  die  Marienepik  S.207.  — 
Reste  der  alten  Gebundenheit  S.  209. 
Die  Gesten  in  der  geistlichen  Bildkunst  des  deutschen  Mittelalte rs     210 
Liturgische    und   dogmatische    Bindung   S.   210.    —    Auswahl   der   Szenen. 
Älteste  Reihe:  Perikopenkunst  S.211.  —  Zweite  Reihe:  Typologie  S.212.— 
Dritte  Reihe:  Vorwiegen  des  Historischen  S.  213.  —  Die  Frage  der  „stabilen 
Gesten"   S.  215.  —  Keine  stabilen    Gesten    in   der  Bildkunst  S.  216.  —  Die 
labilen  Gesten  S.217.  —  Bibel  und  Bildkunst  S.218.  —  Die  größere  Freiheit 
der   bildnerischen   Ausdrucksbewegungen   S.  218.  —  Die    Gebärde   der  karo- 
lingischen   und   ottonischen  Kunst  S.  220.  —  Die  Gebärde   der  romanischen 
Kunst  S.  224.  —  Die  Gebärde  der  gotischen  Plastik  S.  226.  —  Der  Gebärden- 
schatz der  romanischen   und  gotischen   Kunst  S.  228.  —  Die   Gebärde   der 
hochgotischen   Kunst  S.  231.  —   Der   Gebärdenschatz   des   14.    und  des    be- 
ginnenden 15.  Jahrhunderts  S.  232.  —  Die  Gebärdung  der  Realistengeneration 
der  Vorrenaissance  S.  234.  —  Die  Gebärde  der  Spätgotik  S.  236.  —  Völlige 
Verschiedenheit  der  Gestik  in  den  drei  Künsten  S.  240. 

Die  S chauspielkunst  des  ausgehenden  M ittelalters 241 

Umschwung  durch  die  Gestik  der  dramatischen  Marienklagen  S.  241.  — 
Pathetik,   Individualisierung,   Naturalismus   im  Donaueschinger  Spiel  S.  243. 

Die  Gebärdensprache  der  Meister singerbühne      .  244 

Mimik,  Gesamtkörper  S.  244.  —  Arme  und  Hände  S.  246.  —  Verwandtschaft 
mit  der  Gestik  des  mittelalterlichen  Theaters  S.  249.  —  Unterschiede  S.  250.  — 
Die  Gestik  in  Hans  Sachsens  erzählender  Dichtung  S.  251.  —  Epische  und 
theatralische  Gestik  bei  Hans  Sachs.  Die  Gebärdensprache  des  Fastnacht- 
spiels S.  253.  —  Epos  und  Theater:  einige  Ähnlichkeiten  in  den  Gebärden. 
Das  Zusammenschlagen  der  Hände  über  dem  Kopf  S.  254. 

Die  Schauspielkunst  des  Schultheaters 256 

Unmöglichkeit  einer  Wiederbelebung  der  römischen  Schauspielkunst  S.  256.  — 
Schauspielkunst  und  Rhetorik  S.  258.  —  Pronunciatio  und  actio  S.  259.  — 
Jodocus  Willich  S.  260.  —  Stimme,  Mimik  und  Gestik  S.  262.  —  Schul- 
theaterkunst  und  Meistersingerkunst  S.  265.  —  Selbständigkeit  der  Nürn- 
berger Theatergestik  S.  267. 

Die  Gestik  der  Bildkunst  im  Zeitalter  Dürers  S.  268.  —  Hans  Sachsens  Leistung: 
Systematisierung  und  Normalisierung  der  theatralischen  Tradition  S.  270. 

Zweiter  Teil: 

Dramenillustrationen  des  15.  und  16.  Jahrhunderts. 

Erstes  Kapitel:  Ziele  und  Wege 273 

Zweites  Kapitel:  Illustrationen  antiker  Dramen 27^ 

Vorherrschaft  der  Terenzillustrationen.  Die  Terenzbilder  der  ottonischen 
Renaissance  S.  277. 

Miniaturen      

Miniaturkunst  und  Altertumsbegeisterung.  Frühhumanistisches  Interesse  für 
Seneca  S.  279.  —  Ulustrierte  Senecahandschriften  S.  279.  —  DarsteUung  des 
„Hercules  furens".  N.  Treveth  und  die  Auffassung  des  antiken  Theaters 
S.  279.  —  Französische  Terenzillustrationen  S.  283.  —  Das  „Thealrum  Ro- 
manum"  im  „Terence  des  Ducs"  S.  284.  —  Die  Szenenbilder  S.  289.  — 
Terenzminiaturen  des  späteren  15.  .Jahrhunderts  S.  291. 


278 


^  Inhalt. 

Seite 

Der  Ulmer  „Eunuchus" - 292 

Zusammenhang  mit  den  alten  Miniaturen  S.  292.  -  Zusammenhang  mit 
gleichzeitigen  Terenzauft'ührungen  S.  294.  —  Die  Darstellung  des  Lokalen 
S.  298. 

DerLyonerTerenz 300 

Jodocus  Badius  S.  300.  —  Badius  und  die  Ferrareser  Aufführungen  S.  301.  — 
Badius'  Anteil  an  den  Holzschnitten  S,  302.  —  Zusammenhang  mit  den  alten 
Miniaturen  S.  303.  —  Badius'  Anschauungen  über  das  antike  Theater  S.  305.  — 
Hineinziehung  der  flandrischen  „abele  speien"  S.  307.  —  Einfluß  L.  B.  Albertis 
S.  310.  —  Das  Gesamtbild  des  Theaters  S.  312.  —  Die  Szenenbilder  S.  313.  — 
Podium  und  Szenenhäuschen  S.  314.  —  Der  Künstler  ein  Niederländer  S.  316. 

Der  Straßburger  Terenz        317 

Gesamteinrichtung  S.  318.  —  Das  Theatrum  S.  319.  —  Die  Straßburger 
Szenenbilder  und  die  Ulmer  und  Lyoner  Holzschnitte  S.  322.  —  Clichesystem 
S.  323.  —  Personen  S.  324.  —  Lokales  S.  325.  —  Gesamtbilder  zu  den  ein- 
zelnen Komödien  S.  326. 

DerBaselerTerenz  329 

Die  Dürerhypothese  S.  329.  —  Ihre  Gegner  S.  331.  —  Datierung  des  Baseler 
Terenz  S.  332.  —  Baseler  und  Straßburger  Terenz  S.  334.  —  Sebastian  Brant 
als  Berater  des  Baseler  Künstlers  S.  336.  —  Baseler  Terenz  und  Ulmer 
„Eunuchus"  S.  337.  —  Baseler  Terenz  und  Lyoner  Terenz  S.  340.  —  Die 
Baseler  Bilder  und  die  Terenzverdeutschung  von  1499  S.  343.  —  Jakob 
Locher  S.  343. 

Der  Venetianer  Terenz 346 

Abhängigkeit  S.  346.  —  Gesamttheaterdarstellung  S.  348.  —  Die  Szenenbilder 
S.  349. 

Holzschnitte  des  16.  Jahrhunderts 351 

Deutschland  S.  351.  —  Italien  S.  352.  —  Nachbildung  der  italienischen 
Terenzbilder  durch  das  wirkliche  Theater  S.  353.  —  Frankreich  S.  354. 

Theatergeschichtliche  Ergebnisse 3oo 

Zusammenfassung  S.  355.  —  Kostümfragen:  methodische  Grundlagen  für  eine 
wissenschaftliche  Kostümkunde  des  Mittelalters  S.  356.  —  Die  Gebärden  S.  360. 
—  Der  Ulmer  „Eunuchus"  und  das  Theater  S.  360.  —  Der  Straßburger  Terenz 
und  das  Theater  S.  362.  —  Der  Baseler  Terenz  und  das  Theater  S.  363.  — 
Der  Lyoner  Terenz  S.  364. 

Lebende  Bilder 364 

Holzschnitte  und  Zeichnungen  lebender  Bilder  S.  364.  —  Der  Brüsseler 
Einzug  v.  .1.  1490  S.  365.  —  Aufzüge  S.  367.  —  Schaugerüste  S.  368.  — 
Lebende  Bilder  und  dramatische  Aufführungen  S.  369.  —  Die  Personagia 
und  die  Rederijkers  S.  374.  —  Rederijkers  und  Lukasgilden  S.  376.  —  Die 
Brügger  Personagia  v.  ./.  1515  S.  379.  —  Literarische  Erklärung  der  Brüsseler 
Bilder:  die  Stoff  kreise  S.  381.  —  Die  Stoff  kreise  der  lebenden  Bilder  und  des 
Dramas  S.  385.  —  Verhältnis  der  lebenden  Bilder  zur  Malerei  S.  388.  —  Die 
Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  der  Gemälde  S.  388.  -  Bildkünstlerische 
Formprinzipien  bei  den  lebenden  Bildern  S.  394.  —  Theatergeschichtliclie 
Bedeutung  der  lebenden  Bilder  S.  396.  —  Bühnengerüst  und  Dekoration 
S.  397.  —  Requisiten,  Beleuchtung  S.  400.  —  Kostüme  S.  401. 
Kostüme  des  Lyoner  Terenz  S.  406.  —  Gebärden  auf  den  lebenden  Bildern 
S.  409.  —  Gebärden  im  Lyon<M-  Terenz  S.  409. 

Drittes  Kapitel:  Illustrationen  zu  schweizerischen  Dramen      .     .     .    412 

Gerold  Edlibach 


412 


Inhalt.  XI 

Seite 
Die   Bildkunst    in   Zürich   S.  412.    —   Gerold   Edlibach    S.  413.  '—   Edlit)achs 
Zeichnun<j    des   Zehnalferspiels  S.  415.  —  Edlit)achs  Zeichnung   zu  ßrunners 
Fastnachtspiel  S.  418. 

Pamphilus  Gengenbach 419 

Der  Baseler  Holzschnitt  und  die  Gengenbachsche  Druckerei  S  419.  —  Gengen- 
bachs Spiel  von  den  zehn  Altern:  Entstehungszeit  S.  421.  —  Die  Holzschnitte 
zum  Zehnalterspiel  S.  422.  —  Die  Tradition  der  Zehnalterillustrationen  S.  425. 

-  Theatersinn  der  Bilder:  Lokales  S.  427.  —  Die  Attribute  der  Darsteller 
S.  430.  —  Maske  S.  432.  —  Kostüme  und  Gesten  S.  433.  -  Der  „Nollhart" 
imd  die  Holzschnitte  des  Ambrosius  Holbein  S.  434.  —  Die  Nollharlholz- 
schnitte  im  bildkünstlerischen  Zusammenhang  S.  436.  —  Die  Darstellung  der 
Sibylla  S.  437.  —  Die  „Gouchmat" :  Entstehungszeit  S.  439.  —  Die  Bilder  der 
„Gouchmat"  und  ihr  Ursprung  S  440. 

Niklas  Manuel 444 

„Des  Papst  und  Christi  Gegensatz":  Spiel  und  Zeichnung  S  444.  —  Manuels 
Zeichnung  und  die  bildkünstlerische  Tradition  S.  448.  —  Manuels  Ablaßkrämer 
S.  450.  —  Ursprünglich  Theaterstück,  später  Dialog  S.  452.  —  Die  Zeichnung 
zum  un theatralischen  Dialog  gehörig  S.  453. 

Augustin  Frieß  und  Jakob  Ruof 454 

Buchausstattung  und  Theater  in  Zürich  S.  454.  —  Erste  Periode  der  Dramen- 
ausstattung bei  A.  Frieß  S.  455.  —  Zweite  Periode:  Nachahmung  des  Straß- 
burger Druckers  Frölich  S.  457.  —  Dritte  und  vierte  Periode:  S.  459.  — 
Theatergeschichtlich  wichtig  nur  die  dritte  Periode  S.  460.  —  Augustin  Frieß 
und  Jakob  Ruof  S.  461.  —  Ruofs  Tellspiel:  die  Aufführung  und  die  Holz- 
schnitte S.  462.  —  Ruofs  Jobdrama:  die  Aufführung  und  die  Holzschnitte 
S.  464.  —  Bilder  zu  Ruofs  Passionsspiel  und  Bircks  Susanna  S.  466.  —  Die 
Kostüme  der  Ruof-Frießschen  Holzschnitte  S.  468..  —  Die  Heroldsbilder  und 
ihr  theatergeschichtlicher  Wert  S.  471.  —  Herold  und  Actor  S.  473.  —  Die 
Zeichnungen  zu  Ruofs  Weingartenspiel  S.  474,  —  Die  Entstehungsgeschichte 
der  Handschrift  S.  475.  —  Untheatralische  Elemente  der  Zeichnungen  S.  477. 

—  Theatralisches:  die  Hölle  S.  478.  —  Nichttheatralischer  Charakter  der  Dar- 
stellungen des  Weingartens  S.  480.  —  Die  Kostüme  S.  482.  —  Die  Herolde 
S.  483.  —  Geistliche  Verkleidung  S.  485.  —  Propheten  und  Apostel  S.  487.  — 
Die  Engel  S.  489.  —  Die  Teufelsbilder  S.  492.  —  Teufel  auf  dem  Theater 
S.  495.  —  Teufelstrachten  und  Teufelsmasken  S.  496.  —  Schweizerische  und 
elsässische  Dramenillustrationen  S.  500. 

Schlußwort:    Die   theatergeschichtlichen  Gesamtergebnisse   und   ihr 

geistiger  Sinn 501 

Berichtigungen  und  Nachträge 525 

Namen-  und  Sachregister 527 


Verzeichnis  der  Abbildungen. 

^  Seite 

Abb.     1.  St.  Marthakirche  zu  Nürnberg  (nach  einer  Abbildung  des  18.  Jh.)    ...  17 

2.  Grundriß  der  Marthakirche  zu  Nürnberg 19 

3.  Grundriß  des  Remters  im  Nürnberger  Predigerkloster 20 

4.  Chorraum  der  Nürnberger  Marthakirche 22 

5.  Grundriß  der  Meistersingerbühne  in  der  Marthakirche 56 

6.  Nürnberger  Musikanten.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  164 102 

7.  Zwei  Türken.     Aus  Cod.  Heldt,  toi.  316 111 

8.  Jakobsbruder.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  43 113 

9.  Vornehmer  Spanier.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  392  b 122 

10.  Briefbote.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  451b 128 

11.  Aussätziger.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  44 124 

12.  Nürnberger  Fußturniei".     Aus  Cod.  Heldt  fol.  95 125 

„      13.  Hofmann.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  44  b 127 

„      14.  Narr.     Aus  Cod.  Heldt  fol.   168 129 

15.  Nürnberger  Herold.     Aus  J.  Heros,  Der  indische  Pilgerer  (1562)      .     .     .  134 

,,      17.  Darstellung  des  „Hercules  furens"  im  Cod.  Lat.  Urbin.  355 281 

„      18.  Theatrum  Romanum  im  Cod.  Lat.  Ars.  664 285 

„      19.  Terentius,  Andria  I,  5    im  Cod.  Ars.  664,  links  v.  240  ff.,  rechts  v.  267  ff.  288 

.,      20.  Terentius,  Eunuchus  11,  2  im  Cod.  Ars.  664,  links  v.  270  ff.,  rechts  v.  283  289 

.,      21.  Terentius,  Eunuchus  1,  1   im  Cod.  Ars.  1135 291 

„      22.  Ulmer  „Eunuchus"  IV,  4    (v.  669  ff.) 293 

„      23.  Ulmer  „Eunuchus"   I,  1 295 

„      24.  Ulmer  „Eunuchus"  II,  2  (V.  270  ff  ) 295 

„      25.  Ulmer  „Eunuchus"  II,  3  (v.  293  ff.) 296 

„      26.  Ulmer  „Eunuchus"  III,  1  (v.  398  ff.) 296 

„      27.  Ulmer  „Eunuchus"  IV,  5  (v.  739) 297 

,.      28.  Ulmer  „Eunuchus"  V,  5  (V.  975  ff.) 297 

„      29.  Ulmer  „Eunuchus"  V,  6  (v.  1002  ff.) • 298 

„      30.  Ulmer  „Eunuchus"  V,  8  (V.  104911) '. 298 

31.  Lyoner  Terenz  :  Gesamtdarstellung  des  Theaters 304 

„      32.  Lyoner  Terenz:  Andria,  Prolog 305 

33.  Lyoner  Terenz:  Andria  I,  1 306 

„      34.  Lyoner  Terenz:  Andria  HL  1    (v.  453  ff.) 307 

„      35.  Lyoner  Terenz:  Andria  V  4  (904  fL) 308 

„      36.  Lyoner  Terenz:  Andria  V,  5  (v.  957 ff.) 309 

.,      37.  Lyoner  Terenz:  Eunuchus  II,  2  (v.  232  ff.) 310 

38.  Lyoner  Terenz:  Eunuchus  I,  1 311 

„      39.  Lyoner  Terenz:  Eunuchus  II,  3  (V.  293 fL;  303 ff.) 312 

„      40.  Lyoner  Terenz:  Eunuchus  V,  6  (v.  1002 ff.;   1006  11) 313 

„      41.     Straßburger  Terenz:  (jesamtdarstellung  des  Theaters 320 

42.     Straßburger  Terenz :  Andria,  Prolog 322 

,,      43.     Straßburger  Terenz:  Andria  1,1 323 

.,      44.     Straßburger  Terenz:  Eunuchus  II,  2  (V.  27011) 323 

„      45.     Straßijurger  Terenz:  Eunuchus  IV,  7  (v.  77 ff.) .     .  324 

,,      46.     Straßburger  Terenz:  Gesamtdarstellung  des  „Euiuicluis" 327 

47.     Baseler  Terenz:  (Jesamtbild  des  Theaters 333 

„      48.     Baseler  Terenz:  Der  Dichter 334 

„      49.     Baseler  Terenz:  Brants  Entwurf  zu  Andria  V,  4  (v.  90411) 335 

„      50.     Baseler  Terenz:  Andria  V,  4  (v.   90411) 336 

„      51.     Baseler  Ton-enz:  Andria  V,  5  (V.  957  ff.) 3:^8 

„      .52.     Baseler  Terenz:   Eunuchus  11,2  (v.  270  fL) 338 

,      .53.     Baseler  Terenz:  Eunuchus  111,  1   (v.  398  fL) 339 


Verzeicimis  der  Abbildungen.  vttt 

XIII 

Abb.  54.  Baseler  Terenz:  Eunuehus  IV,  3  (v   739  ff )  ''^'"'*^ 

„      55.  Baseler  Terenz:   EunuchusV;(Mv;i002ff.):Zwei.eAustührung     '           ^  IT, 

.,      6o.  Venetianer  Terenz:  Gesamttheaterdarstellung                                   «     ■     ■     .  d41 

„      57.  Venetianer  Terenz:  Andria  Ifl,  1   (v.  4.53  ff.)                ^'^' 

.,      58.  Venetianer  Terenz:  EunuchusI,  1 ^t^ 

.,      59.  Venetianer  Terenz:  Eunuchus  II,  2  (V.  232  ff.) !^'!^ 

„      60.  Brüsseler  Einzug:  der  histrio        .....          '^''1 

„      61.  Brüsseler  Einzug:  der  Narr  zu  Pferde ^^' 

„      62.  Brüsseler  Einzug:  maskierte  Musikanten       ^^^ 

.,      63.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  Judith  und  Holofernes '    '  tll 

„      64.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  Tobias  und  Sara                     ' 

,.      65.  Brüsseler  Lebende  Bilder:   Abimelech  dnr^h  .i,,..^  ^,^-.,..'..'...:.        ' 


««      „  ..      ,                                      Abimelech  durch  einen  Steinwurf  getötet  377 

66.     Brüsseler  Lebende  Bilder:   Salomos  Vermähluna                          ^                  '       l'' 
6/.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Rebeccas  Vermählt  "  


68.     Brüsseler  I.ehpnrio  Riiri^^.  i?„n .,  " '^^1 


Brüsseler  Lebende  Bilder:  Esther  vor  Ahasver 

an 


69.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Debora  feuert  die  Krieger  an IT- 

'0.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Siseras  Ermordung  durch  Jael ' 


i7.     P. 
!8.     P. 


Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Sechzigjähriaen 

Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Siebzigjährigen 

89.  P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Achtzigjährigen 

90.  P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Neunzigjährigen 


399 


n.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  der  Traum  des  Astva^e.                             '     '     '  ''' 

r2.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  das  Urteil  des  Paris                     Z 

'3.  Brüsseler  Lebende  Bilder:   „Sinopis"  

74.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  „tres  virgines'^ !!|!? 

75.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  „Domus  deliciae"                Zl 

76.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  Sankt  Lukas  malt  die  Madonna 

78'  b"^^"^''  Yl""^:  ^''''"'-   ""''  ^""^•^   ^'"'^  ^^'-»«   ™'t   ^«'nem  Hofstaat  401 

^8.  Brugger  Lebende  BUder:  Moses  bringt  die  Tafeln,    Louis  de  Nevers  .ib 
Brügge  Privilegien   ... 

''~'m^TuMr'"'"  Federzeichnungen  zu  dem  Spiel  von  den  zehn  Altern  ''' 

81.  Edlibachs  Federzeichnung  zu  Brunners  Fastnachtspiel    '     ' '^Vl« 

82  P-  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zehnjährigen  42'> 

83.  P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zwanzi^jähric 


82.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zehnjährigen 

Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zwanzigjährigen  4->3 

84.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Dreißigjährigen  424 

80.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Vierzig  ähri^en  .  .       4.5 

86.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Fünfzigjährigen  4^6 


427 

428 


429 
430 


438 


91.  P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Hundertjährigen      .       431 

92.  P.  Gengenbach.  Der  Nollhart:  Der  Bruder  mit  dem  König  vo, 

93.  P.  Gengenbach,  Der  Nollhart:  Papst  und  Sibylle  . 

94.  P.  Gengenbach,  Gouchmat:  Venus  mit  Cupido 

95.  u.  96.    P.  Gengenbach,  Gouchmat :  Der  .Jüngling  vor  und  nach  den 

97.  P.  Gengenbach,  Gouchmat:  Der  Mönch  mit  dem  Gouchvogel 

98.  N.  Älanuel,  Federzeichnung:  Des  Papst  und  Christi  Gegensatz  '       44.5 


99.  N.  Manuel,  Federzeichnung:  Der  Ablaßkramer  ,-. 

100.  J.  Ruof,  Teil  (Frieß).     Erstürmung   der  Burg  Sarnen           ,,, 

101.  J.  Ruof,  Teil  (Frieß).     Apfelschuß ^^l 

102.  J.  Stumpf,  Weltchronik  (Froschaueri.     Apfelschuß .^Ö 

103.  Tellenlied  (Frieß).     Apfelschuß [ 

104.  J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Satans  Gespräch  mit  Gott ,^1 

105.  J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Halle  der  Kinder  Jobs   .  46" 

106.  J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Job  in  seiner  Halle  beim  Schmaus 468 

10 <.  .L  Ruof,  Job  (Frieß).     Job  empfängt  die  schlimmen  Nachrichten     .     "     '  468 


^JY  Verzeichnis  der  Abbildungen. 

Seite 

Abb.  108  J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Job  von  Teufeln  gequält;  Job  und  sein  Weib    .     .  469 

109.  J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Job  und  seine  Freunde 470 

110.  J.  Ruof,  Teil  (Frieß).     Herold  und  Actor 471 

111.  J.  Ruof,  Teil  (Frieß).     Knabenherold,  Actor  und  Publikum 472 

112.  J.  Ruof,  Weingartenspiel,  Höllenrachen  zu  Akt  2  (Wyß  N.  9)     .     .     .     .  478 

113.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Höllenrachen  zu  Akt  4  (Wyß  N.  53)      ...  479 

114.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Titelzeichnung  (Wyß  N.  1) 480 

115.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Weingarten  zu  Akt  2  (Wyß   19) 481 

116.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Herold  und  Actor  im  Vorspiel  (Wyß  N.  o)  483 

117.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Herold  und  Actor  am  Ende  (Wyß  N.  75)  .     .  484 
„      119.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Herold  als  Epilog  (Wyß  76) 484 

119.  J.  Ruof,  Weingarten.spiel.     Vater  mit  drei  Propheten  (Wyß  N.  26)       .     .  487 

120.  J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Vater  mit  den  Aposteln  (Wyß  N.  62)      .     .     .  488 
„      121.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Engel  Raphael  (Wyß  N.  55) 489 

122.  J.  Ruof,  Weingarienspiel.     Teufelsbote  und  Luzifer  (Wyß  N.  lOj     .     .     .  493 

„      123.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Satan  (Wyß  N.  11) 493 

„      124.     J    Ruof,  Weingarienspiel.     Teufel  Bell  (Wyß  N  12) 494 

„      125.     J.  Ruof.  Weingarienspiel.     Teufel  Astaroth  (Wyß  N.  13) 494 

„      126  u    127.     Teufelskostüm  aus  Tirol  (Vorder-  und  Seitenansicht) 496 

128.  Teufelsmaske  aus  Sterzing,  Museum  Ferdinandeum  zu  Innsbruck    .     .     .  497 

129.  Teufelsmaske  aus  Oetz,   Museum  Ferdinandeum  zu  Innsbruck    ....  498 


Verzeichnis  bibliographischer  Abkürzungen  ^\ 

Abel  s.  S.  286,  Anm.  1. 

Baechtold  s.  S.  444,  Anm.  2.  Burckhardt  s.  S.  329,  Anm.  1.  Bolle  s.  S.  421, 
Anm.  1.     Burg  s.  S.  444,  Anm.  2.     Busscher  s.  S.  377,  Anm.  1. 

Cohen  s.  S.  525  (zu  S.  9).  Creizenach,  W.,  Geschichte  des  neueren  Dramas  I 
2.  Auflage.    Halle  1911  (I.Aull.   1893);    IL  Halle   1901.    HI.    Halle  1903.    IV.    Halle   1909. 

Doege  s.  S.  104,  Anm.  1. 

Engelhardt  s.  S.  278,  Anm.  1. 

Flechsig  s.  S.  295,  Anm.  1. 

Hammitzsch  s.  S.  8,  Anm.  1.  Hampe  s.  S.  14,  Anm  1.  Hartmann  s.  S.  203, 
Anm.  3.      Heinze  s.  S.  491,  Anm.  1.      Heinzel  s.  S.  83,  Anm.  1.     HS.  s.  S.  13,  Anm.  1. 

KG.  =  Hans  Sachs,  Werke,  herausgegeben  von  A.  v.  Keller  u.  E.  Goetze.  26  Bände 
Könnecke,  G.,  Bilderatlas  zur  Geschichte  der  deutschen  Naiionalliteratur.  2.  Aufl., 
Marburg  1895.     Kristeller  s.  S.  299,  Anm.  1. 

Lippmann  s.  S.  346,  Anm.  1.     Lommatzsch  s   S.  179,  Anm. 

Martin  s.  S.  284.     Michels  s.  S.  14,  Anm.  2. 

Petersen  s.  S.  185,  Anm.  1. 

Heuouard  s.  S.  300,  Anm.  3.  Röttinger  s.  S.  339,  Anm.  1.  Rondot  s.  S.  316 
Anm.  3. 

Schauspiele,  Schweizerische  s.  S.  461,  Anm.  1.  Schmidt,  Expeditus 
P.  S.  15,    Anm.  2.       Schultz,  Alwin  s.  S.  105,  Anm.  1.      Stornajolo  s.  S.  280,  Anm.  1 

Vögelin  s.  S.  445,  Anm.  3;  455,  Anm.  1. 

Weisbach  s.  S.  331,  Anm.  1.  Wölfflin  s.  S.  268,  Anm.  1.  Woltmann  s.  S.  435, 
Anm.  1.     Würfel  s.  S.  17,  Anm.  1.     Wyß  s.  S.  474,  Anm.  1   (zu  S.  461,  Anm.  1). 

Zacher  u.  Matthias  s.  S.  42.5,  Anm.  1.  Zappe rt  s.  S.  202.  Anm.  1.  Zemp 
s.  S.  413,  Anm.  1.     Zion,  N' ü  rnbergisches  s.S.  17,  Anm.  1. 

1)  Zeitschriften  werden  nach  dem  in  den  „Jahresl)orichteM  liir  (icschichtswissen. 
schalt"  und  den  „Jahresberichten  für  neuere  deutsche  Lilcraturgeschichte"  gebräuch- 
lichen Kürzungssystem  zitiert. 


Bibliotheken  und  andere  Sammlungen, 

deren  Bestände  benutzt  worden  sind. 

Basel,  Museum;    Universitätsbibliothek. 

Berlin,  Kgl.  Bibliothek;  Bibliothek  des  Kgl.  Kunstgewerbemuseums;  Lipperheidesche 
Kostümbibliothek');  Kgl.  Kupferstichkabinett. 

Bern,  Stadtbibliothek;  Universitätsbibliothek. 

Bonn,  Kgl.  Universitätsbibliothek. 

Breslau,  Stadtbibliothek. 

Darmstadt,  Großherzogliche  Hofbibliothek. 

Donaueschingen,  Fürstliche  Bibliothek. 

Dresden,  Kupferstichsammlung  König  Friedrich  Augusts  11. 

Einsiedeln,  Stiftsbibliothek. 

Erlangen,  Kgl.  Universitätsbibliothek. 

Frankfurt  a.  M.,  Stadtbibliothek. 

Innsbruck,  Museum  Ferdinanden m. 

München,  Kgl.  Hof-  und  Staatsbibliothek. 

Nürnberg,  Stadtbibliothek;  Germanisches  Nationalmuseum:  Pfarrarchiv  der  Martha- 
kirche; Stadtbauamt. 

Paris,  Bibliothek  des  Arsenals. 

Rom,  Vaticana. 

Sankt  Gallen,   Stadtbibliothek. 

Seebarn  bei  Korneuburg,  Gräflich  Wilczeksciie  Sanunlungen. 

Weimar,  Großherzogliche  Bibliothek. 

Wien,  K.  und  k.  Hofbibliothek. 

Zürich,  Stadtbibliothek;  Stadtarchiv. 


1)  Ihrem  Leiter,  Herrn  Direktorialassisteuten  Prof.  Dr.  Doege,    bin    ich  zu  besonderem  DaiiW 
verbunden. 


Einleitung. 


H  e  r  r  m  a  n  n ,   Theater. 


Die  Beschäftigung  mit  der  Theatergeschichte  hat  während  der 
letzten  Jahrzehnte  eine  bemerkenswerte  Steigerung  erfahren.  Wir 
haben  Forschungen,  die  sich  „theatergeschichthche"  nennen,  wir 
haben  eine  „Gesellschaft  für  Theatergeschichte ",  die  viele  Mitglieder 
zählt,  wir  hören  von  dem  Plane,  Theatermuseen  zu  begründen.  Solches 
theaterhistorische  Interesse  erklärt  sich  gewiß  in  erster  Reihe  aus 
der  großen  Neigung  unserer  Zeit  für  das  lebendige  Theater,  das 
heute  in  dem  ewigen,  nur  durch  wenige  wundersame  Vereinigungs- 
stunden unterbrochenen  Kampfe  zwischen  Drama  und  Theater  als 
Triumphator  erscheint,  ja  darüber  hinaus  aus  der  im  tiefsten  Sinne 
schauspielerischen  Natur  des  modernen  Menschen;  aber  das  so  aus 
dem  Tagesinteresse  Geborene  ist  es  wohl  wert,  zu  einem  dauernden 
Besitz  der  historischen  Wissenschaft  zu  führen.  Unter  den  verschiede- 
nen Zweigen  der  allgemeinen  Kulturgeschichte  nimmt  die  Geschichte 
der  Theaterspiele  eine  besonders  wichtige  Stelle  ein,  weil  die  Be- 
tätigung und  Entwicklung  der  Völkerseelen  hier  besonders  scharfe 
und  unmittelbare  Spiegelbilder  liefern;  sie  stellt  ferner  ein  eigen- 
artiges Gebiet  der  allgemeinen  Kunstgeschichte  dar,  das  freilich  den 
Gebieten  der  eigentlichen  Hochkünste,  der  Literatur-,  Musik-  und 
Bildkunstgeschichte  nicht  vollkommen  ebenbürtig  ist,  aber  doch 
eine  große  Reihe  bemerkenswerter  Kunstgebilde  in  geschichtliche 
Beleuchtung  rückt;  sie  liefert  endlich  Material,  ohne  dessen  Be- 
herrschung ein  Hauptteil  der  Literaturgeschichte :  die  Geschichte 
der  dramatischen  Dichtung  zum  vollen  Verständnis  nicht  gebracht 
werden  kann. 

Wir  haben  den  Wunsch  und  zwar  den  berechtigten  Wunsch, 
eine  theatergeschichtliche  Wissenschaft  zu  besitzen,  - —  wir  besitzen 
sie  aber  noch  ganz  und  gar  nicht.  Ja,  wir  wissen  noch  nicht  ein- 
mal die  Aufgaben  der  künftigen  Wissenschaft  gebührend  abzu- 
grenzen. Daß  in  theatergeschichtlichen  Festsitzungen  Vorträge  über 
die  dichterische  Bedeutung  eines  Schillerischen  Dramas  oder  über 
die  Tagebücher  eines  großen  österreichischen  Dramatikers  gehalten 
werden  konnten,  ist  ein  nur  allzudeutliches  Symptom  dafür,  daß 
man  auch  unter  den  Adepten  die  Geschichte  der  dramatischen 
Dichtung  und  die  Geschichte  des  Bühnenwesens  immer  noch  durch- 
einander wirft.  Das  Drama  als  dichterische  Schöpfung  geht  uns 
aber  in  der  Theatergeschichte  nichts  oder  nur  in  soweit  etwas  an, 

1* 


4  Einleitung. 

als  der  Dramatiker  bei  der  Abfassung  seines  Werkes  auch  auf  die 
Verhältnisse  der  Bühne  Rücksicht  nimmt,  und  insofern  also  das 
Drama  uns  einen  unbeabsichtigten  Abdruck  vergangener  Theaterver- 
hältnisse liefert ;  wir  betrachten  es  ferner  als  Bestandteil  des  Theater- 
spielplans und  als  Gegenstand  der  Bemühungen  nachgeborener  Büh- 
nenkünstler, es  ihren  veränderten  Theaterverhältnissen  zu  eigen  zu 
machen.  Das  spezifisch  Dichterische  aber  bleibt  für  uns  ganz 
außer  Betracht ;  das  völlig  unkünstlerische  'Theaterstück'  im  engeren 
Sinne  des  Wortes  ist  für  unsern  Gesichtspunkt  unter  Umständen 
wichtiger  als  das  größte  dramatische  Meisterwerk  der  Weltliteratur. 
Was  uns  eigentlich  angeht,  ist  nicht  zu  allen  Zeiten  dasselbe,  weil 
das  Urwesen  des  Theaters  in  den  verschiedenen  Kultursituationen 
sehr  verschiedenartige  Erscheinungsformen  zu  Tage  fördert  —  die 
wichtigsten  Einzelgebiete,  die  wir  zu  erhellen  haben,  sind :  das 
Theaterpublikum,  die  Bühne  mit  ihren  verschiedenartigen  Einrich- 
tungen, die  Schauspielkunst  und  endlich  die  künstlerische  Leitung 
der  Vorstellungen.  Alles  Faktoren  einer  nach  eigenen  Gesetzen 
lebenden  Eigenkunst  sozialen  Charakters,  die  zwar  neuerdings  im- 
mer wieder  Rücksicht  zu  nehmen  hat  auf  die  ihr  zugefallene  Auf- 
gabe, Schöpfungen  einer  anderen  Kunst:  der  dramatischen  Poesie 
zu  verlebendigen,  die  aber  ursprünglich  in  sich  vollkommen  frei 
ist  und  diese  Unabhängigkeit  und  Selbständigkeit  bis  auf  unsere 
Tage,  oft  sogar  mit  allzustarken  Ebenbürtigkeitsansprüchen,  immer 
wieder  betont.  Daß  wir  über  das  Wesen  dieser  Theaterkunst  in 
ästhetischer  Hinsicht  uns  noch  so  wenig  oder  garnicht  verständigt 
haben,  trägt  ebenfalls  dazu  bei,  die  Theatergeschichte  noch  unter 
der  Wissenschaftsstufe  zurückzuhalten :  haben  doch  auch  Literatur-, 
Bildkunst-  und  Musikgeschichte  einen  wissenschaftlichen  Charakter 
erst  angenommen,  seitdem  ihre  Vertreter  den  allgemeinen  Fragen 
des  künstlerischen  Schaffens  und  Wirkens  ihre  Aufmerksamkeit 
gewidmet  haben. 

Aber  auch  wo  die  theatergeschichtliche  Forschung  unter  Aus- 
schaltung des  Dramatischen  sich  im  besondern  den  Leistungen  zu- 
zuwenden bemüht,  die  ihr  wirklich  zukommen,  befindet  sie  sich  noch 
in  einem  vorwissenschaftlichen  Zustande;  es  ist  kein  Zufall,  daß 
auf  diesem  Gebiete  der  Wissenschaftler  sich  so  ruhig  mit  dem 
Dilettanten  verbündet:  denn  auch  die  allermeisten  Wissenschaftler 
sind  hier  über  den  Dilettantismus  noch  nicht  hinausgekommen. 
Wenn  man  uns  solcher  Erklärung  gegenüber  etwa  auf  eine  vielge- 
rühmte Schauspielerbiographie  als  auf  ein  vorzügliches  und  durch- 
aus wissenschaftliches  Werk  hinweist,  so  muß  betont  werden:  solche 
Epitheta  verdient  es  nur  in  biographischer  und  kulturgeschichtlicher 
Beziehung,  in  dem  Kern  seiner  Aufgabe  versagt  es  ganz:  niemand 
vermag  aus  ihm  ein  nur  einigermaßen  deutliches  Bild  von  der 
Kunst  seines  Helden  sich  zu  machen. 


Einleitung.  5 

Und  hier  liegt  das  Entscheidende.  Wir  begnügten  uns  meistens 
damit,  glücklich  aufgestöbertes  Material:  Aktennotizen,  Kritikerur- 
teile, Bilder  zusammenzufügen,  und  nannten  das  Ergebnis  Theater- 
geschichte, Ein  Zustand,  wie  er  einst  in  der  Literaturgeschichte 
herrschte,  als  sie  noch  Literärgeschichte  war.  Wer  möchte  es 
heut  noch  unternehmen,  Dichtungsgeschichte  zu  schreiben,  d.  h. 
die  Zusammenhänge  zwischen  den  einzelnen  Dichtwerken  der  Ver- 
gangenheit aufzuzeigen,  ohne  zuvor  diese  einzelnen  Leistungen 
selbst  dermaßen  aufgedeckt,  ergänzt,  beleuchtet  zu  haben,  daß  sie 
wie  in  unmittelbarer  Gegenwart  vor  dem  Auge  des  Betrachters 
stehen? 

Solche  speziell  philogogische  Grundleistung  hat  auch  die  thea- 
tergeschichtliche Wissenschaft  viel  schärfer  ins  Auge  zu  fassen 
und  durchzuführen,  ehe  sie  sich  an  die  Arbeit  der  historischen 
Verknüpfung  macht.  Zuerst  die  Zustände  und  dann  die  Abfolge! 
In  allererster  Reihe  gilt  es  sich  die  Aufgabe  zu  stellen,  durch 
kritische  Würdigung  des  gesammelten  Materials,  durch  eine  die 
Lücken  der  Überlieferung  kombinatorisch  ergänzende  Rekonstruk- 
tion die  theatralische  Einzelleistung  der  Vergangenheit,  die  wirk- 
liche Gesamtvorstellung  mit  allen  ihren  Teilen  wieder  lebendig 
werden  zu  lassen.  Die  Mittel,  die  für  die  Materialsichtung  und 
für  den  ergänzenden  Aufbau  zur  Verfügung  stehen,  sind  zunächst 
keine  andern  wie  die  der  historisch-philologischen  Kritik  im  allge- 
meinen; so  wie  diese  Mittel  aber  jedesmal  durch  die  besonderen 
Bedingungen  des  der  Untersuchung  harrenden  kulturellen  oder 
künstlerischen  Geschehens  entscheidend  modifiziert  werden,  so 
kommt  es  für  die  theaterhistorische  Kritik  auch  darauf  an,  den 
Eigentümlichkeiten  dieses  Kunstgebietes  bis  ins  letzte  gerecht  zu 
werden.  Grade  hier  aber  liegen  große  Schwierigkeiten.  Man  achte 
nur  auf  das  fast  erfolglose  Ringen  der  modernen  Theaterkritik, 
die  theatralischen  Leistungen,  die  sie  doch  in  unmittelbarer,  lücken- 
loser Lebendigkeit  vor  sich  hat,  so  zu  beschreiben,  daß  ein  voll- 
ständiges und  scharfes  Bild  auch  für  den  entsteht,  der  die  Vor- 
stellung nicht  besucht  hat  —  um  wieviel  schwieriger  ist  es,  Mittel 
und  Wege  zu  finden,  um  aus  den  Trümmern  der  Überlieferung 
die  längst  vergangene  Leistung  einigermaßen  deutlich  wieder  er- 
stehen zu  lassen. 

Will  die  Theatergeschichte  eine  Wissenschaft  werden,  so  muf5 
sie  ihre  besondere  Methode  erhalten.  An  dieser  Stelle  soll  indes- 
sen keine  methodologische  Abhandlung  geboten  werden.  Das 
Reden  von  der  Methode,  das  in  den  letzten  Jahren  unter  den  jün- 
geren Forschern  z.  B.  der  Literaturgeschichte  eine  gewisse  Rolle 
spielt,  ist  älteren  Genossen  mitunter  sehr  auf  die  Nerven  gefallen, 
und  obschon  auch  der  bloße  Hinweis  auf  Straßen,  auf  denen  im 
Gegensatz  zu  den  allzubetretenen  vielleicht  lockendere  Ziele  zu  er- 


6  Einleitung. 

reichen  sind,  etwas  Verdienstliches  haben  kann  und  obschon  es 
begreifhch  ist,  daß  nicht  sofort  der  Mut  gefunden  wird,  sicli  in  un- 
bekannte Gegenden  zu  wagen,  in  denen  oft  jeder  Scliritt  vorwärts 
mühsam  erkämpft  werden  muß,  so  ist  doch  nicht  zu  leugnen,  daß 
tatsächlich  auf  die  Dauer  das  bloße  Sprechen  von  der  Methode, 
das  ewige  Man  müßte  der  Methodologen  etwas  Fatales  erhält  und 
mindestens  den  Anschein  der  Unfruchtbarkeit  erweckt. 

Das  vorliegende  Buch  versucht  es  daher  lieber,  zugleich  mit 
der  praktischen  Durchführung  einiger  theatergeschichtlicher  Unter- 
suchungen Methode  zu  bringen.  Die  neuen  Wege  führen  durch 
die  verschiedenartigsten  Wissenschaftsgebiete,  die  schwerlich  ein 
und  derselbe  Forscher  in  gleicher  Weise  fachmännisch  zu  beherr- 
schen vermag,  oft  genug  an  Punkte,  die  auch  die  betreffende 
Sonderwissenschaft  noch  im  Dunkeln  gelassen  hat  und  die  doch 
nicht  unbeachtet  bleiben  durften;  mannigfache  Nachsicht  wird  da- 
her vonnöten  sein.  Hier  sei  nur  mit  zwei  Worten  Allerallgemein- 
stes  angedeutet.  Theaterkunst  ist  eine  Raumkunst  —  in  erster 
Linie  kommt  es  darauf  an,  den  Raum  der  Vorstellung  und  die  Art 
seiner  Benutzung  genau  zu  kennen.  So  wird  es  sich  empfehlen, 
von  einem  Fall  auszugehen,  in  dem  der  Ort  der  Aufführung  uns 
bis  heute  erhalten  oder  doch  rekonstruierbar  ist,  und  in  dem  wir 
ferner  die  Theaterstücke  besitzen,  die  ein  unmittelbar  bei  der  Auf- 
führung beteiligter  Autor  eben  für  die  Darstellung  auf  dieser  uns 
erhaltenen  Bühne  verfaßte,  und  nicht  eher  zu  ruhen,  bis  die  Räum- 
lichkeiten dieser  Bühne  mit  den  in  den  Theaterstücken,  zumal 
ihren  szenischen  Bemerkungen  gestellten  Anforderungen  bis  ins 
kleinste  in  Einklang  gebracht  sind.  Vom  sicher  Erhellten  werden 
wir  dann  auch  den  Blick  auf  minder  günstig  Beleuchtetes  richten 
dürfen. 

Es  wird  ferner  notwendig  werden,  sich  mit  der  Erkenntnis  des 
eigentlichen  Bühnenraumes  und  seiner  Ausnutzung  durch  die  Mit- 
wirkenden nicht  zu  begnügen,  sondern  auf  Grund  dieser  Erkennt- 
nis und  unter  erneuter  Heranziehung  der  in  den  szenischen  Be- 
merkungen erhaltenen  Andeutungen  und  ihres  theatralischen  Sinnes, 
der  auf  verschiedene  Art  immer  wieder  nachgeprüft  werden  muß, 
alles  Nötige  über  Dekorationen,  Maschinerien  und  Requisiten  und 
ihre  Verwendung  durch  die  Spielleitung  und  deren  Hilfskräfte  zu 
ermitteln;  zu  genauerer  Feststellung  werden  analoge  Verhältnisse 
der  bildenden  Kunst  herangezogen,  wird  der  Stand  des  Kunstge- 
werbes und  der  Handwerke  berücksichtigt,  wird  vor  allem  auch 
die  Elgeiuui  des  PubUkums,  seine  Anforderungen  an  den  Natura- 
lismus der  Bühnenbilder  und  seine  Phantasiebegabung  untersucht 
werden  müssen. 

Auf  ähnhche  Weise  soll  auch  von  allen  Seiten  her  das  Kostüm 
der  Schauspieler    festgestellt    werden ;    wichtiger    aber    wird    dann 


Einleitung.  7 

der  Versuch  werden,  die  eigentliche  Schauspielkunst  zu  rekonstru- 
ieren. Es  ist  fast  unmöglich,  den  Gang  der  Untersuchung  mit 
wenigen  Sätzen  auch  nur  zu  einer  schattenhaften  Vorstellung  zu 
bringen.  Die  dürftigsten  urkundlichen  Notizen  gilt  es  hier  in  wirk- 
liches Leben  umzusetzen  und  die  szenischen  Bemerkungen  des 
Dichterregisseurs  bis  ins  letzte  auszubeuten,  die  besonderen  Zwecke 
und  Bedingungen  der  Vorstellungen,  die  Gesamtfähigkeit  der 
Mitwirkenden,  die  schauspielerische  Tradition,  die  von  früheren 
Zeiten  her  besteht,  den  Raum,  auf  dem  der  Darsteller  sich  bewegt, 
und  dergleichen  mehr  zu  berücksichtigen,  die  Menschendarstellung 
in  der  Erzählung  und  in  der  bildenden  Kunst  gegen  die  theatra- 
lische abzugrenzen  und  besonders  die  letztere  dadurch  scharf  zu 
beleuchten.  Das  Wichtigste  wird  doch  immer  sein,  den  papierenen 
Ermittlungen  dadurch  zum  Leben  zu  verhelfen,  daß  man  sie  in  die 
Praxis  der  eigenen  Stimme,  des  eigenen  Körpers,  der  eigenen 
Seele  überträgt  und  so  in  unwillkürlicher  Ergänzung  aus  der 
lückenhaften  Überlieferung  ein  blutvolles  Gesamtbild  herstellt,  so 
wie  der  Literarhistoriker  schließlich  doch  eine  größtenteils  ver- 
lorene Dichtung  nur  dadurch  herstellt,  daß  er  die  kritisch  herge- 
richteten Reste  in  seine  eigene  Seele  aufnimmt  und  zum  Zwecke 
der  Neuschöpfung  des  Verlorenen  sich  in  den  alten  Dichter  ver- 
wandelt. 

Ist  das  Ziel  aller  solcher  Untersuchungen  im  wesentlichen  die 
Herstellung  verloren  gegangener  Leistungen,  bis  sie  in  der  An- 
schaulichkeit eines  unmittelbaren  Abbildes  vor  uns  stehen,  so  darf 
daneben  eine  andere  Betrachtung  nicht  zurückbleiben,  die  zunächst 
mehr  ein  Abbauen  als  ein  Aufbauen  verfolgt  und  sich  statt  mit 
der  Herstellung  neuer  Bilder  mit  der  kritischen  Prüfung  überlieferter 
beschäftigt.  Szenenbilder  aus  älterer  Zeit  haben  nicht  den  un- 
mittelbaren Realitätswert,  den  die  heutigen  Momentaufnahmen 
theatralischer  Leistungen  besitzen;  anderseits  kann  in  ihnen,  auch 
wo  sie  in  der  Form  von  Dramenillustrationen  auftreten,  ein  Stück 
der  wirklichen  Aufführung  mit  überliefert  sein.  Dieses  echte  Stück 
gilt  es  herauszuholen  oder  die  völlige  Theaterfremdheit  der  be- 
treffenden Illustration  aufzuzeigen  und  so  durch  die  Fortschaffung 
unbrauchbaren  Materials  der  Theatergeschichte  einen  Dienst  zu 
erweisen  —  in  erster  Reihe  müssen  zu  dem  Zwecke  die  Elemente 
ausgesondert  werden,  die  durch  die  rein  bildkünstlerischen  Auf- 
gaben der  betreffenden  Darstellungen  bedingt  sind. 

Aber  nicht  nach  solchen  dürftigen  Andeutungen  will  die  hier 
empfohlene  theatergeschichtliche  Methode  beurteilt  sein,  sondern 
wie  schon  bemerkt,  aus  der  vorgelegten  Übertragung  in  die  Praxis. 
Die  betonte  Methodologie  dieses  Buches  soll  indessen  auch  keines- 
wegs eine  Schablone  sein,  mit  deren  Hülfe  künftige  theaterge- 
schichtliche Untersuchungen  leicht  durchgepinselt  werden  könnten. 


8  Einleitung. 

Sie  stellt  einerseits  einen  ersten  Versuch  dar  und  darf  infolgedessen 
gewiß  nicht  den  Anspruch  erheben,  jenseits  aller  Verbesserungs- 
und Verfeinerungsmöglichkeiten  zu  stehen;  es  ist  aber  ferner  zu 
bedenken,  daß  bei  aller  Neigung  zum  Konservativen,  die  einen 
Grundzug  im  Wesen  der  Theaterkunst  bildet,  im  Verlauf  ihrer 
langen  Geschichte  doch  auch  eine  große  Verwandlungsfähigkeit 
sich  zeigt,  daß  bei  der  komplizierten  Art  der  Bühnenkunst  die  Be- 
dingungen, unter  denen  ihre  Schöpfungen  entstehen,  vielfach  wech- 
selnde sind  und  daß  solchem  Wechsel  auch  eine  gewisse  Beweg- 
lichkeit in  den  Rekonstruktionsmethoden  entsprechen  muß.  Die 
Wege,  die  hier  für  das  Mittelalter  und  die  Reformationszeit  zu 
einem  gewissen  Ziele  führen  möchten,  sind  für  die  folgenden  Jahr- 
hunderte gewiß  nicht  überall  in  gleicher  Weise  gangbar. 

Wenn  es  aber  soeben  hieß,  die  Untersuchungsweise  dieses 
Buches  stelle  einen  ersten  Versuch  dar,  so  gilt  das  nur  mit  einer 
starken  Einschränkung.  In  dem  Jahrzehnt,  das  von  dem  ersten 
Keimen  der  hier  vorliegenden  Arbeiten  bis  zu  ihrem  völligen  Ab- 
schluß so  ziemlich  verstrichen  ist,  haben  sich  die  Bemühungen, 
die  Theatergeschichte  zum  Rang  einer  Wissenschaft  zu  erheben, 
deutlich  bemerkbar  gemacht.  Wir  haben  nicht  nur  ein  paar  theater- 
baugeschichtliche  Studien  sachverständiger  Architekten  zu  verzeich- 
nen '),  deren  Bemühungen  unserer  Gesamtwissenschaft  werden 
zum  Vorteil  gereichen  können,  wir  besitzen  auch  das  Buch  von 
J.  Petersen  über  „Schiller  und  die  Bühne"  2),  das,  ohne  alle 
Probleme  und  ihre  Lösungsmöglichkeiten  scharf  zu  erfassen, 
namentlich  ohne  den  Raumkunstcharakter  der  Bühnenleistungen 
gebührend  zu  berücksichtigen,  doch  in  einer  bisher  nicht  durch- 
geführten Art  das  Material  über  die  deutschen  Bühnen  im  aus- 
gehenden 18.  und  beginnenden  19.  Jahrhundert  gesammelt  und 
wissenschaftlich  verarbeitet  hat;  wir  besitzen  wenigstens  eine 
Arbeit  über  einen  Schauspieler  des  18.  Jahrhunderts,  die  meinen 
oben  geäußerten  Anschauungen  gemäß  die  schauspielerische  Eigen- 
art ihres  Helden  aus  den  latenten  Darstellungsanforderungen 
seiner  Theaterstücke  rekonstruiert  und  unter  Benutzung  der  Seele 
des  modernen  Forschers  lebendig  werden  läßt:  die  Studie  über 
Johann  Christian  Brandes  von  Johannes  Klopfleisch  '^).  Einen  will- 
kommenen Bundesgenossen  dürfen  wir  in  Albert  Köster^)  begrüßen, 

1)  M.  Ha mmitz seh,  Der  moderne  Theaterbau.  Der  höfische  Theaterbau.  Der  Anfang  der 
modernen  Theaterbaukunst,  ihre  Entwickhing  und  Betätigung  zur  Zeit  der  Renaissance, 
des  Barock  und  des  Rokoko.     Berlin  19()(i. 

A.  Doebber,  Lauch.städt  und  Weimar.  Eine  Iheaterbaugesciiichtliciie  Studie.  Berlin  1908. 

2)  Berlin   1904. 

3)  Heidelberger  Diss(!rlalion  19()(J.  Eine  ähnlich  angelegte  Schrift  von  Dr.  H.  K  u  ndsen 
über  Heinrich  Beck  wird  bald  hervortreten. 

4)  Ich  hebe  hier  besonders  seine  ausgezeichnete  Bespreclumg  des  Petersenschen 
Buches  hervor:   Anzeiger  für  deutsches  Ailertum   Bd.   30,  S.  205 ff.   (erschienen    1907). 


Einleitung.  9 

aus  dessen  Schule  die  sehr  tüchtige  Arbeit  von  C.  H.  Kaulfuß- 
Diesch  „Die  Inszenierung  des  deutschen  Dramas  an  der  Wende 
des  sechzehnten  und  siebzehnten  Jahrhunderts"')  hervorgegangen 
ist.  Endhch  hat  auch  die  Shakespearephilologie  der  jüngsten  Zeit 
zwei  Schriften-)  hervorgebracht,  die  die  Bühnenverhältnisse  der 
elisabetanischen  Zeit  mit  moderner  Energie  ins  Auge  fassen. 

Während    aber  solche  Untersuchungen    zur   neueren    Theater- 
geschichte die  Sicherheit   der  methodologischen  Linienführung  und 
die  Allseitigkeit    der    Betrachtung,    zumal    den    Mut  zum    Betreten 
auch  bildkunstgeschichtlicher  Forschungswege  mitunter  noch  ver- 
missen lassen,  sieht  es  auf  dem  Gebiet  der  Behandlung  des  antiken 
Theaters  wesentlich  anders  aus.     Die  ganze  Parvenühaftigkeit  der 
neueren  Philologie  wird  einem    wieder    deutlich,    wenn    man   nach 
der  mühsamen  Durchführung   theatergeschichtlicher  Untersuchung 
in  die  Parallelarbeiten  der  klassischen  Philologen  sich  vertieft,  und 
mit  einigem  Staunen  liest  man  das  zusammenfassende  Urteil  eines 
Kenners-^),  daß  es  eigentlich  auch  eine  Wissenschaft  vom  antiken 
Theaterwesen    noch    nicht   gebe.      Wie  wird    der   oben  ausgespro- 
chene Satz  von  der  Nichtexistenz  einer  Theatergeschichtswissenschaft 
auf  dem  Gebiete    der    neueren    Zeit    dadurch   beleuchtet!      Denn 
seit   den  Tagen  Gottfried    Hermanns,  Wieselers,    Schönborns  u.  a. 
finden   wir  hier  Untersuchungen,  wie  wir  sie  brauchen,  mögen  sie 
inzwischen  auch  durch  Zuführung  neuen  Materials  und  Verfeinerung 
der  Methoden  gänzlich  veraltet  sein    und  etwa   neben  dem  großen 
Werke    über   das  griechische  Theater   von  Dörpfeld   und  Reisch^) 
sich  gar  nicht  mehr  sehen  lassen  können:  Wegrichtung  und  Wander- 
art sind  doch  schon  seit  langer  Zeit  die  richtigen.  Der  erst  in  unserer 
Generation    langsam    sich     wandelnde    Grundzug    der    Altertums- 
wissenschaft, die  Ermittlung  des  Zuständlichen  vor  der  Betrachtung 
der  historischen  Abfolge  zu  bevorzugen,  ist  der  uns  für  die  neuere 
Zeit    noch    fehlenden    rechten   Begründung    der   Theatergeschichte 
ungemein  zugute  gekommen ;  die  Behandlung  der  Theaterraumver- 
hältnisse,    die    kritische    Verwendung    der    Bildkunstwissenschaft 
stehen    ganz    im   Vordergrund,    so    sehr,    daß    der   ganze   theater- 
wissenschaftliche Betrieb  beinahe    zu   sehr    einen    archäologischen 
Charakter   erhält   und  die    nicht    ihm    unterzuordnenden    Theater- 
elemente,   so    besonders    die    Schauspielkunst,   über    Gebühr   ver- 
nachlässigt werden.   Ein  ungeheurer  Vorsprung,  den  der  Erforscher 

1)  Leipzig  1905  (Probefahrten  Band  1). 

2)  C.  Brodmeier,     Die    Shakespeare-Bühne    nach    den     alten    Bühnenanweisungen. 
Weimar  1904. 

R.  Wegener,  Die  Bühneneinrichtung  des  Shalcespeareschen  Theaters  nach  den  zeitge- 
nössischen Dramen.     Halle  1907. 

3)  Oehmichen  in    Iwan  ^lüUers  Handbuch   der   klassischen  Altertumswissenschaft 
V,  3.   S.  183. 

4)  Athen  1896. 


10  Einleitung. 

des  antiken  Theaterwesens  vor  den  Genossen  auf  modernem  Felde 
hat,  besteht  ferner  darin,  daß  er  für  fast  alle  seine  Hilfsunter- 
suchungen, in  denen  er  die  Lebensbetätigungen  auf  andern  Kultur- 
und  Kunstgebieten  heranzieht,  reiche  Vorarbeiten  und  oft  unmittel- 
bare Beantwortung  seiner  Fragen  vorfindet,  während  wir  unserseits 
nur  allzu  oft  gezwungen  sind,  wichtige  Probleme  der  Nachbar- 
wissenschaften erst  in  selbständiger  Forschung  irgendwie  der 
Lösung  näher  zu  bringen. 

Von  verschiedenen  Richtungen  her  erklärt  es  sich,  daß  die 
neuere  Theatergeschichte  nicht  töchterlich  an  die  antike  sich  an- 
schließt, sondern  aus  ihren  eigenen  Lebens-  und  Arbeitsbedingungen 
heraus  eine  freie  Existenz  sich  zu  schaffen  sucht  und  erst  nach- 
träglich in  ein  Wahlverwandtschaftsverhältnis  zu  jener  tritt.  Möge 
sie  allmählich  der  älteren  Genossin  sich  würdig  erweisen! 


Erster  Teil: 

Das  Theater  der  Meistersinger  von  Nürnberg. 


Erstes  Kapitel: 

Zuschauerraum  und  Bühne. 

Wir  stellen  uns  die  Aufgabe,  eine  theatralische  Aufführung 
der  Vergangenheit  bis  ins  kleinste  dermaßen  wieder  lebendig 
werden  zu  lassen,  daß  man  sie,  wenn  nur  die  finanziellen  Mittel 
zur  Verfügung  stehen,  ohne  Furcht  vor  bedenklichen  Verstößen 
tatsächlich  einem  modernen  Pubhkum  vor  Augen  bringen  könnte. 
Keine  einzige  Periode  der  deutschen  Geschichte  liegt  theaterge- 
schichtlich betrachtet  so  sehr  im  Dunkeln  wie  das  sechzehnte  Jahr- 
hundert —  und  doch:  gerade  hier  liegen  die  Umstände  so,  daß 
man  unter  Anwendung  bisher  wenig  erprobter  Untersuchungsmittel 
auf  eine  besonders  interessante  Stelle  das  hellste  Licht  fallen 
lassen  kann:  auf  die  Aufführungen,  die  die  Nürnberger  Meister- 
singer unter  Hans  Sachsens  Leitung  um  die  Mitte  des  Refor- 
mationsjahrhunderts veranstaltet   haben. 

Wir  wählen  ein  beliebiges  Drama  des  Dichters,  um  einen  be- 
stimmten Ausgangspunkt  für  unsere  Betrachtung  zu  haben,  und 
entscheiden  uns  für  sein  Nibelungendrama,  die  Tragedj  des 
lüiernen  Sewfried  vom  14.  September  1557,  die  ja  literarisch  nicht 
sowohl  Hans  Sachsens  Fähigkeiten  als  vielmehr  die  Grenzen 
seines  Könnens  offenbart,  in  theatrahscher  Hinsicht  aber  so  eigen- 
artige Anforderungen  stellt,  daß  es  uns  besonders  reizen  muß,  ein 
authentisches  Bild  seiner  Inszenierung  zu  gewinnen. ')  Die  Art  dieser 
Inszenierung  muß  sich  natürlich  ebenso  auf  jedes  andere  der  großen 
Hans  Sachsischen  Dramen  (63  Tragödien,  65  Komödien)  anwenden 
lassen,  während  die  Fastnachtspiele  mit  ihrer  andersartigen 
dichterischen  und  theatralischen  Tradition    mehr   beiseite    bleiben. 

„Auf  jedes  andere"  —  das  wird  sich  doch  nicht  aufrecht  erhalten 
lassen.  Der  erste  Punkt  nämlich,  dem  wir  unsere  Aufmerksamkeit 
zuzuwenden  haben,  betrifft 

die  Anlage  der  Bühne. 

Zu  einem  sicheren  Ergebnis    aber   werden    wir   in    dieser   Be- 

1)  Das  Drama  hat  zugleicli  den  äußerlichen  Vorzug,  daß  es  im  Gegensatz  zu  den 
übrigen  Tragödien  und  Komödien  des  Verfassers  in  einem  auf  seine  Handschrift  zurück- 
gehenden Neudruck  bequem  zugänglich  ist:  herausgegeben  von  E.  Goetze,  Halle  1880. 
(Neudrucke  deutscher  Literaturwerke  des  16.  und  17.  Jh.  Nr.  29).  Weiter  unten  öfters  als 
HS.  (=  Hüren  Seufrid)  zitiert. 


14  Die  Nürnberger  Marthakirche  als  theatralischer  Schauplatz. 

Ziehung  immer  nur  da  kommen,  wo  wir  einen  noch  vorhandenen 
oder  völHg  rekonstruierbaren  Schauplatz  mit  den  Anforderungen 
derjenigen  Dramen  vergleichen,  bei  deren  Abfassung  der  Verfasser 
die  örtlichen  Verhältnisse  eben  dieses  Schauplatzes  durchaus  be- 
rücksichtigt haben  muß. 

Über  den  Ort,  an  dem  zu  Nürnberg  die  dramatischen  Auf- 
führungen der  Meistersinger  stattfanden,  sind  wir  seit  dem  Jahre 
1550  amtlich  unterrichtet :  durch  die  Bescheide,  die  die  spiellustigen 
Bürger  auf  ihre  Konzessionsgesuche  seitens  des  Rates  erhalten 
haben  und  die  gelegentlich  auch  die  Angabe  der  Lokalität  ent- 
halten, die  für  die  Vorstellung  bewilligt  oder  abgelehnt  wurde.  In 
einer  Ratsprotokolleinladung  heißt  es  zum  5.  Januar  1551 ') :  Des- 
gleichen soll  denen,  die  bei  sant  Marthe  ain  comedi  halten 
wollen,  dasselbig  auch  nur  am  Feirtag  nach  der  predig  und  die- 
selbig  kirchen  darzu  zu  geprauchen  vergönnt  werden,  weil  sies 
Fernt  auch  gepraucht  haben.  Fernt  —  d.  h.  das  vorige  Jahr, 
also  1550. 

Ist  damit  nun  aber  nachgewiesen,  daß  diese  Aufführung  auch 
wirklich  die  erste  Meistersingeraufführung  in  der  Marthakirche  ge- 
wesen ist?  Die  erste  Aufführung  der  Meistersinger  überhaupt  war 
es  nicht.  Als  eine  Einladung  zu  jener  durch  das  oben  mitgeteilte 
Protokollstück  genehmigten  Veranstaltung  des  Jahres  1551  hat 
Hans  Sachs  am  3.  Dezember  1550  einen  Meistergesang  verfaßt-); 
hier  wird  zunächst  der  Vortrag  der  verschiedenartigsten  Meister- 
lieder verheißen,  und  dann  steht  in  der  dritten  Strophe: 

Auch  wellen  wir  wie  andre  jar 
Da  ein  comedj  halten. 
Auch  aus  gotlicher  Schriße  dar, 
Von  Isaac  dem  alten  .  . 

Dieser  Hinweis  auf  die  andre  jar  zeigt  uns,  daß  nicht  nur  die 
Aufführung  des  Jahres  1550  ins  Gedächtnis  zurückzurufen  ist,  son- 
dern daß  eine  schon  ältere  Tradition  besteht. 

Aber  wie  weit  geht  sie  zurück?  Hans  Sachsens  dramatische 
Leistungen  setzen,  wenn  wir  hier  nicht  sowohl  an  das  Fastnacht- 
spiel wie  an  Tragödie  und  Komödie  denken,  im  Jahre  1527  ein  und 
reichen  zunächst  bis  zum  Jahre  1536.  Daß  sie  nicht  auf  dem  Papier 
geblieben,  daß  wenigstens  einige  von  ihnen  aufgeführt  worden 
sind,  können  wir  beweisen,  obwohl  die  städtischen  Archivalien 
schweigen.  Ein  von  Hans  Sachs  im  März  1551  für  einen  Meister- 
singer   namens    Schmidlin   gedichteter  Gesang,    in  dem  die  Rollen 


1)  Harape,  Die  Entwicklung  des  Theaterwesens  in  Nürnberg  (Nürnberg  1900).  S.  283 
(N.  54  vgl.  50)  u.  S.  61. 

2)  Vgl.  Michels,  Vierteljahrssdn-ift  für  Literaturgeschichte  3,  S.  31  ff. 


Nüniberoer  Aufführungen  1527 — 1550.  15 

zusammengestellt  werden,    die    der  Schmidlin   gespielt   hat,')  zeigt 
uns    auch,    abgesehen    von    den    Fastnachtspielen,    mehrere   Hans 
Sachsische  Stücke    der  älteren  Zeit.      Daß  es  sich  aber  hier  schon 
um  regelmäßige  Aufführungen  der  Meistersinger  gehandelt  hat,  ist 
sehr  zweifelhaft  —  wird  doch  die  Abfassung   der  Hans  Sachsischen 
Dramen  im  Jahre  1536  auf  geraume  Zeit  völlig  unterbrochen.    Einen 
wirklichen  Aufschwung  des  Nürnberger  Theaters  führen  dann  offen- 
bar  die   gelehrten  Aufführungen  Nürnberger  Schulmeister   herbei, 
die  in  lateinischer  und  in  deutscher  Sprache,   aber  jedenfalls  auch 
dann  ganz  im  Stile  der   gelehrten   lateinischen    Darstellungen    ge- 
halten sind.-)    Amtlich    wird    am    26.  Dezember    1549    den  jungen 
knaben  beim  Rapolt  vergönnt,  //•  comedi  lateinisch  in  der  regiment- 
stuben  (des  Rathauses)  zu  spielen,  aber  schon  vorher  sind  durch  An- 
gaben deutscher  Dramendrucke  Schüleraufführungen  unter  Leitung 
des   bekannten    Leonhard   Culmann   nachzuweisen :    zwei  schon  im 
Jahre  1539,  drei  weitere  im  Jahre  1544  —  alle  fünf  in  deutscher  Sprache. 
Von  hier  geht  offenbar  die  Anregung  für  Hans  Sachs  zu  neuer  dra- 
matisch-theatrahscher  Tätigkeit  aus :  1545  setzt  sie  mit  der  Abfassung 
von   drei   Dramen    ein  und  wird   seit    dem  November  1547  immer 
lebhafter,  um  dann  zumal  seit  1550  zu  jener  staunenswerten  Frucht- 
barkeit zu  führen.     Schon  bei  den  allerersten  dieser  Werke,  deren 
Stoffe  dem  Decamerone  entnommen  sind,  denkt  der  Dichter  an  eine 
Aufführung:  sie  sind,  seinen  eigenen  Angaben  nach,  mit  so  und  so 
viel  Personen  zu  spielen    oder   auch    wohl    zu   agieren.      Ja,  vom 
April  des  Jahres  1546  an  verraten  uns  des  Dichters  Handschriften 
in  szenischen  Bemerkungen,    die    später    für   den  Druck  verändert 
sind,  auch  etwas  über  die  Bühneneinrichtung,   die  der  Dichter  bei 
der  Abfassung  der  Dramen  im  Sinne  hatte:    in  der  Griselda  heißt 
es  dort,  wo  die  Brautfahrt  des  Markgrafen  und  die  erste  Begegnung 
mit  Griselda  vorgeführt  werden :  ^)  Sie  geni  in  dem  sal  herumb  . . . 
Griselda  get  mit  Eim  waserkrug  zv  irer  zenn.    Und  ebenso  im  Hiob 
aus  dem  November  1547^):    Job  get  aus  der  zen;    und    schließlich 
ganz  ausdrücklich    am  Schluß    des    Dramas  hinter  dem  Personen- 
verzeichnis :  Vnd  ein  Seen  mus  man  habn  zv  dieser  ComedJ.    Damit 
ist  ganz  deutlich  bewiesen,  daß  diese  neue  Reihe  Hans  Sachsischer 


1)  Nicht  Hans  Sachs  selbst,  wie  es  bei  Michels  heißt,  der  den  Meistergesang  a.  a.  0. 
S.  43  ff.  gedruckt  und  erläutert  hat,  und  ebenso  bei  Hampe  S.  62f.  Michels  berichtigt  sich 
S.  615f.  Das  Gedicht  wird  uns  weiterhin  noch  für  einen  andern  Zweck  wichtiges  Material  Uefern. 

2)  Über  die  Bühnenverhältnisse  des  deutschen  Schuldramao  sind  wir  durch  das  diesen 
Titel  tragende  Buch  des  P.  Expeditus  Schmidt  (Berlin  1903)  besser  als  früher  unterrichtet 
—  allerdings :  eine  sichere  theatergeschichtliche  Methode  zeigt  sich  nur  in  einigen  An- 
sätzen, und  das  große  chronologische  und  lokale  Durcheinander  ist  reciit  bedenklich. 

3)  KG.  21,  S.  352  zu  2,  S.  47,  4. 

4)  Gedruckt  im  Anhang  dieses  Buches  als  Ergänzung  zu  KG.  6,  S.  35,12  und  55,15; 
die  letztgenannte  Stelle  auch  bei  KG.  23,  S.  519,  aber  dort  steht  unverständlich  statt 
scen:  ßen.    Ebenso  in  den  Menaechmen  (1548):  'Rosina  in  die  zen'  (zu  KG.  7,  S.  101.  17). 


16  Nürnberger  Aufführungen  1527 — 1550. 

Komödien  und  Tragödien,  die  offenbar  für  jene  in  dem  an- 
geführten Meistergesang  aus  den  Jahren  vor  1550  nachgewiesenen 
regelmäßigen  Vorstellungen  der  Meistersinger  geschrieben  sind, 
angeregt  ist  durch  die  gelehrten  Schulaufführungen  der  vierziger 
Jahre.  Denn  diese  zenn  oder  scen,  von  der  da  die  Rede  ist,  das 
ist  nichts  anderes  als  die  scena  der  Schulbühne:  die  Andeutung 
eines  Hauses,  aus  dem  die  Personen  kommen  oder  in  das  sie  hin- 
eingehen, durch  einen  Vorhang,  hinter  den  man  treten  kann,')  in 
der  Art,  daß  öfter  mehrere  Szenen  einen  Schauplatz  begrenzen: 
Griselda  gel  zu  irer  zenn.  Der  eigentliche  Schauplatz  aber  ist  ein 
sal.  Es  wird  daraus  klar,  daß  diese  ersten  Meistersingeraufführungen 
noch  nicht  in  der  Marthakirche  stattgefunden  haben  —  später  ist  von 
sal  und  scen  nicht  mehr  die  Rede,  und  auch  die  eben  behandelten 
Hinweise  in  den  Dramen  von  1546  bis  1548  sind,  wie  erwähnt,  später 
bei  der  Veröffentlichung  beseitigt  worden :  nun  waren  andere  Bühnen- 
verhältnisse maßgebend  geworden  —  voran  die,  die  durch  die  Räum- 
lichkeiten der  Marthakirche  bedingt  waren.  Ihre  Rekonstruktion  ist 
unsere  eigentliche  Aufgabe,  und  wir  sehen  nun,  daß  wir,  da  wir 
mit  Sicherheit  erst  in  das  Jahr  1550  die  erste  Aufführung  in  der 
Kirche  zu  setzen  vermögen,  am  besten  uns  auf  die  Benutzung  der- 
jenigen Hans  Sachsischen  Dramen  beschränken,  die  seit  1550 
verfaßt  sind  —  es  ist  immerhin  noch  die  überwältigende  Majorität 
und  ein  Material,  dessen  alles  berücksichtigende  Ausnutzung  die 
größten  Aufgaben  stellt.  Die  Frage  nach  der  Entwicklung  der 
Hans  Sachsischen  Bühnenvorstellungen  von  1527  bis  zum  Jahre 
1550  erfordert  eine  besondere  Untersuchung,  —  sie  wird  zumal  mit 
dem  Umstände  zu  kämpfen  haben,  daß  uns  für  die  dramatischen 
Werke  vor  1545  statt  der  ursprimglichen  Fassungen  nur  die 
späten  Redaktionen  des  Hans  Sachsischen  Alters  zur  Verfügung 
stehen. 

Wenn  man  heute  in  Nürnberg  vom  Bahnhof  kommend  das 
Frauentor  durchschreitet  und  in  die  Königstraße  einlenkt,  so  sieht 
man  nach  wenigen  Schritten  rechts  die  Marthakirche,  die  angeblich 
1360  begründet,  zuerst  Kirche  eines  Pilgrimspitals  war,  dann  nach 
der  Reformation  den  Meistersingern  für  ihre  Veranstaltungen  diente, 
im  17.  Jahrhundert  wieder  für  Predigt  und  Kinderlehre  benutzt  und 
schließlich  1810  den  Reformierten  eingeräumt  wurde,  die  hier  noch 
heute  ihren  Gottesdienst  begehen.  Man  sieht  sie  oder  eigentlich: 
man  sieht  sie  beinahe  nicht;  denn  sie  ist  sehr  stark  zurück-  und 
eingebaut,  und  die  kleine  Fassade,  die  wir  S.  17  nach  einer  Abbildung 
des  18.  Jahrhunderts  wiedergeben,  tritt  nicht  sehr  anspruchsvoll  auf. 
Schreitet  man  aber  ins  Innere,  das  unser  theatergeschichtliches 
Interesse  im  Grunde  allein  fesselt,  so  erblickt  man  eine  freundliche 


1)  Vgl.  zunächst  Expedilus  Schmidt  a.  a.  O.  S.  123  ff. 


Die  Martliakirclio  jetzt  und  einst. 


17 


gotische  Kirche    von    wenig   bedeutenden,    aber   gefälhgen    Raum- 
verhältnissen. 

Wieweit,  so  fragt  sich  nun  zunä{;hst,  ist  der  heutige  Zustand 
geeignet,  uns  das  Bild  der  Zeit  vorzuführen,  in  der  Hans  Sachs 
mit  seinen  Meistersingern  hier  Tragödien  und  Komödien  agierte? 
Die  Kirche  ist  1615  und  1729  „renoviert"')  und  1865  durch  den  Ober- 
baurat Solger  umgebaut  worden.      Worauf  jene  Renovierung  sich 


Abb.  1 :   St.  Martliakirche   zu  Nürnberg   (nach  einer  Abbildung  des  18.  Jalirhunderts). 

bezog,  läßt  sich  freilich  heut  kaum  noch  ermitteln ;  dagegen  können 
wir  mit  absoluter  Sicherheit  erklären,  daß  sie  ursprünglich  nicht  wie 
jetzt  fünf  schiff  ig,-)  sondern  nur  dreischiffig  gewesen  ist,  und  mit 
leidlicher  Bestimmtheit  hinzufügen,  daß  sie  in  diesem  Zustand  bis 
ins  18.  Jahrhundert  fortbestanden  hat,  also  auch  zu  Hans  Sachs- 
ens Zeit  dreischiffig  gewesen  ist:  darauf  weist  die  hier  wieder- 
gegebene Außenansicht  hin,  auf  der  doch  sonst  wahrscheinlich 
eine  Spur  der  niedrigeren  Seitenanbauten  zu  sehen  wäre,  ebenso 
auch  eine  im  18,  Jahrhundert  gedruckte,    wohl    aus  dem  17.  Jahr- 


1)  Vgl.  A.  Würfel,  Diptycba  ecclesiae  .  .  .  Beschreibung  der  übrigen  Kirchen,  Klöster 
und  Kapellen  in  Nürnberg  (Nürnberg  1761?  62?  63?)  S.  139.  Hier  auch  bei  S.  136  die 
Außenansicht  der  Kirche.  Die  Renovierung  von  1615  auch  schon  im  „Nürnbergischen  Zion" 
(o.  0.   =  Nüi-nberg  1733)   S.  68  erwähnt. 

2)  Eine  im  Pfarrarchiv  aufbewahrte  undatierte  Bauzeichnung  aus  dem  19.  .Jh.  sieht 
sogar  noch  eine  Erweiterung   nach  rechts  und  nach  links  vor. 

H  e  r  r  m  a  n  n ,  Theater.  2 


18  Inneres  der  Marthakirche. 

hundert  stammende  Beschreibung  der  Kirchenfenster,  i)  Wir  legen 
also  unsern  Untersuchungen  den  von  uns  S.  19  gebotenen  Grundriß 
(Abb.  2)  des  gegenwärtigen  Bauzustandes  zugrunde, 2)  müssen  aber 
die  beiden  äußeren  Seitenschiffe  uns  fortdenken.  Es  handelt  sich  dem- 
nach um  eine  Kirche  von  folgenden  Maß  Verhältnissen :  Die  Länge 
des  Schiffes  beträgt  15,70  m,  die  mittlere  Breite  des  von  einem  höl- 
zernen Tonnengewölbe  gedeckten  Mittelschiffes  5,50  m,  die  der  beiden 
mit  glatter  Holzdecke  gedeckten  Seitenschiffe  4,50  bzw.  5  m,  die 
Höhe  der  letzteren  10,70,  die  Scheitelhöhe  des  Mittelschiffes  14  m.^^) 
Der  Chor,  der  aus  zwei  Kreuzgewölben  und  einem  dritten  mit  fünf 
Seiten  des  Achtecks  geschlossenen  besteht,  ist  9,40  m  lang  und  10  m 
hoch,  die  mittlere  Breite  beträgt  in  einer  durch  eine  gewisse  Un- 
regelmäßigkeit des  Baus  verschuldeten  kleinen  Abweichung  von 
der  Breite  des  Mittelschiffs  5,80  m;  die  Sakristei  endlich,  ein 
Tonnengewölbe  mit  zwei  Spitzkappen,  ist  4,90  m  lang  und 
4,40  m  breit. 

Auch  über  die  innere  Ausstattung  der  Kirche  zu  Hans 
Sachsens  Zeit  läßt  sich  manches  sagen.  Von  den  Fenstern  ist 
die  Rede  schon  gewesen ;  die  auf  dem  Grundriß  angedeuteten  Türen 
zu  den  Seitenschiffen  sind,  wie  schon  die  oben  wiedergegebene 
Außenansicht  aus  dem  18.  Jahrhundert  zeigt,  nicht  ursprünglich. 
Besonders  gut  aber  sind  wir  über  die  jetzt  aus  der  Kirche  entfernten 
Altäre  durch  ein  handschriftUches,  von  dem  Gemälderestaurateur 

1)  Nürnbergisches  Zion  S.  124,  wiederliolt  Würfel  S.  138:  Von  denen  Fenstern  so 
in  gleichen  mit  Historien  und  Wappen  gezieret  /  melde  nur  deren  Wappen :  Das  mittelste 
Fenster  hinter  dem  Altar  ist  bemahlet  mit  Historien  Altes  Testaments,  von  dem  Stiffler 
Hrn.  Waldstromer.  Diesem  zur  rechten  ist  eines  durchaus  mit  Großischen  Wappen 
gemahlet :  Diesem  folget  eines  mit  einem  runden  Wappen  /  darüber  stehet  /  Heinrich 
Oertel  /  starb  1366  /  verneuert  1617.  Nächst  diesem  ist  eines  von  Hrn.  Hannß  Imhof  ge- 
stifftet.  Dem  erst  gedachten  Stiffters  Fenster  zur  lincken  Hand  folget  eines  /  durchaus  gemahlet 
worinnen  stehet  Friederich  Stromer  /  verneuert  1578.  Diesem  folget  eines  zur  lincken 
mit  nachfolgendem  Wappen:  ein  Böhaimisch  /  Mufflisch  und  Pfintzingisches  /  ein 
Böhaimisch  und  Tucherisches  /  ein  Böhaimisch  /  Geuderisch  und  Voickhammerisches: 
Nächst  diesem  folget  eines  /  so  mit  einem  Böhaimisch  und  Rieterischen  Wappen  gezieret. 
Diesem  folget  noch  ein  gemahltes  /  mit  dem  Ottnantischen  Wappen  bezeichnet.  Wenn 
man  vom  Chor  in  die  Kirch  gehet  /  ist  zur  rechten  Hand  das  erste  Fenster  ein 
gemahltes  /  mit  einem  Schürstabischen  Wappen  /  verneuert  1578.  Zu  oberst  sind  3.  kleine 
Fenster  neben  einander  /  in  dem  ersten  ist  ein  Imhöfisch,  im  zweyten  ein  Kohlerlsch, 
im  ch-itten  ein  Pfintzingisches  Wappen.  Zur  lincken  des  Chors  an  der  Sacristey  ist  ein 
gtimahltes  Fenster  /  unten  mit  einem  Kreßischen  /  und  auf  beyden  Seiten  mit  Stein- 
lingerischen  Wappen.  Nächst  diesem  sind  nach  der  Thür  zu  3.  Fenster  /  das  erste  hat 
ein  Rieteri.sch  /  das  andere  ein  Mufflisch  und  Hallerisches,  das  dritte  ein  unbekanntes 
Wappen.     Denn  kommt  ein  Fenster   mit  einem  gleichfalls  unbekannten  Wappen. 

2)  Ich  verdanke  iim  dem  freundlichen  Entgegenkommen  des  Herrn  Baurats  Oskar 
Schultz  in  Nürnberg.  Für  gütige  Beratung  in  baulichen  Fragen  und  für  zeichnerische  Unttu'- 
stützung  bin  ich  ferner  Herrn  Intendantur-  und  Baurat  A.  Doeb  ber  in  Berlin  sehr  verpflichtet. 

3)  Die  Höhenverhältnisse  sind  mit  Hilfe  einer  ebenfalls  vom  Herrn  Baurat  Schultz 
zur  Verfügung  gestellten  Querschnittzeichnung  berechnel. 


Ausstatlunsr  der  Marthakirche. 


19 


Fror  1828  angefertigtes  Inventar')  unterrichtet,  mit  dessen  Hilfe 
wir  den  Hauptaltar  und  einen  der  beiden  Seitenaltäre  als  noch 
heute  an  andern  Stellen  vorhanden  nachweisen  können.  DerHaupt- 


1  ■  ■ 

Abb.  2 :  Grundriß  der  ^fartliakirche  zu  Nürnberg. 

altar,  der  einst  im  Chorraum  stand,  befindet  sich  jetzt  seit  1829  in 
der  Lorenzkirche,-)    der  Altar,    der  im  Schiff  neben    dem  Chor  an 


1)  Aufbewahrt  im  Stadtarchiv  Nürnberg.  Daß  es  sich  um  die  ursprünglichen  AUäre 
handelt,  kann  keinem  Zweifel  unterliegen.  Kürzere  Beschreibungei.  auch  im  ..Nürnberg.  Zion'" 
und  danach  bei  Würfel. 

2)  Das  Hauptgemälde  ist  ein  Ecce  homo,  darunter  das  Abendmahl,  auf  den  Flügeln 
innen  weibliche,  außen  männliche  Heilige.  Über  die  Größenverhältnisse  Jieß  mir  Herr 
Kirchenrat  Heller  freundlichst  das  Folgende  mitteilen  :  „Gesamtliöhe  des  Altars  3,61  m 
(Stufe  19  cm,  Altartisch  1  m,  Aufsatz  2,42  m).  Altartisch  2.26  m  lang,  0.80  m  breit.  Auf- 
satz im  allgemeinen  32,  imter  Berücksichtigung  des  Gesimsvorsprungs  über  die  Predella 
44  cm  tief,   mit  offenen  Flügeln  3  m  breit." 

2* 


20 


Maithakirche  und  Predigerkloster. 


der  Sakristeiseite  angebracht  war,  im  Germanischen  Museum'), 
wälirend  der  ilim  an  der  andern  Seite  entsprechende  Altar-)  noch 
niclit  wieder  aufgetauclit  ist,  Endhch  ein  letzter,  heute  nicht  mehr 
auffindbarer  Schmuck  der  Kirche:  „Am  Ende  des  Chors  ist  in  der 
Mitte  ein  großes  Cruxifix  von  Holtz  auf  einem  großen  Schwibbogen, 
um  welches  Cruxifix  die  vier  Evangelisten  in  runden  musirten 
Creysen  nebst  ihren  beygefügten  Zeichen  stehen"  s). 

Außer  der  Marthakirche  wird  als  Schauplatz  Hans  Sachs- 
ischer Aufführungen  auch  der  Remter  des  Predigerklosters:  der 
heutigen  Stadtbibliothek  in  der  Burgstraße  namhaft  gemacht,^) 
ein  23,50  m  langer,  8,10  m  breiter  Saal,  dessen  Decke  von  zwei 
Säulen  getragen  wird.  Wir  bieten  hier  einen  Grundriß  (Abb.  3)  des 
heuti[';en  Zustandes.  ') 


Abb.  3 :    Grundriß  des  Remters  im  Nürnberger  Predigerkloster. 

Es  kann  uns  nun  aber  natürlich  nicht  genügen  zu  wissen:  im 
Remter,  in  der  Marthakirche  ist  gespielt  worden.  Wir  müssen  ge- 
nauer, so  genau  wie  möghch  die  besondere  Stelle  der  Bühne  be- 
zeichnen können.  Und  dafiu-  bietet  der  Remter,  abgesehen  etwa 
von  den  Säulen  und  den  Lichtverhältnissen,  nur  sehr  wenig  An- 
haltspunkte. Hier  war  der  Willkür  des  Regisseurs  bei  der  Anlage 
der  Bühne  ziemlich  viel  Spielraum  gelassen:  der  Anhalt,  den  wir 
für  genauere  Ermittelungen  brauchen,  ist  aber  gerade  der,  daß 
diese  Willkür  durch  eingeschränkte  Raumverhältnisse  ziemlich  ge- 
bunden ist.     Das  ist  in  der  Marthakirche  der  Fall,  und  ihren  Raum 


1)  In  der  Volckamerkapelle  an  der  Nordwand  oben  angebracht.  Freundliche  Mitteilung 
der  üii-eklion  des  Germanischen  Museums.  Die  Höhe  des  Altarschreins  beträgt  1,50  m, 
die  Breite  1,05  m,  dit;  Tiefe  0,20  ni.  Eine  Beschreibung  der  Bemalungen  und  Reliefdar- 
sfellungen,  die  vielfach  auf  Martha  Bezug  nehmen,  erübrigt  sich  hier. 

2)  Nach  Frörs  Besdireibung  Höhe  4,9,  Breite  3,9  Fuß.  Das  Hauptbild  Maria  mit 
Christi  Lcüchnam;  Beziehungen  auf  Martha  f(!hien. 

3)  Nihnbergisclies  Zion  a.   a.   0.,  danach   Würfel,  auch   bei  Fror  noch  erwähnt. 

4)  Hampe   a.  a.   O.   S.    TO. 

5)  In  gütig(M'  Weise  vom  Stadlhauamt  in  Nürnberg  zur  Verfügung  gestellt,  dem  ich 
auch  sonst  zu   Dank  verpflichtet  bin. 


Der  Altarniuin  als  Spielplatz.  21 

werden  wir  bei  der  nun  folgenden  Inszenierungsrekonstruktion  um 
so  eher  allein  in  Rechnung  ziehen  dürfen,  als  auch  die  archiva- 
lischen  Quellen  ihm  die  erste  Stelle  einräumen:  gewöhnlich  wird 
von  der  Obrigkeit  die  Marthakirche  bewilligt,  und  so  muß  die 
Einrichtung  des  Spiels  auf  ihre  Verhältnisse  berechnet  worden 
sein. 

Hier  aber  belehrt  uns  schon  der  Raum  selbst  etwas  genauer 
über  die  Lage  der  Bühne.  Die  Kirchenbänke  sind  der  gegebene 
Platz  für  die  Zuschauer  '),  vor  ihnen  muß  gespielt  worden  sein,  und 
auch  die  Lichtverhältnisse  weisen  besonders  auf  den  Altarraum  als 
den  Spielplatz  hin.  Darf  man  eine  archivalische  Notiz  aus  etwas 
späterer  Zeit  mit  heranziehen  ^),  so  ergibt  sich  hier  die  urkundliche 
Bestätigung  dieser  Vermutung:  es  wird  eine  Spielerlaubnis  mit  dem 
Zusatz  erteilt :  doch  denjenigen,  dies  bei  s.  Martha  halten  werden, 
sagen,  da  sie  etwas  in  der  kirchen  an  den  stuelen  oder  altarn  zer- 
prechen,  dasselbig  wider  machen  zu  lassen.  An  den  Chorstühlen 
oder  Altären  kann  nur  der  etwas  zerbrechen,  der  oben  im  Altar- 
raum agiert.  Zugleich  aber  scheint  der  Ausdruck  ^//cire  anzudeu- 
ten, daß  auch  der  vorderste  Teil  des  Schiffes:  zwischen  den  Kir- 
chenbänken  und  dem  Altarraum  mit  hereingezogen  worden  ist, 
denn  hier,  rechts  und  links  von  den  Eckpfeilern,  sind,  wie  wir 
sahen,  die  beiden  Nebenaltäre  angebracht  gewesen.  Und  so  bieten 
wir  eine  photographische  Aufnahme  des  Altarraumes  (Abb.  4,  S.  22), 
wie  er  sich  vom  Schiff  aus  dem  Beschauer  darstellt. 

Aber  wurde  der  ganze  Altarraum  als  Bühne  benutzt?  Auch 
darauf  läßt  sich  wohl  ohne  Heranziehung  der  besonderen  hier  ge- 
spielten Werke  eine  allgemeine  Antwort  geben.  Bei  den  gewöhn- 
lichen Singschulen  bereits,  die  in  der  Marthakirche  abgehalten 
wurden,  wurde  der  Altar  durch  einen  Vorhang  verdeckt :  die  welt- 
liche Verrichtung  darf  nicht  im  Angesicht  des  Heiligsten  geschehen; 
um  wieviel  mehr  mußte  man  solche  sakralen  Rücksichten  gegen- 
über der  Vorführung  oft  recht  profaner  Komödien  nehmen.  Durch 
solche  zunächst  dem  Göttlichen  zu  Ehren  vorgenommene  Verhül- 
lung leistete  man  zugleich  dem  Theater  einen  doppelten  Dienst: 
man  gab  in  der  nichts  besagenden  Stoffhinterwand  der  nun  abge- 
grenzten Bühne  der  Phantasie  des  Zuschauers  einen  neutralen  An- 
blick, bei  dem  er  sich  jedenfalls  besser  all  die  Örtlichkeiten  vor- 
stellen konnte,  in  die  der  Dichter  ihn  führen  wollte,  als  wenn  ihn 
der  Altar  beständig  mahnte:  du  bist  in  der  Marthakirche.  Und 
ferner  war  durch  diesen  Vorhang  erst  die  Möglichkeit  gegeben,  die 

1)  Die  Kirche  faßt  in  ihrem  erweiterten  Zustand  heute  600  Besucher;  schwerlich  wird 
bei  den  Meistersingerauffülirungen,  wo  man  doch  auch  sehen  wollte,  also  nicht  jeden 
Platz  in  den  Seitenschiffen  brauchen  konnte,  das  Publikum  aus  mehr  als  300  Personen 
bestanden  haben. 

2)  5.  Jan.  1591;  gedruckt  Hampe  2,  N.  196. 


22 


Chorraum  der  IMarthakirche. 


Abb.  4 


Chorraiim    der   Nürnberger    Martliakirche    (aufgenoiniiien    für   das  vorliegende  Buch   durch 
den  Pliotographen  Ferd.  Schmidt  in  Nürnberg). 


Podium  und  Al)sclilußvorhang.  23 

Schauspieler  „auftreten"  zu  lassen.  Freilich,  Genaueres  über  die 
Situation  des  Vorhangs  ergibt  die  bloße  Betrachtung  der  Raumver- 
hältnisse nicht:  ob  er  sehr  dicht  vor  dem  Altar  oder  weiter  vorn 
angebracht  war,  läfM  sich  zunächst  nicht  ausmachen. 

Endlich  ist  man  wohl  schon  angesichts  dieser  lokalen  Umstände 
der  Annahme  geneigt,  daß  in  dem  Altarraum  und  dem  etwa  vorn 
hinzukommenden  Teile  des  Schiffes  für  die  Abhaltung  des  Spiels 
ein  Podium  errichtet  war.  Die  natürliche  Erhöhung  beträgt  nur 
15  cm,  und  so  würde  man  von  den  weiter  hinten  gelegenen  Plät- 
zen nichts  oder  wenig  gesehen  haben.  Erst  eine  Zusatzerhöhung 
von  mindestens  80  cm  würde  nach  einer  sachverständigen  Anset- 
zung  einigermaßen  ausgereicht  haben.  Aber  freilich:  das  sind 
ganz  vage  Vermutungen,  die  sich  ohne  Vermehrung  unseres  Hilfs- 
materials zu  irgend  einer  Gewißheit  nicht  erheben  lassen. 

Hans    Sachsens    Drama. 

Die  ungefähre  Lage  der  Bühne  hatte  der  Raum  allein  ergeben ; 
aber  schon  bei  der  Frage :  wo  ist  der  Abschluß  vorhang  an- 
gebracht ?  blieben  wir  stecken,  und  hier  muß  die  Betrachtung  der 
durch  das  besondere  Drama  gebotenen  Verhältnisse  weiter  helfen. 
Nehmen  wir  an,  der  Vorhang  wäre  ganz  nahe  dem  Altar:  hinter  dem 
zweiten  Kreuzgewölbe  angebracht  gewesen,  so  wäre  dahinter  ein 
sechseckiger  Raum  geblieben,  der  einer  annähernden  Berechnung 
nach,  unter  Abrechnung  des  vom  Altar  in  Anspruch  genommenen 
Platzes  18  qm  umfaßte.  Dieser  Raum  hätte  als  alleiniger  Hinter- 
raum der  Bühne  zu  dienen  gehabt.  Hier  hätten  die  Schauspieler 
vor  dem  Auftreten  und  nach  dem  Abgehen  sich  aufhalten,  hier 
hätten  sie  sich  umkleiden,  hier  auch  für  das  Stück  etwa  notwen- 
dige Requisiten  bewahren  müssen.  Ist  das  für  die  Anforderungen 
möglich,  die  der  HS.  stellt?  Die  person  in  die  tragedj  sind  17. 
Auf  18  Quadratmetern,  die  bei  der  eigenartigen  Form  des  Hinter- 
raumes noch  nicht  einmal  voll  auszunutzen  gewesen  wären,  hätten 
sich  vor  dem  Beginn  des  Dramas  und  während  der  Pausen  sieb- 
zehn Menschen  zusammen  drängen  müssen;  kaum  denkbar.  In 
andern  Sachsischen  Dramen,  wo  freilich  oft  auch  ein  kleineres 
Personal  genügt,  wächst  die  Personenzahl  gar  bis  zu  34  an. 

Nun  wird  man  freilich  einwerfen  können,  daß  nicht  Jede  Gestalt 
durch  einen  besonderen  Vertreter  verkörpert  worden  sein  muß,  daß 
möglicherweise  mehrere  jfiollen  durch  einen  Spieler  dargestellt  worden 
sein  können,  und  wir  werden  in  einem  späteren  Abschnitt  sehen,  daß 
an  der  Aufführung  tatsächlich  vielleicht  nur  11  Personen  beteiligt 
gewesen  sind.  Aber  dann  ist  es  mit  dem  ruhigen  Stillstehen  im 
engen  Raum  erst  recht  vorbei,  ein  fortwährendes,  Platz  erfordern- 
des Umkleiden  ist  erforderlich. 

Aber  auch  ohne  diese  komplizierende  Annahme   ist  Platz  zum 


24  Raum  hinter  der  Biilme.    Auf-  und  Abgänge. 

Umkleiden  der  Schauspieler  im  HS.  nötig.  Der  Titelheld  nämlich 
muß  sich  nicht  weniger  als  viermal  umziehen.  Im  zweiten  Akt 
(von  272 — 274)  sagt  er  ausdrücklich  von  sich  selbst: 

Doch  ich  kamen  thiirnier  zeug  hon. 

Schaft  mir  ros,  hämisch,  schild  vnd  glennen 

Zum  thurniren,  stechen  vncl  rennen. 
Im  dritten  Akt  aber  (vor  v.  396)  schreibt  die  szehische  Bermerkung 
vor:  Der  hürnen  Sewfrid  kumbt  gewappent.  Im  sechsten  Akt  tritt 
Siegfried  mit  Crimhilden  daheim  in  Worms  auf,  ohne  daß  etwas 
Besonderes  über  sein  Kostüm  angegeben  ist;  wenn  die  Situation 
es  aber  schon  an  sich  unwahrscheinlich  macht,  daß  er  hier  in 
schwerer  Rüstung  ist,  so  geht  die  Notwendigkeit,  an  einen 
Kostümwechsel  vor  dem  sechsten  Akt  zu  glauben,  aus  einer 
späteren  Bemerkung  (vor  v.  939)  hervor,  wo  ausdrücklich  ver- 
langt wird:  KÜnig  Sewfrid  kumbt  gewappent.  Die  vierte  Umklei- 
dung endlich  ist  dem  siebenten  Akt  aufbewahrt,  wo  es  (vor  v.  1062) 
heißt:  Der  huernen  Sewfried  kumpt  in  kunicklichem  gewant. 
Auch  der  Riese  Kuperan  muß  sich  hinter  der  Szene  waffnen 
(vor  V.  549);  doch  wird  diese  Stelle  besser  in  anderm  Zusammen- 
hang betrachtet.  Jedenfalls  aber  muß  ein  Umkleideraum  vorhan- 
den gewesen  sein;  die  Requisiten  in  diesem  Stück  und  noch  mehr 
in  manchen  andern  Sachsischen  Dramen  verlangen,  wie  sich  noch 
zeigen  wird,  ebenfalls  nicht  wenig  Platz.  Der  hinterste  Teil  des 
Chors  reicht  so  wenig  aus,  daß  man  vielmehr  selbst  bei  Hinzu- 
nahme noch  einer  ganzen  Bogenwölbung  den  Raum  als  gar  zu 
beschränkt  ansehen  wird;  dazu  kommt,  daß  hinten  auch  eine 
gewisse  Bewegungsfreiheit  vonnöten  gewesen  ist :  die  Neuauf- 
tretenden mußten  doch  an  die  Auftrittsstelle  gelangen  können. 
Und  weiter:  hinter  der  Szene  mußten,  wie  sich  zeigen  wird,  auch 
noch  Dinge  arrangiert  werden,  die  zur  Aufführung  gehörten  und 
Platz  wegnahmen,  darunter  ein  Hergang,  der  immerhin  vielleicht 
einigermaßen  feuergefährlich  war  und  deshalb  in  zu  großer  Nähe 
weder  des  Altars  noch  des  Vorhanges  sich  vornehmen  ließ.  Auch 
das  führt  zu  der  Notwendigkeit,  den  Raum  zwischen  Altar  und 
Vorhang  als  ziemlich  groß  anzunehmen,  den  letzteren  jedenfalls 
weiter  nach  vorn  zu  verlegen.  Wie  weit?  das  wird  sich  allerdings 
von  hier  aus  noch  nicht  feststellen  lassen.  Vielleicht  eher,  wenn  wir 
die  Frage  aufwerfen,  was  der  HS.  für 

A  u  f-    u  II  d    Ab  g  ä  n  g  e 

verlangt,  und  im  Zusammenhang  damit  nuiß  auch  über  die  Größe 
und  die  sonstige  Beschaffenheit  der  Bühne  das  Nötige  zu  ermitteln 
sein.  Wir  nahmen  im  Gange  der  bisherigen  Untersuchung  an:  alle 
Schauspieler  und  Requisiten  befanden  sich  hinter  dem  Vorhang  im 
Altarraum;  von  dort  wurde  aufgetreten,  dorthin  wurde  abgegangen. 


RichtuM<ieii  des  Auftretens  und   Allgehens.  25 

Kommen    wir   für    den    HS.    mit    einem  Auftritts-    und  Abgangs- 
ort aus? 

Hier  muß  eine  Betrachtung  vorausgescliickt  werden,  die  eigent- 
lich eine  erst  später  zu  erlangende  genauere  Kenntnis  der  Phantasie 
des  Publikums  voraussetzt.  An  dieser  Stelle  sei  zunächst  nur 
zugestanden,  daß  die  Phantasie  der  Zuschauer  Hans  Sachsens 
äußerst  naiv,  anspruchslos,  bereitwillig  zu  fast  jeder  Leistung  war. 
Gern  stellen  sie  sich  dort  etwas  vor,  wo  nichts  ist;  gern  sehen  sie 
einen  Gegenstand  tur  einen  andern  an:  von  den  Grenzen  solcher 
Einbildungskraft  soll  hier  noch  nicht  gesprochen  werden.  Aber  was 
man  auch  dem  Publikum  des  16.  Jh.  sicherlich  nicht  zumuten 
durfte,  das  war  die  Aufgabe,  innerhalb  des  gleichen  Anschauungs- 
komplexes unter  einem  Dinge  zwei  verschiedene,  ja  entgegen- 
gesetzte sich  vorzustellen.  Ganz  besonders  wird  das  von  der  Be- 
obachtung der  Richtungen  gelten,  aus  denen  die  Schauspieler  kom- 
men, in  die  sie  gehen.  Wenn  jemand  mit  der  Erklärung  auftritt, 
er  komme  aus  a  und  gehe  in  die  entgegengesetzte  Richtung  b,  so 
wird  es  sich  niemand  gefallen  lassen,  daß  er  nun  nach  a  wieder- 
abgeht; wenn  die  Phantasie  eben  die  Aufgabe  bewältigt  hat,  den 
Hintervorhang  für  die  Front  eines  königlichen  Palastes  anzusehen, 
wird  keiner  bei  der  Sache  bleiben  können,  wenn  in  derselben  Si- 
tuation, dem  gleichen  „Bilde''  nun  jemand  aus  der  Fremde  kommt, 
um  i  n  den  Palast  zu  gehen,  tatsächlich  aber  aus  dem  den  Palast 
bedeutenden  Hintervorhang  hervorkommt.  Hier  ist  die  zur  Ver- 
folgung der  dramatischen  Hergänge  notwendige  Denktätigkeit  viel 
zu  sehr  in  Auktion,  als  daß  sie  nicht  die  Phantasie  fort  und  fort 
entscheidend  kontroUieren  sollte.  So  scheinen  mir  auch  die  Illustra- 
toren damals  im  Volk  gelesene  Bücher,  dort  wo  sie  mehrere 
Situationen  zeichnen,  die  hintereinander  an  der  gleichen  Stelle 
spielen,  zwar  das  Detail  der  Andeutungen  des  Landschaftlichen  und 
Architektonischen  keineswegs  immer  einfach  zu  wiederholen,  die 
Richtungen  aber  in  der  einmal  angesetzten  Art  getreu  beizu- 
behalten ').  Es  kommt  endlich  dazu,  daß  inbezug  auf  diesen 
Punkt  gerade  die  theatralische  Phantasie  der  Zuschauer  besonders 
erzogen  ist:  durch  das  Spiel  auf  öffentlichem  Markt,  das  gewiß 
auch  in  Nürnberg  noch  nicht  zu  lange  tot  ist.  Hier  ist  gerade 
der  eigenthche  Anhalt  für  das  dramatische  Verständnis,  die 
Möglichkeit,  in  jedem  Augenblick  den  Punkt  der  Handlungs- 
entwicklung zu  verstehen,  in  der  konsequenten  Verfolgung  der 
Richtung  gegeben,  in  welcher  die  Schauspieler  sich  gerade  be- 
wegen. Wenn  der  einzelne  Zus(;hauer  nicht  mehr  verstehen  kann, 
was  am  entgegengesetzten  Ende  des  Marktes  gesprochen  wird, 
wenn  er  auch  die  dekorativen  Details  der  feststehenden  Häuser  und 


1)    Als     Beispiel     werden     die    Illustrationen    zum    Volkslied    vom    Hürnen    Seyfrid 
dienen  können,  die  auf  Hans  Sebald  Beham  zurückführen  (vgl.  ZDA.  45,  S.  61  ff.). 


26  Richtungen  des  Auftretens  und  Abgehens. 

der  gerade  gebrauchten  Requisiten  nicht  mehr  zu  erkennen  vermag, 
so  sagt  ihm  die  Richtung,  in  der  die  Schauspieler  ziehen,  nicht  rein 
durch  das  Medium  der  Phantasie,  sondern  noch  mehr  durch  ver- 
standesmäßige Erwägung:  jetzt  wird  Christus  vor  Pilatus  gebracht 
usw.  usw.  So  wird  man  auch  in  der  Marthakirche  die  Ansetzung 
der  Richtungen  innerhalb  eines  „Bildes"  unmöglich  ganz  vernach- 
lässigt haben  können.  Und  am  allermeisten  mußte  man  jedenfalls 
eine  Konsequenz  einer  solchen  Nichtbeachtung  der  dem  Verstände 
einleuchtenden  Richtungen  vermeiden :  daß  abgehende  Personen  auf 
eben  auftretende  stoßen,  die  sie  doch  dem  Gange  der  Handlung 
nach  unter  keinen  Umständen  sehen  dürfen. 

Unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  ist  die  Frage :  kam  die 
Meistersingerbühne  mit  einer  Auftrittsstelle  —  durch  die  Mitte  des 
Vorhangs  —  aus?  rasch  abgetan.  Schon  der  HS.  wird  uns  zeigen,  daß 
es  dann  an  jenen  bei  aller  Beweglichkeit  der  Phantasie  unerträg- 
lichen Situationen  nicht  gefehlt  hätte.  Im  ersten  Akt  ging  es  allen- 
falls noch  an:  da  nach  v.  123  ein  neuer  hypothetischer  Schauplatz 
vorgestellt  wird,  ein  neues  „Bild"  eintritt,  darf  eine  Pause  erfolgen, 
und  die  nach  hinten  abgehende  königliche  Gesellschaft  brauchte 
so  den  von  hinten  auftretenden  Schmieden  nicht  unmittelbar  zu  be- 
gegnen. Schon  im  zweiten  Akt  wird  es  anders.  Der  Ernholt 
geht  (nach  v.  2S0)  auf  Geheiß  des  Königs  Gib  ich  ins  frawen 
zimer  nein,  um  die  Königstochter  Crimhilt  zu  holen:  ins  hinere 
des  Palastes  also,  den  die  Zuschauerphantasie  in  dem  Hintervorhang 
erblickt.  Im  gleichen  Augenbhck  kommt  der  junge  Sewfrid:  aus 
der  Ferne,  tatsächlich  aber  eben  von  der  Stelle,  die  im  gleichen 
Augenblick  die  Palasttür  bedeutet,  und  er  träfe  hier  ganz  sinn- 
widrig auf  den  abgehenden  Ernholt.  Ebenso  würde  nach  v.  298 
der  mit  Crimhilt  davonfliegende  Drache  auf  den  König,  Sewfrid 
und  den  Ernholt  stoßen,  die  von  fern  (vgl.  305)  die  Fahrt  durch 
die  Luft  mitangesehen  haben,  und,  selbst  wenn  wir  das  Eintreten 
einer  kleinen  Pause  annehmen,  wäre  die  Illusion  gar  zu  gröblich  ge- 
stört. 0  Im  dritten  Akt  sehen  wir  zunächst  den  Drachen  mit  der 
Jungfrau  am  Fuß  des  Gebirges:  sie  muß  in  den  höhlenartigen 
Weg,  der  zum  Gipfel  führt:  Dariimb  schlewff  in  die  hell  herein, 
sagt  V.  394  der  Drache  zu  ihr.  Der  Raum  hinter  dem  Vorhang 
würde  also  für  den  Zuschauer  jetzt  die  hell  bedeuten;  im  nächsten 
Augenblick  ist  er  gerade  umgekehrt  die  Gegend,  aus  der  der 
verfolgende      Sewfrid      kommt.  Das      Eintreten      einer     Pause 

kann  zwar  das  Aufeinanderprallen  der  drei  beseitigen,  aber  was 
bleiben  würde,  wäre  die  Phantasiestörung,  die  noch  besonders  be- 
ton l  würde  durch  Sewfrids  Worte  (v.  399  ff):  ///  meinem  sin  las 
ich   mich  duncken,   Wiesich  der  trach   da    rein    det  schwingen 

I)  Die  Stelle  im  Anlauft  des  zweiten  Aktes  —  vor  v.  t!Ht  —  die  nocli  tjrößere 
Schwieritikeilen    niaclicn   würde,  soll   später  in  andeini  Zusaininenlinnfj;  eiörli'rt    werden. 


Auf-  und  Abgänge.  27 

Auf  das  gepirg  durch  diese  klingen  .  .  Wohin  sollte  er  bei  dem 
da  rein  und  diese  wohl  zeigen  ?  Nach  der  Stelle,  von  der  er  selbst 
kam?  Nach  einer  Stelle,  an  der  der  Drache  soeben  nicht  abge- 
gangen war?  Beides  hätte  der  Zuschauer  gleich  wenig  gebrauchen 
können.  Im  vierten  Akt  (vor  v.  511)  und  im  sechsten  steht  es 
nicht  besser;  hier  erweist  besonders  die  Stelle  v.  902  ff.  die  völlige 
Unmöglichkeit,  mit  einer  Abgangs-  und  Auf  trittssteile  auszukommen. 
Sewfrid  spricht  zu  Crimhilt:  Ich  wil  gen  in  den  innern  sal;  es 
folgen  die  szenischen  Bemerkungen:  Der  hüernen  Sewfrid  get  ab. 
Der  Ferner  kumpt  und  sieht  im  nach,  kert  sich  zv  Crimhilt  und 
spricht.  Hier  ist  durch  das  sieht  im  nach  das  sonst  noch  etwa  an- 
wendbare Aushilfsmittel,  eine  Pause  zwischen  Abgehen  und  Auf- 
treten anzunehmen,  ausgeschlossen.  Aber  damit  der  Ferner 
Sewfrid  nachsehen  kann,  darf  er  ihm  nicht  in  die  Arme  laufen, 
und  ferner  zeigt  sich  auch  hier  der  alte,  durchaus  zu  beseitigende 
Übelstand :  der  Raum  hinter  dem  Vorhang  bedeutet  den  innern 
sal,  und  im  gleichen  Moment  soll  sich  der  Zuschauer  vorstellen, 
daß  von  dorther  Dietrich  aus  seinem  heimatlichen  Bern  kommt. 
Hans  Sachs  rechnet  also  mindestens  mit  zwei  Stellen  für 
Auftritt  und  Abgang.  Aber  wo  waren  sie  gelegen?  Solange  wir 
unsere  bisher  gewonnene  Gesamtanschauung  ungemodelt  beibe- 
halten, bleibt  nur  eine  Möglichkeit  übrig:  statt  des  einen  Eingangs 
in  der  Mitte  des  Vorhangs  müßten  wir  zwei:  an  seiner  linken  und 
an  seiner  rechten  Seite  annehmen.  Aber  damit  ist  natürlich  äußerst 
wenig  gewonnen.  Jener  Richtungsrationalismus,  von  dem  wir  vor- 
hin ausgingen,  verlangt  —  in  bestimmten  Fällen  wenigstens  —  eine 
möglichst  entgegengesetzte  Lage  der  beiden  Eingänge.  Wenn  man 
links  hinter  dem  Vorhang  bei  X  aus  dem  königlichen  Palast  tritt. 


kommt  man,  zumal  der  ganze  Vorhang  von  Wand  zu  Wand  nur 
5 '/2  Meter  breit  ist,  nicht  rechts  hinterm  Vorhang,  bei  Y  also,  aus 
der  Ferne.  Oder  anders  ausgedrückt:  nachdem  jemand  hinter  den 
Vorhang,  wenn  auch  auf  der  einen  Seite,  abgegangen  und  damit 
für  die  Zuschauer  in  den  innern  sal  getreten  ist,  bedeutet  der 
ganze  Vorhang  für  ihre  Phantasie  den  Palast,  und  wer  nun  im 
gleichen  Augenblick  am  andern  Endzipfel  hervorkommt,  der  kommt 
eben  auch  aus  dem  Palast  und  nicht  von  der  Wanderschaft.  Wie 
weit  Hans   Sachs   davon   entfernt   ist,    von   diesen   beiden  Hinter- 


28  Terminologie  der  szenischen  Bemerkungen. 

eingängen  Gebrauch  zu  machen,  zeigt  sich  besonders  an  der  schon 
angeführten  Stelle  nach  v.  902,  wo  der  auftretende  Berner  dem 
abgehenden  Sewfrid  nachsehen  soll:  daß  in  der  szenischen  Be- 
merkung diese  Situation  besonders  vorgeschrieben  wird,  setzt  förm- 
hch  voraus,  daß  Sewfrid,  indem  er  abgeht,  dem  auftretenden 
Ferner  direkt  den  Rücken  zudreht  und  in  dieser  Stellung,  indem 
er  auf  seine  Ausgangsstelle  zugeht,  noch  ein  paar  Schritte  auf  der 
Bühne  tun  kann.  Geht  Sewfrid  bei  X  ab,  indem  der  Ferner  bei 
Y  erscheint,  so  ist  jene  Darstellung  fast  unmöglich.  Es  bleibt  nichts 
anderes  übrig  —  und  die  weiter  unten  herangezogenen  Situationen 
aus  andern  Sachsischen  Dramen  werden  die  Berechtigung  dieser 
Behauptung  erst  recht  erweisen  —  als  die  Erklärung:  Hans  Sachs 
hat  zwei  einander  wirklich  entgegengesetzte  Ausgänge  zur  Ver- 
fügung gehabt;  lag  der  eine,  wie  nicht  anders  anzunehmen,  hinten 
am  Vorhang,  so  muß  die  Mögliclikeit  bestanden  haben,  auch  vorn 
die  Bühne  zu  betreten  und  zu  verlassen. 

Beruht  nun  die  bisher  vorgetragene  Annahme  im  wesenthchen 
auf  einer  Kombination,  deren  Elemente  die  gegebenen  Raum- 
verhältnisse einerseits,  die  erschlossene  Psychologie  des  Hans 
Sachsischen  Fublikums  anderseits  sind,  so  wird  sich  weiter  fragen : 
ist  sie  durch  eine,  vielleicht  nicht  ohne  weiteres  erkennbare,  Be- 
stätigung noch  zu  stützen,  die  uns  der  Dichter  selbst  gibt?  Der 
Dichter  Hans  Sachs  in  seiner  Eigenschaft  als  Kenner  der  Bühnen- 
verhältnisse, für  die  er  schreibt,  so  zu  sagen  als  Regisseur  seiner 
eigenen  Werke.  Solche  Bestätigung  aber  dürfen  wir  nicht  aus  der 
eigentlichen  Dichtung  herauslesen,  sondern  nur  aus  demjenigen 
ihrer  Bestandteile,  in  dem  möglicherweise  der  Poet  wenig  oder 
gar  nicht,  dagegen  der  Regisseur  durchaus  zu  Worte  kommt. 
Es  fragt    sich :    gibt    es    bei  Elans  Sachs    eine    einigermaßen    feste 

Terminologie  der  szenischen  Bemerkungen? 

Außerordentlich  mannigfaltig  ist  ihr  Inhalt:  nicht  nur  auf  Ab- 
gehen und  Auftreten,  sondern  auch  auf  Dekorationen,  Requisiten 
und  Kostüme  und  endlich  auf  die  Bewegungen  der  mitspielenden 
Personen  hat  er  Bezug,  und  so  wird  im  einzelnen  von  ihnen  noch 
viel  die  Rede  sein.  Hier  mag  lun*  zunächst  mit  ein  paar  Hinweisen 
der  Anschauung  entgegengetreten  werden,  daß  Hans  Sachsens 
Zwischenbemerkungen  überhaupt  keinen  bühnlichen  Sinn,  sondern 
gewissermaßen  rein  epischen  Sinn  haben.  Schon  der  Mangel  an 
Variation,  die  ständige  Wiederkehr  typischer  Wendungen  weist 
auf  die  terminologische  Bedeutung  der  allermeisten  Angaben  hin. 
Vor  allem  aber  genügen  ein  paar  ganz  prägnante  Beispiele,  die 
weiterhin  in  andern  Zusannnenhängen  noch  reich  vermehrt  wer- 
den. In  der  Tragödie  von  Romulus  und  Renuis  (1560)  heißt  es  bei 
einer  Gewitterszene   (KG.  20,  S.  180):   Da  machet  man  ein  gerüm- 


Terminologie  der  szeniseheii  B(  iiiei  kimticii.     „Kingehen"  und   „konnnen."  29 

pel,  als  ob  es  donner  und  ein  un(/stünun  weiter  sei/,  und  iin  Ahab 
mit  dem  frommen  Nabot  (1557)  steht  an  der  Stelle,  wo  des 
letzteren  Steinigunji;  vorgeführt  wird,  (KG.  10,  S,  411):  Da  werffen 
die  zwen  mit  gemachten  steinen  zu,  biJ3  er  feilt  und  spricht.  Wie 
deutlich  wird  es  hier,  daß  die  theatralische  und  nicht  die  dichterische 
Anschauung-  beim  Verfasser  herrscht  und  zum  Ausdruck  kommt! 
Es  zeigt  sich  ferner  mit  zwingender  Deutlichkeit  —  und  weiterhin 
werden  die  Einzelbeweise  dafür  erbracht  werden  — ,  daß  so  gut 
wie  niemals  in  diesen  szenischen  Vorschriften  Dinge  verlangt 
werden,  die  mit  den  dem  16.  Jh.  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln 
auf  der  Nürnberger  Marthakirchenbühne  nicht  auszuführen  sind: 
ein  Dichter,  der  nicht  fortwährend  an  seine  szenischen  Bedürfnisse 
gedacht  hätte,  würde  da  ganz  anders  der  Phantasie  Nahrung  ge- 
boten haben.  So  aber  erwächst  uns  die  Pflicht,  in  der  Wiederkehr 
der  gleichen  Ausdrücke  eine  Vorschrift  zur  Benutzung  der  gleichen 
szenischen  Mittel  zu  erblicken  und  unter  Umständen  nach  dem 
bühnlichen  Sinn  einer  solchen  Terminologie  auch  da  zu  suchen,  wo 
sie  nicht  ohne  weiteres  ihre  Bedeutung  enthüllt. 

Eine  solche  bisher  nicht  bemerkte  Eigentümlicdikeit  aber  tritt 
uns  bei  genauem  Zusehen  in  den  szenischen  Anweisungen  ent- 
gegen, die  sich  auf  das  Betreten  der  Bühne  beziehen.  Das  Auf- 
treten der  Personen  wird  in  den  szenischen  Bemerkungen  fast  aus- 
schließlich durch  get  ein  {gen  ein)  oder  durch  kumpt  (kumen)  an- 
gekündigt. Dieser  Unterschied  zieht  sich  durch  das  ganze  Stück 
und  kehrt  in  allen  andern  Dramen  wieder.  Bei  der  entgegen- 
gesetzten Funktion  steht  so  gut  wie  immer  nur:  get  ab  (gent  ab), 
und  so  liegt  kein  Grund  vor,  an  eine  bloße,  etwa  aus  ästhetischen 
Rücksichten  erfolgte  Variation  des  sprachlichen  Ausdrucks  zu  denken; 
wir  w^erden  vielmehr  allen  Grund  zu  der  Annahme  haben,  daß  get 
ein  und  kumpt  nicht  die  nämliche  Bedeutung  besitzen.  Zunächst 
möchte  man  vielleicht  auch  hier  daran  denken,  daß  Hans  Sachs 
bei  solcher  Nuancierung  des  Ausdrucks  an  den  Leser  gedacht 
habe :  ihm  hätte  vielleicht  angedeutet  werden  können,  daß  er  sich 
in  bestimmten  Fällen  einen  neuen  Schauplatz  oder  eine  größere 
zeitliche  Pause  vorzustellen  habe,  w^ährend  in  den  übrigen  der  neu 
auftretende  Schauspieler  zu  den  auf  der  Bühne  befindlichen  ohne 
Ort-  und  Zeitwechsel  hinzukomme.  Man  könnte  also  etwa  ver- 
muten, daß  get  ein  das  Betreten  der  leeren  Bühne,  kumpt  das 
Hinzukommen  zur  vollen  Aktion  bedeute.  Bei  ganz  oberflächlichem 
Zusehen  möchte  man  vielleicht  diesen  Eindruck  haben;  aber  schon 
eine  nähere  Prüfung  des  HS.  zeigt,  daß  eine  solche  Hypothese  nicht 
Stich  hält.  Wohl  get  König  Sigmund  vor  v.  52  ein,  nachdem 
durch  das  Abtreten  des  Ernholt  die  Bühne  leer  ist,  wohl  heißt  es 
auch  vor  v.  124,  w^o  uns  der  Dichter  vom  niederländischen  Hof  in 
die   Schmiede  führt,    von    deren    Bewohnern:     sie  gent  ein;    aber 


30  „Eingehen"  und   „kommen". 

schon  V.  140,  bei  dem  SewMd  zu  ihnen  kommt,  durchkreuzt  die 
scheinbare  Regel,  denn  er  get  ebenfalls  ein,  und  wenn  im  zweiten 
„Bild"  des  zweiten  Aktes  vor  v.  227  von  dem  auf  die  leere  Bühne 
tretenden  Gibich  gesagt  wird,  er  get  ein  und  v.  231  der  ihn  be- 
suchende Sewfrid  kumpt,  so  steht  doch  dies  Sewfrid  kumpt  auch 
schon  im  Beginn  des  Aktes  vor  v.  193,  wo  er  als  erster  auf  dem 
neuen  Schauplatz  erscheint.  Ebenso  wäre  auch  weiterhin  get  ein 
gegen  das  oben  angenommene  Prinzip  vor  v.  640  und  1074,  kumpt 
ihm  zuwider  vor  v.  396,  511,  937  und  1062  angewendet.  Nun  soll, 
wie  sich  noch  zeigen  wird,  keineswegs  behauptet  werden,  daß  Hans 
Sachs  mit  der  Sicherheit  einer  Maschine  in  der  Anwendung  seiner 
Terminologien  arbeite:  es  wird  sich  immer  nur  um  ein  einiger- 
maßen festes  Prinzip  handeln,  gegen  das  aus  verschiedenen  Ver- 
anlassungen bald  einmal  verstoßen  werden  kann,  und  daß  wir  Aus- 
nahmen von  jeder  Regel  treffen,  wird  uns  nicht  Wunder  nehmen. 
Aber  hier  ist  die  Zahl  der  Ausnahmen  verhältnismäßig  so  groß, 
daß  die  Regel  dadurch  ihr  Dasein  verliert,  und  jedes  andere  Hans 
Sachsische  Stück,  das  wir  daraufhin  durchsehen,  wird  das  gleiche 
Verhältnis  ergeben. 

So  werden  wir  das  Recht  haben,  nach  einer  andern  Unter- 
scheidung zu  suchen  und  die  Kennzeichnung  der  Auftrittsstellen 
durch  besondere  termini  für  des  Dichters  Absicht  zu  halten,  sofern 
hier  eine  besser  eingehaltene  Regel  sich  feststellen  läßt.  Ist  in 
den  Fällen,  wo  wir  annehmen  müssen,  daß  in  demselben  „Bild" 
nacheinander  auftretende  Personen  aus  der  gleichen  Richtung 
kommen,  stets  oder  so  gut  wie  stets  der  eine  Ausdruck  verwendet, 
während  dort,  wo  eine  Person  aus  entgegengesetzter  Richtung 
kommen  muß,  der  andere  Ausdruck  sich  findet?  Und  stehen  die  so 
ermittelten  Gänge  der  Schauspieler  zu  den  etwa  sonst  über  ihre 
Bewegungen  auf  der  Bühne  gebotenen  szenischen  Bemerkungen 
und  zu  den  etwa  noch  auf  dem  Schauplatz  zu  ermittelnden  fest- 
gelegten Dekorationssurrogaten  oder  Requisiten  in  einleuchtender 
Beziehung,  so  daß  wir  das  Bild,  das  Hans  Sachs  sich  während 
der  Abfassung  des  Dramas  von  den  Bewegungen  seines  Personals 
machte,  ziemlich  widerspruchslos  rekonstruieren  können?  Ein  paar 
Beispiele  hier  zunächst  nur  an  Stelle  der  später  folgenden  ganz 
genauen  Einzeldarstellung:  sie  zeigen,  daß  an  den  entscheidenden 
Punkten  Hans  Sachs  tatsächlich  jene  Gegeneinanderstellung  vor- 
nimmt. Wo  es  irgend  darauf  ankonnnen  kann,  durch  die  Hervor- 
hebung einer  Richtung,  die  doch  wieder  nur  durch  die  Betonung 
mindestens  einer  Gegenrichtung  zu  charakterisieren  ist,  der  Phanta- 
sie des  Publikums  einen  Anhalt  zu  geben,  finden  wir  das  get  ein 
und  das  kumpt  in  sehr  sorgfälliger  Scheidung  verwendet.  Die  in 
lausend  hanssachsischen  Szenen  vorkommende  Hauptsiluation: 
Königsschk)ß  inid  seine  Bewohner  auf  der  einen,    die  Fremde,   die 


„Eingehen"  und  „kommen".  31 

Ferne  auf  der  andern  Seite  wird  auf  solche  Weise  gekennzeichnet, 
daß  die  Bewohner  des  Schlosses  einzugehen,  die  Fremden  zu  kommen 
pflegen,  und  besonders  wird  das  dann  streng  festgehalten,  wenn 
jemand  der  ins  Schloß  geht,  einem  aus  der  Ferne  Kommenden  nicht 
begegnen  darf.  Der  letztere  kumpt  alsdann,  während  der  andere 
eingegangen  ist  und  die  Bühne  nun  auch  nach  hinten  wieder  ver- 
lassen hat.  Hinten:  denn  eingen  bedeutet  auftreten  von  hinten, 
kämmen  dagegen  auftreten  von  vorn.  Daß  wir  nicht  die  umgekehrte 
Deutung  anzunehmen  haben,  ist  fast  selbstverständhch:  die  Phan- 
tasie des  Zuschauers  hätte  es  sich  nicht  gefallen  lassen  können,  wenn 
jemand,  der  aus  dem  innern  sal  tritt,  von  der  offenen  Vorderseite  her, 
aus  der  Richtung,  in  der  die  Zuschauer  saßen,  die  Bühne  betreten 
hätte :  er  muß  aus  dem  verschlossenen  Teil  des  Altarraums  heraus- 
kommen; der  Fremde  dagegen,  der,  aus  der  weiten  Welt  kehrend, 
dem  Königspalaste  naht,  darf  und  muß  von  vorn  auftreten,  wie 
jeder  Nürnberger,  der  aus  den  Gassen  der  Stadt  konnnend  zum 
Altarraum  emporsteigen  wollte.  Es  läßt  sich  aber  an  manchen 
Stellen  statt  psychologisch  auch  urkundlich  erweisen.  Nach  v.  198 
kämpft  Sewfrid  mit  dem  (ersten)  Drachen,  lauffen  paid  ab. 
Nachher  get  er  wider  ein,  während  es  vorher  bei  seinem  Auf- 
treten hieß:  er  kumpt.  Das  Eingen  kann  hier  aber  nur  von 
hinten  erfolgen,  denn  er  hat  inzwischen  daus  ain  rawch  gemacht, 
sam  verprenn  er  den  trachen,^)  und  das  kann  doch  nur  hinten  er- 
folgt sein.  Von  hinten  geht  er  ein,  von  vorn  ist  er  vorher  ge- 
kommen. So  kummen  vor  allem,  so  gut  wie  überall  bei  Hans 
Sachs  die  zahlreichen  Postboten  (z.  B.  Fiorio  1551:  KG.  8,  S.  307; 
Tristan  1553:  KG.  12,  S.  160;  Wilhelm  v.  Ostreich  1556:  KG.  12, 
S.  501;  Melusine  1556:  KG.  12,  S.  543,  548;  Wilhelm  v.  Orieans 
1559:  KG.  16,  S.  65,  77,  84;  Antonius  1560:  KG.  20,  S.  203);  man 
mag  das  besonders  hervorheben,  weil  in  dem  gleich  durchzu- 
sprechenden HS.  ein  Briefbote  fehlt,  und  ein  außerordentlich  deut- 
liches Beispiel  aus  der  Comödie  Beritola  v.  J.  1560  (KG.  16,  S.  134) 
soll  hier  folgen.  Es  ist  der  Anfang  des  7.  Actus,  er  spielt  offenbar 
vor  dem  Haus  des  Caspar  Doria  zu  Genua,  in  dem  die  Amme  mit 
Beritolas  beiden  jüngeren  Kindern  sich  aufhält: 

Die  amb  gehet  ein,  redt  mit  ihr  selb  und  spricht: 

Ach  gott,  wo  ist  mein  herrschafft  nun  ? 
Mein  herr  und  fraw  und  der  eltst  sun 
In  dem  eilend,  arm  und  verdorben, 
Oder  für  grosser  trübsal  gstorben  ? 


1)  Diese  Stelle  mit  ihrem  sam  gehört  auch  zu   denen,  die   das  Bühnentechnische  der 
szenischen  Bemerkungen  beweisen.     Vgl.  o.  S.  28  f. 


32  „Eingehen"  und  „kommen". 

Der postbott  kombt,  blest  und  schreit  darnach. 

Wer  zeygt  mir  hie  zu  Genua 

Das  hauß  herr  Caspar  Doria  ? 

Kan  mir  denn  das  kein  mensch  nit  sagen? 

Die  amb  schreijt: 

Herr!  herr!  ein  bott  thut  nach  euch  fragen. 

Herr  Caspar  Doria  gehet  ein  vnd  spricht: 
Was  bringt  der  mann  für  bottschaft  da  ? 

Die  Amme  also  get  ein:  von  iiinten,  aus  Dorias  Hause  und  hält 
ihren  Monolog,  der  Postbote  kombt:  von  vorn,  aus  der  Fremde  und 
fragt  nach  dem  Doria.  Die  Amme  schreit  den  Herrn  heraus,  und 
richtig,  er  get  ein:  er  tritt,  wie  vorher  die  Amme,  aus  dem  Hause, 
d.  h.  dem  hinteren  Vorhang.  —  Und  so  ist  es  auch,  wenn  der  aus 
der  Ferne  Kommende  kein  Bote,  sondern  etwa  gar  der  Hausherr 
selbst  ist.  Ein  Beispiel  aus  der  Tragödie  Jephthe  v,  J.  1555.  Der 
Anfang  des  dritten  Aktes  bringt  die  Heimkehr  des  Siegers,  der 
das,  was  ihm  zuerst  aus  seinem  Hause  entgegentreten  wird,  dem 
Herrn  als  Schlachtopfer  weihen  will.    Da  heißt  es  (KG.  10,  S.  179 f.): 

Die  Tochter  Jepthe  gehet  ein  mit  einer  bauchen  vnnd  redt 
mit  ihr  selb  und  zwo  jungkfraiven  volgen  ir  nach: 

Gott  sey  lob!  ich  hab  gewiß  vernommen 

usw. 
Jepthe  kombt,  die  Tochter  geht  ihm  entgegen  vnd  spricht: 

Hier  verlangt  der  Zuschauer  unbedingt,  daß  ihm  das  Entgegen- 
kommen deutlich  vorgeführt  wird;  auf  die  schönste  Weise  wird 
das  ermöglicht,  indem  die  Tochter  hinten  aus  dem  Vorhang,  d.  i. 
dem  Hause  tritt,  der  Vater  dagegen  an  der  Vorderseite  der  Bühne 
erscheint:  so  kann  ihm  jene  über  die  ganze  Tiefe  der  Bühne  weg 
gerade  entgegengehen. 

Aber  durchaus  nicht  etwa  bleibt  diese  Terminologie  auf  den 
Gegensatz:  Haus  —  Fremde  beschränkt,  und  wo  ein  Herr  in  oder 
vor  seinem  Hause  erscheint,  der  Gang  der  Handlung  aber  nicht 
die  Richtungskontrastierung  erfordert,  ist  das  Eingehen  auch  keines- 
wegs die  Regel,  wenngleich  es  das  Gewöhnliche  ist.  Sondern  ganz 
allgemein  heißt:  eingen  auftreten  von  hinten,  kummen  auftreten 
von  vorn,  für  die  verschiedensten  Richtungskontrastierungen 
wird  es  verwendet,  und  auch  andere  Berücksichtigungen  der 
Bühnenverhältnisse  spiegeln  sich  in  der  Verwertung  der  in  sol- 
chem Sinne  zu  deutenden  termini.  Wieso  der  Ernholt  in  der 
Regel  während  des  „Hildes"  nicht  einget,  sondern  kumpt,  wieso  die 
Feinde    zur    Schla(;ht    stets    von    vorn    auftreten,     wird    uns    erst 


Eingehen    und   Konnnen.  33 

später  deutlich  werden.  Hier  wollen  wir  zunächst  die  szeni- 
schen Bemerkungen  des  HS.,  soweit  sie  unter  dem  behandelten 
Gesichtspunkte  in  Betracht  kommen,  durchgehen,  die  feine  Nuan- 
cierung,  die  sich  etwa  in  ihnen  ausprägt,  für  später  vorbehaltend. 

Vor  V.  52  König  Sigmund  get  ein  —  von  hinten,  aus  dem 
Königspalast  — ,  obwohl  ein  Kommen  aus  der  Ferne  hier  nicht  er- 
folgt. Die  Stelle  vor  100  fällt  zunächst  aus.  Das  Abgehen,  nach 
V.  123,  erfolgt  wohl  nach  vorn:  man  geleitet  Sewfrid,  der  in  die 
Fremde  zieht. 

Vor  V.  124,  Der  schmid  und  sein  knecht  gent  ein:  von  hinten, 
in  die  Schmiede;  eine  solche  hat  —  wie  der  Zuschauer  sich  sagt  — 
nur  einen  Eingang;  daher  kiimpt  auch  Sewfrid  vor  v.  140  nicht, 
sondern  get  ein;  die  Tür  —  der  Vorhangsspalt  (doch  s.  u.  S.  69 ff.)  — 
spielt  auch  insofern  eine  Rolle,  als  Sew^frid  vor  seinem  Eingehen 
klopft  (nach  v.  137:  szenische  Bemerkung)  und  der  Knecht  zunächst 
läuft,  um  aufzutun,  und  bevor  Sewfrid  sichtbar  wird  den  Ankömm- 
ling mit  einem  Worte  beschreibt.  Die  Stelle  vor  v.  160  bleibe  zu- 
nächst weg;  immerhin  mag  schon  hier  darauf  hingewiesen  werden, 
daß  hier  nicht  kamen  steht,  sondern  kamen  wider.  Das  Abgehen 
nach  V.  185  und  192  muß  gewiß  nach  hinten  erfolgen :  durch  die 
eine  einzige  Schmiedetür. 

Vor  V.  193  kumpi  Sewfrid:  von  vorn;  wir  sind  im  Wald,  aber 
das  allein  ist  nicht  der  Grund,  einen  besseren  werden  wir  noch 
kennen  lernen,  an  sich  könnte  ganz  wohl  auch  get  ein :  von  hinten, 
stehen.  Vor  v.  199  vgl.  o.  jagt  er  den  Drachen  nach  hinten 
ab,  macht  draußen  einen  Rauch  und  get  ein:  kommt  von  hinten 
wieder.    Nach  v.  226  geht  er  (wohin?)  ab. 

Dann  get  König  Gibich  ein  mit  seinem  Herold  —  von  hinten 
aus  dem  Palast ;  der  Ehrenholt  geht  ab  —  gewiß  nach  hinten,  da 
er  Crimhilt  aus  dem  frawen  zimer,  also  dem  Schloßinnern  holt, 
und  trifft  somit  nicht  auf  Sewfrid,  der  vor  v.  231  kampt:  von  vorn, 
aus  der  Fremde,  v.  258  treten  Herold  und  Crimhilt  von  hinten, 
aus  dem  Schloßinnern  auf  (wegen  des  Ausdrucks  vgl.  u.);  nach  v. 
276  geht  Gibich  mit  Sewfrid  zum  Turnier:  an  die  grüne  Rhein- 
wiese, aus  dem  Schloß  heraus,  w^ohl  nach  vorn.  Crimhilt  steht 
nun  —  stillschweigend  und  ausnahmsweise  hat  der  Dichter  jetzt 
einen  kleinen  Szenenwechsel  eintreten  lassen,  ohne  alle  Personen 
abgehen  und  die  einzige,  die  er  gleich  wieder  braucht,  wieder  ein- 
gehen zu  lassen')  —  an  der  Zinne;  vor  v.  285  heißt  es:  In  dem 
flewgt  der  trach  daher:  wie  und  wo  das  geschieht,  wissen  wir  vor- 
läufig noch  nicht  zu  sagen,  aber  auf  der  Bühne  steht  er  offenbar 
noch  nicht.  Erst  vor  v.  292  kampt  er:  von  vorn,  aus  der  Ferne, 
nempt  sie  pey  der  hant,  laaft  eillent  mit  ir  ab:    nach  hinten,  über 


1)  Vgl.  u.  S.  40. 
Herr  mann,   Theater. 


34  Eingehen  und  Kommen. 

die  ganze  Bühne,  und  so  hat  sie  noch  Zeit,  sechs  Verse  zu  sprechen, 
bis  nach  v.  298  endgültig  steht:  Der  trache  geht  mit  der  junckfraw 
ab.  Unmittelbar  vor  v.  299  kumpt  der  König  mit  Sewfriden  und 
dem  Herolt:  von  vorn,  von  der  Turnierwiese;  so  sind  sie  nicht  auf 
den  Drachen  mit  seiner  Beute  gestoßen. 

Das  kurze  erste  „Bild"  des  dritten  Aktes  muß  vorläufig  außer 
Betracht  bleiben.  Im  zweiten  sind  wir  am  Fuß  des  Drachensteins. 
Vor  V.  396  kiimbt  Sewfrid  von  vorn:  auf  den  Hintervorhang  los,- 
der  also  den  Drachenstein  bedeutet;  er  setzt  v.  405  auseinander, 
daß  ein  Weg  hinauf  nicht  zu  sehen  ist.  So  kann  der  Zwerg  Ew- 
gelein,  der  vor  v.  412  auftritt,  auch  nicht  durch  den  Hintervorgang 
eingehn,  er  kiimbt  vielmehr  ebenfalls  von  vorn.  Die  erste  Szene 
des  vierten  Akts  sei  zunächst  wieder  zurückgestellt;  dann  aber  vor 
V.  511  sehen  wir  den  Zwerg  und  Sewfrid  kiimen:  wieder  von  vorn, 
—  hinten  ist  noch  immer  der  unersteighche  Berg.  Woher  der 
Riese  vor  v.  548  springt,  wohin  er  vor  v.  545  läuft,  lassen  wir  not- 
gedrungen noch  unerörtert;  auch  das  kumpt  vor  v.  548  mag  uns 
einstweilen  nicht  befremden.  Nach  v.  627  können  die  drei  wohl 
nach  hinten  abgehn,  da  unter  des  Riesen  kundiger  Führung  nun 
tatsächlich  der  Aufstieg  beginnt. 

Im  fünften  Akt  sind  wir  oben  auf  dem  Berg.  Er  hat  für  Leute 
die  nicht  fliegen  können,  nur  einen  Eingang,  und  der  ist  hier  hinten 
gedacht.  So  get  vor  v.  628  Crimhilt  ein  und  ebenso  vor  639 
Sewfrid  mit  seinen  Begleitern,  der  wegweisende  Kuperon  voran. 
Vor  V.  702  dagegen  kumpt  der  Drache :  er  fliegt  durch  die  Luft  von 
fern  her  und  benutzt  also  nicht  den  hinteren  Eingang.  Daß  die 
Jungfrau  ebendaher  und  vor  v.  706  auch  der  Zwerg  ebenfalls  kumen, 
werden  wir  später  verstehen.  Nach  v.  749  gehen  alle  ab:  nach 
hinten  natürlich. 

Dann  sind  wir  wieder  in  Gibichs  Schloß ;  ganz  regelmäßig,  daß 
vor  V.  750  der  König  von  hinten  einget,  daß  dagegen  der  Zwerg, 
der  aus  der  Ferne  botschaftbringend  den  Geretteten  voraneilt,  wie 
alle  Boten  von  vorn  kumbt.  Sie  selbst  kommen  gewiß  aus  der- 
selben Richtung;  die  szenische  Bemerkung  vor  v.  771  ordnet  wenig- 
stens nicht  das  Gegenteil  an.  Nach  v.  798  gehen  die  Wiederver- 
einigten, gewiß  nach  hinten,  ab. 

Im  sechsten  Akt,  im  Wormser  Schloß,  get  Sewfrid  mit  Crim- 
hilden  ein:  von  hinten;  die  Gegenrichtung  spielt  in  diesem  Bild 
keine  Rolle :  ohne  daß  weitere  Personen  auftreten,  gehen  die  beiden 
nach  V.  862  —  wohin?  —  wieder  ab.  Nach  einer  Pause  get 
König  Gibich  ein;  wieder  sind  wir  im  Wormser  Schloß;  schon 
nach  870  ist  das  Bild  vorüber.  Nun  sind  wir  in  Bern;  dessen 
Fürst  Dietrich  gei  ein  mit  dem  alten  Hilteprant;  nach  890  gehn 
sie  wieder  ab.  Dann  kommen  wir  nach  Worms  zurück:  Crimhilt 
und   Sewfrid  gent  ein,   und    nach    einem    kurzen  Gespräch    v.  902 


Eindrehen    und    Koiinnon.     Das   Buch   des   Inspizienten.  35 

geht  Sewfrid  ab,  in  den  Innern  sal,  wie  er  sagt,  d.  h.  er  tritt  hinter 
den  Vorhang,  Nun  jene  wiciitige  Stehe!  Der  Ferner  kunibt  und 
sieht  im  nach:  er  tritt  vorn  auf  und  bhckt  auf  den  hinten  Ab- 
gehenden. —  Nach  V.  918  geht  die  Königin  hinten  ab,  der  Ferner 
zankt  sich  mit  Hiltprant,  der  offenbar  zugleich  mit  ihm  gekumen 
ist,  schlägt  ihn  nieder,  verläßt  (nach  hinten)  die  Bühne,  nach  v.  932, 
und  nach  v.  936  folgt  Hiltprant  ihm  nach. 

Von  V.  937  an  sind  wir  nicht  am  oder  im  Schloß,  sondern  im 
Rosengarten;  sein  Eingang  ist  nicht  hinten  sondern  vorn:  Crimhilt 
kumbt  (vor  v.  937),  Sewfrid  kumbt  (vor  v.  939),  Dietrich  luimbt  (vor 
V.  942).  Wo  951—53  der  Herolt  und  Hiltprant  sind,  bleibt  zunächst 
dahingestellt.  Aber  vor  v.  975  kumpt  auch  Hiltprant.  Nach  v.  1003 
gehen  sie  alle  —  gewiß  nach  vorn  —  ab. 

Im  Beginn  des  siebenten  Aktes  wieder  das  Wormser  Schloß; 
die  Königsöhne  Guenther,  Gernot  und  Hagen  gent  ein  und,  ohne 
daß  ein  andrer  dazu  tritt,  nach  v.  1061  jedenfalls  auch  hinten 
wieder  ab. 

Dann  führt  der  Dichter  uns  in  den  Wald,  Sewfrid  kumpt  wie 
in  jenem  Drachenwald,  in  der  Wildnis  des  Drachensteins  und  im 
Rosengarten:  von  vorn;  er  legt  sich  nieder;  vor  1067  kumen  die 
drei  Brüder,  die  ihm  nachgegangen  sind,  in  der  gleichen  Richtung 
und  gehen  nach  dem  Morde  wohl  nach  hinten  ab,  bei  Hof  den 
Leichenfund  zu  melden ;  vom  Hofe  her,  von  hinten,  get  Crimhilt 
ein  mit  dem  Herold  und  einem  Jäger  und  tragen  den  Toten  ab. 
Vom  Schluß  mag  später  die  Rede  sein. 

Das  wäre  die  Scheidung  aus  dem  Gröbsten,  die  erste  Probe 
auf  das  Exempel,  ob  jene  Theorie  Eingehen  —  Kommen  =  Hinten- 
auftreten —  Vornauftreten  ihre  Richtigkeit  hat.  Jedes  andere 
Hans  Sachsische  Stück  mag  man  zur  Nachprüfung  heranziehen. 
Nun  wird  es  freilich  an  Einwänden  nicht  fehlen,  und  ihnen  mag 
zugleich  mit  dem  Versuch,  jene  These  weiter  zu  stützen  und  aus- 
zunützen, hier  allmählich  begegnet  werden. 

Erstlich  w  ird  man  sagen :  wie  sollte  ein  Dichter-Regisseur  dar- 
auf kommen,  zwar  die  Stelle,  an  der  ein  Schauspieler  aufzutreten 
hat,  fast  jedesmal  durch  die  Terminologie  deutlich  zu  kennzeichnen, 
dagegen  ihm  für  die  Stelle,  an  der  er  abgehen  soll,  keinerlei  Hin- 
weis zu  geben  ?  Denn  wie  wir  schon  sahen :  der  Variation  Eingen 
und  Kumen  steht  nur  das  eine  Abgen  gegenüber,  ganz  gleich,  ob 
es  von  vorn  oder  hinten  erfolgen  soll.  Die  Antwort  darauf  lautet: 
Hans  Sachsens  Tendenz  bei  der  Niederschrift  ist  nicht,  Anwei- 
sungen zu  geben,  die  der  Schauspieler  zu  befolgen  hat,  nicht  ein 
„Buch"  gilt  es  herzustellen,  aus  dem  die  einzelnen  „Rollen**  wie  im 
modernen  Bühnenleben  ,,ausgeschrieben''  w^erden  können ;  es  ist  auch 
nicht  eigentlich,  wie  wir  oben  es  wohl  nannten,  um  uns  zunächst 
allgemein  verständlich  zu  machen,  der  „Regisseur",  der  diese  szeni- 

3* 


36  Auftreten  aus  der  Sakristei. 

sehen  Bemerkungen  für  die  Aufführung  und  ihre  Einrichtung  nie- 
derschreibt ;  wenn  wir  einen  modernen  Ausdruck  anwenden  wollen, 
sind  sie  vielmehr  vom  Standpunkt  des  „Inspizienten"  aus  zu  ver- 
stehen. Der  Dichter  oder  sein  Vertreter  steht  hinter  der  Szene, 
um  alles  zu  dirigieren  und  auch  den  Schauspielern  im  letzen  Mo- 
ment die  nötigen  Anweisungen  zu  geben,  in  der  Hand  eine  be- 
sondere Abschrift  des  Stückes,  die  nicht  zuviel  Platz  fortnimmt,  in 
der  doch  nicht  zu  oft  umgeblättert  werden  muß  und  die  daher  in 
dem  sonst  kaum  vorkommenden  Schmalfolioformat  geschrieben  ist '). 
In  ein  solches  Inspizientenexemplar  Hinweise  über  die  Stehe  ein- 
zutragen, an  der  der  Schauspieler  abzugehen  hat,  wäre  zwecklos 
gewesen:  da  muß  der  Darsteller  allein  Bescheid  wissen;  dagegen 
war  es  sehr  am  Platze,  die  Auftrittsorte  zu  kennzeichnen,  damit 
der  Inspizient  die  Schauspieler  am  richtigen  Platze  hinausschieben 
konnte.  So  scheint  jene  verschiedenartige  Behandlung  genügend 
erklärt. 

Ein  zweiter  Einwand  wird  der  sein.  Diese  vieheicht  lockend 
durchgeführte  Scheidung  arbeitet  innner  mit  den  Richtungen  „hinten" 
und  „vorn",  vergißt  aber  ganz  programmwidrig  den' Blick  auf  die 
gegebenen  Raumverhältnisse.  Wo  sollten  in  der  Marthakirche 
Darsteller  vorn  auftreten,  wo  gibt  es  da  einen  Platz,  an  dem  sie 
vor  dem  Auftreten  den  Zuschauern  nicht  sichtbar  sind  ?  Tatsäch- 
lich aber  hilft  uns  ein  Blick  auf  unsern  Plan  —  es  ist  wirklich 
Zeit,  ihn  wieder  heranzuziehen  —  aus  aller  Verlegenheit.  Eine 
höchst  geeignete  Stelle  zum  Auftreten  ist  vorn  vorhanden:  kumen- 
cle  Personen  treten  aus  der 

Sakristei. 
Die  Bühne  muß  dann  allerdings  bis  hart  an  die  auf  dem  Plan 
deutlich  kenntliche  Tih^  heran  gereicht  haben.  Schon  die  bloße  Be- 
trachtung des  Raumes  —  und  dazu  die  eine  wohl  verwertbare 
archivalische  Notiz  —  hatten  es  uns  wahrscheinlich  gemacht,  daß 
nicht  nur  der  vorderste  Teil  des  Altarraumes  zur  Bühne  gedient, 
daß  sie  sich  vielmehr  ein  Stück  über  ihn  hinaus  bis  in  die  Nähe 
der  Zuschauerbänke  ausgedehnt  und  rechts  und  links  über  die  Breite 
des  Altarraumes  etwas  hinausgegriffen  haben  wird.  Jetzt  wird 
nun  durch  das,  was  sich  aus  der  Betrachtung  des  Dramas  ergab, 
die  Wahrscheinlichkeit  fast  zur  Gewißheit.  Die  Bühne  muß  rechts 
bis  in  die  Nähe  der  Sakristeitür  gereicht  haben  und  wird  sich, 
wohl  schon  aus  Gründen  der  Symmetrie,  nach  links  ebenso  weit 
ausgedehnt  haben.  „Bis  in  die  Nähe",  nicht  unmittelbar  bis  heran. 
Zwischen  ihr  und  der  Bühne  muß  sich  noch  etwas  anderes  be- 
funden haben:   eine   Treppe.     Denn   nun   kommen   wir  auch    vom 


1)  Wenigstens     eine     solche    Handschrift     hat     sich    erhalten :     Wiener    Hofhibl. 
Autogr.  X,  4:  Mucius   Scaevohi.     Vgl.  den   Anhang  tlieses   Buches. 


Das   Podium.  37 

Drama  her,  wie  vorher  von  den  Raumverhältnissen  aus,  zu  der 
sicheren  Annahme,  daß  nicht  zur  ebenen  Erde  gespielt  worden  ist, 
sondern  auf  einem 

P  o  d  i  u  m. 

Und  zwar  kann  es  nicht  genügt  haben,  daß  der  im  Schiff  befind- 
liche Teil  der  Bühne  inn  die  15  cm  erhöht  war,  um  die  der 
Altarraum  über  das  Schiff  hinausragt.  Es  muß  vielmehr  auch  auf 
dem  Bühnenaltarraum  und  über  die  ganze  Vorderbühne  weg  ein 
besonderes,  nicht  zu  niederes  Podium  gebaut  worden  sein.  Schon 
der  HS.  führt  darauf  hin.  Im  5.  Akt,  nachdem  Sewfrid  den  Rie- 
sen erschlagen  hat,  heißt  es  (vor  v.  664)  in  der  szenischen  Bemer- 
kung: Sewfrid  wurft  in  pey  aim  pain  vberab  \  ebenso  nach  dem 
Drachenkampf  in  der  großen  Anweisung  vor  v.  702:  den  wirft 
er  auch  hinab.  Wohin  wirft  Sewfrid  den  Drachen  und  den  Riesen? 
Die  Darsteller  dieser  Rollen  mußten  liegend  den  Blicken  der  Zu- 
schauer entschwinden  und  zwar  so,  daß  dabei  der  Eindruck  des 
Wälzens  und  Fallens  hervorgerufen  wurde.  Das  ist  ohne  Schwie- 
rigkeiten herbeizuführen  gewesen,  wenn  auf  dem  Bühnenraum  ein 
nicht  hohes  Podium  errichtet  war.  An  irgend  einer  Stelle  des 
hinteren  Bühnenteils  —  wir  werden  später  sehen,  welche  dazu  ge- 
eignet war  —  mußte  ein  Stück  des  Podiums  fehlen;  hier  schlug 
Sewfrid  den  Gegner  nieder,  dieser  ließ  sich  dann  herabwälzen '), 
und  gelangte  so  in  den  Hinterraum  hinter  der  Bühne.  Wer  aber 
dadurch  noch  nicht  dazu  gebracht  wird,  ein  Podium  als  notwendig 
anzunehmen,  der  lese  die  folgende  Stelle  aus  Hans  Sachsens  Cleo- 
patra vom  Jahre  1560:  die  Szene,  da  Antonius  sich  als  ein  schlech- 
ter Fischer  erweist  (K.  G.  20,  S.  200) : 

Sie  spricht: 

Da  thii  deinen  angel  einsencken! 

Wie  fechst  du  fisch,  kan  ich  gedencken. 
Er  senckt  den  angel  durch  ein  loch.  Im  wird  ein  lebendig 
fisch  daran  gesteckt,  den  zeucht  er  herauf  und  spricht:  .  .  . 
Dieses  loch  kann  doch  nur  ein  Loch  im  Podium  sein;  von  hinten 
kriecht  jemand  hinunter  und  steckt  den  Fisch  an  Antonius'  Angel. 
Und  auch  hier  zeigt  sich  ferner,  daß  das  Podium  auch  an  einer 
Seite  der  Bühne  verkürzt  war;  denn  als  Antonius  noch  einen 
Fischzug  versucht,  heißt  es  bei  Hans  Sachs  weiter:  Cleopatra  redt 
mit  einer  hoffrauwen  heimlich,  die  hecht  dem  Antonio  ein  dürren 

1)  Auffallend  ist  vor  v.  664  warft  in  pey   aim   pain  vberab,    weil  in  des  Dichters 
Quelle,  dem  Lied  ven  hürnen    Sewfrid  (str.  114,  5 f.)  steht: 

Er  nam  jn  bei]  dem  arme, 
Warff  jn  vom  stayn  hindan. 
Hans   Sachs  hat  also  geändert,    wolü   aus   Bühnenrücksichten:  der  Sewfriddarsteller 
kann    den  liegenden    Riesen  besser   abwälzen,    wenn  er   ihn  beim    Bein  faßt  als  wenn  er 
den  Ann  nimmt. 


38  Podium  und  Stuten. 

fisch  an,  den  zeucht  er  herauff.  Hier  muß  das  Anhängen  doch  vor 
den  Augen  des  PubHkums  geschehen,  die  Hoffrau  muß  also  irgend- 
wo so  daß  man  es  sieht,  unter  das  Podium  fassen;  dies  muß  daher 
irgendwo  nicht  bis  an  die  Kirchenwand  stoßen,  und  das  Fischloch 
des  Antonius  hat  sich  gewiß  ganz  nahe  jener  Stelle  befunden,  an 
der  Sewfrid  seinen  Gegner  in  die  Tiefe  warf. 

Jedenfalls  also  gab  es  ein  Podium,  und  der  Ausdruck  get  ab, 
den  Hans  Sachs  für  das  Verlassen  der  Bühne  braucht,  ob  es  nun 
vorn  oder  hinten  geschieht,  gewinnt  auf  solche  Art  seinen  guten, 
auf  die  Raumverhältnisse  gegründeten  Sinn  '). 

Sehr  hoch  kann  das  Podium  nicht  gewesen  sein;  war  der 
Chorstuhl  fest  und  um  einige  Stufen  erhöht,  so  muß  die  Höhe 
dieses  Stuhlpodiums  das  Maximum  der  Höhe  des  ganzen  Bühnen- 
podiums bezeichnet  haben ;  wir  denken  an  80  cm :  soviel  konnte  man 
sich  herabfallen  lassen,  ohne  sich  Schaden  zu  tun,  soviel  genügte 
um  ein  Herunterkriechen  für  die  Fischbefestigung  zu  ermöglichen, 
und  die  früher  angestellte  Raumberechnung  hatte  ergeben,  daß 
man  bei  einer  Podiumhöhe  von  etwa  1  m  auch  auf  den  hinteren 
Bänken  des  Schiffes  leidlich  sehen  konnte.  Jedenfalls  aber  mußten, 
wie  hinter  dem  Vorhang  für  die  Eingenden,  so  auch  bei  der 
Sakristei  am  rechten  Profil  der  Vorderbühne  für  die  Kumenden 
Stufen  angebracht  worden  sein,  die  zur  Bühne  emporführten;  sie 
nahmen  von  den  3,5  m,  die  die  Vorderbühne  rechts  über  den 
Altarraum  hätte  herausreichen  können,  wenn  sie  sich  hätte  un- 
mittelbar bis   zur   Sakristeitür   ausdehnen   dürfen,    etwa   1  m  fort. 

Jedenfalls  aber  sind  auf  solche  Art  die  beiden  Auftritts-  und 
Abgangsorte    in   wesentlich    entgegengesetzter  Richtung    mit    den 


1)  Ziemlich  ausnahmslos  durchgeführt  wird  der  Ausdruck  get  ab  im  Laufe  des 
Jahres  1555;  vorher  kommen  die  bei  Hans  Sachs  ursprünglich  allein  üblichen  Termini 
get  aus  und  get  hin  immer  noch  vor.  Vielleicht  darf  man  das  früheste  Erscheinen  des 
get  ab  benutzen,  um  für  die  Verwendung  des  Podiums  einen  Terminus  post  quem  zu 
gewinnen:  er  findet  sich  zuerst  in  den  Sechs  Kämpfern  v.  1.  Juli  des  Jahres  1549  (K.G.  8, 
S.  17,  ZI.  17  u.  23),  und  so  werden  wir  genau  auf  die  gleiche  Zeit  geführt,  die  uns  auch 
vorher  schon  (o.  S.  14  ff.)  für  den  Beginn  der  Aufführungen  in  der  Marthakirche  in  Be- 
tracht zu  kommen  schien.  Ge/ aö  wiederholt  sich  im  Johannes  vom  Januar  1550  (K.G.  11, 
S.  210,  5),  wird  aber  häufiger  erst  in  der  Jocaste  vom  April  des  gleichen  Jahres  (KG.  8, 
S.  36,  39,  43,  44,  46,  48).  Die  weitere  Entwicklung  ist  leider  nicht  zu  verfolgen,  da  die 
nächsten  Dramen  bis  zum  November  1553  handschriftlich  nicht  erhalten  sind:  und  nur 
an  die  Handschriften  kann  man  sich  in  dieser  Frage  wenden,  da  Hans  Sachs  sich  bei  der 
Druckredaktion  seiner  gesammelten  Werke  vielfach  bemülit  hat,  das  ihm  damals  ganz  ge- 
läufig gewordene  get  ab  auch  für  die  älteren  Dramen  durchzufüln-en.  Eine  terminologische 
Unterscheidung  der  Abgangsorte  in  den  Stücken,  die  noch  get  aus,  get  hin,  get  ab  neben 
einander  gel)rauchen,  ist  nicht  aufzuspüren  und  ist  auch  schwerlich  vorhanden  gewesen. 
Sonst  hätte  Hans  Sachs  gewiß  später  nicht  das  gleicliförmige  get  ab  eingesetzt;  und  wt'mi 
es  öfter  bei  ihm  von  einer  Person  heißt:  get  ab  ...  .  und  dann  nach  einigen  Versen  von 
einer  andern  I^erson :  get  auch  aus,  so  spricht  das  ebenfalls  für  völlige  Identität  der  beiden 
Ausdrücke. 


Aiiftrittsort   kämplcndcr  Heere.  39 

Mitteln  der  gegebenen  Lokalität  schon  fast  sicher  nachgewiesen; 
ein  Hauptbedenken  mag  freilich  manchem  noch  auftauchen,  aber 
es  wird  weiterhin  gelingen,  auch  dieses  gänzlich  zu  beseitigen. 
Zunächst  wollen  wir  versuchen  klar  zu  machen,  wie  vieles  uns, 
nachdem  wir  ungefähr  die  Lage  der  Bühne  abgegrenzt  haben, 
von  Hans  Sachsens  bisher  noch  nicht  erklärten  Andeutungen  nun 
ganz  deutlich  wird.  Es  mag  hier  auch  darauf  hingewiesen  wer- 
den, wie  jetzt  auch  jene  Schwierigkeit,  die  uns  die  bisher  notwen- 
dige Annahme  machte :  daß  alle  Personen,  Requisiten  usw.  in  dem 
selbst  bei  ziemlich  weit  vom  Altar  wegverlegtem  Vorhang  noch 
sehr  beschränkten  Hinterraum  sich  zusammendrängen  lassen  muß- 
ten, nun  beseitigt  ist,  wo  auch  die  Sakristei  für  die  gleichen  Zwecke 
zur  Verfügung  steht. 

Vor  allem  wird  es  deutlich,  warum  Hans  Sachs  alle  Heere,  die  auf 
die  Bühne  treten,  um  ohne  weitere  Zwiesprach  schon  auf  der  Szene 
befindliche  Gegner  anzugreifen,  nicht  eingen,  sondern  kamen  läßt. 
Im  HS.  findet  sich  ja  kein  Fall  dieser  Art,  aber  man  kann  beinahe 
sagen:  ausnahmsweise,  denn  die  Zahl  der  Stellen,  an  denen  Hans 
Sachs  solche  Angriffe  vorführt,  ist  unglaublich  groß.  Und  immer 
kamen  die  Angreifer,  z.  B.  Hugschapler  1556  (KG.  13,  S.  19,  27); 
Aretaphila  1556  (KG.  13,  S.  166);  Josua  1556  (KG.  10,  S.  112,  121); 
Ahab  1557  (KG.  10,  S.  424);  Cyrus  1557  (KG.  13,  S.  318  f.  u.  ö.); 
Alexander  1558  (KG.  13,  S.  497  f.  u.  ö.);  Pontus  1558  (KG.  13,  S.  393, 
416);  Wilhelm  von  Orleans  1559  (KG.  16,  S.  61);  Romulus  1560 
(KG.  20,  S.  172);  Sedras  1560  (KG.  16,  S.  149).  Würden  die  Angrei- 
fer von  hinten  eingegangen  sein,  so  würde  man  sie  nur  unvoll- 
ständig gesehen  haben :  die  schon  auf  der  Bühne  Befindlichen  hätten 
ihren  Anblick  gewiß  wenigstens  teilweise  verdeckt.  Und  vor  allem : 
durch  den  Vorhangsspalt  kann  man  eigentlich  nur  im  Gänsemarsch 
auftreten  und  somit  kaum  der  Phantasie  einen  Anhalt  für  die  Vor- 
stellung eines  wirklichen  Angriffs  geben.  Von  vorn  dagegen,  wo 
wir  die  Treppe  uns  fast  über  das  ganze  Profil  der  Vorderbühne,  also 
mehr  als  2  m  ausgedehnt  denken  dürfen,  können  wohl  drei  Mann 
in  einer  Reihe  auftreten,  und  der  Zusammenstoß  erfolgt  vorn  ganz 
und  gar  vor  den  Augen  der  Zuschauer;  von  dort  zog  sich  der 
Kampf  dann  auch  öfters  nach  hinten,  und  so  treffen  z.  B.  an  der 
angeführten  Stelle  des  Wilhelm  von  Orleans  die  Reinlender,  die 
kämpfend  von  vorn  gekamen  sind,  zuletzt  auf  einen  versteckten 
Haufen,  und  der  kombt  binden  an  sie.  All  das  wird  hier  nur  an- 
gedeutet, nicht  ausgeführt,  weil  es  nicht  direkt  für  den  HS.  in  Be- 
tracht kommt;  unsrer  Vorstellung  der  Gesamtbühne  aber  führt  es 
die  Sicherheit  zu,  daß  wir  es  an  der  Sakristeitür  mit  einer  breiten 
Seitentreppe  zu  tun  haben. 

Und  diese  Sicherheit  soll  uns  gleich  weiterhelfen  bei  der  Frage 
nach  der 


40  Stellung  des   Ernholts. 

Stellung    des    Ernholts. 

Im  Anfang  des  HS.  ist  es  wie  in  allen  Hans  Sachsischen  Dramen:  der 
Ernholt  betritt  von  hinten  die  Bühne  und  spricht  den  Prolog;  der 
terminus  technicus  lautet  für  ihn  an  dieser  Stelle  übrigens  immer 
drit  ein  im  Gegensatz  zu  den  handelnden  Personen,  für  die  es 
get  ein  heißt;  wo  der  Herold  als  eigentlicher  Mitspieler  während 
des  Stückes  erscheint,  ist  das  get  ein  auch  für  ihn  verwendet  (vgl. 
Arsinoe  1559:  KG.  13,  S.  565).  Er  betritt  die  Bühne  auch  von  hinten, 
aber  nur  in  den  nicht  so  häufigen  Fällen,  wo  er  zu  Anfang  eines 
„Bildes",  also  auf  der  leeren  Bühne  allein  oder  mit  mehreren  Per- 
sonen erscheint.  Sonst,  wo  er  im  Lauf  des  Aktes  einzugreifen  hat, 
heißt  es  regelmäßig:  der  ernholt  kumpt  (z.  B.  Jocaste  1550:  KG.  8, 
S.  51;  Fortunat  1553:  KG.  12,  S.210;  Troja  1554:  KG.  12,  S.285;  Ulixes 
1555:  KG.  12,  S.  349,  352;  Hugschapler  1556:  KG.  13,  S.  13,  18,  25, 
36;  Julian  1556:  KG.  13,  S.  114,  128;  Poncus  1558:  KG.  13,  S.  397, 
421;  Beritola  1559:  KG.  16,  S.  121;  Sedras  1560:  KG.  16,  S.  169; 
Andreas  1561 :  KG.  16,  S.  26,  42  u.  ö.)  Und  doch  wird  man  nicht 
annehmen  dürfen,  daß  er  dann  stets  durch  die  Sakristeitür  tritt. 

Es  ist  nämlich  merkwürdig  oft  überhaupt  nicht  besonders  er- 
wähnt, daß  er  auftritt.  Nun  kommt  es  allerdings  bei  Hans  Sachs 
auch  sonst  vor,  daß  eine  Person  plötzlich  spricht,  ohne  daß  ihr  Er- 
scheinen vorher  in  der  szenischen  Bemerkung  stand.  Aber  diese 
Fälle,  auf  die  wir  noch  zurückkommen,  sind  verhältnismäßig  sel- 
tene Ausnahmen,  so  daß  wir  sie  gewiß  durch  Annahme  einer  gelegent- 
lichen Nachlässigkeit  des  Dichters  werden  erklären  dürfen.  Dagegen 
liegt  kein  Grund  vor,  nun  grade  für  die  Gestalt  des  Ernholts  eine 
so  häufige  Nachlässigkeit  Hans  Sachsens  anzunehmen,  wie  sie 
das  Material  tatsächlich  gebieten  würde.  Nur  nebenher  mögen  hier 
Fälle  aus  andern  Dramen  herangezogen  werden :  Unschuldige 
Kaiserin  1551:  KG.  8,  S.  136;  Belagerung  Jerusalems  1552:  KG.  10, 
S.  475;  Hugschapler  1556:  KG.  13.  S.  30;  Vier  Liebhabende  1556: 
KG.  13,  S.  177,  182,  188;  Marina  1557:  KG.  20,  S.  93;  Cyrus  1557: 
KG.  13,  S.  312.  Im  übrigen  ist  hier  der  HS.  besonders  lehrreich. 
Nach  V.  51,  dem  Ende  des  Prologs,  heißt  es:  Der  ernholt  get  ab, 
und  ohne  daß  von  seinem  Wiederauftreten  die  Rede  ist,  sagt  König 
Gibich  V.  99:  Ernholt,  Sewfriden  pringen  thw,  und  dahinter  steht: 
Der  herolt  naigt  sich,  get  ab  .  .  .  Der  Darsteller  hatte  also  wohl 
die  Bühne  doch  nicht  verlassen.  —  Vor  v.  226  geht  der  Herold  mit 
Gibich  ein;  nach  230  steht  Der  ernholt  get  ab,  vor  253  erscheint 
er  wieder  mit  Crimhilt,  so  daß  nun  Gibich,  Sewfrid,  Crimhilt 
und  der  Ernholt  auf  der  Szene  sind;  nach  276  steht  Der  k'unig  gei 
mit  Sewfriden  ab;  Crimhilt  bleibt  (wenn  auch  —  s.  o.  S.  33  — 
der  Schauplatz  sich  in  die  Burgzinne  verändert),  —  aber  wo  ist  der 
Ernholt?  Nach  der  Entführungsszene  (v.  298)  heißt  es  dann  zwar 
in   der  szenischen  Bemerkung:    Der    kiinig  kumpt  mit  Sewfriden 


Sti'lliin^r   des   Ernholts.  41 

vml  dem  herolt  gelojfen;  aber  des  Herolds  Abgehen  war  nicht  er- 
wähnt, und  er  weiß  auch  v.  312 — 6  andere  Dinge  über  die  Entfüh- 
rung als  die  andern,  Dinge,  die  er  eigentUch  nur  hier  oben  auf  der 
Burgzinne,  nicht  unten  auf  der  Turnierwiese  beobachtet  haben  kann. 
War  er  etwa  doch  in  der  Nähe  ?  —  Und  nun  gar  im  sechsten  Akt. 
Hier  ist  von  dem  Auftreten  des  Herokls  überhaupt  nicht  die  Rede, 
auch  in  der  Rosengartenszene  (v.  937  ff.),  und  doch  ist  er  da.  Ja, 
hier  kommt  noch  etwas  Weiteres,  zunächst  Befremdendes  dazu. 
Hiltprant,  der  nacli  v.  936  abgegangen  ist,  ist  nicht  auf  der  Szene; 
als  aber  Sewfrid  den  Ferner  hart  bedrängt,  heißt  es  plötzlich  in 
der  szenischen  Bemerkung  (vor  951):  Hiltprant  sieht  Imimlieh  zu 
vnd  spricht  gemach,  und  der,  den  er  leise  anredet,  ist  der  Herold: 

Herolt,  ge,  pring  das  pottenprot, 

Ferner  hab  mich  geschlagen  dot. 
Und  nun:  Der  herolt  drit  auf  den  plan  vnd  schreit.  Beide  sind 
also  vorher  noch  nicht  auf  dem  eigentlichen  Bühnenplatz,  auf  dem 
eben  Sewfrid  den  Ferner  umtreibt,  aber  doch  den  Zuschauern 
einigermaßen  sichtbar  gewesen;  nun  tritt  der  Herold  ganz  herauf, 
und  vor  v.  975,  als  der  von  Hiltprant  künstlich  angestachelte  furor 
diesem  den  Sieg  verschafft  hat,  heißt  es:  Der  alte  Hiltprant  kumpt 
vnd  spricht.  Jetzt  also  ist  auch  er  den  gewöhnlichen  Vorderweg 
emporgestiegen;  vorher  kann  er  daher  nur  unten  an  der  Sakristei- 
tür gestanden  und  von  hier  dem  Kampf  zugesehen  haben.  Für  den 
Ernholt  bleibt  also  nur  ein  Standplatz  übrig:  in  allen  Szenen,  wo 
er  irgend  zur  Hand  sein  muß,  also  vor  allem  an  Königshöfen,  geht 
er  aby  aber  doch  nur  einige  Stufen  und  bleibt  etwa  auf  der  letzten 
stehen;  nahe  der  Wand,  so  daß  andere  kumende  an  ihm  vorbei 
können.  Hierher  ist  er  also  auch  nach  dem  Prolog  abgegangen,  so 
daß  der  König  Sigmund  v.  99  das  Wort  an  ihn  richten  kann; 
hier  steht  er  während  der  Drachenszene  und  schließt  sich  dann  vor 
V.  299  als  letzter  dem  König  und  Sewfrid  an,  die  auf  die  Bühne 
geloffen  kumen;  hier  steht  er  bei  der  Zwiesprache  mit  Hiltprant. 
So  erklärt  es  sich  auch,  daß  es,  wie  wir  sahen,  meist  von  ihm  heißt 
er  kumpt:  denn  immerhin,  er  kommt  die  vorderen  Stufen  hinauf,  und 
daß  an  andern  Stellen  jede  Angabe  fehlt:  denn  eigentlich  ist  er  ja  doch 
schon  auf  der  Bühne.  Während  des  größten  Teils  der  Vorstellung 
bleibt  er  hier  den  Zuschauern  sichtbar,  wie  er  auch  Prolog  und  Epi- 
log spricht,  halb  der  wirklichen  Welt  angehörig,  halb  der  erdich- 
teten des  Dramas;  jene  Stufen,  auf  denen  sein  Stand  ist,  bilden 
die  Brücke  zwischen  diesen  beiden  Welten:  Kunstraum  und  realer 
Raum  gehen  hier  ineinander  über. 

An  dieser  Stelle  mag  endlich  auch  von  dem  Abgehen  am  Schluß 
des  ganzen  Dramas  die  Rede  sein,  weil  der  Ernholt  dabei  durch- 
aus die  Hauptperson  ist.  Sie  gen  alle  in  Ordnung  ah.  Der  ernholt 
kumpt  vnd  beschleußt.      Das    ist   in    den    allermeisten  Fällen    die 


42  Abgehen  aller  Personen  am  Schluss. 

Normalform  der  szenischen  Bemerkung  vor  dem  Epilog.  Bis 
zum  Jahre  1554  scheint  freilich  in  solcher  Hinsicht  noch  keine  Festig- 
keit geherrscht  zu  haben,  denn  bis  zu  dieser  Zeit  kommt  es  öfter 
vor,  daß  der  Ernholt  eingeht  oder  eintritt  (z.  B.  Alt  Reich  Bur- 
ger 1552:  KG.  12,  S.  140;  Aristoteles  1554:  KG.  12,  S.  263, 
Troja  1554:  KG.  12,  S.  314),  dann  aber  wird  jene  Form  die  Regel') 
(z.  B.  Vertriebene  Kaiserin  1555:  KG.  8,  S.  194,  Julian  1556: 
KG.  13,  S.  140;  Daniel  1557:  KG.  11,  S.  64;  Abraham  1558: 
KG.  10,  S.  56;  Arsinoe  1559:  KG.  13,  S.  578;  Cleopatra  1560: 
KG.  20,  S.  232;  Andreas  1561:  KG.  16,  S.  55;  Thais  1562:  KG.  20, 
S.  44  usw.).  Bei  jener  Vorschrift  ist  nun  im  allgemeinen  nicht 
daran  zu  denken,  daß  nur  die  Personen,  die  auf  der  Szene  sind, 
die  Bühne  verlassen  wie  an  andern  Bild-  und  Aktschlüssen  auch. 
Darauf  deutet  nicht  nur  der  eben  nur  hier  fast  immer  sich 
findende  Zusatz  in  Ordnung  hin;  an  einigen  Stellen  ist  die  Vor- 
schrift genauer  gegeben,  und  dazu  gehört  auch  der  Schluß  unseres 
HS.  Auf  der  Szene  sind  Crimhilt,  der  Ernholt  und  ein  Jäger, 
und  nach  Crimhilts  Racherede  an  Sewfrids  Leiche  heißt  es  (nach 
v.  1106):  Sie  tragen  den  dotten  ab,  die  kiingin  get  trawrig 
hinach,  darnach  alle  in  Ordnung.  Also  nachdem  die  drei  handelnden 
Personen  die  Bühne  verlassen  haben,  passieren  noch  einmal  alle  im 
Drama  auftretenden  Darsteller  vor  den  Augen  der  Zuschauer  Revue; 
der  Ernholt  aber  spricht  den  Epilog.  Ebenso  deutlich  wird  es 
etwa  in  der  Arsinoe  v.  J.  1559  (KG.  13,  S.  577  f.):  nach  dem  Tode 
des  Königs  Ptholomeus  heißt  es:  Sie  gehen  alle  ab.  So  kummet 
der  fürst  Dion  und  spricht  kleglich  einen  Monolog.  Und  dann  erst 
folgt:  Sie  gehen  alle  inn  Ordnung  ab.  Der  ernholt  kumbt  und 
beschleust.  —  Des  Ernholts  Epilog  im  HS.  will  zum  Schluß  noch 
die  art  in  gemelten  personen  moralisch  erläutern,  und  Sigmund, 
Sewfrid,  dem  Zwerglein  usw.  werden  nun  je  zwei  oder  vier  Verse 
gewidmet.  Man  möchte  danach  leicht  auf  die  Vermutung  kommen, 
der  Ernholt  habe  die  einzelnen  Sprüchlein  gesagt,  während  der 
betreffende  Darsteller  sich  noch  einmal  dem  Publikum  zeigte.  Da- 
gegen spricht  wohl  nicht  der  Umstand,  daß  die  ganze  Art  des 
Revueepilogs  nicht  gerade  sehr  häufig  vorkommt;  auch  nicht  die 
Beobachtung,  daß  hier  nur  elf  Personen  besprochen  werden,  während 
siebzehn  aufgetreten  sind:  die  fehlenden  sechs  sind  bis  auf  Gibich 
Träger  unbedeutender  Rollen,  und  diese  wurden  vielleicht  von  den 
übrigen  Darstellern  mit  übernommen,  so  daß  tatsächlich  nur  elf 
Schauspieler  sich  zeigen  konnten;  bedenklicher  ist  es  schon,  wenn 
im  Schlußmonolog  des  Hagwartus  (1556:  KG.  13,  S.  241  ff.)  von 
fünfzehn  mitspielenden  Personen  nur  sieben  behandelt  werden,  oder 
gar,   wenn  im  Perseus   (1558:    KG.  13,  S.  456)   der  Ernholt  umge- 

1)  Nur  zweimal    (zu  11,  S.  357  und  18,  S.   81j    hahcn    die    Handschriften   noch    drit 
ein;  im  Druck  ist  es  auch  da  beseitigt. 


AbgeluMi   aller  Personen   am  Schhiss.      -  43 

kehrt  Personen  bemoralisiert,  die  gar  nicht  auft^etreten  sind,  sondern 
von  denen  nur  gesprochen  worden  ist.  Aber  vor  allem  zeigt  jene 
szenische  Bemerkung  des  HS.,  daß  der  Ernholt  jene  Aufgabe  gar 
nicht  ausgeführt  haben  kann:  er  hat  den  Toten  mitabgetragen  und 
ist  somit  bei  jenem  Aufzug  der  Schauspieler  schwerlich  schon  wieder 
zur  Stelle.  Wem  diese  Stelle  noch  nicht  zwingend  erscheint,  der 
halte  sich  an  den  Schluß  des  Hugschaplers  (1556:  KG.  13,  S.  49) ; 
hier  steht:  Sie  gehen  alle  in  Ordnung  ab.  Der  ernholt  kumbt 
wider,  beschleußt.  Dieser  außergewöhnliche  Zusatz i)  wider  evheWi 
sofort  die  Situation:  sie  sind  erst  alle  abgegangen  und  zwar  von 
hinten  auftretend  nach  vorn  hinunter;  der  Ernholt  deckt  die  Nach- 
hut, und  erst  wenn  alle  verschwunden  sind,  kommt  er  zuiYi  Epilog 
zurück-).  Soll  er  einer  Anregung  des  Dialogs  folgend  einmal  der  erste 
sein  und  nicht  der  letzte,  so  wird  es  besonders  hervorgehoben:  in 
den  Zwölf  Argen  Königinnen  vom  Jahre  1562  sagt  am  Ende  Frau 
Ehr  (KG.  16,  S.  21): 

Geh,  erhnholdt,  für  die  köngin  auß 
Der  königin  fraw  Ehren  hauß! 
Es  ist  also  geradezu  ein  Hinausbefördern,  und  so  heißt  es  nun : 
Der  Ehrnholt  geht  vor  den  zwölff  königin,  die  folgen  im  mit  ge- 
neygten  häuptern  samb  trawrig  auß  dem  saal.  Und  nun  auch  hier: 
Der  ehrnhold  kombt  wider  und  macht  den  beschluß.  —  Zieht  hier 
wie  überall  die  Schauspielerschar  in  die  Sakristei  oder  aus  der 
Kirche  heraus?  Der  in  dem  letztangeführten  Stück  ausnahmsweise 
benutzte  Ausdruck  saal  besagt  nicht  viel;  oder  hat  Hans  Sachs 
hier  an  den  Remter  des  Predigerklosters  gedacht?  Schon  im  Jahre 
1549  hat  der  Rat  den  messerern,  so  die  Josephisch  historien  zu 
spilen  furgenomen  einschärfen  müssen,  mit  denselben  klaidern  nit 
über  di  gassen  zu  geeri''). 

Auf  der  so  schon  ziemlich  genau  abgegrenzten  Bühne  sehen 
wir  uns  nun  weiter  um,  zunächst  wesentlich,  um  die  Auf-  und 
Abgangsfrage  noch  eingehender  zu  behandeln  und  die  schon  erteilte 
Antwort  noch  mehr  zu  sichern.  Die  Bühne,  wie  wir  sie  jetzt  an- 
sehen, schließt  offenbar  ein 

Kanzel    und   C  h  o  r  s  t  u  h  1. 

Von  ihrer  Verwendung  für  die  Aufführung  muß  nun  zunächst  die 
Rede  sein,  obschon  wir  damit  von  neuem  in  die  Frage  nach  Deko- 


1)  Allerdings  findet  er  sich  erst  in  A;  in  S  steht  das  gewöhnliche  kumbt  vnd.  Grade 
umgekehrt  ist  es  im  Sedras  vom  J.  1560  (KG.  16,  189),  wo  das  wider  in  der  Handschrift 
steht,  dagegen  im  Druck  beseitigt  ist. 

2)  Lelirreich  für  den  Betrieb  vor  1555  der  handschriftliche,  im  Druck  geänderte 
Schluß  des  Trauerspiels  Troja  v.  J.  1554  (KG.  12.  S.  314   u.  Anhang  dieses  Buches). 

3)  Hampe  2,  N.  49. 


44  Die   Kanzel. 

rationell  und  Requisiten  übergreifen.  Eine  bisher  nicht  bühnen- 
verständlich gewordene  szenische  Bemerkung  des  HS.  war  die  in  der 
Zinnenszene  (vor  v.  285) :  In  dem  flewgt  der  trach  daher.  Daß  der 
Drache  sichtbar  wird  und  zwar  über  der  Bühne,  so  daß  man  ihn  als 
fliegend  denken  kann,  ehe  er  dann  kiimpt,  das  heißt,  vorn  rechts 
auf  der  Bühne  erscheint,  wird  kaum  zu  bezweifeln  sein,  da  es  sich 
um  eine  szenische  Bemerkung  handelt.  Aber  wo  geschieht  das  ?  Man 
könnte  denken:  hinter  dem  Vorhang  sei  eine  Leiter  aufgestellt  worden, 
und  sie  habe  der  Darsteller  des  Drachen  einen  Augenblick  bestiegen. 
An  der  Möglichkeit  dieser  Vorführung  ist  nicht:  zu  zweifeln;  aber 
es  gibt  eine  andere,  und  sie  hat  von  vorn  herein  mehr  für  sich, 
weil  sie  die  Regie  nicht  zur  Vermehrung  der  Requisiten  oder  wenn 
man  will  Maschinerien  zwingt.  Der  Darsteller  des  Drachen  war 
seit  dem  Anfang  der  Vorstellung  auf  der  Kanzel ')  verborgen,  zeigte 
sich  einen  Augenblick  oben,  stieg,  während  Crimhilt  ihm  acht 
Verse  aufsagte  (Er  lest  sich  herab  aus  dem  hief't),  die  Treppe  der 
Kanzel  herunter,  die  damals  gewiß  recht  steil  war,  kam  ungefähr 
neben  der  ersten  Bühnenstufe  (an  der  Sakristeitür)  an,  und  nun  kann 
es  heißen  Der  trach  kiimpt,  denn  er  betritt  genau  so  die  Bühne, 
als  ob  er  aus  der  Sakristeitür  gekommen  wäre.  —  Wer  noch  nicht 
geneigt  ist,  diese  Benutzung  der  Kanzel  für  wahrscheinlich  zu  halten, 
sei  auf  zwei  Dramen  des  Jahres  1553  hingewiesen,  bei  denen  man 
schwerlich  die  Kanzel  als  Dekorationsstück  wird  leugnen  können: 
es  ist  der  Tristan  vom  7.  Februar  und  der  Fortunat  vom  4.  März  1553. 
Daß  es  sich  um  zwei  so  unmittelbar  aufeinander  folgende  Werke 
handelt,  mag  darauf  deuten,  daß  Hans  Sachs  sich  eben  damals  zu- 
erst der  dekorativen  Verwendbarkeit  der  Kanzel  bewußt  geworden 
ist.  Zunächst  der  Tristan.  Der  Zwerg  hat  dem  König  Marx  ver- 
raten, daß  Tristan  und  Isald  sich  nächtlicherweile  im  Baumgarten 
an  der  Linde  treffen,  und  der  Dichter  führt  uns  nun  die  Belauschungs- 
szene  vor  (KG.  12,  S.  165 ff):  Der könig  Marx  kiimbt  mit  dem  zwergen 
vml  spricht: 

Da  laß  uns  steigen  auff  die  linden, 
Den  rechten  grund  der  sach  zu  finden! 

Sie  steigen  beid  auff  den  bäum.    Herr  Tristant  kombt 

und  sieht  den  schalen  der  zweier  auff  der  linden  und  spricht  .  .  . 
Isald,  die  königin  kumbt.    Tristant  zeigt  ihr  auff  den  schalen  der 

zweier  auff  dem  bäum,  sie  merckel  das  vml  spricht geht  ab 

....  Herr  Tristant  gehet  auch  ab.  König  Marx  zuckt  sein  schwerdt, 
den  Zwerg  zu  erstechen.  Der  entlauft  ihm.  König  Marx  spricht  .  . 
steckt  sein  schwerd  ein  vnnd  gehet  ab  zornig.  Abgegangen  sind 
Marx  und  der  Zwerg  also  nicht,  denn  nach  des  Liebespaares  Ver- 
schwinden sind  sie  auf  der  Bühne;   es   hieß  ja  auch  vorher  nicht: 

1)  Die  Kanzel  ist  lieut  nicht   mehr  die  alte,  diese  befand  sich  aber  natürlich  an  der 
gleichen  Stelle. 


Kanzel   und   Cliorstulil.  45 

sie  gen  ab,  sondern  sie  steigen  auff  den  bäum.  Ohne  daß  die  Zu- 
schauer die  beiden  irgend  wo  oben  sehen  otler  ahnen,  geht  es  auch 
nicht  an;  hätte  Hans  Sachs  ihrer  Phantasie  zumuten  wollen,  sie 
sich  oben  vorzustellen,  hätte  er  in  das  Gespräch  der  Liebenden 
doch  mehr  Andeutungen  gelegt;  tatsächlich  verläuft  es  so,  daß  der 
Zuschauer  ohne  stark  verdeutlichende  Gesten  der  Darsteller  gar 
nicht  verstehen  kann,  daß  Tristant  warnt  und  Isald  begreift;  daß 
an  ein  wirkliches  Dekorationsstück  nicht  zu  denken  ist,  werden  wir 
später  noch  zeigen,  und  es  liegt  schon  jetzt  im  ganzen  Charakter 
unserer  Betrachtungsweise,  daß  wir  durchaus  vermeiden  müssen 
der  Meistersingerbühne  eine  solche  Technik  zuzuweisen.  Die  Kan- 
zel aber  bot  sich  als  einfache  und  bequeme  Hülfe;  ob  man  sie 
noch  wenigstens  andeutend  dekorativ  charakterisiert  hat,  sei  hier 
nicht  erörtert.  Hier  standen  König  und  Zwerg;  so  waren  sie  noch 
auf  der  Bühne,  als  die  Liebenden  diese  verlassen  haben;  vielleicht 
hat  Marx  das  Schwert  gegen  den  Zwerg  noch  oben  auf  der  Kanzel 
gezückt.  —  Und  die  zweite  Baumszene  einen  Monat  später  im 
Fortunat  (KG.  12,  S.  211):  Andolosia  steigt  auff  den  bäum.  Viel- 
leicht hat  man  die  Kanzel  auch  zu  Erscheinungen  Gottes  verwen- 
det, so  etwa  im  Eli  (KG.  10,  S.  252),  der  auch  wieder  dem  Jahr 
1553  angehört.  Und  so  mag  die  Verwendung  für  die  erste  Erschei- 
nung des  Drachen  in  der  Luft  auch  nicht  mehr  als  unwahrschein- 
lich gelten. 

Das  zweite  vom  Raum  gebotene  Dekorations-  oder  Requisiten- 
stück ist  der  Chorstuhl,  und  er  erweist  sich  von  vornherein  als 
äußerst  wichtig,  ja  unentbehrlich.  Denn  in  Hans  Sachsens  Dramen 
spielt  das 

Sitzen 

eine  ungemein  große  Rolle.  Davon  muß  hier  schon  die  Rede 
sein,  hier  vor  allem,  um  noch  einige  szenische  Bemerkungen, 
die  etwa  mit  dem  Abgehen  und  Auftreten  zusammenhängen  oder 
sonst  die  Richtungen  auf  der  Bühne  betreffen,  auf  ihre  Überein- 
stimmung mit  der  hier  vorgetragenen  Theorie  zu  prüfen. 

Daß  sich  gelegentlich  eine  Person  mit  besonderem  Bezug  auf 
die  eigentliche  Handlung  niederzusetzen  hat,  kommt  in  Hans 
Sachsens  Stücken  hie  und  da  vor,  und  von  den  dazu  etwa  nötigen, 
eigens  hereinzuschaffenden  Sitzen  werden  wir  späterhin  bei  den 
Requisiten  zu  sprechen  haben.  Das  Sitzen  aber  ist  bei  Hans  Sachs 
auch  sonst  so  unendlich  häufig  verlangt,  daß  transportable  Stühle 
in  einem  fort  hätten  hinaus-  und  hineingeschafft  werden  müssen. 
Ein  fester  Sitzplatz  war  dringend  notwendig.  Prüfen  wir  zuerst, 
wo  im  HS.  das  Sitzen  geradezu  Vorschrift  ist: 

a)  nach  v.  51 :    Künig  Sigmund  . .  get  ein  mit  zwayen  retten,  sezt 
sich  trawrig  nider  und  spricht 


46  Das  Sitzen  des  Herrschers. 

b)  nach  V.  226:  Kiinig  Gibich  get  ein  mit  seinem  herolt,  sezt  sich 

nider  und  spricht 

c)  nach  v.  345 :  Der  trach  fuert  die  junckfraw  auf,  sie  sizt  und  waint, 

wint   ir  hent  und  spricht  traurig 

d)  nach  v.  627 :  Die  junckfraw  Crimhilt  get  ein,   sezt  sich  trawrig 

und  spricht 

e)  nach  v.  701 :  (nach   dem  Drachenkampf).    Die  junckfraw  kumbt, 

sizt  ZV  im,  legt  im   sein  kopff  in  ir  schos,  spricht 
und   dann   nach  709:   Sewfrid  sizt  auf  vnd  spricht 

f)  nach   V.  749:  Kiinig  Gibich  get  ein  mit  seinem  herolt,  sezt  sich 

trawrig  vnd  spricht 

g)  nach  V.  798:  Der    huernen   Sewfrid    get    ein    mit    Crimhilden, 

seiner  gemahel,  sizen  zwsamen,  vnd  sie  spricht 
h)  nach  v.  862:  Kiinig  Gibich  get  ein,   sezt  sich  nider  vnd  spricht 
i)    nach  v.  936:  Crimhilt,  die  künigin,  kumbt  vnd  sezt  sich  nider, 

spricht. 

Von  diesen  Stellen  ist  eine  (e)  durch  die  Handlung  herbeigeführt: 
das  Sitzen  Crimhilts  und  Sewfrids  nach  dem  Drachenkampf.  Hier 
handelt  es  sich  offenbar  um  ein  Sitzen  auf  der  Erde.  Die  übrigen 
Stellen,  an  denen  das  Sitzen  zunächst  nicht  notwendig  ist,  lassen 
sich  in  zwei  Gruppen  zerlegen;  die  erste  umfaßt  a  b  f  bis  i,  die 
andere  c  und  d.  Die  erste  zeigt  uns :  es  ist  bei  Hans  Sachs  bühn- 
liche  Gewohnheit  geworden,  Könige  stets  sitzen  zu  lassen,  zum 
Zeichen  ihrer  königlichen  Würde.  Wo  die  Anordnung  unterblieben 
ist,  liegt  entweder  eine  kleine  Vergeßlichkeit  vor,  ja  auch  die  noch 
nicht  einmal :  es  ist  fast  so  selbstverständlich,  daß  der  König  oder  die 
Königin  sich  setzen,  wie  daß  der  Ernhold  kumbt,  und  daher  kann 
die  gelegentliche  Auslassung  nicht  befremden.  Oder  der  König  hat 
einen  bestimmten  Grund,  nicht  Platz  zu  nehmen.  So  König  Gibich, 
als  er  mit  Sewfrid  zur  Burgzinne  gelaufen  kommt :  hier  ist  die  Un- 
ruhe zu  groß,  als  daß  er  mit  Anstand  sitzen  könnte;  so  König 
Sewfrid,  als  er  gewappnet  in  den  Rosengarten  kommt :  er  geht, 
des  Gegners  harrend,  auf  und  ab  (vor  v.  939) ;  so  wiederum  Sewfrid, 
als  er  kurz  vor  der  Ermordung  in  den  Wald  kommt:  hier  legt  er 
sich  (vor  v.  1062);  so  Crimhilt  (vor  v.  1073):  sie  sucht  Sewfrids 
Leiche  und  sincket  auf  in  nider.  Dietrich  von  Bern  gilt  dem 
Dichter  offenbar  nicht  als  König;  er  wird  nie  so  genannt  und 
hat  daher  auch  kein  Anrecht  auf  den  Sitzplatz.  Sehr  genau  und 
wie  ein  Zeremonienmeister  unterscheidet  Hans  Sachs :  in  den  ersten 
fünf  Akten,  da  Sewfrid  noch  nicht  König  ist,  nuiß  er  stehen.  Die 
übrigen  Dramen  bestätigen  diese  Regel  so  überreichlich,  daß  es 
sich  erübrigt,  hier  Beispiele  zu  geben.  Daß  wir  aber  auch  wo  das 
Sitzen  des  Herrschers  nicht  ausdrücklich  hervorgehoben  ist,  ihn 
uns  doch  sitzend  vorzustellen  haben,  zeigt  z.  B.  der  Alte  Marschall 


Das  Sitzen  des  Traurigen.  47 

(1556).  Hier  stand  (KG.  13,  S.  78)  nur :  Der  keyser  geht  ein  mitPhilippo, 
heroldt  und  den  trahanfen,  spricht;  etwa  60  Verse  weiter  aber  (S. 
80)  lesen  wir:  Der  keyser  steht  auff  vnnd  vmbfecht  sein  son,  er  hat 
also  gesessen.  Es  muß  übrigens  nicht  immer  grade  ein  König 
sein  oder  eine  Königin ;  auch  einem  Tyrannen,  dem  Marschall,  dem 
Richter  wird  der  Sitzplatz  gewährt;  ja,  der  Arzt  wartet  sitzend 
auf  Patienten  (Jüngling  im  Kasten  1557:  KG.  13,  S.  245).  Aber 
das  ist  doch  nicht  in  dem  Maße  die  Regel,  wie  es  für  König  und 
Königin  gilt.  Gewiß  sind  die  Vorstellungen  des  Dichters  und  seines 
Publikums,  die  sich  die  Träger  der  Krone  so  wenig  wie  möglich 
stehend  denken  mochten,  hier  nicht  sowohl  von  der  Wirklichkeit 
erzogen  wie  von  der  bildenden  Kunst:  die  Bücherillustrationen  und 
einzelne  dem  gemeinen  Mann  zugänghche  Blätter  pflegten  den 
König  oder  Fürsten  auf  einem  erhöhten  Podium  und  hier  wieder 
auf  einem  thronartigen  Sessel  vorzuführen;  selten  nur  finden  wir 
sie  stehend  dargestellt.  Ein  gutes  Beispiel  bieten  z.  B.  Holbeins 
Bilder  zum  alten  Testament  (Basel  1523).  Das  Theater,  in  einer  ge- 
wissen fabrikmäßigen  Art,  die  von  seinem  Wesen  untrennbar  scheint, 
beseitigt  die  Ausnahmen  ganz  und  führt  eine  bequeme  und  etwas 
geistlose  Regelmäßigkeit  ein.  So  hat  denn  Hans  Sachs  auch  da, 
wo  die  illustrierte  Vorlage  für  den  HS.- Drama,  der  Hergotinsche 
Druck  des  alten  Liedes,  die  Herrscher  stehend  zeigte,  ihnen  seiner 
Regel  getreu  die  sitzende  Stellung  gegeben. 

Anders  liegt  es  in  den  Fällen  c  und  d.  Crimhilt  ist  Königs- 
tochter, nicht  Königin,  und  so  kommt  ihr  der  Ehrenplatz  vor  dem 
sechsten  Akt  noch  nicht  zu.  Wenn  wir  sie  trotzdem  schon  im 
dritten  oder  fünften  Akt  sitzend  treffen,  so  muß  das  eine  andere 
Veranlassung  haben.  Gemeinsam  haben  beide  Situationen  den 
Umstand,  daß  die  sitzende  Crimhüt  traurig  ist.  Und  darin  treffen 
wir  offenbar  wieder  eine  Hans  Sachsische  Regel:  wer  traurig  die 
Bühne  betritt  und  seinen  Kummer  in  Worten  zum  Ausdruck  bringt, 
setzt  sich  nieder.  Andere  Fälle,  wo  Hans  Sachs  das  ausdrücklich 
vorschreibt,  sind  z.B.:  Galmi  1552  (KG.  8.  S.  262);  Aretaphila  1556 
(KG.  13,  S.  149  und  156,  letztere  Stelle  besonders  interessant); 
Olvier  1556  (KG.  8,  S.  223);  Marschall  und  sein  Sohn  1556  (KG.  13, 
S.  70);  Vier  Liebhabende  1556  (KG.  13,  S.  173,  wo  sogar  der  dazu- 
kommende König  vor  dem  traurig  sitzenden  Ritter  Gernier  steht, 
und  197);  Marina  1557  (KG.  20,  S.  69);  Pontus  1558  (KG.  13,  S.  396). 
Auch  hier  werden  wir  darauf  aufmerksam  machen  können,  daß  die 
bildende  Kunst  der  Zeit  und  zumal  die  dem  gemeinen  Mann  zugäng- 
liche den  Bekümmerten  mit  Vorliebe  sitzend  vorführt.  Auch  wird 
dem  Schauspieler  die  Darstellung  dadurch  ungemein  erleichtert; 
wir  kommen  in  anderm  Zusammenhang  darauf  zurück. 

In  all  diesen  Fällen  handelt  es  sich  nicht  um  etwas  Wesent- 
liches, nicht  um  etwas  Außergewöhnliches,  was  die  immerhin  um- 


48  Der  Chorstuhl. 

ständliche  und  darum  möglichst  vermiedene  Herbeischaffung  eines 
transportablen  Requisits  gerechtfertigt  hätte.  Auf  der  Bühne  aber 
ist  der  feste  Chorstuhl  gegeben,  und  so  werden  wir  behaupten 
dürfen:  all  dieses  normale  Sitzen  findet  auf  dem  Chorstuhl  statt. 
Man  wird  nämlich,  da  es  sich  um  eine  Spitalkirche  handelt,  wohl  nur 
an  eine  n,  der  Kanzel  gegenüber  liegenden  Stuhl  zu  denken  haben ; 
allerdings  spricht  die  S.  21  wiedergegebene  archivalische  Notiz  von 
den  stuelen,  doch  handelt  es  sich  gewiß  um  einen  leicht  begreif- 
lichen Irrtum  des  betreffenden  Magistratsbeamten. 

Durch  die  Feststellung  dieses  gegebenen  Platzes  sind  wir  nun 
wieder  genauer  über  die  Richtungen  orientiert,  in  denen  sich  die 
Schauspieler  auf  der  Bühne  bewegen.  König  Sigmund,  der  vor  v. 
51  so  wie  später  im  fünften  Akt  Gibich  zwei  Gründe  hat  Platz  zu 
nehmen:  er  ist  König  und  er  ist  traurig,  get  durch  die  Mitte  des 
Vorhangs  ein  nach  links')  zum  Chorstuhl;  nach  v.  99  schreitet  der 
Ernholt  von  der  Vordertreppe  zum  Hintervorhang,  und  geht  dann  mit 
Sewfrid  ebenfalls  nach  links:  zum  sitzenden  Herrscher.  So  geht 
Sewfrid  vor  231  quer  über  die  Vorderbühne  zum  Chorstuhl,  eben- 
so vor  758  der  Zwerg  Ewgelein.  Und  so  fort.  Vor  allem  aber 
haben  wir  nun  Gelegenheit,  dort  wo  die  szenischen  Bemerkungen 
über  die  Bewegungen  der  Darsteller  etwas  genauer  sind,  die  Rich- 
tigkeit unserer  ganzen  Hypothese  nachzuprüfen:  es  ist  die  Frage, 
ob  diese  Bemerkungen  sich  den  Konsequenzen  des  bisher  rekon- 
struierten Bühnenbildes  zwanglos  einordnen. 

Es  war  früher  davon  die  Rede  gewesen,  daß  wir  irgendwo 
hinten  einen  Ausschnitt  aus  dem  Podium  anzunehmen  haben:  dort 
muß  im  HS.  der  Held  den  Riesen  und  den  Drachen  abwerfen. 
Der  beste  Platz  dafür  war  die  linke  Ecke :  das  Podiumstück  hinter 
dem  Chorstuhl,  der  die  Lücke  wenigstens  einigermaßen  deckte.  So 
erklärt    sich    nun    die    Situation  von    664  ff.    nach  Kuperons  Fall: 

Sewfrid  warft  in  pei/  aim  pain  vberab,  spricht: 

Nun  fal  über  des  pirges  Joch  usw.  — 
vier  Verse  an  den  in  der  linken  Ecke  abstürzenden  Kuperon, 
jedenfalls  fast  ganz  nach  hinten  gesprochen.  Und  dann  folgt:  Er 
kert  sich  zv  der  junckfrawen,  spricht.  Das  stimmt  durchaus:  sie 
sitzt  auf  dem  Chorstuhl,  er  muß  sich  also  umdrehen,  wenn  er  mit 
reden  will. 

Geradezu  schlagend  ist  es  im  sechsten  Akt.  Zuerst  nach  v.  902. 
Der  hiiernen  Sewfrid  get  ab:  in  den  inneren  Saal,  durch  den 
Mittelspalt  des  Vorhangs.  Die  zurückbleibende  Königin  Crimhilt 
sitzt  natürlich,  obgleich  das  hier  einmal  nicht  ausdrücklich  vorge- 
schrieben ist,  auf  dem  Chorstuhl.  Der  Ferner  luunpt  und  sieht  im 
nach  —  er  geht  vorn  die  Stufen  herauf  und  gerade  über  die  Bühne 


1)  'Links'  und  'rechts'  stets  vom  Standpunkt  des  Zuschauers  aus. 


Unregclinäßif^koiten  der  szenarisc-luMi  Terminologie.  49 

bis  an  den  Mittelspalt;  kert  sich  zv  Crimhilt,  denn  diese  sitzt  auf 
dem  Stuhl,  sodaß  er  sieh  gerade  umdrehen  muß.  Und  dann  die 
Szene  nach  v.  964:  Sewfrid  weicht  hinter  sich,  flewcht  entlich  der 
kiingin  in  ii  schos,  die  .  .  spricht  Dietrich  lun  Gnade  für  ihn  an. 
Der  indessen  —  er  steht  direkt  vor  dem  Chorstuhl,  das  Gesicht 
nach  links  zu  Crimhilt  gewandt  —  zwckt  das  schwert,  in  zv  er- 
stechen. Da  aber  kumpt  Hiltprant,  um  sich  als  lebend  zu  melden: 
er  geht  die  Seitenstufen  vorn  herauf,  Dietrich  kehrt  ihm  also  ge- 
rade den  Rücken  zu.  Und  nun  vor  v.  981 :  Der  Ferner  went  sich 
vmb,  spricht.  Die  vorher  erschlossene  Situation  findet  in  dieser 
Hans  Sachsischen  Bühnen bemerkung  die  vollständigste  Bestätigung. 
Drei  Bedenken  bleiben  noch  übrig.  Das  erste  nötigt  noch 
einmal  zu  einer  Betrachtung  der 

Terminologie    der    szenischen    Bemerkungen 

zurück.  Wir  dürfen  auch  dem,  der  durchaus  geneigt  ist,  an  die 
Richtigkeit  der  bisherigen  Ermittelungen  zu  glauben,  nicht  ver- 
schweigen, daß  eine  absolute  Gleichmäßigkeit  der  szenischen 
Bemerkungen  doch  nicht  vorliegt.  Wir  meinen  aber,  eine  solche 
absolute  Gleichmäßigkeit  ist  auch  nicht  zu  erw^arten ;  es  genügt, 
wenn  wir  überall  die  Regel  sehen  und  die  Ausnahmen  zum  größten 
Teil  erklären  können.  Und  das  ist  durchaus  der  Fall.  Hans 
Sachs  ist  schließhch  doch  nicht  nur  Inspizient:  er  schreibt  seine 
Dramen,  indem  er  dabei  die  hier  wieder  aufgedeckten  Bühnenver- 
hältnisse im  Kopf  hat,  und  er  denkt  bei  der  Aufzeichnung  der 
szenischen  Bemerkungen  so  viel  wie  irgend  möglich  daran,  daß  ihr 
Wortlaut  ihm  bei  seinen  Inspiziententätigkeit  Dienste  leisten  kann ; 
aber  der  einzige  Gesichtspunkt  kann  das  nicht  immer  sein.  In 
gewissen  Fällen  dominiert  der  Regisseur  über  den  Inspizienten  oder 
anders  gesagt:  es  ist  dem  Verfasser  wichtiger,  dem  Schauspieler, 
der  nicht  einfach  aufzutreten  hat,  etwas  über  diese  Besonderheit 
seines  Auftretens  anzudeuten  als  nur  einfach  den  Ort  seines  Er- 
scheinens zu  kennzeichnen.  In  zwei  Fällen  ist  das  deuthch  zu  er- 
kennen: ersthch  wenn  der  Schauspieler  nicht  allein  die  Bühne 
betritt,  sondern  einen  andern  mit  sich  führt,  und  zweitens,  wenn 
das  Tempo  des  Auftretens  besonders  charakterisiert  werden  soll. 
Dann  ist  die  besondere  Angabe  kumpt  oder  get  ein  häufig,  wenn 
auch  nicht  immer  fortgelassen.  So  heißt  es  im  HS.  nach  v.  99: 
Der  herolt  naigt  sich,  get  ab,  pringt  Sewfrid,  —  kein  Zweifel 
übrigens,  daß  beide  eingen,  ebenso  vor  v.  253 :  Der  herolt  pringt 
Crimhilden;  ferner  im  Anfang  von  Akt  3:  Der  trach  fiiert  die 
junckfraw  auf;  endlich  vor  v.  772:  Sewfrid  fürt  Crimhilden  ein: 
natürlich  von  vorn,  aus  derselben  Richtung,  aus  der  kurz  zu- 
vor der  ihre  Rettung  meldende  Zwerg  kumpt.  Andere  Beispiele 
sind:    Aretaphila    1556:    KG.    13,    S.   167;   Hagwartus    13,    S.    234; 

H  e  r  r  111  a  n  n ,   Theater.  •! 


50  Unregelmässigkeiten  der  szenarisclien  Terminologie. 

Jüngling  im  Kasten  1557 :  KG.  13,  S.  248,  258 ;  Verlorene  Sohn,  den 
man  richten  wolt  1557:  KG.  13,  S.  278;  Cyrus  1557:  KG.  13,  S.  310; 
Pontus  1558:  KG.  13,  S.  382,  413;  Alexander  1558:  KG.  13,  S.  482. 
Der  andere,  seltenere  Fall  spielt  im  HS.  gar  keine  Rolle;  Beispiele  sind 
Fortunat  1553:  KG.  12,  S.  197:  schleicht  hinnein;  Rosimunde  1555: 
KG.  12,  S.  418.  —  Gelegentlich  kommt  es  auch  vor,  daß  eine  Bühnen- 
regel um  der  andern  willen  vernachlässigt  ist,  so  wie  wir  oben 
sahen,  daß  ein  König  stehen  mußte,  weil  schon  ein  Ritter  traurig 
saß.  So  -wird  im  Cyrus  (1557)  den  natürlichen  Richtungen  wieder- 
holt Gewalt  angetan,  weil  Heere,  wie  wir  sahen,  aus  Bühnenraum- 
rücksichten  nur  von  vorn  die  Treppe  heraufkommen  konnten 
(vgl.  KG.  13,  S*.  318,9;  325,6;  329,5). 

Anderseits  ist  es  kein  Wunder,  wenn  ein  Viel-  und  Geschwind- 
schreiber wie  Hans  Sachs  auch  öfter  einmal  einen  Verstoß  gegen 
seine  Regeln  sich  zuschulden  kommen  läßt.  Wenn  gelegenthch 
doch  einmal  ein  epischer  Rest  in  einer  szenischen  Bemerkung  Platz 
findet  (aber  höchst  selten;  z.  B.  Aretaphila  1556:  KG.  13,  S.  147'); 
wenn  er  einen  Ausdruck  des  Dialogs  in  die  unmittelbar  folgende 
szenische  Bemerkung  übernimmt  und  wenn  sich  auf  solche  Art 
(z.  B.  Verlorener  Sohn  1556:  KG.  11,  S.  237)  im  Anschluß  an  ein 
kumb!  des  letzten  Verses  ein  kumpt  in  der  Bühnenanweisung  findet, 
wo  es  unbedingt  get  ein  heißen  müßte ;  wenn  das  tritt  ein  des 
Ernholts  ausnahmsweise  ein  paarmal  auch  auf  Personen  des  Stückes, 
statt  get  ein,  übertragen  wird  (Marina  mit  Dagmano  1556:  KG.  13, 
S.  102);  wenn  das  typische  Der  ernholt  kumpt  des  Schlusses  auch 
einmal  (Marina  1557 :  KG.  20,  S.  64)  vor  den  Prolog  gestellt  wird, 
wo  es  tritt  ein  heißen  müßte;  der  Fehler  steht  übrigens  nur  im 
Druck,  nicht  in  der  Handschrift.  Ganz  selten  gibt  der  Dichter  statt 
des  Auftretens  das  Resultat:  das  Dastehen  an,  was  man  vielleicht 
neben  Jene  bloße  Charakteristik  der  Bewegung  wie  das  oben  ange- 
führte schleicht  hinnein  stellen  dürfte  (alle  drei  Belege  aus  dem  Jahr 
1556:  Melusine  KG.  12,  S.  530;  Verlorene  Sohn  KG.  11,  S.  237; 
Vier  Liebhabende  KG.  13,  S.  196). 

Endlich  Fälle  reiner  Liederlichkeit.  So  gut  wie  der  Dichter 
zuweilen  die  besondere  Erwähnung  des  Auftretens  ganz  vergessen 
hat  (z.  B.  Jeremias  1551:  KG.  11,  S.  5,  8,  11,  12,  13,  20;  Ungleiche 
Kinder  Evä  1553:  KG.  1,  S.  58,  81 ;  Magelone  1555:  KG.  12,  S.  479,  483; 
Wilhelm  v.  Ostreich  1556:  KG.  12,  S.  503,  507;  Marina  1557:  KG.  20, 
S.  84 ;  in  unserm  HS.  vor  v.  499)  und  einige  Male  auch  das  Abgehen 
nicht  bemerkt  (z.  B.  Wilhelm  von  Österreich  1556 :  KG.  12,  S.  520,  was 
freilich  nur  ein  Versehen  des  Druckes  ist),  so  wird  man  sich  nicht 
wundern,  wenn  er  auch  hin  und  wieder  einmal  (z.  B.  Verlorene 
Sohn  1556:  KG.  11,  S.  227  oder,  besonders  auffallend  Andreas  1561: 

1)  In  der  Handschrift  steht  übrigens  ganz  biihnenmäl;5ig:  Die  zwen  trabanten  losen 
an  der  thiier  kumn  hinein. 


Der  dritte  Aufgang  zur  Bühne.  51 

KG.  12,  S.  47,  91)  hinsichtlich  des  get  ein  und  kumpt  sich  hat  eine 
Konfusion  zu  schulden  kommen  lassen.  Wie  man  bemerkt  hat,  daß 
Hans  Sachs  ganze  Dramen  dichterisch  liederlich  gearbeitet,  übers 
Knie  gebrochen  hat,  so  kann  auch  die  gelegentliche  unsorgfältigere 
Behandlung  der  szenischen  Bemerkungen,  die  z.  B.  im  Jeremias  v.  J. 
1551  besonders  auffällt,  nicht  befremden.  Im  ganzen  ist  die  Zahl 
solcher  Ausnahmen  jedenfalls  relativ  so  gering,  daß  sie  nur  die 
Existenz  der  Regel  zu  bestätigen  vermögen.  Vielleicht  wird  eine 
künftige  streng  chronologisch  vorgehende  Betrachtung  des  Gesamt- 
materials auch  da  noch  einiges  neue  Licht  bringen. 

Ein  weiteres,  zunächst  gewichtiges  Bedenken  führt  wieder  im 
besondern  zu  unserm  HS.  zurück.  Den  größten  Wert  haben  wir 
überall  darauf  gelegt,  in  den  szenischen  Bemerkungen,  soweit  sie  sich 
auf  Bewegungen  beziehen,  nirgends  etwas  rein  Fingiertes  zu  sehen, 
sondern  bei  allen  Dingen,  von  denen  sie  sprechen,  etwas  auf  der 
Bühne  zu  suchen,  was  der  Phantasie  der  Zuschauer  wenigstens  einen 
Anhalt  gibt.  Nur  ein  wichtiger  Punkt  ist  noch  zurück.  Im  Anfang 
des  zweiten  Aktes,  da  Sewfrid  vom  Schmied  in  den  Wald  geschickt 
ist,  redet  er  nicht  nur  in  seinem  ersten  Monolog  von  195 — 8  von  der 
Höhle,  in  der,  wie  sich  bald  zeigt,  der  erste  Drache  wohnt,  es  heißt 
vielmehr  hinterher,  auch  in  der  szenischen  Bemerkung:  Sewfrid 
get,  schawt  ins  hol.  Der  trach  schewst  heraus  auf  in.  Wo  liegt 
diese  Höhle,  die  zugleich  ein  Auftrittsort  sein  muß,  da  der  Drache 
herauskommt?  An  die  Vordertreppe  ist  hier  natürlich  nicht  zu 
denken:  da  ist  Sewfrid  eben  heraufgekommen,  das  kann  also  nun 
nicht  gleich  wieder  des  Drachen  Versteck  sein.  Ebenso  wenig  aber 
kann  der  hintere  Vorhang  das  hol  vorstellen:  da  Sewfrid  nach  dem 
Kampfe  den  Drachen  hinter  den  Vorhang  treibt  und  hier  ain  rawch 
macht,  sam  verbrenn  er  den  trachen,  muß  sich  der  Zuschauer  da 
freies  Feld  vorstellen.  Es  muß  also  ein  dritter  Aufgang  existieren, 
der  als  Höhle  dient.  Ganz  ebenso  aber  ist  es,  wenn  wir  zunächst 
von  V.  394  absehen,  wo  die  hell  nur  im  Dialog  erwähnt  wird,  im 
vierten  Akt.  Ist  hier  auch  zunächst  v.  512  die  Höhle  des  Riesen 
Kuperan  wieder  nur  im  Text  genannt,  so  lesen  wir  doch  nach 
V.  544  in  der  Bühnenbemerkung:  Sewfrid  drift  den  riesen  wider, 
der  lest  die  Stangen  fallen,  lauß  in  die  holten;  aus  ihr  kommt  er 
dann  vor  v.  549  neugerüstet  heraus;  und  so  muß  er  auch  schon 
vor  V.  499  aus  ihr  herausgestiegen  sein,  nach  v.  510  in  sie  sich 
zurückbegeben  haben  und  vor  513  aus  ihr  herausgesprungen  sein. 
Auch  hier  kann  die  vordere  Seitentreppe  nicht  gemeint  sein: 
denn  von  dort  kumen  der  Zwerg  und  Sewfrid;  aber  auch  nicht 
der  Hintervorhang,  der  das  Gebirge  vorstellt,  dessen  Pforten  der 
Riese  nachher  erschheßt.  Auch  hier  heißt  es  wieder:  die  Bühne 
muß  noch  einen  dritten  Aufgang  gehabt  haben. 

Der  Bhck   auf  andere   Hans    Sachsische   Stücke   bestätigt   die 

4* 


52  Der  dritte  Aufgang  zur  Büline. 

Notwendigkeit  dieser  Annahme.    In  der  Melusine  1556  (KG.  12,  S.  556) 
sagt  Goffrey: 

. .  Vnd  wil  mich  an  der  glenen  mein 

Lassen  in  holen  berg  hinein, 
und  dann  heißt  es :  Goffroy  geht  ab  in  berg.  Im  Daniel  1557  sind 
die  drei  Gesellen  Daniels  in  den  feurigen  Ofen  geworfen,  der 
dabei  in  der  Bühnenbemerkung  noch  nicht  erwähnt  wird;  ein  Trabant 
kommt  und  meldet,  daß  das  Feuer  viele  von  Hofgesinde  verzehrt 
habe,  und  nun  ordnet  Hans  Sachs  an  (KG.  11,  S.  41):  Der  könig 
steht  auf,  geht  gegen  dem  ofen,  sieht  samb  hinein  vnd  spricht,  und 
dann  nach  einigen  Reden:  Der  könig  schaut  wider  hinein,  hebt 
darnach  sein  hendt  auff  vnnd  spricht: 

Ir  gottes  Unecht,  Hanania, 
Misael  vnd  Asaria, 

Nun  kombt  her  auß  dem  fewer  wider! 
Sie  kommen  alle  drey  herauß,  heben  ir  hendt  auff'.  Da  auch 
hier  an  die  Benutzung  des  Vorder-  und  Hintereingangs  nicht  zu 
denken  ist  —  noch  weniger  natürlich  an  einen  wirklichen  Ofen, 
der  drei  Männer  beherbergen  konnte  und  der  doch  auch  gar  nicht 
auf  der  Bühne  sein  durfte,  da  man  sonst  das  Verbrennen  des  Hof- 
gesindes hätte  sehen  müssen,  das  tatsächhch  nur  erzählt  wird  -- 
bleibt  nur  übrig,  einen  möglichst  lochartigen  dritten  Aufgang  anzu- 
nehmen, ebenso  wie  für  die  Höhle  ein  niederer  Zugang  gewiß  be- 
sonders erwünscht  war:  der  mußte  das  Loch  des  Ofens  vorstellen. 
Im  letzten  Akt  desselben  Dramas  wird  Daniel  in  die  Löwengrube 
geworfen;  der  König  spricht  (KG.  11,  S.  61  ff.): 
Da  last  vns  für  der  gruben  loch 
Den  stein  wider  für  richten  doch  .  .  ., 
und  dann  folgt  die  Anweisung:  Der  könig  versigelt  den  stein  .  .  . 
Nach  einigen  Reden  der  drei  Freunde  Daniels  kommt  der  König 
zurück  und  ruft  Daniel  an.  Daniel  schreidt  in  der  löwen  gruben 
vnnd  spricht,  der  König  ordnet  an,  ihn  zu  befreien.  Die  trabanten 
ziehen  in  herauß  .  .  .  blatzen  die  zwen  fürsten  ahn,  füren  sie  hin 
zur  löwen  gruben.  Auch  hier  also  durchaus  wieder  die  Notwendig- 
keit, neben  den  beiden  Bühnenaufgängen  einen  lochartigen  dritten 
anzunehmen.  Ganz  ähnlich  ist  es  im  Bei  1559,  wo  die  Pfaffen  einen 
geheimen  Zugang  zum  Tempel  Bels  haben  müssen,  um  an  seiner 
Stelle  die  ihm  bestimmten  Speisen  zu  verzehren.  Hier  schreibt 
Hans  Sachs  vor  (KG.  11,  S.  74  f.):  Die  drei/  pf äffen  kommen  durch 
das  loch,  essen  vnnd  trincken  und  nach  28  Versen:  Sie  tragen  das 
übrig  opffer  als  mit  vnd  gehen  ab  durchs  loch.  Wieder  also  der 
niedere  dritte  Aufgang.  Hier  aber  versagt  die  von  uns  ermittelte 
Räumlichkeit  in  der  Marthakirche  und  damit,  wie  es  scheint,  auch 
die  ganze  bisher  vertretene  Hypothese. 


SaUi'isloi    und    Bülinc.  53 

Und  endlich  das  letzte  Bedenken  ge^^en  sie,  das  schwerstwiegende, 
das  gewiß  schon  mancher  Leser  im  Stillen  der  ganzen  Theorie 
entgegengehalten  hat.  Der  König  Signuuid  mit  seinen  Räten  und 
Sewfrid  verlassen  nach  dem  ersten  Bild  (v.  123)  die  Bühne,  indem 
sie  die  Seitentreppe  hinab  und  durch  die  Sakrisleitür  gehen:  der 
Königssohn  zieht  in  die  Fremde,  und  die  andern  geben  ihm  das 
Geleit,  Im  nächsten  Bild,  in  der  Schmiede,  muß  Sewfrid  eiiu/en, 
d.  h.  hinten  aus  dem  Altarraum  kommen.  Wie  aber  ist  er  von  der 
Sakristei  dorthin  gelangt?  Die  einzige  Sakristeitür  ist  ja  die,  die 
ins  Schiff  der  Kirche  führt.  Nach  v.  185  hat  er  die  Bühne  Jeden- 
falls hinten  verlassen,  vor  v.  193  tritt  er  von  vorn  wieder  auf,  — 
die  gleiche  Frage.  Nach  v.  226  ist  er  wohl  hinten  abgegangen:  vor 
231  kiimpt  er.  Nach  v.  345  verläßt  Sewfrid  die  Bühne  sicherlich 
hinten:  in  der  gleichen  Richtung,  in  der  der  Drache  mit  Crimhilt 
verschwunden  ist;  vor  v.  396  muß  er  sie  vorn  wieder  betreten. 
Sewfrid  samt  Crimhilt  und  dem  Zwerg  gehen  v.  748  hinten  ab, 
da  der  Drachenstein  nur  diesen  einen  Aufgang  hat,  vor  v.  758  und 
772  erscheinen  sie  über  die  Vordertreppe.  Sewfrid  verschwindet 
vor  V.  903  hinten  und  kommt  vor  v.  939  vorn  wieder  zum  Vorschein. 
Und  so  fort  bis  zum  Ende.  Auch  mit  der  Annahme,  daß  die  Akt- 
pausen benutzt  seien,  um  über  die  Bühne  weg  die  nötigen  Wege 
zu  bewerkstelligen,  wird  man  sich  nicht  helfen  können,  ganz  ab- 
gesehen von  der  entsetzlichen  Illusionsstörung,  die  auf  solche  Art 
herbeigeführt  würde :  auch  innerhalb  der  Akte  tritt  jene  Notwendig- 
keit, aus  dem  Altarraum  in  die  Sakristei  zu  gelangen,  im  HS.  wie 
in  Hans  Sachsens  sonstigen  Dramen  oft  genug  hervor. 

So  bleibt,  um  jene  sonst  so  lockende  Hypothesenkette  zu  retten, 
nur  ein  Mittel  übrig:  noch  eine  neue  Hypothese  aufzustellen.  Sie 
lautet:  Die  jetzt  vorhandene  Tür  i  n  s  S  c  h  i  f  f  w  a  r  ni  ch  t 
immer  der  einzige  Eingang  der  Sakristei,  in  Hans 
Sachsens  Zeit  muß  vielmehr  auch  noch  eine  Tür 
aus  der  Sakristei  direkt  in  den  Altarraum  geführt  haben. 
Für  ihre  Berechtigung  kann  man  eine  Tatsache  anführen,  die  mit 
den  Meistersingeraufführungen  nichts  zu  schaffen  hat,  sondern  ledig- 
lich in  den  architektonischen  Verhältnissen,  im  Wesen  des  Kirchen- 
baus begründet  ist.  Diese  hypothetische  Tür  ist  für  den  katholi- 
schen Gottesdienst,  für  den  doch  die  Marthakirche  im  Mittelalter 
erbaut  war,  fast  unentbehrlich  und  läßt  sich  in  andern  Kirchen 
fast  immer  nachweisen.  Der  Geistliche  legt  in  der  Sakristei  die 
Meßgewänder  an,  ehe  er  an  den  Altar  tritt;  hier  in  der  Sakristei 
werden  die  Dinge  verwahrt,  die  für  den  Altardienst  nötig  sind,  von 
hier  aus  werden  sie  durch  die  Chorknaben  an  die  heilige  Stätte 
gebracht.  Sollte  man  damit  immer  erst  durch  das  Schiff  an  der 
Kanzel  vorbei  in  den  Altarraum  gegangen  sein,  auf  einem  weiten 
Umwege  also?   Liegt  es  da  nicht  viel  näher  anzunehmen,    daß  an 


54  Die  zweite  Sakcisteitür  als  Höhle,  Ofen,  Grab,  Fluß. 

der  linken  Sakristeiwand  ursprünglich  eine  zweite  Tür  sich  befun- 
den hat,  durch  die  man  unmittelbar  in  den  Altarraum  gelangte,  daß 
diese  zweite  Tür  später,  als  man  ihrer  nicht  mehr  benötigte,  aus 
irgend  welchen  Gründen  vermauert  wurde,  daß  sie  aber  zu  Hans 
Sachsens  Zeiten  noch  vorhanden  gewesen  ist? 

Mit  der  Annahme  dieser  Tür  gelangen  wir  auf  das  Vortreff- 
lichste aus  allen  Schwierigkeiten  zur  schönsten  Klärung.  Nicht 
nur,  daß  die  Verbindung  zwischen  Vorder-  und  und  Hinteraufgang 
auf  solche  Weise  hergestellt  ist,  diese  Altarraumtür  liefert  uns  zu 
gleicher  Zeit  auch  den  dritten  Eingang  zur  Bühne,  der  sich  uns 
ganz  zuletzt  noch  als  unentbehrlich  erwiesen  hat.  Wir  brauchen 
nur  anzunehmen,  daß  der  Hintervorhang,  über  dessen  Situation  wir 
bisher  noch  zu  keiner  festen  Anschauung  gekommen  waren,  so 
angebracht  war,  daß  er  die  Öffnung  der  Altarraumtür  in  zwei 
Teile  teilte.  Durch  die  Hälfte,  die  hinter  dem  Vorhang  lag,  ging 
der  Schauspieler,  wenn  er  hinten  die  Bühne  verlassen  hatte  und 
nun  vorn  wieder  auftreten  sollte.  In  der  andern  Hälfte  führte  eine 
für  die  Vorstellung  angebrachte  schmale  Holztreppe  zum  Bühnenpo- 
dium empor.  Dadurch  aber,  daß  von  dieser  halben  Türöffnung 
durch  das  Podium  der  untere  Teil  bedeckt  war,  sah  der  obere,  von 
der  Bühne  aus  zugängliche  Teil  vom  Zuschauerraum  wie  ein  Loch 
aus.  Er  war  also  äußerst  geeignet,  die  Höhle  zu  repräsentieren, 
aus  der  vor  v.  199  der  erste  Drache  auf  Sewfrid  herausschießt 
und  in  der  dann  später  Kuperon  wohnt:  vielleicht  hat  hier  hinein 
nach  V.  395  auch  die  gefangene  Crimhilt  schlewffen  müssen.  Hier 
war  der  Berg,  in  den  Goffroy  sich  an  seiner  Glennen  hinab- 
ließ, hier  der  feurige  Ofen,  dem  die  drei  Männner  entsteigen,  hier 
das  Grubenloch,  in  das  Daniel  mit  den  Löwen  geworfen  wird,  hier 
das  Loch,  durch  das  die  Baalspriester  zum  heimlichen  Schmause 
steigen.  Auch  als  Lazarus'  Grab  (Lazarus  1551 :  KG.  11,  S.  251 — 2), 
als  Feuer,  in  dem  der  Marschall  brennen  muß  (Galmi  1552:  KG.  8, 
S.  293)  und  als  Gefängnis  (z.  B.  Beritola  1559:  KG.  16,  S.  123  ff.) 
konnte  diese  Altarraumtür  vortrefflich  dienen.  Im  Josua  1556  (KG. 
10,  S.  104  f.)  ist  eine  zunächst  nicht  darstellbar  scheinende  Szene. 
Josua  hat  prophezeit,  das  Volk  werde  trockenen  Fußes  durch  den 
Jordan    gehen,    und    das    wird    tatsächlich    vorgeführt:   Das    volck 

zeucht  nach,  gehn  ein  mal  herum b,  die  priester  stehn  still 

Josua,  der  fürst,  spricht: 

Nun  get  hinüber  allesam 

Mit  trucknem  fuß  in  Gottes  nam! 

Vnd  eiver  zwölff  auß  der  gemain 

Hebt  auß  dem  Jordan  auff  zwölff  stain! .  . 

Sie  gehn  alle  in  Ordnung  durch,  haben  stain  auff  ihren  achseln. 
Josua  spricht: 


Die  zweite  Sakristeitür.  -  55 

//■  priester,  min  trettet  heraiiff 
Aiiß  dem  Jordan,  der  min  sein  lau  ff'.  .  . 
Die  priester  steigen  heraiiff 

Wie  wird  das  gemacht?  durch  was  ziehen  sie  hindurch?  von 
wo  ziehen  sie  herauf?  Unser  jetziges  Bühnenbild  erklärt  uns  alles: 
Sie  gehn  durch  das  heißt:  durch  die  Sakristei,  in  Ordnung,  das 
heißt  im  Gänsemarsch,  wie  bei  der  Schlußrevue,  die  Priester  voran. 
So  entschwinden  sie  dem  Blick  des  Zuschauers,  für  seine  Phanta- 
sie sind  sie  nun  im  Bett  des  Jordans.  Josua  ist  auf  der  Bühne 
zurückgeblieben  und  ruft  nun :  steigt  herauf !  Und  die  beiden  vor- 
dersten, die  Priester  kommen  durch  die  Altarraumtür,  allmählich 
emportauchend,  als  ob  sie  wirklich  aus  dem  Flußbett  wieder  her- 
aufstiegen. Dieses  Bühnenbild  beseitigt  tatsächlich  sämtliche 
Schwierigkeiten. 

Aber  noch  ist  diese  letzte  Annahme,  die  alles  lösen  kann,  auch 
nur  Hypothese.  Von  der  Realität  dieser  letzten  Hypothese  hängt 
die  Realität  der  ganzen  Hypothesenreihe  ab,  die  uns  allmählich  er- 
wachsen ist.  Eine  Raumfrage  ist  es,  die  den  letzten  Ausschlag  gibt : 
hat  diese  Altarraumtür  existiert? 

Um  diese  Frage  zu  beantworten,  wandte  ich  mich  —  tatsächlich 
erst,  als  die  Untersuchung  so  weit  gediehen  war,  wie  sie  hier  vor- 
getragen ist  —  an  die  zuständige  Behörde,  das  Städtische  Bauamt 
in  Nürnberg,  unter  Einsendung  eines  Grundrisses,  auf  dem  ich  die 
hypothetische  Tür  vermutungsweise  zwischen  den  Pfeilern  B  und  C 
rot  angedeutet  hatte.  Unterm  16.  Juli  1902  erhielt  ich  folgende,  von 
Herrn  Oberbaurat  C.Weber  unterzeichnete  amtliche  Auskunft'); 

„Ihre  geschätzte  Anfrage  vom  13.  ds.  Mts.  die  Sakristei  der  hie- 
sigen Marthakirche  betr.,  bin  ich  nach  Augenscheinnahme  durch 
Herrn  Oberingenieur  Wallraff  in  der  Lage,  wie  folgt  zu  beantworten : 

Die  Sakristei  hatte,  wie  Sie  richtig  vermuten,  früher  einen 
zweiten  Eingang  zum  Altarraum  der  Kirche,  nur  befand  sich  der- 
selbe nicht  an  der  von  Ihnen  mit  Rotstift  bezeichneten  Stelle,  sondern 
im  danebenliegenden  Bogenfeld  (wie  im  Grundriß  blau  angedeutet)-). 
Die  Stelle  ist  in  der  Sakristei  noch  genau  ersichtlich;  die  Sakristei- 
wand ist  nebenstehend  skizziert.  Aber  auch  in  dem  Altarraum  ist 
noch  ein  untrügliches  Merkmal  der  ehemaligen  Tür  in  der  fehlenden 
unteren  Spitze  des  Nischenbogens  erkenntlich." 

Und  mit  dieser  Ermittlung  sind  wir  wohl  aus  dem  Bereich  der 
Hypothesen  auf  den  festen  Boden  der  Gewißheit  getreten.  Auch 
über  die  Größe  des  Schauplatzes  sind  wir  nun  genau  unterrichtet, 
nun  uns  auch  über  die  Situation  des  Vorhangs  kein  Zweifel  mehr 


1)  Den  beteiligten  Herren  sag  ich  auch  an  dieser  Stelle  für  ihre  große  Güte  meinen 
herzlichsten  Dank. 

2)  D.  h.  zwischen  A  und  B. 


56 


Die  ganze  Bühne. 


bestehen  kann:  da  er  die  zwischen  A  und  B  befindliche  Altarraum- 
tür halbieren  mußte,  war  er  2,2  m  vom  Schiff  entfernt.  Die  Breite 
der  Hinterbühne  6  m,  die  der  Vorderbühne  12  m,  der  Flächenin- 
halt der  ganzen  Bühne  ca.  28  qm.  Und  kaum  ein  Schritt,  den  Hans 
Sachsens  Schauspieler  auf  diesem  Schauplatz  taten,  den  wir  nicht  zu 
kontrollieren  vermöchten.  Die  Bühne  der  Nürnberger  Meistersinger 
ist  rekonstruiert. 


Abb.  5.     Grundriß  der  Meistersingerbühne  in  der  Marthakircbe. 


Zweites  Kapitel: 

Dekorationen,  Requisiten,  Kostüme. 


Dekorationen. 

Wenn  wir  uns  nun  zu  der  Beantwortung  der  Frage  wenden, 
ob  für  die  Darstellung  des  Hürnen  Sewfrid  Dekorationen  benutzt 
worden  sind,  muß  von  vornherein  betont  werden,  daß  es  sich  dabei 
nur  um  Dekorationen  im  modernen  Sinne  handeln  kann:  nicht  um 
eine  plastische  Nachbildung  des  Schauplatzes  und  seiner  einzelnen 
Teile,  sondern  um  eine  Täuschung  der  Zuschauer,  die  mit  maleri- 
schen Mitteln  das  Bild  jener  plastischen  Verhältnisse  vorzuspiegeln 
versucht.  So  unterscheiden  sich  die  Dekorationen  von  den  Requi- 
siten, bei  denen  die  drei  Dimensionen  beibehalten  zu  sein  pflegen. 
In  solchem  Sinne  kannte  das  Mittelalter  mit  seiner  Marktbühne  ei- 
gentlich nur  Requisiten :  hier  waren  die  Häuser  usw.  wirkhch  plastisch 
aufgebaut.  Davon  kann  auf  der  so  außerordentlich  kleinen  Meister- 
singerbühne natürlich  nicht  mehr  die  Rede  sein :  die  Einführung 
plastischer  Gegenstände  mußte  hier  auf  Requisiten  im  modernen 
Sinne  beschränkt  bleiben,  auf  bewegliche  Dinge  also,  die  von  den 
an  der  Handlung  teilnehmenden  Menschen  im  Zusammenhang  mit 
ihr  irgendwie  benutzt  werden.  Natürlich  ist  auch  nach  dieser  Unter- 
scheidung die  Grenze  zwischen  Dekoration  und  Requisit  nicht  immer 
haarscharf  zu  ziehen,  insofern  als  auch  ein  Requisit  geringeren  Um- 
fangs  als  Dekorationsstück,  lediglich  zur  Charakteristik  des  Ortes 
dienen  kann.  Zunächst  aber  hat  der  folgende  Abschnitt  die  eigent- 
lichen Dekorationen  im  Auge. 

Wieder  untersuchen  wir  zunächst  die  lokalen  Verhältnisse, 
d.  h.  wir  fragen  uns :  inwiefern  ist  auf  dem  von  uns  nun  genau 
abgegrenzten  Bühnenraum  die  Anbringung  von  Dekorationen  möglich. 
Hier  wird  aber  zunächst  eine  Vorfrage  zu  beantworten  sein;  sie 
bezieht  sich  auf  ein  theatralisches  Hilfsmittel,  das  man  weder  zu 
den  Dekorationen  noch  zu  den  Requisiten  zählen  kann,  das  aber 
für  ihre  Verwertung  von  der  größten  Bedeutung  ist:    auf  den 

Theater  Vorhang. 
Hat  die  Meistersingerbühne   einen  Vorhang  besessen?   Es  leuchtet 
ein,  daß,  wenn  das  nicht  der  Fall  war,  die  Verw^ertung  von  Deko- 
rationen in  einem  den  modernen  Ansprüchen  irgendwie  genügen- 


58  Theatei'vorhang?     Abtragen  der  Toten. 

den  Sinne  von  vornherein  kaum  möglicli  gewesen  ist:  der  fort- 
währende Dekorationswechsel,  den  Hans  Sachsens  Drama  verlangen 
wih'de,  ist  ohne  die  Möglichkeit,  ihn  dem  Blick  der  Zuschauer  zu 
entziehen,  technisch  kaum  denkbar. 

Schon  die  Lage  der  Bühne  aber  macht  das  Vorhandensein 
eines  Vorhangs  recht  unwahrscheinlich.  Wie  wir  sahen,  reichte  der 
Schauplatz  weit  ins  Schiff  hinein  und  auch  rechts  und  links  über 
die  Breite  des  Altarraums  hinaus.  Man  hätte  also  unten  im  Schiff 
hohe  und  starke  Pfähle  errichten  und  zwischen  ihnen  einen  12 
Meter  breiten  Vorhang  anbringen  müssen;  die  Bewältigung  der 
technischen  Schwierigkeiten  dieses  Baus  hätte  doch  den  Übelstand 
nicht  beseitigt,  daß  an  der  rechten  und  der  linken  Seite  die  Bühne 
ungedeckt  blieb.  Dagegen  wäre  es  technisch  wohl  angegangen,  auf 
die  Verhüllung  der  Vorderbühne  zu  verzichten  und  nur  die  Hinter- 
bühne beim  Szenenwechsel  zu  verdecken:  durch  einen  Vorhang, 
der  sich  durch  die  Öffnung  der  Altarnische  breitete.  Von  vorn- 
herein würde  dadurch  die  Anbringung  von  Dekorationen  in  einem 
auch  nur  annähernd  modernen  Sinn  auf  die  hintere  Abteilung  der 
Bühne  beschränkt  geblieben  sein. 

Es  hat  überhaupt  schwerlich  ein  solcher  Vorhang  existiert :  das 
sehen  wir,  wenn  wir  nun  auch  Hans  Sachsens  Dramen  heranziehen. 
Den  Beweis  liefern  die  nicht  seltenen  Vorschriften,  die  sich  auf  das 
Abtragen  der  Toten  beziehen.  Hätte  das  Theater  einen  Vorhang  zur 
Verfügung  gehabt,  so  hätten  die  Schauspieler,  die  sich  in  ihrer 
Rolle  am  Schluß  eines  Aktes  hatten  umbringen  lassen,  in  der  Zwischen- 
pause hinter  dem  deckenden  Vorhang  die  Bühne  verlassen  können. 
So  aber  geht  es  nicht  zu.  Im  HS.  heißt  es  nach  v.  1106,  nachdem 
Crimhilt  ihre  Klagerede  an  Sewfrids  Leiche  gehalten  hat :  Sie  tragen 
den  dotten  ab,  die  kiingin  get  trawrig  hinach;  für  diese  Fort- 
schaffung ist  außer  dem  Herold  auch  noch  ein  sonst  gänzlich  un- 
beschäftigter jeger  eingeführt,  der  schon  vor  v.  1074  mit  aufgetre- 
ten ist.  Immerhin  gliedert  sich  hier  dieses  Forttragen  der  Leiche 
mit  einer  gewissen  Feierlichkeit  der  Handlung  ein;  ferner  hätte  ein 
Fallenlassen  des  Vorhangs  vor  dem  Epilog  vielleicht  einen  zu  starken 
Einschnitt  herbeigeführt.  Aber  in  andern  Dramen  der  gleichen 
Zeit  wird  es  ganz  deutlich.  So  im  Hugschapler  1556,  wo  es  (KG.  13, 
S.  17)  am  Schluß  des  zweiten  Aktes  heißt:  Man  tregt  den  todten 
ab  (allerdings  ist  vorher  im  Dialog  darauf  hingewiesen);  ferner  bei 
einem  Schauplatzwechsel  im  ersten  Akt  (S.  7):  Hugschapler  kämpft 
mit  dem  Ritter  und  seinen  Knechten,  schlecht  den  ritter  nider,  die 
knecht  fliehen,  er  spricht  noch  einen  Monolog  und  get  allein  ab 
(nach  Frißland).  Die  knecht  klimmen,  tragen  den  ritter  ab.  König 
Hiigwan  geht  ein  —  wir  befinden  uns  nicht  mehr  im  Hennegau, 
sondern  in  Friesland.  Hätte  der  Dichter  dazwischen  den  Vorhang 
fallen   lassen   können,   würde  er  gewiß  die  Rückkehr  der  Knechte 


Abtragen  der  Toten.  -  59 

nicht  eingeführt  haben.  Genau  die  gleiche  Situation  wiederholt 
sich  im  dritten  Akt  (S.  21).  Vgl.  z.  B.  ferner  Arethaphila  1556  (KG. 
13,  S.  160),  wo  am  Schluß  des  dritten  Aktes  die  Trabanten  nur 
kommen,  um  ohne  weitere  Rede  den  erschlagenen  Tyrannen  ab- 
zutragen; Cyrus  1557  (KG.  13,  S.  326)  am  Schluß  des  sechsten  Ak- 
tes; Pontus  1558  (KG.  13,  S.  411)  am  Schluß  des  fünften  usw.  Im 
Alexander  Magnus  1558  (KG.  13,  S.  488)  besorgen  das  Abtragen  des 
toten  Nectanabus  zwei  Trabanten,  die  sonst  die  Bühne  überhaupt 
nicht  betreten :  gewiß  hätte  der  Dichter  das  so  schon  bedenklich 
große  Personal  dieses  Dramas  nicht  noch  um  zwei  Statisten  vermehrt, 
wenn  er  den  Vorhang  zur  Verfügung  gehabt  hätte.  Gegenüber  der 
überwältigenden  Majorität  von  Anordnungen  solcher  Art  kommt  es 
gewiß  nicht  in  Betracht,  wenn  einmal  die  Angabe  fehlt:  in  den 
Vier  Liebhabenden  1556  (KG.  13,  S.  205)  bringt  Gabriotto  den  bösen 
Schalksnarren  am  Schluß  des  sechsten  Aktes  um,  die  szenische  An- 
weisung aber  sagt  nur:  Er  geht  eilendt  ab;  offenbar  handelt  es 
sich  nur  um  Vergeßlichkeit:  gleich  im  nächsten  Akt  (S.  207)  stirbt 
Gabriotto;  sein  Knecht  Anthoni,  der  allein  mit  ihm  auf  der  Szene 
ist,  ruft  nach  einigen  Worten  der  Klage :  Helfft  mir  mein  ritter  tragen 
ab,  Das  man  auff  herlichst  ihn  begrab,  und  dann  heißt  es  in  der 
szenischen  Bemerkung:  Man  tregt  den  todten  ritter  ab,  das  heißt 
doch:  auf  Anthonis  Ruf  ist  von  hinten  jemand  herbeigekommen, 
der  ihm  nun  hilft,  den  Leichnam  wegzubringen.  All  das  wäre  nicht 
nötig  gewesen,  wenn  ein  Vorhang  vorhanden  gewesen  wäre. 

Ein  Vorhang  war  nicht  vorhanden  oder  allenfalls  nur  ein  Vor- 
hang, der  den  hinteren  Teil  der  Bühne  zudecken  konnte.  Die  Kon- 
sequenz für  die  Dekorationsfrage  ist  die:  es  sind  keine  Dekorationen 
gewechselt  worden  oder  doch  nur  auf  der  Hinterbühne,  wo  der  Aus- 
tausch entweder  unter  dem  Schutz  des  nicht  ganz  unmöglichen 
Altarraumsvorhangs  oder  von  hinten  aus  erfolgte,  ohne  daß  die 
dabei  tätigen  Arbeiter  dem  Publikum  sichtbar  wurden :  durch  einen 
Wechsel  des  hinten  die  Bühne  abschließenden  Vorhangs,  der  Deko- 
rationscharakter gehabt  haben  könnte,  oder  durch  ein  Hineinschieben 
von  stehenden  Dekorationsstücken  auf  den  hintersten  Teil  der  Bühne, 
soweit  das  durch  den  Mittelspalt  des  Abschlußvorhangs  oder  allen- 
falls auch  durch  die  Altarraumtiu'  sich  vornehmen  ließ.  Denn  daß 
der  spielleitende  Dichter  seinem  Publikum  nicht  zumutete,  sich  fort- 
w^ährend  den  Anblick  nicht  an  der  Handlung  beteiligter  Personen 
gefallen  zu  lassen,  die  etwa  Bäume  und  Felsen  herausstellten  und 
nach  wenigen  Versen  wieder  forträumten,  zeigt  die  bei  der  eben- 
falls lokal  bedingten  Fortschaffung  der  Toten  geübte  Kunst,  die  Illu- 
sion zu  wahren  oder  doch  nicht  gar  zu  gröblich  zu  stören;  ein 
entschiedener  Fortschritt  übrigens  gegenüber  der  primitiveren  Art 
der  vierziger  Jahre:  in  der  Handschrift  der  Sechs  Kämpfer  heißt 
es  noch  an  der  Stelle,  wo  im   späteren   Druck  das   Abtragen  der 


60  Die  Raumverhältnisse.      Möglichkeit  einer  Hinterdekoration. 

Leichen  vorgeschrieben  ist  (KG.  8,  S.  21  ZI.  8) :  Auch  schleichn  alle 
dottn  darfon. 

Aber  auch  die  Betrachtung  der  Bühne  selber  und  der  dort  für 
die  Anbringung  von  Delvorationen  zur  Verfügung  stehenden  Raum- 
verhältnisse führt  zu  einem  ähnhchen  Ergebnis.  Die  Hinter- 
bühne ist  jedenfalls  zu  klein,  als  daß  sie  durch  die  Aufstellung 
irgend  einer  Seitendekoration  im  Sinne  der  heutigen  Kuhssen  noch 
verengert  werden  dürfte,  höchstens  für  ein  kleines  Kuhssenstück 
wäre  dort  Platz.  Zudem  steht  links  der  Stuhl,  und  rechts  ist  der 
Höhleneingang:  die  Wände  können  also  nicht  bedeckt  werden. 
Auf  der  Vorderbühne  sind  die  Wandstücke  rechts  und  links  vom 
Altarraum  durch  die  Nebenaltäre  in  Anspruch  genommen  gewesen 
und  kommen  daher  für  die  Anbringung  von  Dekorationen  nicht  in 
Betracht;  von  den  freistehenden  Seitenflächen  des  Podiums  diente 
die  rechte  als  Aufgang  von  der  Sakristeitiu'  her,  und  so  wird  man 
wohl  auch  die  linke  schwerlich  für  die  Aufstellung  einer  Dekoration 
verwertet  haben.  Der  einzige  Platz,  an  dem  der  Raum  die  unge- 
zwungene Möglichkeit  eine  Dekoration  anzubringen  und  zu  wechseln 
geboten  hätte,  wäre  der  hintere  Abschluß. 

Die  letzte  Frage  dem  Raum  gegenüber  wäre  endlich  die :  welches 
Bild  bietet  er  dem  Auge,  welche  Anknüpfungspunkte  der  Illusions- 
fähigkeit? 

Die  von  uns  rekonstruierte  Bühne  zerfällt  in  dieser  Hinsicht 
offenbar  in  zwei  grundverschiedene  Teile :  die  hintere  Abteilung, 
die  in  den  Altarraum  fällt,  bietet  dem  Auge  den  Anblick  eines  ge- 
schlossenen Innenraums,  der  auf  drei  Seiten  von  Wänden  umgeben, 
der  mit  Fenstern  versehen  ist  und  wenigstens  einen  Stuhl  als  Haus- 
rat aufweist.  Ganz  anders  der  vordere  Teil  des  Podiums,  der  un- 
abgeschlossen in  die  Kirche  hineinragt:  er  kann  entweder  als  eine 
bloße  Ergänzung  jenes  Innenraums  erfaßt  werden,  oder  aber  er  hat 
einen  völlig  neutralen  Charakter,  er  regt  zunächst  durch  nichts  die 
Phantasie  zur  Ergänzung  in  irgend  einer  Hinsicht  an  und  kann  in- 
sofern besonders  dazu  verwendet  werden,  die  Einbildungskraft  des 
Zuschauers  in  verschiedener  Weise  zu  beschäftigen.  Vor  allem  ist 
er  geeignet,  im  Gegensatz  zu  jenem  Innenraum  ein  Stück  der  freien 
Natur  vorzustellen,  dem  sich  dann  umgekehrt  die  hintere  Fort- 
setzung als  indifferenter  Abschluß  beizuordnen  hätte. 

So  wird  es  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  für  diejenigen 
Szenen,  die  im  Saal  oder  Zimmer  spielen  sollen,  unverwöhnten  Zu- 
schauern gegenüber  eine  besondere  Hinterdekoration  kaum  erforder- 
lich gewesen  ist ;  dagegen  bleibt  die  Frage  zunächst  offen,  in  welcher 
Weise  Hans  Sachs  umgekehrt  dafür  gesorgt  hat,  seine  Zuschauer 
in  die  freie  Natur:  in  den  Garten,  den  Wald,  das  Gebirge  oder  auf 
die  Straße  zu  führen.  Hier  würde  ein  Wechsel  in  der  Ausstattung 
des  hinteren  Vorhangs  jedenfalls  besonders  geeignet  gewesen  sein, 


Dekorationsinaterial :  Teppiche.  61 

die  Phantasie  der  Zuschauer  aus  dem  Innenraum,  den  sie  zunächst 
vor  sich  sahen,  heraus  und  in  die  von  der  betreffenden  Situation 
erforderte  Landschaft  zu  führen. 

Die  Anbringung  von  drei  oder  vier  Vorliängen  hintereinander 
hätte  gewiß  den  Nürnberger  Tapezierern  keine  sonderhche  Schwierig- 
keit bereitet,  und  der  Szenenwechsel  wäre  auf  solche  Weise  auch 
innerhalb  eines  Aktes  beliebig  oft  im  Nu  zu  vollziehen  gewesen. 
Es  fragt  sich  nur:  in  wie  weit  war  das  Theater  des  16.  Jahrhunderts 
und  im  besondern  diese  Bühne  der  Nürnberger  Handwerker  im- 
stande, eine  dekorativ  wirkende  Darstellung  auf  einem  als  Vorhang 
benutzbaren  Stoff  zu  geben? 

p]rhalten  hat  sich  nichts  derart,  aber  das  würde  an  sich  noch 
nichts  gegen  die  einstige  Existenz  solcher  Dekorationen  beweisen: 
denn  abgesehen  von  einigen  Teufelsmasken,  die  hier  und  da  auf- 
getaucht sind'),  scheinen  überhaupt  keine  Theateraltertümer  aus 
so  früher  Zeit  auf  uns  gekommen  zu  sein,  oder  es  ist  bisher  noch 
kein  Stück  in  solchem  Sinne  rekognosziert  worden. 

Zunächst  läge  es  vielleicht  am  nächsten  daran  zu  denken,  daf5 
man,  um  als  den  Ort  der  Handlung  eine  Landschaft  anzudeuten, 
Teppiche  verwendet  habe.  Die  deutsche  Teppichindustrie  hat  bis 
zum  16.  Jahrhundert  auf  einer  sonderlichen  Höhe  nicht  gestanden  und 
ist  jedenfalls  von  dem  Glanz  der  französischen  und  namentlich  der 
flandrischen  Konkurrenz  so  sehr  verdunkelt  worden,  daß  man  bis 
vor  kurzem  an  die  Möglichkeit  einer  Geschichte  der  Teppichkunst 
in  Deutschland  vor  der  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  überhaupt  nicht 
dachte-).  Immerhin  sehen  wir  jetzt  wenigstens,  daß  es,  von  den 
gestickten  Teppichen  ganz  abgesehen,  auch  an  Teppichwirkern  in 
Deutschland  nicht  völlig  fehlte:  in  Nürnberg  selbst  haben  z.  B.  die 
Klosterfrauen  von  St.  Katharina  sich  auf  diesem  Gebiet  schon  im 
15.  Jahrhundert  ausgezeichnet^).  Doch  bleibt  es  bei  vereinzelten 
Leistungen:  noch  1495  lassen  sich  die  Holzschuher  einen  Grab- 
teppich in  Brüssel  herstellen^).  Im  16.  Jahrhundert  sind  Teppich- 
weber aus  Flandern,  auch  ein  Mailänder  Meister  in  Nürnberg  an- 
sässig gewesen.  Zu  der  Höhe  der  ausländischen  Leistungen  aber 
stieg  die  deutsche  Industrie  zum  ersten  Male  gerade  zu  der  Zeit 
empor,  von  der  wir  hier  reden :    um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts, 


1)  Vgl.  den  Fach-Katalog  der  Internationalen  Ansstellung  für  Musik  und  Theater- 
wesen.   Wien  1892.    Abteilung  für  deutsches  Drama  und  Theater.    S.  13. 

2)  Den  ersten  Versuch,  eine  solche  Geschichte  zu  skizzieren,  bildet  das  Werk  von 
E.  Müntz,  Histoire  de  la  tapisserie  en  Italie,  Allemagne  etc.  Paris  1878  ff.  Notizen  über 
Teppiche  des  14.  und  15.  Jahrh.  bei  Alwin  Schultz.  S.  91  f.  Vortreffliches  Material  mit 
fachwissenschaftlicher  Erklärung  bietet  jetzt  der  ausgezeichnete  Katalog  der  Gewebesamra- 
lung  des  Germanischen  Museums  m  Nürnberg.     1.  Nürnberg  1896. 

r?.!       3)  Vgl.  über  Teppichwirkerinnen  in  Basel:  Moritz  Heyne,  Das  deutsche  Wohnungs- 
wesen, Leipzig  1899.    S.  248. 

4)  Nr.  679  des  Germanischen  Museums.     Vgl.  den  o.  a.  Katalog,  bes.  auch  S.  115  f. 


62  Teppichwirkerei.  Dekorationsmalerei. 

und  die  erste  Blütestätte  liegt  Nürnberg  gar  nicht  so  fern:  es  ist 
die  Wandteppichfabrik  des  Wittelsbachischen  Fürstenhauses,  die 
vielleicht  in  Lauingen  gestanden  hat').  Eine  ihrer  herrlichsten  Lei- 
stungen wird  zu  Nürnberg  im  Germanischen  Museum  bewahrt:  der 
große  Teppich,  der  die  Geschichte  der  Susanna  darstellt-).  Ein  um- 
fangreiches Stück  dieses  Teppichs  zeigt  uns  Susannens  Garten  ohne 
Figuren  und  würde  mit  seiner  unvergleichlichen  Leuchtkraft  w^ohl 
geeignet  gewesen  sein,  als  Hintervorhang  auf  Hans  Sachsens  Bühne 
ausgespannt,  in  den  Zuschauern  die  Illusion  zu  erwecken,  daß  sie 
sich  nun  in  einem  prächtigen  Garten  befänden.  Indessen  erscheint 
es  fast  ausgeschlossen,  daß  Hans  Sachs  in  solchem  Sinne  dekora- 
tiv geeignete  Teppiche  zu  seiner  Verfügung  gehabt  hat;  denn  so 
weit  wir  urteilen  können,  hat  diese  Teppichindustrie,  zumal  im 
16.  Jahrhundert,  wo  die  Wandteppiche  immer  mehr  und  mehr  an  die 
Stelle  der  Wandmalereien  traten,  auf  der  einen  Seite  nur  Teppiche 
mit  menschlichen  Gestalten,  mit  Szenen  aus  der  heiligen  Geschichte, 
aus  der  Sage,  der  Dichtung  und  dem  Alltagsleben  hergestellt,  auf 
denen  nur  als  Hintergrund  Landschaftsdarstellungen  sich  fanden, 
auf  der  andern  Seite  rein  ornamentale  Stücke  geliefert :  mit  Mustern, 
in  denen  wohl  Pflanzen  aller  Art  verwendet  wurden,  die  aber  irgend 
welche  theatralische  Illusionskraft  nicht  besessen  hätten ;  eine  rein 
naturalistische  Garten-  oder  Walddarstellung  auf  einem  Teppich 
dieser  Zeit  scheint  nicht  bekannt  zu  sein.  Es  kommt  dazu,  daß 
die  Kostbarkeit  dieses  Materials  seine  Verwendung  auf  der  Meister- 
singerbühne wohl  so  ziemlich  ausschloß,  zumal  man  mit  Rücksicht 
auf  die  Größenverhältnisse  des  Altarraums  rücksichtslos  hätte  ab- 
schneiden müssen.  Und  daß  unter  den  Handwerkern  der  Meister- 
singer sich  Teppichwirker  befunden  hätten,  die  imstande  gewesen 
wären,  direkt  für  die  Aufführung  das  erforderliche  Material  herzu- 
stellen, ist,  wenn  wir  den  oben  erörterten  damaligen  Zustand  der 
ganzen  Kunst  in  Deutschland  bedenken,  höchst  unwahrscheinlich*). 
Es  bliebe  die  zweite  Möglichkeit:  daß  man  imstande  gewesen 
wäre,  auf  Leinwand  perspektivische  Dekorationsmalerei  im 
heutigen  Sinne  auszuführen.  Von  der  Geschichte  solcher  Deko- 
rationsmalkunst ist  noch  viel  weniger  bekannt  als  von  der  Ge- 
schichte der  Teppichwebekunst,  nämlich  eigentlich  gar  nichts,  und 
wenn  wir  auf  eigene  Faust  etwas  darüber  ermitteln  wollen,  so 
müssen  wir  uns  schon   an  die  Personalunion  halten,    die  zwischen 


1)  Vgl.  Manfred  Mayer,  Geschichte  der  Wandteppichfabriken  des  Wittelsbachischen 
Fürstenhauses.    München  1892. 

2)  Ein  Stück  davon  ist  abgebildet  bei  J.  Lessing,  Wandteppiche  und  Decken  des 
Mittelalters  in  Deutschland.     1.  Lieferung.    1902. 

3)  Bei  Th.  Hampe,  Nürnberger  Ratserlässe  über  Kunst  und  Künstler  (Wien  und 
Leii)zig  1904)  sind  denn  auch  vor  dem  Ausgang  des  17.  Jahrh.  einheimische  Teppichwirker 
nicht  zu  finden. 


Dekorationen  für  Festlichkeiten.  '  63 

solchen  hypothetischen  Dekorationsmalern  und  den  Künstlern  be- 
standen haben  mag,  die  für  öffentliche  Feierlichkeiten,  z.umal  für 
Fürsteneinzüge  in  den  großen  Städten  die .  dekorativen  Schaustücke 
zuzurüsten  hatten').  Das  Stammland  der  Dekorationskunst  für 
festliche  Einzüge  ist  Italien.  Hier  hatte  man  im  15.  Jahrhundert 
in  den  großen  Städten,  wenn  man  den  Papst  oder  einen  weltlichen 
Fürsten  bewillkommnen  wollte,  Triumphbogen  errichtet,  an  denen 
die  Hauptarbeit  wohl  noch  der  Zimmermann  getan  hatte,  während 
sich  die  Arbeit  des  Malers  auf  den  Ausputz  des  Bogens  in  bunten 
Farben,  zumal  mit  gemalten  grimen  und  mit  Blumen  verzierten 
Girlanden  und  mit  gemalten  lebensgroßen  Figuren  beschränkte. 
Im  16.  Jahrhundert  änderte  sich  der  Geschmack;  dem  Maler  fiel 
nun  die  Aufgabe  zu,  durch  perspektivische  Dekorationsmalerei 
dem  rohen  Bau  erst  das  Ansehen  eines  komplizierten  architektoni- 
schen Kunstwerks  zu  geben ;  im  Jahre  1565  schildert  Borghini  das 
Ideal  eines  solchen  Triumphbogens  folgendermaßen:  „Das  einzig 
Wahre  ist  Holz  und  gemalte  Leinwand  in  Gestalt  von  Bogen,  Fa- 
^aden  und  andern  Baulichkeiten;  das  Grün  und  die  Teppiche 
mögen  allenfalls  passen  bei  scherzhaften  Anlässen  oder  auch  an 
Kirchenfesten"').  In  Deutschland  und  im  besondern  auch  in  Nürn- 
berg war  man  zu  Hans  Sachsens  Zeit  bis  zu  diesem  reinen  Ideal 
architektonischer  Malerei  noch  nicht  vorgedrungen,  sondern  hielt 
noch  an  dem  Grün  und  den  Girlanden  fest;  anderseits  aber,  da 
man  z.  B.  beim  Empfange  Karls  V.  direkt  mit  den  italienischen 
Städten  konkurrieren  mußte ■^j,  durfte  man  jene  neumodische  Art 
auch  nicht  außer  acht  lassen,  und  so  entstand  ein  Kompromiß 
zwischen  beiden  Kunstrichtungen.  Der  beste  Zeuge  für  diese  Ma- 
nier der  Dekorationsmalerei  in  Nürnberg  ist  Hans  Sachs  selbst,  der 
uns  in  einem  Gedicht  vom  10.  März  1541  den  feierlichen  Einzug, 
den  Karl  V.  am  16.  Februar  des  gleichen  Jahres  in  Nürnberg  ge- 
halten hatte,  beschreibt  und  unter  anderem  Folgendes  berichtet 
(KG.  2,  S.  381  f.): 

Zehen  gar  köstlich  trhimph-bogen 

Wurden  über  die  gassen  zogen  .  .  . 

Sehr  lustig  zu  sehen  von  weijten. 

Da  ward  auß  grünem  gwechs  her  glantzen 


1)  In  Deutschland  vermag  ich  eine  solche  Personalunion  allerdings  nicht  nachzu- 
weisen, wohl  aber  in  Frankreich,  wo  in  Romans  in  der  ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts 
der  Maler  Thevenot  sowohl  für  die  Ausstattung  der  Mysterien  wie  für  die  Errichtung  von 
Triumphbogen  und  dergleichen  tätig  war:  vgl.  Le  mystere  des  trois  doms,  ed.  Giraud 
et  Chevalier.    Lyon  1887  p.  XLVIff. 

2)  Lettere  pittoriche  I,  56;  vgl.  Burckhardt,  Geschichte  der  Renaissance  in  Italien. 
3.  Aufl.  1891.     S.  353. 

8)  Der  Nürnberger  Christoph  Scheurl  hat  z.  B.  eine  Schrift  über  einen  derartigen 
Empfang  des  Kaisers  in  Bologna  verfaßt. 


64  Dekorationen  für  Festlichkeiten. 

Granat-öpffel  und  pomerantzen, 

Melaiin,  ciicumeri  vnd  feygen, 

Kiirbiß  vnd  ander  frücht,  so  eygen 

Vnnd  so  löblich  abconterfect ... 
und  dann  weiterhin  von  einer  andern  Ehrenpforte: 

Zierlich  bekleijdet  hin  und  her, 

Als  ob  sie  merbelstaijnen  wer, 

Mit  welsch  columnen  vnd  capteln 

Mit  schön  gesimsen  und  hol-keln^). 
Daß  es  sich  dabei  um  Dekorationsmalerei  auf  Leinwand  handelte, 
zeigt  auch  die  Schilderung,  die  Hans  Sachs  von  einem  bei  Gelegen- 
heit eines  Nürnberger  Siegesfestes  vom  Jahre  1535  errichteten  künst- 
lichen Schlosses  entwirft  (KG.  2,  S.  396): 

Da  sah  ich  auffgerichtet  ston 

Artlich  gemacht  von  tuch  und  blechern 

Ein  hohes  schloß  mit  viel  schießlöchern  .  .  . 

Nach  dem  das  fewerwerck  verschoß, 

Zünd  man  an  das  gemachte  schloß, 

Das  brau,  als  wer  es  lawter  stro. 
Aus  alledem  ergibt  sich,  daß  zur  Zeit  der  Meistersingeraufführungen 
auch  in  Nürnberg  eine  Dekorationsmalkunst  bestanden  hat,  die 
wohl  der  Aufgabe  gewachsen  gewesen  wäre,  jene  Hintervorhänge 
der  Marthakirchenbühne  mit  Bäumen,  Felsen  und  dergleichen  zu 
bemalen.  Es  fragt  sich  nur  weiter,  ob  wir  irgend  welchen  Anhalt 
dafür  haben,  daß  diese  im  Dienst  der  öffentlichen  Feste  ausgebil- 
dete Kunst  nun  tatsächlich  auch  für  Theaterzwecke  im  modernen 
Sinne  in  Anspruch  genommen  wurde. 

Unsere  Untersuchung  der  Dramenillustrationen  im  zweiten  Teil 
dieses  Buches  hat  in  bezug  auf  den  hier  zu  behandelnden  Punkt  ein 
völlig  negatives  Ergebnis:  einerseits  werden  wir  vielmehr  auf  die  Ver- 
wendung des  unbemalten  Hintervorhangs  geführt,  anderseits  zeigt 
die  Darstellung  der  Hölle  auf  den  Schweizer  Bildern  durchaus  die  mittel- 
alterliche Art,  in  der  es  sich  noch  um  Plastik,  nicht  um  perspek- 
tivische Malerei,  nicht  um  Dekorationen,  sondern  eigentlich  um  Requi- 
siten handelt.  Die  zahlreichen  Notizen,  die  uns  über  die  Inszenierung 
der  Luzerner  Aufführungen  des  sechzehnten  Jahrhunderts  erhalten 
sind,  geben  gerade  über  die  technische  Herstellung  der  Bühnenausstat- 
tung nichts  an ;  kein  Zweifel  aber,  daß  es  sich  auch  hier  noch  um 
plastische  Häuser  der  mittelalterlichen  Art  gehandelt  hat,  bei  denen 
der  Zimmermann  die  Hauptarbeit  zu  leisten  hatte;  gehört  doch  auch 

1)  DatJ  diese  Manier  andi  sonst  nnd  auch  noch  in  der  Zeit  der  Aufführung  des  HS. 
hei-rscliend  war,  zeigt  z.  B.  das  Flugblatt,  das  über  den  Einzug  Ferdinands  I.  in  Prag  1558 
berit^htet.  Vgl.  auch  Hans  Sachsens  Scliilderung  des  Einzugs  Ferdinands  in  Nürnberg  vom 
7.  Febr.  1540  (KG.  16,  S.  427). 


Theaterdekorationen  in  Italien  und  Deutscliland.  65 

noch  im  Jahre  1597  dem  Ausschuß  der  Ratsbaumeister,  aber  kein 
Maler  ani).  So  ist  also  von  solcher  Bühneneinrichtung  her  für  die 
Nürnberger  Dekorationsfrage  nichts  zu  lernen.  Im  Ausland,  in  Ita- 
lien war  man  um  diese  Zeit  allerdings  längst  bei  der  perspektivi- 
schen Dekorationsmalerei  angelangt,  und  berühmte  Meister  wie 
Peruzzi  und  Serlio  hatten  sich  diesem  Kunstzweige  gewidmet,  ja 
Raphael  selbst  hatte  es  gelegentlich  nicht  verschmäht,  sich  auch 
auf  diesem  Gebiete  zu  betätigen-).  Alle  diese  Dekorationen  aber 
sind  von  der  Art,  daß  sie  als  Vorbild  für  die  Meistersingerbühne 
unmöglich  hätten  dienen  können;  denn  für  Szenenwechsel  sind 
sie  nicht  berechnet,  eine  Dekoration  muß  vielmehr  für  das  ganze 
Stück  ausreichen,  ist  mehr  Schmuck  als  Phantasieunterstützung  und 
ist  im  Sinne  der  antiken  Scheidung  von  Tragödie,  Komödie  und 
Satyrspiel  gehalten.  Die  Kunst,  Verwandlungen  vorzunehmen,  kom.mt 
dann  erst  spät  in  der  zweiten  Hälfte  des,  16.  Jahrhunderts  in  Italien 
auf.  Aber  angenommen,  selbst  schon  zu  Hans  Sachsens  Zeit  hätte 
man  dort  über  sie  verfügt,  so  konnte  doch  von  diesen  neuesten 
Errungenschaften  der  italienischen  Bühne  schwerlich  damals  bereits 
etwas  bis  nach  Nürnberg  gedrungen  sein,  da  höchstens  ein  paar 
ganz  untergeordnete  italienische  Komödianten  sich  so  weit  nord- 
wärts verirrten  und  da  auch  die  italienische  Theaterkunst  am 
Mlmchener  Hofe  ihre  Blüte  noch  nicht  erlebt  hatte. 

Von  allen  diesen  Seiten  her  kommen  wir  also  an  die  Möglich- 
keit einer  Verwendung  jener  Festdekorationsmalerei  für  theatralische 
Zwecke  noch  nicht  heran.  Aber  nachweisen  läßt  sie  sich  doch,  und 
dazu  verhilft  uns  ein  bisher  von  derLiteraturgeschichte  noch  wenig  •^) 
beachtetes  deutsches  Drama  eines  sächsischen  Schulmeisters.  Im 
Jahre  1546  erschien  die  Historia  Jobs  auffs  kürtzt  Spiels  weise 
in  Reim  verfasset,  den  betrübten  und  angefochtenen  Hertzen  gar 
trostlich,  Sunsten  jeden  Christen  fast  nützlich  zu  Lesen.  Durch  Jo- 
han  Narhamer,  Curiensem.  Curiensem,  das  heißt:  aus  Hof.  Von 
Geburt  ist  es  also  ein  Landsmann  Hans  Sachsens,  der  dieses 
Drama  verfaßt  hat;  sein  Wirkungskreis  aber  ist  die  Stadt  Pulsnitz, 
nordöstlich  von  Dresden,  und  zur  Aufführung  durch  die  Pulsnitzer 
Bürgerschaft  ist,  wie  der  Verfasser  in  der  Vorrede  berichtet,  das 
Schauspiel  bestimmt.  Es  ist  reich  an  szenischen  Bemerkungen, 
die  unmittelbar  auf  die  theatralische  Vorführung  abzielen,  und  unter 
manchen  andern,  die  uns  noch  weiterhin  nützen  sollen,  findet  sich 
eine  Angabe,  die  sich  auf  die  Wiederaufrichtung  von  Hiobs  Haus 
bezieht,  das  wieder  hergestellt  wird,  nachdem  der  Held  von  Gott 
wieder  zu  Gnaden  angenommen  ist.     Da  heißt  es  (bl.  E  6a) :   Nach 


1)  Der    Maler    wird    offenbar    nur    für    Kostüme    und    Masken    herangezogen:    vgl. 
R.  Brandstetter,  Die  Regenz  bei  den  Luzerner  Osterspielen.  Luzern  1886.    S.  11  u.  36. 

2)  Vgl.  Flechsig,  Die  Dekoration  der  modernen  Bühne.    Diss.  Leipzig  1897. 

3)  Doch  s.  jetzt  Creizenach,  Geschichte  des  neueren  Dramas.   III  (Halle  1903)  S.  378. 
Herrmann,  Theater.  5 


66  Die  Phantasie  des  Publikums.     Holzschnitte. 

diesem  schickt  Gott  die  Engel  zu  Job,  das  sie  ihn  heilen,  sein  haus 
welches  von  Leinwadt  kann  zugericht  werden  das  maus  mit  einer 
Schnur  in  die  hohe  ziehen  kan  wider  auffrichten.  Steht  das  Nar- 
hamersche  Schauspiel  nun  auch,  wie  das  sächsische  Kunstdrama 
Greffscher  Schule  überhaupt'),  in  technischer  Hinsicht  noch  in  der 
Mitte  zwischen  der  mittelalterlichen  und  der  modernen  Art,  so 
kann  es  sich  bei  diesem  Leinwandhaus,  das  man  an  einer  Schnur 
in  die  Höhe  ziehen  kann,  doch  offenbar  nur  um  eine  gemalte  De- 
koration im  modernen  Sinne  gehandelt  haben. 

Das  Ergebnis  dieser  eingehenden  Betrachtung  ist  also  dieses: 
möglich  war  die  Anbringung  einer  Hinterdekoration,  welche  Straße, 
Garten  oder  Wald  darstellte,  in  technischer  Hinsicht  allerdings.  Es 
fragt  sich  nur:  war  ihr  Vorhandensein  so  notwendig,  daß  die 
Regisseure  der  Meistersingerbühne  die  immerhin  vorhandenen 
Schwierigkeiten  unter  allen  Umständen  überwinden  mußten?  Ver- 
langte die  Phantasie  des  Publikums,  das  im  Schiff  der  Martha- 
kirche saß,  einen  solchen  dekorativen  Hintergrund  oder  war  es 
geneigt,  ihn  sich  lediglich  mit  Hilfe  der  Einbildungskraft  selbst  her- 
zustellen? Um  diese  Frage  zu  beantworten,  werfen  wir  zunächst 
einen  Blick  auf  die  bildende  Kunst  der  Zeit.  Sind  zumal  die  Holz- 
schnitt-Illustrationen, die  der  gemeine  Mann  damals  in  die  Hände 
bekam,  durchaus  mit  landschaftlichem  Hintergrund  ausgestattet  oder 
gibt  es  Bilder,  die  sich  lediglich  mit  der  Vorführung  der  Personen 
begnügen?  Die  Analogie  für  das  Theaterbild  leuchtet  ein.  Da  zeigt 
sich  denn,  daß  zwar  in  den  meisten  Leistungen  der  Kunst  die  alte 
Art,  die  auf  die  Darstellung  des  Milieus  geringen  Wert  legte,  über- 
wunden ist :  nicht  der  kleinste  Fortschritt  der  deutschen  Renais- 
sancekunst besteht  gerade  in  der  Fähigkeit,  den  Menschen  mit 
seiner  Umgebung  vorzuführen.  Aber  ganz  ist  doch,  trotz  Dürer, 
die  alte  Art  noch  nicht  ausgestorben,  und  zumal  auch  bei  den  Nürn- 
berger Kleinmeistern,  bei  Peutz  und  H.  S.  Beham,  finden  wir  Holz- 
schnitte, die  nur  die  Menschen  zeigen.  Vor  allem  aber  sind  hier 
die  Illustrationen  der  volkstümlichen  Erzählungen  zu  nennen,  die 
gerade  um  die  Zeit,  von  der  wir  reden,  wieder  und  wieder  aufge- 
legt wurden.  Freilich  findet  sich  wohl  kein  einziges  Buch  darunter, 
dessen  sämtliche  Holzschnitte  auf  die  Darstellung  des  Milieus  Ver- 
zicht leisten.  Aber  mitten  zwischen  den  Bildern,  die  im  Hintergrund 
die  Wände  des  Zimmers  oder  die  Bäume  und  Berge  der  Landschaft 
zeigen,  treffen  wir  doch  nicht  selten  Holzschnitte,  die  sich  mit  der 
bloßen  Vorführung  der  handelnden  Personen  begnügen,  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  alte  Holzstöcke  des  15.  Jahrhunderts  von  den 
modernen  Verlegern  hier  und  da  immer  noch  wieder  mit  verwendet 
wurden.     Am    häufigsten    bleibt   der  Hintergrund    in   den  Drucken 


1)  Vgl.  H.  Michel,  Hfiniicli  Knaiist,  Berlin   1903.     S.  30.  55.  «2. 


Volkslieder.     Hans  Sachsens  Erzählungen.  C7 

der  Romane  unausgestaltet,  die  bei  Weygand  Hau  in  Frankfurt  a.  M. 
damals  hervortraten:  im  Wigaleus  und  im  Florio,  im  Tristan  von 
1556  und  im  Pontus  von  1557.  Der  Hintergrund  wird  besonders 
gern  dann  nicht  charakterisiert,  wenn  das  Milieu  durch  ein  Requisit: 
durch  Tisch  oder  Stuhl  schon  genügend  gekennzeichnet  erscheint, 
und  mit  bemerkenswerter  Vorliebe  werden  kämpfende  Ritter  oder 
kämpfende  Heere  in  die  leere  Luft  gestellt,  weil  hier  ganz  natürlich 
jede  Phantasie  das  Schlachtfeld  ergänzte. 

Zeigt  sich  also  hier  bereits  die  Anspruchslosigkeit  des  Publi- 
kums, die  Bereitwilligkeit,  mit  der  eigenen  Einbildung  die  nicht  vo'*- 
handenen  Berge  und  Bäume  herbeizuzaubern,  so  führt  uns  die  Be- 
trachtung des  Volksliedes  zu  einem  ganz  ähnlichen  Ergebnis.  In 
den  Liedern,  die  der  gemeine  Mann  damals  singt,  spielen  Ortsanga- 
ben überhaupt  keine  Rolle;  wird  wirklich  einmal  eine  auf  das  Lokal 
bezügliche  Andeutung  gemacht,  so  ist  doch  jedenfalls  von  irgend 
welcher  Ausmalung  des  Ortes  der  Handlung  keine  Rede;  etwas 
anderes  ist  es  natürlich  mit  den  Naturschilderungen,  in  denen  die 
Landschaft  um  ihrer  selbst  willen  charakterisiert  wird.  Besonders 
deutlich  wird  jener  Verzicht  auf  genaue  Lokalschilderungen  in  den 
historischen  Volksliedern,  wo  zwar  selbst  die  Kleidung  der  han- 
delnden Personen  und  die  zur  Aktion  gehörigen  Gegenstände  ge- 
legentlich genau  beschrieben  werden,  wo  aber  die  malerische  Vor- 
führung des  Ortes,  an  dem  die  Handlung  des  Liedes  vor  sich  geht, 
der  Einbildungskraft  des  Singenden  oder  des  Zuhörenden  über- 
lassen bleibt. 

Wenn  sich  somit  die  Phantasie  des  Hans  Sachsischen  Publikums 
wohl  geneigt  erweist,  die  dekorativen  Leistungen  selbst  zu  über- 
nehmen, so  zeigt  sich,  daß  Hans  Sachsens  eigene  Einbildungskraft 
im  ganzen  durchaus  denselben  Stand  repräsentiert,  was  die  Neigung 
zu  eingehender  landschaftlicher  Schilderung  anlangt.  Dort  wo  Hans 
Sachs  als  Erzähler,  nicht  als  Dramatiker  vor  uns  tritt,  fällt  es  ihm 
nicht  ein,  seinen  Quellen  gegenüber  in  bezug  auf  die  Vorführung 
des  Lokals  irgendwie  belangreiche  Änderungen  oder  Ausmalungen 
vorzunehmen.  Eine  reiche  Gelegenheit  zu  landschaftlicher  Schil- 
derung bieten  ihm  allerdings  die  bei  ihm  so  besonders  beliebten 
Spaziergangsgedichte;  aber  einmal  ist  es  hier  die  ererbte  Tradition, 
die  immer  wieder  zu  peinhch  genauer  Vorführung  der  landschaft- 
lichen Situation  zwingt,  anderseits  steckt  doch  auch  in  diesen  Spa- 
ziergangsschilderungen unendlich  viel  Ererbtes,  das  sich  wie  eine 
immer  wieder  für  alle  möglichen  Zwecke  benutzte  Theaterdekoration 
wiederholt;  endhch  aber  haben  diese  Hans  Sachsischen  Naturein- 
gänge eigentlich  nicht  jenen  illustrierenden  Hintergrundcharakter, 
um  den  es  sich  hier  handelt,  sondern  doch  einen  mehr  lyrischen 
Selbstzweck.  Mit  dem  Blick  für  die  tausendfältige  Eigenart  des 
Menschenlebens  ist  Hans  Sachsens  Naturbeobachtung  jedenfalls  nicht 


63  Dekorationsforderungen  der  szenischen  Bemerkungen. 

von  fern  zu  vergleichen,  oder  richtiger  gesagt:  es  interessiert  ihn 
jedenfalls  nicht,  das  geschaute  Bild  mit  so  peinlicher  Treue  fest- 
zuhalten wie  jedes  Detail  aus  dem  Leben  seiner  Mitmenschen,  und 
er  begnügt  sich  hier  mit  dem  unsicheren  und  verschwimmenden 
Hintergrund,  den  die  Phantasie  ohne  weiteres  bereitwillig  lieferte. 
Gewöhnlich  stehen  seine  Menschen  so  wie  die  Personen  auf  jenen 
zeitgenössischen  Holzstöcken  in  der  freien  Luft. 

Und  nun  können  wir  uns  der  Betrachtung  der  Dramen 
selbst  zuwenden.  Wie  arbeitet  der  Dichter  in  ihnen?  Wieder 
müssen  wir  von  vorneherein  eine  strenge  Scheidung  zwischen 
dem  Text  und  den  szenischen  Bemerkungen  machen,  indem  wir 
von  der  schon  im  ersten  Hauptteil  unserer  Untersuchung  begrün- 
deten Voraussetzung  ausgehen,  daß  alles  was  in  Hans  Sachsens 
Bühnenanweisungen  steht,  aber  zunächst  auch  nur  das,  einen  eigent- 
lich theatralischen  Sinn  hat. 

Bei  der  Beobachtung  dieser  szenischen  Bemerkungen  zeigt 
sich  nun,  daß  sie  niemals  eine  Anweisung  für  die  Gesamtdekora- 
tion, für  die  Gestaltung  also  des  Hintervorhangs  geben,  sondern 
daß  alle  Angaben  lokaler  Art  (die  überhaupt  verhältnismäßig  sehr 
selten  vorkommen)  sich  lediglich  auf  einzelne  Stücke  der  Bühne 
beziehen.  Wiederholt  tritt  uns  im  HS.  die  Höhle  entgegen,  in  der 
zuerst  der  Drache  und  dann  der  Riese  wohnt;  das  Vorhandensein 
einer  solchen  Höhle  hatten  wir  auch  in  den  szenischen  Bemerkun- 
gen anderer  Stücke  festgestellt  und  in  den  Uniersuchungen  unseres 
ersten  Hauptteiles  die  Altarraumtür  als  den  Ort  dieser  Höhle  er- 
mittelt, die  außerdem  auch  die  Rolle  der  in  szenischen  Bemerkun- 
gen anderer  Stücke  erwähnten  Örthchkeiten,  wie  Ofen,  Löwengrube, 
Tempelloch,  zu  übernehmen  hatte ;  vielleicht  auch  die  des  Zeltes,  in 
dasjudith^geht  (1551  KG.  6,  S.  76) ?0 

1)  Dagegen  ist  das  im  Hugschapler  1556  (KG.  13,  S.  21)  geschilderte  Zelt  des  Königs 
von  Friesland  sicherlich  nicht  durch  die  Sakristeitür  und  dekorativ  überhaupt  nicht  ge- 
kennzeichnet worden :  in  der  szenischen  Bemerkung  ist  es  nicht  erwähnt,  sondern  wird 
nur  im  Text  durch  den  Helden  ausführlich  beschrieben: 

Dort  steht  ein  zeit,  an  dem  steht  iveyer 

Ein  weiser  low  in  rotem  scliild  .  .  . 
Gerade  hier  läßt  sich  vielmehr  beobachten,   wie   Hans  Sachs   die   beiden  Teile  seines 
Bühnenraums:   den  hinteren  in  der  Altarnische  und  den  vorderen,  der  frei  ins  Schiff  liin- 
einragt,  in  verschiedenem  Sinne  benutzt  (vgl.  u,  S.  77).     Der  König  ist  eingegangen,  steht 
also   hinten  und  fragt  nun : 

Wer  ist  jener,  der  vor  dem  zeit 

Vnib  geht  und  sich  gegn  uns  nit  meldt? 
Hugschapler  geht  hin  und  wieder;  also  vorn,  dicht  am  Ende  des  Podiums  und  spricht 
jene  Worte :  Dort  steht  ein  Zelt  ...  Er  will  den  König  ermorden  imd  dritt  hinzu  d.  h. 
in  den  hinteren  Bülmenraum,  der  also  das  Zelt  darstellt,  und  dort  erfolgt  der  Todschlag. 
Ebenso  i.st  es  in  der  Rosimunda  1555  (KG.  12,  S.  418  f.),  wo  der  hintere  Teil  der  Bühne 
mit  dem  Chorstuhl  als  sal  von  dem  vorderen  und  zumal  seinem  rechten,  zur  Sakristeitür 
führenden  Vorsprung  geschieden  wird:  hier,  vor  dem  sal,  unterhalten  sich  die  Trabanten 
über  den  Lärm,  den  sie  im  Saal  hören,  und  laufen  dann  ein. 


Die  Tür.  69 

In  allen  diesen  Fällen  bleibt  nur  die  Frage  offen,  ob  etwa  vor 
die  Altarraumtür  ein  besonderes  Dekorationsstück  gesetzt  worden 
wäre,  welches  Höhleneingang,  Ofen,  Grubenloch  usw.  dem  Blick 
des  Zuschauers  direkt  verdeutlichte. 

Einen  besonderen  Anhalt  zur  Beantwortung  dieser  Frage  haben 
wir  zunächst  nicht ;  etwas  anders  dagegen  steht  es  mit  einem  De- 
korationsstück, das  häufiger  als  die  bisher  genannten  Bühnenorte 
in  den  szenischen  Bemerkungen  erscheint,    nämlich  mit  der    thür. 

Fraghch  bleibt  es,  ob  man  zu  den  Stellen,  an  denen  der  Dichter 
eine  Tür  verlangt,  auch  diejenigen  rechnen  soll,  an  denen  in  der 
szenischen  Bemerkung,  so  wie  im  HS.  nach  V.  137,  nur  vom  „Klopfen" 
oder  „Anklopfen"  die  Rede  ist ;  der  auftretende  Schauspieler  brauchte 
hier  ja  hinter  der  Szene  nur  gegen  das  Podium  zu  pochen ;  ebenso 
wird  ein  gelegentlich  in  der  Bühnenanweisung  auftauchendes 
hinter  der  thür  im  allgemeinen  nichts  weiter  bedeuten,  als  daß  der 
betreffende  Vorgang  nicht  auf  der  Bühne,  sondern  hinter  dem 
hinteren  Vorhang  sich  vollzieht.  Tatsächlich  ist  aber  offenbar 
unter  thür  auch  sonst  in  den  älteren  Dramen  nichts  anderes  als 
der  Spalt  des  Vorhanges  verstanden,  durch  den  die  Personen  von 
hinten  eingehen.  So  ist  es  also  z.  B.  in  Des  Lewiten  Kebsweib  1555 
KG.  10,  S.  219 :  Der  Levitt  klopfft  an  .  .  .  Der  vatter  thut  auff,  der 
Levitt  geht  ein  .  .  .  und  dann  S.  224:  Man  klopffet  ungestüm  an  .  .  . 
Die  Gibeanitter  schreyen  außerhalb  der  thür  .  .  .  und  endlich  S.  225: 
Der  Levitt  stößt  sein  kebsweib  für  die  thür.  Hier  kommt  man  offen- 
bar mit  dem  hinteren  Vorhangsspalt  völlig  aus,  an  das  Vorhanden- 
sein einer  wirklichen  Tür  braucht  nicht  gedacht  zu  werden').  Eine 
wichtige  Neuerung  aber  bringt  dann  das  Jahr  1556,  in  dem  Hans 
Sachs  am  11.  Januar  ein  Drama  vollendet,  wo  eine  wirkliche  Tür 
und  zwar  als  Requisit  nicht  entbehrt  werden  kann.  Das  ist  das 
Drama  Simson.  Hier  wird  die  Szene  auf  die  Bühne  gebracht, 
in  der  der  Held,  als  ihm  die  Philister  in  der  Stadt  Gaza  das  Stadt- 
tor verschlossen  haben,  um  ihn  zu  fangen,  mit  seiner  gewaltigen 
Kraft  dieses  Tor  aus  den  Angeln  hebt  und  so  entkommt.  In  der 
szenischen  Bemerkung  schreibt  der  Dichter  KG.  10,  S.  204  ausdrück- 
lich vor:    Simson  nimbt  das  thor  vnnd  geht  ab Wo   hat 

sich  dieses  Tor-)  nun  befunden?  An  die  Mitte  des  Hintervorhanges 
ist  hier  nicht  zu  denken,  denn  dort  hätte,  da  die  betreffende  Szene 
erst  im  IV.  Akt  liegt,  eine  praktikable,  von  den  andern  Personen 
immer  schon  zum  „Eingehen"  benutzte  Tür  gestanden  haben  müssen, 
durch  deren  Fortnahme   dann  für   die  noch   folgenden   anderthalb 


1)  Ein  paar  Nachzügler  dieses  Betriebes:  Vier  Liebhabende  1556  KG.  13,  S.  193; 
Johannes  imd  Cliristus  1557  KG.  11,  S.  194;  Wilhelm  von  Orlentz  1559  KG.  16,  S.  86 
(peim  thor  mir  in  der  Handschrift);  Sedras  1560  KG.  16,  S.  174  (im  Druck  fehlt  das  vnter 
der  thür  hier). 

2)  In  der  Handschrift  steht  sogar  stator. 


7  0  Die  Tür  als  Requisit. 

Akte  hinten  eine  große  Lücke  entstanden  wäre,  durch  die  man  un- 
statthafterweise vom  Pubhkum  aus  vollen  Einblick  in  den  Bühnen- 
hinterraum  gewonnen  hätte.  Offenbar  ist  diese  Thür  als  Requisit 
an  einer  ganz  andern  Stelle  angebracht.  Es  heißt  vorher:  Simson 
kombt,  d.  h.  er  betritt  die  Bühne  vorn  von  der  Sakristeitür  und 
spricht  seinen  Monolog  wohl  auf  jenem  rechten  Vorsprung  der 
Bühne,  der  sich  zwischen  der  Treppe  und  der  Kanzel  befand.  Dieser 
Teil  der  Bühne  wird  von  dem  übrigen  Raum  durch  eine  Tür  ge- 
trennt worden  sein,  welche  man  unter  der  Tür  der  Kanzel  an  der  auf 
dem  oben  S.  56  gegebenen  Plan  mit  T  bezeichneten  Stelle  angebracht, 
während  der  vorangegangenen  Szenen  an  die  Wand  gedreht  und 
nun  vor  Simsons  Auftreten  in  die  bezeichnete  Richtung  gebracht 
hatte,  so  daß  sie  den  Weg  versperrte.  Simson  hebt  sie  auf  die 
Schulter  und  geht  mit  ihr  hinten  ab.  Was  wir  schon  öfters  be- 
obachtet hatten  und  noch  weiterhin  beobachten  werden,  tritt  nun 
auch  hier  ein :  das  was  zunächst  nur  ein  ad  hoc  benutztes  Requisit 
gewesen  war,  wird  jetzt,  wenigstens  für  die  nächste  Zeit,  ein  dauernd 
benutztes  Mittel,  die  Bühnensituation  mannigfaltiger  zu  gestalten. 
Sehr  bezeichnend  ist  besonders  das  Drama  Der  verlorene  Sohn 
aus  dem  gleichen  Jahre  1556.  Hier  heißt  es  in  der  szenischen  An- 
weisung   (KG.   11,  S.  225):    Hilla  stellt  sich  zu  der  thür 

vnnd  spricht. 

Ich  steh  auf  der  lauß,  warrts  jiinckherrn. 

Mich  dunkty  er  geh  dort  her  von  fern. 
An  dem  hinteren  Türspalt  kann  Hilla  nicht  stehen,  denn  da  es  in 
der  nächsten  szenischen  Bemerkung  heißt :  Der  verlorn  söhn 
kombt  ....  und  er  somit  aus  der  Sakristeitür  tritt,  würde  sie  ihn 
von  dort  hinten  nicht  sehen  können.  Offenbar  steht  sie  vielmehr 
an  dieser  neuen  Tür,  in  der  Nähe  der  Kanzel,  von  der  aus  sie  jeden, 
der  aus  der  Sakristeitür  tritt,  natürlich  sofort  wahrnehmen  muß. 
Anders  ist  es  dagegen  im  letzten  Akt  (S.237),  wo  der  ältere  Sohn  vom 
Felde  zurückkehrt.  Auch  hier  kunibt  der  Sohn:  er  tritt  von  vorn 
auf  die  Bühne  und  hat  dann  zunächst  eine  kleine  Szene  mit  dem 
Knecht,  der  ihm  über  die  im  Hause  begangene  Feierlichkeit  Bescheid 
sagt:  der  Vater  begeht  die  Heimkehr  seines  verlorenen  Jüngsten. 
Wenn  nun  der  Vater  dem  älteren  Sohne  entgegen  unter  die  Haustür 
tritt,  so  kann  natürhch  hier  wieder  nur  an  den  Spalt  des  hinteren 
Vorhangs  gedacht  werden,  und  höchst  bezeichnend  scheint  es  mir, 
daß  die  szenische  Bemerkung  diesen  Spalt  hier  durch  den  terminus 
haußthür  von  jener  praktikablen  Tür  scheidet,  die  an  der  vorher 
angeführten  Stelle  eben  nur  als  thür  bezeichnet  ist.  Ebenso 
wird  auch  in  der  Aretaphila  und  in  Des  Marschalls  Sohn, 
die  beide  wiederum  aus  dem  Jahre  1556  stammen,  die  Termi- 
nologie der  Bühnenanweisungen  erst  dadurch  verständlich,  daß 
wir  unter  thür  nicht  den  Vorhangsspalt,    sondern  die   praktikable 


Die  Tür  als  Requisit.  71 

Tür  an  der  Kanzel  verstehen').  Am  meisten  aber  (gewinnen 
wir  durch  die  neue  Hypothese  für  das  Verständnis  der  Bühnen- 
situation in  dem  wiederum  aus  dem  Jahre  1556  stammenden  Drama 
Juhanus  im  Bad,  das  ohne  solche  Erklärung  mit  seinen  Bühnen- 
anweisungen uns  unlösbare  Schwierigkeiten  machen  würde.  Zunächst 
wird  auf  solche  Weise  die  Situation  im  zweiten  Akt  erklärt,  wo 
Julianus  anklopft  (KG.  13,  S.  118  ff.)  und  mit  dem  Tür  hütenden 
Knecht  ein  Gespräch  hat,  während  doch  gleichzeitig  auf  der  Bühne  der 
Herzog  Gottfried  mit  seinen  Knechten  steht  und  sich  von  demTürhüter 
über  den  draußen  klopfenden  Bittsteller  unterrichten  läßt,  der  da  so 
lange  harren  muß,  bis  ihm  vom  Herzog  der  Eintritt  erlaubt  wird. 
Wäre  die  Tür  hier  der  hintere  Vorhangsspalt,  so  könnte  die  Szene  des 
Kaisers  mit  dem  Knecht  nicht  vor  den  Augen  des  Publikums  vor 
sich  gehen,  sondern  man  müßte  sich  mit  dem  Hören  der  Reden 
begnügen,  die  dann  hinter  dem  Vorhang  gewechselt  würden.  Nun 
aber  sehen  wir  ganz  deutlich,  wie  Hans  Sachs  den  Hergang  inszeniert 
haben  wird:  die  Unterhaltung  mit  dem  Knecht  und  das  Warten 
des  Kaisers  gehen  auf  jenem  rechten  Vordervorsprung  der  Bühne 
vor  sich,  welcher  wieder  durch  die  bewegliche  Tür  von  ihrem 
Hauptteil  getrennt  ist-).  Genau  die  gleiche  Situation  wiederholt 
sich  dann  am  Hofe  des  Engelkaisers:  ganz  unmöglich  ist  es,  daß 
die  fast  vierzig  Verse  umfassende  Unterhaltung  des  Torwarts  mit 
dem  nackenden  Kaiser  hinter  dem  Vorhang,  also  ungesehen  und 
nur  gehört,  vor  sich  gehen  sollte;  tatsächlich  findet  sie,  wie  wir 
nun  begreifen,  wiederum  auf  jenem  rechten  Vorderteil  des  Podiums 
statt.  Daß  es  in  der  szenischen  Anweisung  vorher  heißt:  Der 
nacket  kai/ser  kumbt,  klopfft  an  .  .  .  zeigt  wiederum  ganz  deutlich, 
daß  er  von  der  Sakristeitür  aus  die  Treppe  heraufgeschritten  und 
an  die  praktikable  Tür  heran  getreten  ist").  Noch  wichtiger  aber 
ist  es,  daß  wir  die  sonst  unbegreifUche  Bühnensituation  des  vierten 


1)  KG.  12,  S.  147:    Die  zwen  trabanten   losen  an  der  thiier,   kamen   hinein 

und  13,  S.  75:  Floria  geht,  thut  au  ff.  Die  trabanten  kamen  ....  (in  der  Handschrift 
stand  allerdings  gent  ein).  Ebenso  wird  an  die  neue  Tür  wohl  auch  im  Gideon  1556  KG. 
10,  S.  153  und   in  der  Verfolgung  Davids  1557  KG.  10.  S.  275  gedacht  sein. 

2)  Hans  Sachs  hat  offenbar,  schon  ehe  er  durch  den  Simson  auf  die  Verwendung 
der  Tür  kam,  diese  Stelle  der  Bühne  benutzt,  um  eine  kleine  Szene  im  Nachbarraum  sich 
abspielen  zu  lassen :  in  der  wenige  Monate  vor  dem  Simson  abgeschlossenen  Rosimunda 
1555  KG.  12,  S.  418;    vgl.  o.  S.  68  Anm. 

3)  Daß  es  in  der  Szene  des  zweiten  Aktes  in  der  Bühnenanweisung  heißt:  Jalianas 
geht  ein.  braucht  hier  natürlich  nicht  zu  heißen,  daß  er  von  hinten  auftritt:  es  ist  hier 
überhaupt  kein  Terminus  des  Auftretens,  da  er  sich  schon  auf  der  Bühne  befindet,  sondern 
heißt  nur:  er  geht  durch  die  Thür  ein  in  das  Schloß.  Steht  doch  kurz  vorher,  als  der 
Knecht  von  dem  anklopfenden  Kaiser,  also  genau  von  derselben  Stelle  zum  Herzog  geht: 
Der  knecht  kumbt  (in  der  Handschrift  get)  zum  hertzogen.  Im  dritten  Akt  steht  an  der 
genau  entsprechenden  Stelle  (S.  126):  Der  nacket  kayser  kumbt,  im  vierten  (S.  132)  dagegen: 
Der   kayser  geht   ain. 


72  Die  Tür  als  Requisit. 

Aktes  nun  verstehen:  Julians  Besuch  beim  Einsiedler.  Der  ganze 
erste  Teil  der  Hauptszene  dieses  Aktes  besteht  aus  einem  Zwie- 
gespräch zwischen  dem  Einsiedler,  der  in  seiner  Zelle  ist,  und  dem 
Kaiser,  den  er  zunächst  nicht  hineinlassen  will.  Hier  haben  wir 
ganz  abgesehen  von  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  auch  einen 
äußeren  Beweis  dafür,  daß  die  Bitten  des  Kaisers  um  Einlaß  nicht 
hinter  dem  Vorhang  gesprochen  sein  können,  so  daß  man  den 
Flehenden  vom  Publikum  aus  nicht  gesehen  hätte.  In  den  szeni- 
schen Bemerkungen  dieses  Teiles  schreibt  Hans  Sachs  nämlich  aus- 
drücklich vor  (S.  130):  Der  kaijser  feilt  auf  sein  knie,  spricht  mit  auff- 

gehaben  henden ,   eine   Anweisung  also,    die   völlig   sinnlos 

wäre,  wenn  der  Dichterregisseur  seinen  Helden  hier  nicht  dem 
Publikum  hätte  vor  Augen  stellen  wollen.  Die  neue  Erklärung  be- 
seitigt diese  Schwierigkeit  und  zeigt  uns,  wo  der  Kaiser  auf  sein 
Knie  fällt  und  die  Hände  aufhebt;  sie  bringt  uns  aber  zugleich  aus 
einer  weiteren  Verlegenheit,  in  die  wir  sonst  durch  zwei  szenische 
Bemerkungen  der  gleichen  Szene  geraten.  Als  der  König  nämlich 
zum  erstenmal  geklopft  hat,  heißt  es  in  der  Anweisung:  Der 
einsidel  thiit  das  fenster  auff,  schlecht  das  wider  zu,  und  weiterhin 
kurz  bevor  er  öffnet:  Der  einsidel  thut  das  fenster  auff.  Wo  auf 
der  Bühne  sollte  sonst  dieses  Fenster  sich  befinden,  durch  das  der 
Einsiedler  den  Kaiser  sehen  kann  und  das  sonst  niemals  wieder  in 
Hans  Sachsens  sämtlichen  dramatischen  Werken  erscheint?  Jetzt 
wissen  wir  es:  es  kann  sich  nur  um  eine  Klappe  in  jener  prakti- 
kablen Tür  gehandelt  haben,  durch  die  der  Kaiser  nachher  herein- 
tritt. —  Auch  im  Abraham  des  Jahres  1558  bedient  sich  Hans 
Sachs  wiederum  dieser  Vordertür  (vgl.  KG.  10,  S.  23  und  29  f.),  und 
schließlich  wird  durch  ihr  Vorhandensein  noch  eine  letzte  Schwierig- 
keit aus  dem  Wege  geräumt,  die  die  Dekorationsverhältnisse  in 
Gott  Bei  1559  (KG.  11,  S.  74  f.)  bereiten.  Es  ist  die  Szene,  in  der 
Daniel  dem  König  die  Priester  als  Betrüger  bezeichnet,  weil  sie  an 
Stelle  des  Gottes  das  ihm  dargebrachte  Dank-  und  Speiseopfer  ver- 
zehren. Die  Probe  soll  gemacht  werden.  Wein  und  Brot  wird  vor 
den  Gott  gestellt,  und  die  szenische  Bemerkung,  die  den  Akt  be- 
schließt, lautet :  Der  König  versigelt  die  tempelsthür  und  gehen  alle 
ab.  Dann  kommen  im  Beginn  des  dritten  Akts  die  Pfaffen,  durch 
das  loch,  also  wie  wir  früher  ausführten,  durch  die  von  uns  auf- 
gedeckte Altarraumthür  auf  die  Bühne,  essen  und  trinken  und  ver- 
schwinden auf  demselben  Wege.  Dann  heißt  es  :  Der  könig  kumbt 
mit  Danieli  und  den  trabanten  d.  h.  sie  schreiten  die  vordere  Treppe 
aus  der  Sakristei  herauf,  der  König  spricht  vier  Verse: 

Daniel,  siehst  du?   das  sigil 

Ist  brachen  weder  wenig  noch  vil. 

Macht  auff  die  thiir  und  last  uns  ein, 

Wie  sich  hell  Bei,  der  groß  gott  mein  ! 


Die  Tür  als  Requisit.  73 

Und  nun  endlich  schreibt  Hans  Sachs  vor:  Sie  thun  die  thür  aiiff. 
Der  könig  schawdt  hinfür  ....  Die  hier  vorgetragene  Hypothese 
erklärt,  wie  mir  scheint,  den  Bühnenhergang  auf  das  deutlichste, 
dem  wir  sonst  ratlos  gegenüber  ständen:  die  Tempeltür,  die  der 
König  versiegelt  hat,  ist  die  neue  Tür  an  der  Kanzel.  Indem  er 
nun  mit  Daniel  und  den  Trabanten  von  der  Sakristeitür  kommt, 
weist  er  zunächst  von  außen  her  auf  das  an  dieser  Tür  angebrachte 
Siegel  hin,  spricht  seine  vier  Verse  auf  jenem  rechten  Vorderteil 
der  Bühne,  tut  die  Tür  auf  und  betritt  nun  mit  seinen  Begleitern 
den  Hauptbühnenraum. 

So  sehen  wir  also,  daß  tatsächlich  für  die  eine  der  wenigen  in 
den  szenischen  Bemerkungen  verwendeten  lokalen  Angaben  minde- 
stens seit  1556  eine  Art  Dekorationsstück  verlangt  wurde.  Es  schiene 
mir  aber  trotzdem  verkehrt,  von  hier  aus  nun  einen  Schluß  darauf 
zu  tun,  daß  auch  für  die  Höhle,  den  Feuerofen  usw.  ähnliche  Deko- 
rationsstücke erforderlich  wären.  Jene  Tür,  ist  wie  unsere  ent- 
wicklungsgeschichtliche Betrachtung  gezeigt  hat,  im  Grunde  kein 
Dekorationsstück,  sondern  eigentlich  doch  ein  Requisit,  eine  plasti- 
sche Nachahmung  einer  wirklichen  Tür,  wie  sie  samt  dem  für  das 
Juhandrama  geforderten  Fenster  Zimmerleute  und  Maler  damals 
gewiß  ohne  Schwierigkeiten  herstellen  konnten.  Für  die  genauere 
Charakterisierung  von  Höhle,  Feuerofen,  Grubenloch  und  dergl.  aber 
hätte  es  sich  nicht  um  eine  plastische  Nachbildung,  sondern  um 
reine  Dekorationsmalerei  handeln  müssen,  und  an  diese  zu  denken 
dafür  fehlt  uns  jeder  Anhalt.  Der  lochartige  Charakter  der  Altar- 
raumtür hat  in  diesen  Fällen  gewiß  ausgereicht.  Ebenso  wenig 
werden  wir  annehmen  dürfen,  daß  Hans  Sachs  für  den  in  den 
Bühnenanweisungen  zweier  Stücke  vorkommenden  Baum  eine  be- 
sondere Dekoration  hat  malen  lassen;  schon  in  ganz  anderm  Zu- 
sammenhang!) haben  wir  erkannt,  daß  man  in  diesen  Fällen  offen- 
bar die  Kanzel  als  Baum  benutzt  hat,  —  möglich,  daß  man  sie  durch 
ein  paar  aufgesteckte  Zweige  symbolisch  charakterisiert  hat,  wie 
sie  anderwärts  (KG.  12,  S.  509,  vgl.  13,  S.  473)  als'  Requisit  ver- 
langt werden.  Daß  eine  Baumdekoration  nicht  vorhanden  war,  zeigt 
ganz  deutlich  auch  unser  HS.  In  der  Vorlage  liegt  der  Drache,  in 
dessen  Blut  Siegfrid  nachher  badet,  bey  ei/ner  linden  ;  Hans  Sachs 
führt  statt  dessen  die  Höhle  ein,  deren  Darstellung  ihm  keine  szeni- 
sche Schwierigkeiten  macht. 

Versuchen  wir  nun  anderseits  die  Frage  zu  beantworten:  welche 
Angaben  und  Andeutungen  legt  Hans  Sachs  im  Dialog  seinen 
Personen  inbezug  auf  die  Gestaltung  des  Schauplatzes  in  den 
Mund?,  so  geschieht  das  natürlich  nicht,  weil  wir  annehmen  möchten, 
daß  solchen  Angaben   der  Redenden  nun   auch  Ausführungen   der 

1)  Vgl.  o.  S.  44  f. 


74  Dialog  und  Phantasie. 

Dekorationsmaler  entsprechen  müßten,  sondern  vielmehr  um  zu 
ermitteln,  ob  Hans  Sachs  vielleicht  in  diesen  Andeutungen  des 
Dialogs  dem  Publikum  einen  Ersatz  für  nicht  vorhandene  Deko- 
rationen, der  Phantasie  seiner  Zuschauer  einen  Anhalt  für  ihre 
Ergänzung  bieten  will.  Und  da  fällt  uns,  wenn  wir  uns  zunächst 
auf  den  HS.  beschränken,  der  mit  seinem  häufigen  Wechsel  des 
Schauplatzes  hier  ein  reiches  Material  bietet,  sofort  etwas  höchst 
Charakteristisches  ins  Auge.  Wenn  die  Handlung  einer  Szene  in 
einem  Innenraum  spielt  —  mag  es  sich  um  Schloß  oder  Hütte 
handeln  — ,  verschmäht  es  der  Dichter  so  gut  wie  ganz  und  gar, 
irgend  eine  Person  ein  Wort  sagen  zu  lassen,  das  sich  auf  das 
äußere  Bild  des  betreffenden  Saales  oder  Zimmers  bezieht ').  Ganz 
anders  immerhin,  wenn  die  Handlung  im  Freien  vor  sich  geht.  Ehe 
Sewfrid  im  zweiten  Akt  mit  dem  Drachen  streitet,  schildert  er 
genau  die  lokale  Situation  (v.  193): 

Ich  suech  im  ivald  hin  vnde  her, 
Doch  sich  und  find  ich  kain  koler. 
Ich  sich  in  dem  gestrews  dort  wol 
Ein  finster,  dieff,  staineres  hol  .  . 

Ähnlich  charakterisiert  Crimhild  v.  291  ff.  die  Zinnen  des  Schlosses, 
auf  dem  sie  steht,  als  der  Drache  kommt;  die  äußere  Gestaltung 
des  Gebirges,  in  das  Sewfrid  eindringen  muß,  wird  in  verschiedenen 
kleineren  und  größeren  Andeutungen  anschaulich  gemacht  (v.  401 ; 
V.  404:  Das  pirg  ist  gar  unmenschlich  hoch;  v.  407,  422,  431,  440); 
ebenso  geht  es  mit  Kuperons  Höhle  und  dem  sie  umgebenden 
Schauplatz  (v.  502,  511,  514,  565,  575),  mit  dem  Drachenfels  (v.  630, 
637,  664,  716,  728  f.),  w^eiter,  wenn  auch  etw^as  spärlich,  mit  dem 
Rosengarten  (v.  937,  939)  und  endlich  mit  der  Stelle  im  Walde,  wo 
Sewfrid  ermordet  wird  (v.  1062  ff.: 

Ich  wil  mich  legen  zv  dem  prunen 

Hie  an  den  schatten  von  der  sunen, 

Vnter  die  linden,  an  den  rangen, 

Den  schmack  der  gueten  wuerz  entpfangen, 

V.  1072,  1076).  Ahnen  wir  hier  schon  Hans  Sachsens  Absicht,  der 
Einbildungskraft  seiner  Zuschauer  inbezug  auf  die  Landschaft 
eine  gewisse  Stütze  zu  geben,  so  wird  uns  dieser  Zweck  noch 
deutlicher  klar,  wenn  wir  bemerken,  wie  er  in  den  meisten  Fällen 
dem  Publikum  diese  Situationen  nicht  nur  durch  auftretende  Per- 
sonen schildern  läßt,  sondern  es  bereits  in  der  vorhergehenden 
Szene  auf  die  Landschaft  vorzubereiten  liebt,  um  die  es  sich  in 
der  nächstfolgenden  handelt.  Das  geschieht  im  ersten  Akt  für  den 
Drachenwald  des   zweiten  (v.  164,  168,   170,   179—81,   188),    für  die 


1)  Höchstens  die  Andeutung  v.  771   kommt  in  Betracht. 


Innenraum   und   Landschaft.  75 

Schloßzinne  (v.  263  f.),  für  den  Drachenstein,  hier  besonders  auf- 
fallend und  an  sich  eigentlich  widersinnig,  indem  der  Herold,  Gibich 
und  Sewfrid  unmittelbar  nach  Crimhildens  Raub  (v.  316,  330,  338) 
schon  von  der  Wüstenei  reden,  in  die  sie  geschleppt  worden  ist; 
für  den  Drachenfels  (v.  602,  609,  615,  618,  622),  den  Rosengarten 
(v.  843,  853,  878,  894,  915)  und  endlich  den  Mordwald,  indem  Gernot 
(v.  1043)  den  Brüdern  sagt: 

Das  Sewfrid  almal  vmb  mitag 
Hinaus  spaciret  in  den  wald, 
Legt  sich  zu  ainem  prunen  kalt 
Ins  gras,  in  die  wolschmeckendn  plumen 
(vgl.  auch  V.  1053).     Für  die  Innenräume  dagegen  findet  sich  eine 
derartige  Vorbereitung  der  Phantasie  durchaus  nicht.   Wir  erinnern 
uns  an  jenen  Unterschied,  den  uns  die  reine  Betrachtung  des  Bühnen- 
raumes in  der  Marthakirche  machen  heß;    schon   dort  sahen  wir: 
der  Anblick  eines  Innenraums   wird   tatsächlich  geboten,   während 
umgekehrt  für  die  Vorführung  der  freien  Natur  nur  eine  Neutrali- 
sierungsmöghchkeit  vorhanden  ist.    Hier  setzt  offenbar  die  theatra- 
lische Arbeit  des  Dramatikers  bewußt  ein,  indem  sie  die  Zuschauer 
mit  dem  vorhandenen  Bild  von  Saal  und  Zimmer  vorlieb  nehmen 
läßt,  dagegen  zur  Erweckung  eines  Landschaftsbildes  ihrer  Phanta- 
sie  auf   dem  Umwege   über  das   Ohr  fort  und   fort  Anhaltspunkte 
bietet. 

Um  aber  diese  Behauptung,  daß  es  sich  hier  um  Absicht, 
um  bewußte  Arbeit,  um  Rücksichtnahme  auf  das  Nichtvorhandensein 
von  Dekorationen  gehandelt  hat,  zu  stützen,  wird  es  sich  emp- 
fehlen, noch  eine  doppelte  Kontrolle  vorzunehmen.  Ersthch  werden 
wir,  um  dem  Theatraliker  auf  die  Finger  zu  sehen,  nachprüfen,  ob 
er  als  Epiker  in  entsprechenden  Situationen  etwa  ebenfalls  in  der 
Schilderung  des  Innenraums  sparsam,  in  der  Ausmalung  der  Land- 
schaft freigebig  ist;  in  diesem  Falle  würden  wir  jene  theatralische 
Ausdeutung  dieses  Unterschiedes  nicht  aufrecht  erhalten  können. 
TatsächKch  aber  zeigen  wenigstens  angestellte  Stichproben,  daß  wir 
jenen  Unterschied  für  Hans  Sachsens  epische  Dichtungen  nicht 
machen  können.  Den  Stoff  vom  Hürnen  Sewfrid  hat  Hans  Sachs 
allerdings  nicht  als  Erzählung  bearbeitet,  so  daß  hier  also  ein 
Vergleich  sich  nicht  anstellen  läßt;  sonst  aber  ist  ja  bei  ihm  kein 
Mangel  an  Stoffen,  die  sowohl  als  Erzählung  wie  als  Drama  gestaltet 
sind,  und  da  zeigt  z.  B.  der  Cyrus,  den  er  episch  im  Mai,  dramatisch 
im  Juni  des  Jahres  1557  behandelt  hat,  in  dieser  zweiten  Form  das 
gleiche  Verhältnis  wie  der  HS. :  vom  Königssaal  und  von  der  Hirten- 
hütte wird  im  Dialog  nichts  gesagt,  dagegen  werden  wir  auf  die 
Natur  des  Scythenlandes  vorbereitet  (KG.  13,  S.  323,  327),  und  ebenso 
wird  es  während  der  betreffenden  Szene  (a.  a.  0.  S.  328)  im  Dialog 
charakterisiert;    in  der  epischen  Darstellung  ist  von  solcher  Diffe- 


76  Innenrauin  und  Landschaft. 

renzierung  nicht  die  Rede.  Nicht  anders  steht  es  mit  dem  Alexander 
Magnus,  wo  im  Gegensatz  zu  den  Innenräumen  der  Engpaß  und 
dann  weiterhin  Indien  sowohl  vorbereitet  wie  charakterisiert  werden: 
im  Drama  (KG,  13,  S.  477  ff.) ;  in  der  Erzählung  ist  auch  hier  von 
solcher  Scheidung  keine  Spur. 

Die  zweite  Möglichkeit,  unsere  Hypothese,  Hans  Sachs  habe 
als  Theatraliker  mit  Rücksicht  auf  die  Besonderheit  seiner  Bühne  ab- 
sichtlich jenen  Unterschied  gemacht,  zu  kontrollieren,  liegt  in  dem 
Vergleich  seiner  Dramen  mit  ihrer  Quelle.  Übernimmt  er  etwa  jene 
verschiedene  Behandlung  des  Innenraums  und  der  Landschaft  schon 
aus  seiner  Vorlage  oder  führt  er  sie  gegen  deren  Wortlaut  erst  ein 
oder  verstärkt  doch  die  bloßen  Andeutungen  seiner  Quelle  hinsicht- 
lich der  freien  Natur  so  entschieden,  daß  die  theatralische  Absicht 
klar  wird?  Daß  das  letztere  der  Fall  ist,  daß  die  Vorlage  den 
Unterschied  nicht  macht,  können  wir  schon  beim  HS.  beobachten. 
Das  Siegfriedslied,  das  der  Dichter  auch  für  den  letzten  Akt  als 
einzige  Vorlage  gehabt  hat^),  sagt  in  bezug  auf  den  Ort  der  Ermor- 
dung nur  (177,  v.  6  ff.): 

Ob  eynem  prunnen  kalt 
Erstach  jn  der  grymmig  Hagen 
Dort  auff  dem  Ottenwaldt. 
Von  der  genauen  Ortsschilderung,  die  Sewfrid  selbst,  bevor  er 
einschläft,  gibt,  ist  also  nicht  die  Rede,  und  noch  viel  weniger  von 
jener  Vorausschilderung  des  Ortes,  die  Hans  Sachs  in  dem  voran- 
liegenden Gespräch  der  drei  Brüder  bietet.  Ebensowenig  ist  in  der 
Quelle  das  Schloßdach  vorbereitet,  auf  dem  Crimhilt  steht-^),  oder 
das  wüste  Gebirge,  in  das  der  Drache  mit  der  Königstochter  sich 
begibt;  die  vorhergegebenen  Hinweise  auf  Drachenwald,  Drachen- 
fels und  Rosengarten  sind  im  Liede  wenigstens  minder  deutlich.  — 
Die  gleiche  Beobachtung  können  wir  nun  auch  machen,  wenn  wir 
etwa  jenes  Cyrus- Drama  und  den  Alexander  Magnus  mit  ihren 
Quellen  vergleichen :  die  oben  beobachtete  Vorbereitung  des  PubH- 
kums  auf  die  landschaftliche  Situation  des  Scythenreiches  fehlt  bei 
Herodot  und  Justinus,  und  ebenso  ist  im  Plutarch  von  dem  Gebirgs- 
engpaß  und  der  indischen  Landschaft  des  Alexander  -  Dramas 
vorher  nicht  die  Rede.  Dagegen  entspricht  die  Behandlung  dieser 
Verhältnisse  in  Hans  Sachsens  epischen  Gestaltungen  desCyrus- 
und  des  Alexander-Stoffes  genau  dem  Zustand  der  Vorlagen :  ganz 
deutlich  wird  es  also,  daß  es  nicht  allgemein  dichterische,  sondern 
speziell  theatralische  Erwägungen  gewesen  sind,  die  den  Dramatiker 


1)  Ich  stimme  hierin  dunliaus  mit  Drescher,  Studien  zu  Hans  Sachs  I.  Berlin  1890, 
überein. 

2)  Im  Lied  ist  es  ein  Fenster,  von  dem  aus  sie  dem  Turnier  zusielit,  die  Ausmahmg 
dieser  Situation  konnte  Hans  Sachs  der  Phantasie  seiner  -Zuscliauer  nicht  zunniten  und 
führte  deswegen  die  Zinne  ein. 


Innenraum   und   Landschaft.  -  77 

ZU  solchem  Verhalten  bestimmt  haben.  —  Nichts  scheint  der  Dichter 
innerhalb  des  Dialogs  der  Phantasie  seiner  Zuschauer  zu  bieten, 
wo  der  Ort  der  Handlung  ein  Schlachtfeld  ist:  beim  Anblick  der 
kämpfenden  Kriegergruppen  sagte  sich  das  Publikum  ohne  weiteres, 
daß  der  Schauplatz  jetzt  kaum  ein  Zimmer  sein  konnte,  und  wir 
können  auch  hier  wieder  auf  die  Analogie  mit  der  bildenden  Kunst 
hinweisen,  die,  wie  schon  oben  betont  wurde,  noch  damals  Kämpfer 
gern  in  die  leere  Luft  stellte. 

Den  tatsächlichen  Zustand  des  auf  seiner  Bühne  vorhandenen 
Innenraums,  für  den  er,  wie  wir  sahen,  im  allgemeinen  keine 
besondere  Arbeit  aufwendete,  hatte  Hans  Sachs  doch  insofern  im 
Auge,  als  er  die  Vorführung  von  Innenräumen,  die  dem  vorhande- 
nen Bühnenbild  gar  zu  grob  widersprochen  hätten,  sichtlich 
ganz  vermied').  Wieder  müßte  eine  lückenlose  Vergleichung  der 
Dramen  mit  ihren  Vorlagen  diese  Behauptung  bestätigen ;  besonders 
deutlich  wird  es  in  dem  Drama  Beritola  aus  dem  Jahre  1559. 
In  Hans  Sachsens  Vorlage,  der  bekannten  Erzählung  aus  Boccacios 
Decamerone,  sitzt  die  entflohene  unglückliche  Fürstin  auf  der  ein- 
samen Insel  in  einem  alten  finstern  Gemäuer;  der  Herzog  und  die 
Herzogin  kommen  zu  ihr  in  dieses  Gemäuer  hinein  und  bereden 
sie  hier,  die  Insel  mit  ihnen  zu  verlassen.  Hans  Sachs  macht  nicht 
nur  aus  dem  Gemäuer  eine  Höhle,  deren  Eingang  die  Altarraumtür 
besser  vorstellen  konnte  als  ein  altes  Gemäuer,  sondern  er  verlegt 
auch  jenes  Gespräch  aus  der  Höhle  heraus  in  die  freie  Landschaft, 
in  die  Beritola  zu  den  Besuchern  heraustritt:  das  Innere  einer 
dunklen  Höhle  vorzustellen,  war  die  Bühne  nicht  geeignet.  Weiter 
spielt  eine  Situation  der  Erzählung  im  Kerker,  in  den  der  eine  Sohn 
der  Beritola  geworfen  ist:  einer  der  Kerkermeister  unterhält  sich 
mit  ihm  und  erzählt  ihm  die  große  Neuigkeit,  die  die  Stadt  erfüllt. 
Hans  Sachs  bietet  (KG.  16,  S.  123  ff.)  die  gleiche  Unterhaltung,  er 
läßt  sie  aber  nicht  im  Kerker  vor  sich  gehen,  sondern  zunächst 
führen,  im  übrigen  ganz  unmotivierter  Weise,  die  Trabanten  den 
Gefangenen  aus  dem  Kerker  heraus,  als  dessen  Eingang  das  Publikum 
die  Altarraumtür  vor  sich  sah.  Wieder  ist  es  deutlich :  Hans  Sachs 
war  sich  klar,  daß  seine  Bühne  einen  dunklen  Kerkerraum  nicht 
darzustellen  vermochte. 

Als  Gesamtergebnis  dieser  Betrachtungen  haben  wir  demnach  fest- 
zuhalten :  eigentliche  Dekorationen  sind  auf  der  Meistersingerbühne 
nicht  vorhanden  gewesen.  Es  ist  also  noch  derselbe  Zustand,  der 
in  einem  1534  zu  Nürnberg  anonym  erschienenen  Susanna-Drama 
angedeutet  wird,  wo  im  Prolog  ausdrücklich  von  dem  Garten,  in 
dem  die  Handlung  einsetzt,  gesagt  wird: 

Diser  gart  ist  gar  hhbsch  und  schon 
Von  kreutern  vnd  vil  beumen  griin, 

1)  Vgl.  auch  die  oben  erwähnte  Umwandhing  des  Fensters  in  das  Schloßdach  im  HS. 


78  Keine  Dekorationen.     Requisiten. 

Welchen  so  euch  zu  sehen  glust, 
Gar  scharpff  brillen  jr  haben  musÜ). 
Fast  fünfzig  Jahre  später  schreibt  der  Nürnberger  Kaufmann  Bal- 
thasar Paumgartner  aus  Lucca  in  ItaUen  einen  Brief  an  seine  Braut 
Magdalene  Behaim  in  Nürnberg  (15.  Dez.  1582)2)  und  berichtet  von  den 
Mittehi,  mit  denen  er  außerhalb  seiner  Geschäftszeit  die  Langeweile 
sich  zu  vertreiben  suchte :  Die  zeitt  ein  weil  mitt  den  comedyen  zu- 
sehen zu  gebrachtt,  mitt  solchen  aber  auch  schon  ein  end  hau. 
Nach  den  weijhenachtt  feyrtagen  aber  sollen  anndere  herkommen, 
sind  aber  gegen  euern  spyeln  im  s.  Martha  vnnd  prediger  closter 
nicht  zu  vergleichenn.  Offenbar  bezieht  sich  dieser  unvergleichliche 
Vorzug  des  italienischen  Theaters  nicht  nur  auf  die  Mitwirkung  von 
Frauen,  die  Paumgartner  hervorhebt,  weil  das  natürlich  seine  Braut 
besonders  interessieren  muß,  sondern  auch  auf  die  dekorative  Aus- 
stattung, die  wie  oben  angedeutet,  in  Italien  damals  schon  weit 
vorgeschritten  war,  während  sich  die  Meistersingerbühne  noch  immer 
ohne  Dekorationen  behalf.  Durchaus  zu  verwerfen  ist  aber  ander- 
seits die  populäre  Vorstellung,  die  ja  bei  gelegentlichen  Aufführungen 
Hans  Sachsischer  Stücke  heute  oft  in  die  Praxis  übertragen  wird, 
als  ob  beim  Wechsel  des  Schauplatzes  durch  einen  angehefteten 
Zettel  das  Publikum  über  den  neuen  Ort  der  Handlung  unterrichtet 
worden  wäre.  Wir  haben  gesehen,  durch  welche  Mittel  Hans  Sachs 
sein  Publikum  zu  lenken  wußte;  er  spricht  zu  ihnen  gewissermaßen 
dasselbe,  was  in  Shakespeares  Heinrich  V.  der  Chor  zu  den  engli- 
schen Zuschauern  sagt: 

Still  be  kind, 
And  ehe  out  our  Performance  with  your  mind. 


Requisiten. 

Unter  Requisiten  verstehen  wir,  wie  schon  im  Eingang  des  die 
Dekoration  behandelnden  Abschnittes  auseinandergesetzt  wurde, 
diejenigen  auf  der  Bühne  verwendeten  Gegenstände,  die  im  Gegen- 
satz zu  den  nur  in  zwei  Dimensionen  ausgeführten  Dekorationen 
in  drei  Dimensionen  vorgeführt  werden.  Solchen  Requisiten  gegen- 
über ergibt  sich  auch  für  die  Bühne  der  Meistersinger  eine  doppelte 
Frage :  erstens,  welche  Requisiten  werden  verlangt  und  wie  werden 
sie  hergestellt?  und  zweitens,  wie  kommen  die  Requisiten  auf  die 
Bühne,  wohin  werden  sie  hier  gestellt,  sobald  sie  nicht  nur  in  den 
Händen  der  Schauspieler  bleiben,  und  endlich,  wie  werden  sie  wieder 


1)  fol.  Aijb.  Zitiert  aucli   liei  G  e  n  ö  e  ,  Lehr-  und  Wanderjahre  des  deutschen   Schau- 
spiels, Berlin  1882,  S.  i;5(). 

2)  Briefwechsel  Balthasar  Pauniyarlner.s  des  Jüngeren  mit  seiner  Gattin,  herausgegeben 
von  Sleinhausen  (Stullg.  Lil.  Verein  1895)  S.  9  f. 


Die  Materialfrage.  79 

von  der  Bühne  fortgeschafft?  Das  erste  ist  also  wesentlich  eine 
Material-,  das  zweite  eine  Lokalfrage. 

Wir  beginnen  nun  für  die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem 
Material  mit  dem  HS.  und  halten  uns  wie  immer  in  erster  Reihe 
an  die  szenischen  Bemerkungen,  die  uns  auch  hier  wieder  im  all- 
gemeinen das  theatralische  Element  darzustellen  scheinen.  Ganz 
Theater  ist  z.  B.,  wenn  im  „Florio"  1551  KG.  8,  S.  327,  der  Held  sagt : 
Gieb  ein  sack  mit  ducaten  her!  und  die  Bühnenanweisung  dann  vor- 
schreibt: Hertzog  Ascheion  geit  im  ein  sack.  Einen  Sack  schlecht- 
weg, nicht  einen  Sack  mit  Dukaten,  wie  der  Epiker  hier  gesagt  haben 
würde:  der  Regisseur  wird  natürhch  nicht  den  Sack  mit  Dukaten 
füllen.  In  den  Bühnenanweisungen  des  HS.  werden  nur  verlangt: 
zwei  Hämmer,  Amboß  und  Korb  für  die  Schmiede ;  Schlüssel,  stäh- 
lerne Stange,  Streitaxt  und  andere  Waffen  für  den  Riesen  und  für 
Sewfrid ;  eine  Nebelkappe,  eine  Wurzel  und  eine  goldne  Schale  voll 
confect  für  den  Zwerg;  ein  dünnes  Tüchlein  für  Crimhilt,  wie  auch 
vorher  Sewfrid  schon  ein  facilet  verwendet;  endlich  der  Dolch 
zu  Sewfrids  Ermordung  und  Reisig,  um  seine  Leiche  zuzudecken. 
Es  fragt  sich  zunächst,  ob  tatsächhch  nur  diese  in  den  szenischen 
Bemerkungen  genannten  Gegenstände  verwendet  oder  ob  etwa  auch 
Dinge,  von  denen  im  Dialog  die  Rede  ist,  vorgeführt  worden  sind: 
ob  wir  also  etwa  aus  den  Worten  des  Schmiedes  (v.  136) :  Nun  so 
plas  auf,  und  halt  palt  ein!  auf  das  Vorhandensein  eines  Blasebalgs 
schheßen  dürfen.  Da  ein  solcher  Blasebalg  für  den  Fortschritt  der 
Handlung  völlig  entbehrlich  ist,  so  werden  wir  uns  die  bei  der 
Besprechung  der  Dekorationen  gemachten  Erfahrungen  zunutze 
machen  dürfen  und  annehmen,  daß  der  Dichter  mit  einem  solchen 
Hinweis  lediglich  der  Phantasie  seines  Publikums  einen  Hinweis  für 
die  lebendige  Vorstellung  des  Miheus  geben  wollte.  Natürlich  ist 
es  nicht  ausgeschlossen,  daß  er  einmal  die  szenische  Bemerkung, 
die  von  einem  unentbehrlichen  Requisit  berichtet,  niederzuschreiben 
vergißt,  und  ein  solcher  Fall  liegt  auch  im  HS.  vor,  wo  Crimhilt 
nach  dem  Kampf  im  Rosengarten  zu  dem  siegreichen  Dietrich  nur 
spricht  (v.  992f.): 

Nembt  hin  das  rosenkrenzelein, 

Darzw  mein  vmefang  und  kues, 

wo  aber  dann  eine  szenische  Bemerkung  über  die  Bekränzung  nicht 
folgt.  Die  langverheißene  Vorführung  dieser  Krönung  ist  natür- 
lich auch  für  das  Auge  unentbehrlich,  und  daß  wir  hier  keinen 
Fehlschluß  tun,  beweist  uns  der  Dichter  selbst,  indem  er  in  dem 
ersten  Drucke  des  Werkes  den  betreffenden  Zusatz  einfügt: 

Sie  setzt  im  den  krantz  auff,   vmbfecht  in,  gibt  im   ein  kuß^). 


1)  Diese  Stelle  steht  zwar  auch  in  Goetzes   Neudruck   der  Se'W'frid-Handschrift,   ist 
aber  nur  ein  dem  Druck  entnommener  Zusatz  des  Herausgebers  (vgl.  Vorwort  p.  Vni). 


80  Die  szenischen  Bemerkungen. 

Ähnliches  läßt  sich  auch  anderwärts  beobachten;  so  kann  man 
z.  B.  in  der  Opferung  Isaak  1553  (KG.  10,  S.  69)  nur  aus  dem  Dialog 
entnehmen,  daß  die  Knechte  das  Holz  für  die  Herrichtung  des  Opfers 
auf  die  Bühne  gebracht  haben:  in  der  erweiterten  Fassung  des 
Stückes  aus  dem  Jahre  1558  dagegen  (Abraham,  Lott,  sampt  der 
Opfferiing  Isaac  KG.  10,  S.  52)  heißt  es  von  den  Knechten  in  der 
Bühnenanweisung  ausdrücklich:  die  tragen  gespalten  holtz  imnd 
ein  kolfewr.  Häufig  wird  namentlich  das  Requisit  dort  noch  nicht 
erwähnt,  wo  es  auf  die  Bühne  gebracht  wird,  obwohl  es  doch  schon 
hier  zu  erwarten  wäre,  sondern  erst  viel  später  (z.  B.  KG.  13, 
S.  299,  S.  301 ;  13,  S.313,  S.  315;  13,  S.  25,  S.27).  Hans  Sachsen  mag  in 
solchen  Fällen  erst  während  der  Abfassung  der  Szene  das  Vor- 
handensein des  Requisits  als  wünschenswert  oder  notwendig  erschie- 
nen sein.  Doch  das  sind  verhältnismäßig  seltene  Ausnahmen.  Im 
allgemeinen  werden  wir  unsere  Betrachtung  auf  die  Requisiten  zu 
beschränken  haben,  die  in  den  Bühnenanweisungen  erwähnt  sind. 

Umgekehrt  fragt  es  sich  nun  aber:  sind  diese  Requisiten  auch 
wirklich  alle  vorhanden,  alle  erreichbar  oder  herstellbar  gewesen? 
In  den  meisten  Fällen  wird  man  ja  einfach  mit  den  wirklichen 
Gegenständen  selbst  auf  der  Bühne  haben  agieren  können;  aber 
ihrer  Verwendung  waren  doch  auch  gewisse  Schranken  gesetzt: 
die  Kostbarkeit  solcher  Gegenstände  oder  die  Schwierigkeit  ihrer 
habhaft  zu  werden,  die  Gefahr,  die  bei  ihrer  Verwendung  für  die 
Personen  der  Schauspieler  oder  für  das  gesamte  Spiellokal  vorhan- 
den war,  die  Größe  oder  die  Form  des  betreffenden  Dinges,  die 
sich  nicht  mit  den  Verhältnissen  des  Bühnenraums  vertragen  hätten, 
die  Schwere,  die  den  Transport  verhinderte,  endlich  dort  wo  es  sich 
nicht  um  Sachen,  sondern  um  lebende  Wesen,  besonders  um  Tiere 
handelte,  die  Unmöglichkeit,  solche  Mitspielende  vollständig  in  den 
Dienst  des  Werkes  zu  zwängen.  In  allen  solchen  Fällen  mußte 
man  dazu  greifen,  statt  des  wirklichen  Gegenstandes  eine  irgendwie 
geartete,  mehr  naturalistische  oder  mehr  symbolische  Nachbildung 
vorzuführen.  Wir  werden  auch  hier  wieder  nicht  den  Bühnenan- 
weisungen allein  entnehmen  können,  wie  man  sich  in  solcher  Hinsicht 
auf  der  Meistersingerbühne  verhalten  hat,  sondern  werden  uns  zu 
diesem  Zwecke  mit  den  Nachrichten  über  andere  Aufführungen, 
eventuell  mit  den  Dramen-Illustrationen  und  endlich  mit  der  Frage 
nach  dem  Stand  des  Kunstgewerbes  auf  denjenigen  Gebieten  zu 
beschäftigen  haben,  die  für  die  Nachbildung  in  Betracht  kamen. 

Gerade  die  für  den  HS.  verlangten  Requisiten  machen  in  solcher 
Beziehung  nur  geringe  Schwierigkeiten:  beinahe  alle  notwendigen 
Gegenstände  waren  leicht  aus  dem  Alltagsleben  zu  beschaffen. 
Die  güldene  Schale  mit  Confect  wird  natürlich  nicht  aus  Gold 
bestanden  haben.  Schwierigkeiten  bietet  höchstens  der  Amboß, 
dessen    Gewicht   das    Hineinschaffen    und   Forttragen   gewiß    sehr 


Requisiten  und  ilire  Herstellung.  81 

umständlich  gemacht  hätte.  Es  wird  sich  empfehlen,  den  Blick  über 
den  HS.  hinaus  auf  die  übrigen  Werke  Hans  Sachsens  aus  den 
50er  und  60er  Jahren  zu  richten. 

Zwecklos  wäre  es,  all  die  vielen  kleinen  Dinge  hier  aufzuzählen, 
die  sich  ohne  sonderliche  Schwierigkeit  beschaffen  ließen.  Manches 
liegt  der  Sphäre  des  Bürgertums  nicht  eben  nahe,  aber  es  wird 
doch  möglich  gewesen  sein,  einen  solchen  Gegenstand  zu  besorgen, 
z.  B.  wenn  im  Tristan  1553  (KG.  12,  S.  165)  fih*  den  gestirnkundigen 
Zwerg  eine  spera  gefordert  wird.  Ein  Schild  mit  drei  goldenen 
Lilien  (KG.  13,  S.  27)  und  eine  Adlerfahne  (KG.  11,  S.  331)  mußten 
gewiß  ad  hoc  hergestellt  oder  doch  wenigstens  erst  besonders  zu- 
gerichtet werden;  Musikinstrumente:  Pauke  (KG.  10,  S.  179),  Posau- 
nen (KG.  10,  S.  107)  und  Harfe  (KG.  15,  S.  42  u.  ö.)  waren  gewiß 
auch  nicht  ganz  einfach  zu  erreichen;  andere  Schwierigkeiten  wieder 
machte  es,  wenn  jemand  einen  Kram  mit  Borten  und  gestickter 
Arbeit  auslegen  sollte  (KG.  20,  S.  73,  vgl.  12,  S.  210,  214)  oder 
wenn  im  Alexander  1558  (KG.  13,  S.  517)  eine  dürre  Haut  gefor- 
dert wird,  die  an  der  einen  Seite  emporschnappt,  wenn  man  an  der 
andern  auf  sie  tritt,  oder  wenn  endlich  wiederholt  (z.  B.  KG.  8,  S.  209) 
ein  Kohlenfeuer  gebracht  wird,  in  dem  vor  unsern  Augen  etwas  ver- 
brannt werden  muß :  das  war  bei  dem  geringen  Umfang  der  Bühne 
und  der  Nähe  des  hinteren  Vorhangs  natürlich  ziemlich  feuergefähr- 
hch.  Eine  Blume  muß  mitspielen  (KG.  12,  S.  72),  ein  Rosenbüsch- 
lein  (KG.  12,  S.  509),  grüne  Maien  (KG.  13,  S.  240),  eine  verdorrte 
Rose  (KG.  13,  S.  197)  und  endlich  ein  Lorbeerbaum  (KG.  13,  S.  473); 
aber  wohl  nur  im  letzten  Falle  können  wir  an  die  Verwendung  einer 
wirklichen  Pflanze  denken,  denn  da  Hans  Sachsens  Stücke  zur  Auf- " 
führung  in  den  Wintermonaten  bestimmt  waren,  würde  die  Be- 
schaffung frischer  Blumen  und  Zweige  große  Schwierigkeiten  gemacht 
haben.  Gemeine  Feldsteine  waren  gewiß  leicht  zu  bekommen,  aber 
sie  ließen  sich  nicht  verwenden,  wenn  eine  der  Gestalten  des  Dramas 
mit  Steinen  zu  Tode  geworfen  werden  sollte.  Daß  der  Dichter- 
Regisseur  hier  ein  Surrogat  gewählt  hat,  brauchen  wir  nicht  nur 
zu  vermuten:  gerade  hier  haben  wir  eine  Bühnenanweisung,  die 
uns  den  rein  theatralischen  Stil  der  szenischen  Bemerkungen  be- 
sonders schlagend  dartut.  In  der  Tragödie  Ahab  1557  (KG.  10, 
S.  411)  ist  Naboth  dazu  verurteilt  worden,  durch  die  falschen  Zeugen 
gesteinigt  zu  werden,  und  da  heißt  es  nun  in  der  Bühnenanweisung: 
Da  werffen  die  zwen  mit  gemachten  steinen  zu,  biß  er  feilt. 

Einen  Graben  auf  der  Bühne  plastisch  vorzuführen,  läßt  das 
bretterne  Podium  nicht  zu;  in  der  Tragödie  Romulus  und  Remus 
1560  (KG.  20,  S.  164)  aber  ist  erforderlich,  daß  Remus  einen  Graben 
überspringt,  und  da  verlangt  die  szenische  Bemerkung  das  Folgende: 
Remus  springt  vbern  graben,  der  da  mit  kreiden  verzeichnet  ist. ') 

1)  Die  Worte  mit  kreiden  stehen    nur   in   der  Handschrift. 
H  err  mann,  Theater.  6 


82  Holzschnitzerei  und  Ceroplastik.    Künstliche  Köpfe. 

In  diesem  letzten  Fall  ist  das  Material  für  die  Herstellung  des 
Nichtwirklichen  das  allereinfachste;  wenn  wir  nun  aber  an  ganze 
Gruppen  von  Dingen  kommen,  die  unbedingt  künstlich  angefertigt 
werden  mußten,  wird  es  notwendig  sein,  mit  einigen  Worten  auf 
jene  Frage  einzugehen,  aus  welchen  Materialien  denn  solche  Nach- 
bildungen sich  schaffen  ließen.  Am  nächsten  liegt  es,  durchaus  an 
Holzschnitzereien  zu  denken,  für  die  ja  gerade  in  Nürnberg  eine 
besonders  ausgezeichnete  Tradition  vorhanden  und  deren  Technik 
auch  damals  gewiß  noch  nicht  ausgestorben  war,  wenn  auch  die 
glänzenden  Zeiten  des  Veit  Stoß  (f  1533)  schon  lange  vorüber 
waren.  Möglich  wäre  es  aber  auch,  daß  man  manches  in  Papier- 
mache hergestellt  hat;  freilich  geben  die  „Kunstbüchlein"  des  16.  Jahr- 
hunderts, wie  es  scheint,  über  solches  Verfahren  noch  keine  Aus- 
kunft, da  sie  sich  mit  Angaben  über  die  Kunst,  Tinten  und  Farben 
zu  bereiten,  zu  begnügen  pflegen,  und  erst  in  der  „Curiösen  Kunst- 
und  Werckschule"  aus  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  (Nürnberg  1696) 
sich  Anweisungen  finden  wie  diese:  „Fische  nach  dem  Leben  ab- 
zuformen und  von  Papier  nachzugießen  oder  nachzuformen".  Endlich 
könnte  man  in  dem  Jahrhundert,  das  das  berühmte  „Mädchen  von 
Lille"  geschaffen  hat,  wohl  auch  an  die  handwerksmäßige  Verbreitung 
der  Kunst,  plastisch  in  Wachs  zu  arbeiten,  denken ;  und  wenigstens 
aus  dem  letzten  Teil  des  16.  und  dem  Anfang  des  17.  Jahrhunderts 
sind  uns  die  Namen  von  Nürnberger  Künstlern  überliefert,  die  als 
Ceroplastiker  bekannt  waren '),  Ein  Mittel  zur  Anfertigung  der  Steine, 
mit  denen  Menschen  auf  der  Bühne  zu  Tode  geworfen  werden  sollen, 
gibt  der  Luzerner  „Bühnenrodel"  vom  Jahre  1545,  dort  wo  er  die 
Requisiten  für  David  zusammenstellt,  der  den  Goliath  mit  einem 
Steine  tödlich  trifft :  dieser  Stein  soll  ein  hohles,  mit  Blut  gefülltes 
und  Steinfarben  angestriches  Ei  sein-). 

Künstlich  hergestellt  mußten  vor  allen  Dingen  die  Köpf  e  werden, 
die  in  Hans  Sachsens  Dramen  fast  jedes  Jahr  verlangt  sind :  Johannis 
haiipt:  1550  (KG.  11,  S.  209),  des  grafen  todt  haiipt  1551  (KG.  8,  S.  123, 
vgl.  weiter  KG.  8,  S.  184;  13,  S.  329);  im  Gideon  1556  (KG.  10,  S.  165) 
werden  gar  zwaijer  fiirsten  haiibt  gefordert.  Im  Tristan  1553,  KG.  12, 
S.  152  ist  ein  Drachenkopf  vonnöten,  und  im  Perseus  1558,  KG.  13, 
S.  433  bringt  der  Held  gar  das  haubt  Meduse  mit  den  schlangen 
getragen.  Auch  die  Vorführung  aus  dem  Leibe  geschnittener  Herzen 
(KG.  8,  S.  33,  KG.  13,  S.  208)  mag  man  dazu  rechnen.  Gerade  hier, 
für  die  Vorführung  abgehauener  Köpfe  besteht  eine  alte  Tradition; 
der  Kopf  Johannes  des  Täufers  wurde  schon  im  Frankfurter  und 


1)  Es  sind  Lorenz  Strauch,  Wenzeslas  Müller  und  Christian  Mahler;  vgl.  Demmin, 
Studien  über  die  stofflichbildenden  Künste  und  die  Kunsthandwerke  I,  Leipzig  1887,  S.  52. 
Vgl.  auch  Th.  Hampe,  Nürnberger  Ratsverlässe  über  Kunst  und  Künstler  2  (Wien  u.  Leipzig 
1904)   Nr.  853.  2442.  2863. 

2)  Brandstetter:  Germania  30,  S.  208. 


Köpfe  und  Götterbilder.  '  83 

im  Alsfelder  Passionsspiel  gezeigt'),  und  in  dem  Luzerner  Bühnen- 
rodel vom  Jahre  1560,  wo  wir  uns  ja  durchaus  im  Zuge  der  mittel- 
alterlichen Tradition  befinden,  wird  in  bezug  auf  den  Kopf  des 
Johannes  mit  einem  ausdrücklichen  Wink  für  den  herstellenden 
Künstler  verlangt:  das  g macht  Hoiibt  jm  ghjch.  Hier  werden  wir 
gewiß  auch  für  die  Bühne  der  Meistersinger  im  Zusammenhange 
mit  der  alten  Tradition  durchaus  an  Holzschnitzerei  zu  denken 
haben. 

Es  kommt  aber  auch  vor,  daß  der  Dichter  jemandem  den  Kopf 
vor  den  Augen  der  Zuschauer  abschlagen  läßt.  Das  ist  der  Fall 
im  König  Saul  1557,  KG.  15,  S.  48,  wo  die  Bühnenanweisung  besagt: 
Goliath  feilt,  David  zeucht  ihm  seiii^  schwerdt  aiiß,  hawet  im  den 
kopff  ab,  bringt  in  könig  Saul.  Offenbar  mußte  hier  der  Darsteller 
den  künstlichen  Kopf  über  dem  wirklichen  tragen,  was  nebenher 
den  Vorteil  bot,  daß  er  tatsächlich  auf  solche  Weise  auch  den  andern 
Darstellern  gegenüber  als  Riese  erschien.  Dieses  Verfahren  hat 
offenbar  in  Luzern  nichts  Analoges,  denn  hier  schreibt  der  Bühnen- 
rodel vom  Jahre  1583  ausdrücklich  wieder  vor-):  Er  (Goliath)  sol 
auch  ein  contrafeteten  Kopff  gemacht  haben,  jme  glych  so  vil  möglich  ; 
diese  Ähnlichkeit  wäre  doch  nicht  notw^endig,  wenn  der  wirkliche 
Kopf  des  Darstellers  dem  Zuschauer  nicht  zu  Gesicht  käme. 

Auf  dieselbe  Weise,  also  vermutlich  mittelst  Holzschnitzerei 
wurden  w^ohl  auch  die  Götterbilder  hergestellt,  die  in  den  Bühnen- 
anweisungen einiger  Dramen  verlangt  werden:  das  groß  bildt  im 
Daniel  1557  KG.  11,  S.  38  und  der  abgott,  der  Bei,  vor  welchen 
im  Gott  Bei  1559  KG.  11,  S.  73  (vgl.  75)  das  Opfer  gestellt  wird. 
Auch  Altäre  sind  einige  Male  unentbehrlich.  Der  Altar  des  einigen 
Gottes,  der  in  der  Empfängnis  und  Geburt  Johannis  und  Christi  1559 
KG.  11,  S.  163  vorgeschrieben  ist,  an  dem  der  Oberpriester  Zacha- 
rias  mit  dem  Rauchfaß  das  Opfer  verrichtet,  konnte  auf  die  be- 
quemste Art  gezeigt  werden,  indem  man  ausnahmsweise  einmal 
den  Hintervorhang  wenigstens  zum  Teil  aufzog  und  auf  solche 
Weise  den  wirklichen  Altar  der  Marthakirche  sichtbar  werden  ließ ; 
angesichts  des  christlich-religiösen  Charakters  dieses  Dramas  war 
das  keine  Entweihung.  Wenn  dagegen  in  den  Machabäern  1556 
KG.  11,  S.  104  ein  Altar  verlangt  wird,  so  ist  zwar  wieder  der  Tempel 
zu  Jerusalem  gemeint:  wenn  aber  hier  die  Benutzung  des  wirk- 
lichen Altars  der  Kirche  schon  deshalb  ihr  Bedenkliches  hat,  weil 
vor  diesem  Altar  den  heidnischen  Göttern  Opfer  gebracht  werden 
müssen,  so  ist  an  eine  derartige  Verwendung  vor  allem  darum  nicht 
zu  denken,  weil  Mathatia  nach  Angabe  der  Bühnenanweisung  den 


1)  Vgl.  Heinzel,  Beschreibung  des  geistlichen  Schauspiels  im  deutschen  Mittelalter, 
Hamburg  1898,  S.  33.  In  der  Frankfurter  DirigierroUe  ist  für  die  Erhängungsszene  sogar 
eine  vollständige  Nachbildung  des  Judas,  facta  ymago  ad  instar  Juda  vorgeschrieben. 

2)  a.  a.  0.  S.  330  f. 

6* 


84  Tiere  auf  der  Bühne. 

Altar  umzuwerfen  hat.  Hier  muß  also  ein  Requisit  ausgeholfen 
haben:  schwerlich  ein  Altar,  der  aus  gespaltenem  Holz  gebaut  ist, 
wie  er  in  der  Bühnenanweisung  des  Abraham  1558,  KG.  10,  S.  53 
(oder  Opferung  Isaac  1553,  KG.  10,  S.  71)  sachgemäß  verlangt  ist. 
Vielmehr  wird  man  wohl  eine  mit  Steinfarbe  angestrichene  Kiste 
benutzt  haben,  so  wie  in  der  Auferweckung  Lazari  1551,  KG.  11, 
S.  251  auch  der  Stein  vom  Grabe  des  Lazarus  als  Requisit  genannt 
wird.  Diese  Fähigkeit,  mit  Steinfarbe  ausgestattete  Requisiten  aus 
Holz  oder  dergl.  herzustellen,  muß  endlich  auch  dem  Drama  Perseus 
mit  Andromeda  1558,  KG.  13,  S.  437  zugute  gekommen  sein.  Hier 
wird  die  Versteinerung  des  Atlas  durch  das  Haupt  der  Medusa  vor 
den  Augen  der  Zuschauer  wenngleich  auf  eine  recht  naive  Art  vor- 
gestellt: Perseus  helt  ihm  das  haubt  Medusa  für ;  Atlas  fleucht,  kumbt 
wider,  ist  ein  großer  berg.  Der  Darsteller  des  Atlas  muß  also  abgehen, 
um  sich  hinter  dem  Vorhang  ein  einigermaßen  bergartig  erscheinen- 
des Requisit  über  den  Kopf  zu  stülpen.  Dieser  letzte  Fall  zeigt 
übrigens  wieder  mit  schlagender  Deuthchkeit,  wie  sehr  diese  Bühnen- 
anweisungen Hans  Sachsens  aufs  Theatralische  gestellt  sind. 

Eine  weitere  Gruppe  von  Requisiten,  denen  gegenüber  doch 
zuerst  die  Frage  erörtert  werden  muß,  inwiefern  hier  Nachahmung 
an  Stelle  der  Verwendung  der  Wirklichkeit  notwendig  war,  sind 
die  Tiere.  In  der  Göttin  Circe  1550,  KG.  12,  S.  69  kann  Hans  Sachs 
von  seiner  Bühne  eine  völlige  Verwandlung  von  Menschen,  wie  wir 
sie  eben  1558  beim  Atlas  beobachtet  haben,  noch  nicht  verlangen: 
indem  Circe  die  Gefährten  des  Odysseus  zu  Schweinen  verzaubert, 
fordert  die  Bühnenanweisung:  sie  deckt  sie  murmlent  mit  eim  tuch, 
so  gewinnen  sie  sewrüssel.  Diese  sewrüssel,  die  sich  die  Darsteller 
unter  dem  Tuch  anzustecken  hatten  und  die  hier  noch  als  Symbol 
der  ganzen  Tiergestalt  genügen  müssen,  sind  sicherlich  nicht  wirk- 
liche Fleischteile  von  toten  Schweinen  gewesen,  sondern  irgendwie 
aus  bemaltem  Holz  oder  dergl.  hergestellt.  Ebensowenig  wird  man 
in  der  Kleopatra  1560,  KG.  20,  S.  229  eine  lebendige  Schlange  ver- 
wendet haben;  eher  schon  ist  es  möghch,  daß  Pamphilus  im  Mar- 
schalk mit  seinem  Sohn  1556,  KG.  13,  S.  68  ein  wirkliches  blutiges 
Kalb  im  Sack  getragen  hat.  Wenn  Simson  in  dem  Drama,  dessen 
Held  er  ist,  1556,  KG.  10,  S.  199  mit  einem  böcklin  eingeht,  so  war 
vielleicht  auch  hier  ein  lebendiges  Tier  zu  verwenden;  wie  stand 
es  mit  der  Darstellung  des  Widders  in  der  Opferung  Isaac  1553, 
KG.  10,  S.  74  (=  Abraham  1558  ibid.  S.  56),  der  nur  am  Schluß  des 
Stückes  einen  Augenblick  sichtbar  wird?  Pferde  auf  die  Bühne  zu 
bringen,  hat  der  Dichter  ganz  vermieden,  nicht  weil  sie  nicht  nach- 
zubilden, sondern  weil  sie  für  die  unbedeutende  Bühnengröße  zu 
gewaltig  gewesen  wären ;  und  noch  weniger  natürlich  führt  er  einen 
Elephanten  vor,  wo  es  der  Stoff  wünschenswert  machte:  im  König 
Sedras  1560,  KG.  16,  S.  169  ff.  werden  dem  Helden  alle  möghchen 


Tiere  auf  der  Büline.  85 

Geschenke  überbracht,  darunter  zwei  weiße  Rosse  und  ein  Elephant; 
aber  nicht  nur  werden  diese  in  den  Bühnenanweisungen  im  Gegen- 
satz zu  den  andern  Gaben  nicht  genannt,  sondern  es  heißt  in  der  Rede 
des  den  Elephanten  überbringenden  Boten  ausdrücklich :  Dein  knecht 
das  unten  empfangen  han.  Anders  dagegen  steht  es  mit  den  Hunden. 
Zweimal  werden  in  Hans  Sachsens  dramatischen  Arbeiten  Hunde 
von  der  szenischen  Bemerkung  verlangt,  einmal  in  der  Beritola  1559 
KG.  16,  S.  108:  Der  jeger  blest.  Die  hund  lauffen,  und  Beritola 
lauft  aus  der  holen,  wehret  mit  eim  reifi  vor  den  hunden,  der 
jeger  nimbt  die  hund  zu  ihm,  und  im  Esopus  1560  KG.  20,  S.  133: 

Esopus  rufft  dem  hund Das  hündlein  nagt  das  diech  ab. 

Hier  zeigt  sich  deutlich,  daß  an  künstliche  Hunde  nicht  zu  denken 
ist,  da  sie  ja  agieren  müssen;  anderseits  ist  es  mit  Hunden  auf  der 
Bühne,  die  leicht  zu  wenig  und  leicht  auch  zu  viel  tun  können, 
eine  gefährliche  Sache.  Bezeichnend  aber  scheint  es  zu  sein,  daß 
diese  beiden  Dramen  aus  zwei  aufeinanderfolgenden  Jahren:  1559 
und  1560  stammen:  offenbar  hatte  man  um  diese  Zeit  ein  paar  be- 
sondere gut  dressierte  Tiere  zur  Verfügung.  So  sehen  wir  also  im 
ganzen  keine  Einheitlichkeit  in  bezug  auf  die  Darstellung  der  Tiere, 
sondern  künstliche  und  wirkliche  durcheinander.  Durchaus  entspricht 
das  wieder  der  mittelalterlichen  Tradition:  auch  in  den  geistlichen 
Dramen  der  vorangehenden  Jahrhunderte  hatte  man  wirkliche  Tiere 
und  daneben  bloße  Nachbildungen  vorgeführt,  die  ersteren  um  so 
leichter,  als  dort  ja  bei  der  Darstellung  auf  dem  öffentlichen  Markt- 
platz jene  Rücksichtnahme  auf  die  Größenverhältnisse  der  Bühne 
fortfiel.  Dort  kommen  also  die  heiligen  drei  Könige  und  andere 
auch  ruhig  auf  Pferden  geritten,  dort  ist  im  Benediktbeurer  Weih- 
nachtsspiel Balaams  Esel  offenbar  ein  wirkhcher  Grauschimmel, 
denn  er  redet  nicht.  Bei  der  Vorführung  der  Sintflut  und  ander- 
wärts werden  wirkliche  Tauben  und  andere  Vögel  verwendet.  Da- 
gegen spricht  im  Alsfelder  Passionsspiel  der  Hahn,  in  dem  Wolfen- 
büttler  Sündenfalle  die  Schlange:  hier  kann  es  sich  also  nur  um 
künstliche  Tiernachbildungen  gehandelt  haben,  in  denen  mensch- 
liche Darsteller  steckten').  Die  gleiche  Doppelheit  der  Darstellung 
finden  wir  dann  auch  im  16.  Jahrhundert  in  den  Luzerner  Bühnen- 
rodeln: für  Abels  Opfer  wird  ein  hölzernes  Lamm,  das  mit  Hobel- 
spänen angefüllt  ist  und  darum  leicht  brennt,  oder  gar  ein  baum- 
wollenes Tier  1545  und  1583  verlangt^).  Zur  Darstellung  der  Seele 
des  Judas  wird  im  Anschluß  an  eine  ganz  übereinstimmende 
mittelalterliche  Tradition •')  ein  Hahn  gefordert,  und  die  Bühnenrodel 
betonen  ausdrücklich:  ein  gerupfften  lebenden  hanen.  Am 
deuthchsten  ist  es  1560  bei  der  „Rüstung"   des  Abraham,  wo  ein 

1)  Vgl.  Heinzel  a.  a.  O..  S.  34  ff.,  S.  194. 

2)  Germania  30,  S.  207,  327. 

3)  Vgl.  Heinzel,  S.  104. 


86  Tiere  und  Kinder  auf  der  Bühne. 

Esell  und  ein  gmachter  Wider  unterschieden  werden.  Daß  man 
aber  nicht  nur  auf  die  Marktbühne  des  alten  Spiels,  sondern  auch 
auf  den  Schauplatz  des  neuen  bürgerlichen  Dramas  zu  Hans  Sachsens 
Zeit  wirkliche  lebendige  Tiere  führte,  beweist  eine  szenische  Be- 
merkung in  jenem  Hiob-Drama  des  Johannes  Narhamer  aus  dem 
Jahre  1546,  das  wir  uns  schon  bei  der  Behandlung  der  Dekorationen 
einmal  zunutze  gemacht  haben  i).  Hier  heißt  es  ausdrückhch 
(fol.  B  IVa):  einer  blest  Fewer  aus  au  ff  die  Schaf,  der  man  denn 
iij  oder  iiij  auffm  Palast  mus  haben  .  .  .  und  weiter  vnd  treiben 
das  Vihe  weg,  wie  man  dann  ein  Kalp  oder  zwei/  also  das  die 
Hirten  beg  ihn  fuhren  haben  m^s. 

Mit  der  auf  solche  Art  erledigten  Frage  nach  der  Vorführung 
von  Tieren  ist  das  Problem  der  Darstellung  ganz  kleiner  Kinder 
nahe  verwandt.  Sie  spielen  in  Hans  Sachsens  Drama  eine  große 
Rolle;  meist  wird  ausdrücklich  vorgeschrieben,  daß  sie  gewickelt 
sind,  z.  B.  in  der  Unschuldigen  Kaiserin  1551,  KG.  8,  S.  142,  in  der 
Kindheit  Mose  1553,  KG.  10,  S.  84;  im  Abraham  1558,  KG.  10,  S.  43; 
im  Cyrus  1557,  KG.  13,  S.  297  wird  das  Kind  gewickelt  gebracht, 
S.  300  decken  der  Hirt  und  seine  Frau  es  auf.  In  allen  diesen  Fällen 
wird  man  zweifeln  können,  ob  irgend  eines  Meistersingers  Frau 
ihren  Säugling  hier  für  die  Theaterzwecke  hergegeben  hat;  un- 
möglich wäre  es  nicht.  Wenn  dagegen  in  der  Zerstörung  Jerusa- 
lems 1555,  KG.  11,  S.  330  es  von  Sabina  heißt:  sie  küst  das  kindt, 
schneidt  ihm  darnach  die  kälen  ab  mit  vmbgewenten  angesichts  so 
wird  man  sicherlich  der  Ansicht  sein,  daß  hier  eine  Puppe  zur 
Verwendung  gekommen  ist.  Zwar  werden  auch  Personen,  die  ganz 
bestimmt  durch  wirkliche  Darsteller  verkörpert  worden  sind,  auf 
der  Bühne  vor  den  Augen  des  Zuschauers  scheinbar  getötet,  die 
Zunge  wird  ihnen  ausgeschnitten  und  dergl.  mehr;  aber  wenn  sich 
solche  Scheinverletzungen  mit  Erwachsenen  leicht  ausführen  ließen, 
so  war  es  doch  sicherlich  zu  gefährlich,  an  hilflosen  Kindern  mit 
immerhin  gefährlichen  Waffen  und  noch  dazu  mit  vmbgewenten 
angesicht  herumzuhantieren.  Völlig  'entscheidend  aber  sind  die 
Bühnenanweisungen  in  der  Empfängnis  und  Geburt  Johannis  und 
Christi  1557,  KG.  11,  S.  194,  wo  es  u.  a.  heißt:  Der  knecht  reist 
das  kind  bey  dem  kopff  von  ir,  stößt  sie  hinweg  .  .  .  Er  schlecht 
das  kindt  an  ein  wandt,  durchsticht  es,  lest  es  liegen.  —  Dagegen 
ist  für  die  Darstellung  des  dreijährigen  Knaben  in  der  Kindheit 
Mosis  1553,  KG.  10,  S.  92  unbedingt  ein  Kind  verwendet  worden: 
der  kleine  Moses  hat  zwar  nicht  zu  sprechen,  aber  zu  agieren. 
Fragen  wir  nun  auch  hier  wieder  nach  dem  Verhältnis  zur  mittel- 
alterlichen Theatertradition,  so  lassen  uns  die  szenischen  Bemerkun- 
gen der  geistlichen  Dramen  insofern  im  Stich,   als  nirgendswo  mit 

1)  Vgl.  o.  S.  (iSf.  Der  Sclinuplatz  muß  liit-r  allerdings  die  Nürnberger  Bühne  an  (iröße 
wesentlich  übertroffen  haben. 


Kinder  auf  der  Bühne.    Das  Schiff.  87 

Sicherheit  auf  die  Verwendiintr  von  wirklichen  Kindern  oder  Puppen 
ein  Schluß  getan  werden  kann').  Lehrreich  sind  dagegen  wieder 
die  Luzerner  Aufführungen  des  16.  Jahrhunderts.  In  einem  Bühnen- 
rodel vom  Jahre  1583  ist  für  die  vier  Weiber,  deren  Kinder  Herodes 
ermorden  läßt,  die  folgende  Rüstung  vorgeschrieben :  Sie  sond 
ouch  haben  jre  Wiegen  und  die  gemachte  Kindlin;  dagegen  wird 
für  Maria   angegeben :    zur  Wiehnacht  sol   sij   ein  suhers  Knäblin 

haben,  vngefadich  Ijärig  in  einem  schönen  Hemmetlin '). 

Auf  der  Lyoner  Darstellung  jener  Szene  der  Terenzischen  Andria, 
in  der  das  Kind  auf  die  Straße  gelegt  wird,  und  die  wir  vielleicht 
heranziehen  dürfen,  w^eil  wir,  wie  im  zweiten  Teil  dieses  Buches 
gezeigt  wird,  für  den  Lyoner  Terenz  Zusammenhang  mit  dem  wirk- 
lichen Theater  annehmen  können,  läßt  sich  zwar  dem  Wickelkind 
selber  nicht  ansehen,  ob  ein  wirklicher  Säugling  oder  eine  Puppe 
gemeint  ist;  der  Umstand  aber,  daß  ihm  fürsorglich  ein  Zweig  unter- 
gelegt ist,  läßt  wohl  darauf  schließen,  daß  der  Künstler  ein  leben- 
diges Kind  im  Sinne  hatte.  —  Im  ganzen  werden  wir  sagen  dürfen : 
wenn  wir  bei  Hans  Sachs  nicht  in  allen  Fällen  mit  Sicherheit  ent- 
scheiden konnten,  um  was  es  sich  handelte  und  anderseits  neben 
der  zweifellosen  Verwendung  von  Puppen  doch  ebenso  zweifellos 
wenigstens  ein  dreijähriges  Kind  die  Bühne  beschreiten  sahen,  so 
entspricht  dieser  schwankende  Zustand  offenbar  den  auch  sonst 
herrschenden  Theaterverhältnissen  jener  Zeit. 

In  all  den  bisher  erörterten  Fällen  handelte  es  sich  um  die  Art 
und  Weise,  auf  die  sich  die  Nürnberger  Bühne  mit  der  Darstellung 
der  für  die  Handlung  unbedingt  notwendigen  Requisiten  abfand. 
Sie  brachte  es  aber  wenigstens  in  einem  Falle  soweit,  auch  der 
Schaulust  des  Publikums  auf  dem  Gebiete  der  Requisiten  kurz  vor 
dem  Abschluß  der  Hans  Sachsischen  Tätigkeit  eine  entschiedene 
Konzession  zu  machen.  Diese  Konzession  bezieht  sich  auf  die  Vor- 
führung eines  wirklichen  Schiffes.  Wie  der  Dichterregisseur  auch 
dort,  wo  der  Stoff  die  Verwendung  eines  Schiffes  nahe  legte,  sich 
ohne  entsprechendes  Requisit  zu  helfen  vermochte,  zeigt  deutlich 
das  Drama  Die  Unschuldige  Kaiserin  vom  Jahre  1551 :  KG.  8,  S.  146. 
Hier  ist  nach  dem  früher  bei  der  Behandlung  der  Dekorationen 
erörterten  Verfahren  im  Dialog  sehr  viel  vom  Schifflein  die  Rede, 
und  wir  erblicken  den  schiffmann  mit  seinem  rüder;  die  Szene  auf 
dem  Schiff  selber  aber  ist  vermieden,  und  wir  sehen  den  Schiffs- 
mann nur  auftreten  und  nachher  wieder  abgehen.  Ganz  anders 
aber  wird  es  seit  dem  Jahre  1559.  Im  August  vollendet  Hans  Sachs 
seine  Beritola;  hier  wäre  (KG.  16,  S.  105  ff.)  jenes  eben  charak- 
terisierte Verfahren  wieder  sehr  gut  am  Platze  gewesen.    Tatsäch- 

1)  Wieso  Heinzel,  Beschreib,  d.  geistl.  Schausp..  S.  33  mit  solcher  Sicherheit  Puppen 
einsetzt,  ist  mir  nicht  begreiflich. 

2)  Vgl.  Germania  30,  S.  382  f. 


88  Das  Schiff. 

lieh  aber  heißt  es  in  der  szenischen  Bemerkung:  Beritola  kombt 
mit  dem  schiff  und  nachher:  Beritola  küsset  die  knaben  und  steigt 
aiiß  dem  schiff.  Sie  fahrn  mit  dem  schiff  ab.  Und  aus  dem  da- 
zwischenUegenden  Dialog  sehen  wir,  daß  sich  auf  diesem  Schiff 
außer  Beritola  auch  die  Amme  mit  Beritolas  beiden  Kindern  be- 
funden haben  muß.  Gleich  im  Oktober  desselben  Jahres  nutzt  nun 
Hans  Sachs  in  der  Komödie  Wilhalm  von  Orlientz  das  neuge- 
schaffene Requisit  wieder  aus;  der  verwundete  Held  kommt  zum 
Fährmann,  der  ihn  übersetzen  soll,  und  während  es  für  die  Handlung 
vollkommen  gleichgültig  ist,  ob  diese  Überfahrt  sich  vor  unsern 
Augen  vollzieht,  während  Hans  Sachs  in  früheren  Jahren  den 
Helden  mit  dem  Fährmann  einfach  hätte  abgehen  lassen,  heißt  es 
hier  (KG.  16,  S.  82)  von  Wilhalm:  er .  .  tritt  ins  schiff,  fehrt  mit  im 
ab.  Zum  dritten  Mal  bekommt  das  Publikum  dann  das  beliebt  ge- 
wordene Schaustück  in  der  Kleopatra  des  Jahres  1560  zu  sehen. 
Die  Seeschlacht  bei  Actium  wird  hier  zwar  (KG.  20,  S.  217  f.)  in  der 
gewöhnlichen  Weise  als  Landkampf  dargestellt;  zum  Schluß  aber 
steht  in  der  szenischen  Bemerkung:  Da  schlagen  sie  lang  an  ein- 
ander, in  dem  fehret  die  königin  darvon.  Offenbar  hat  sie  während 
des  Kampfes  in  jenem  Schiffsrequisit  gesessen,  das  man  sich  in 
all  den  drei  gekennzeichneten  Fällen  so  vorzustellen  hat,  daß  ein 
schiffähnliches  Ding  auf  Rädern  durch  den  hinteren  Vorhangsspalt 
ein  Stückchen  auf  die  Bühne  hinausgeschoben  und  dann  wiederum 
von  hinten  zurückgezogen  wird.  —  Dieser  ganzen  Theorie,  daß  es 
sich  hier  wieder  einmal  um  eine  Vervollkommnung  eines  szenischen 
Apparates  handelt,  die  erst  in  die  letzten  Jahre  von  Hans  Sachsens 
Regisseur-Tätigkeit  fällt,  scheint  nun  freilich  e  i  n  Drama  im  Wege 
zu  sein:  der  Prophet  Jonas  aus  eben  jenem  Jahre  1551,  in  welchem 
wir  Hans  Sachs  vorhin  noch  durchaus  ohne  Schiffsrequisit  aus- 
kommen sahen.    Hier  heißt  es  gleich  im  ersten  Akt  (KG.  11,  S.  82  ff.): 

Beliis,  der  erst  schiffmann  im  schiff,   spricht Jona  gibt  im 

gelt  und  steigt  in  das  schiff Sie  faren  heriimb Sie 

werffen  Jona  auß  dem  schiff Sie  faren   dahin  im  schiff. 

Mir  scheint  aber  diese  ganze  Darstellung  nicht  ursprünglich  zu  sein. 
Die  komplizierte  Technik,  mit  deren  Hilfe  das  Schiff  hier  auf  der 
ganzen  Bühne  herumfahren  könnte,  wäre  dem  bescheideneren  Ver- 
fahren der  späteren  Jahre  sogar  weit  überlegen.  Wie  man  Jonas  aus 
diesem  Schiff  in  den  Walfischbauch  werfen  soll,  aus  dem  er  dann 
im  Anfang  des  nächsten  Aktes  herauskommt,  ist  auch  nicht  recht 
begreiflich.  Daß  es  mitten  in  der  geschilderten  Szene  von  dem 
einen  Schiffer,  der  doch  auf  dem  Fahrzeug  sitzen  muß,  plötzlich 
heißt:  Balim,  der  ander  schiff  mann,  kummet .  .  .widerspricht  auch 
durchaus  der  Situation.  Dagegen  ist  im  Dialog  dieser  Szene  so 
viel  vom  Schiff  die  Rede,  daß  wir  durchaus  an  des  Dichters  Kunst- 
griff erinnert  werden,  das  nicht  Vorgestellte  durch  häufige  Nennung 


Das  Schiff.  '  89 

des  Wortes  in  der  Phantasie  der  Zuschauer  aufsteigen  zu  lassen. 
Endlich  wäre  es  doch  ganz  unbegreiflich,  wenn  Hans  Sachs  ein 
vorhandenes  und  so  ausgezeichnetes  Requisit  in  der  Zwischenzeit 
zwischen  1551  und  1559  auch  da  nicht  verwendet  haben  sollte,  wo 
der  Stoff  es  im  äußersten  Maße  wünschenswert  erscheinen  ließ, 
also  z.  B.  im  Tristan-Drama  vom  Jahre  1553.  Haben  wir  nun  aber 
irgendwie  die  Möglichkeit,  eine  nachträgliche  Redaktion  des  Pro- 
pheten Jonas  zu  behaupten?  Dieses  Stück  liegt  uns  nur  in  der 
Fassung  der  Folio-Ausgabe  vor,  Hans  Sachsens  Handschrift  ist  ver- 
loren, und  wir  haben  als  Rest  der  etwaigen  ursprünglichen  Gestalt 
nur  die  Eintragung  in  des  Dichters  General-Register.  Hier  zeigt 
sich  nun  zwar,  daß  am  Dialog  kaum  etwas  Wesentliches  verändert 
sein  wird,  da  die  Anzahl  der  Verse  die  gleiche  geblieben  ist;  wohl 
aber  sind  die  ursprünglichen  fünf  Akte  jetzt  in  vier  verwandelt,  in 
den  szenischen  Bemerkungen  sind  also  Veränderungen  vorge- 
nommen, und  wir  haben  somit  durchaus  das  Recht,  jene  auf  das 
Schiff  bezüglichen  Angaben  für  interpoliert  zu  erklären.  Die  Bühne 
wird  ursprünglich,  wie  es  dann  z.  B.  auch  im  Tristan  der  Fall  ist, 
während  längerer  Zeit  einfach  das  Verdeck  des  Schiffes  dargestellt 
haben,  das  sich  der  Zuschauer  nach  den  Andeutungen  des  Dialogs 
zurechtzulegen  hatte.  Unter  dieser  Voraussetzung  sind  die  szeni- 
schen Vorgänge  jenes  Aufzuges,  die  auf  dem  doch  unbedingt  nur 
kleinen  Schiffsrequisit  unmöglich  hätten  dargestellt  werden  können, 
zwanglos  zu  erklären,  nun  ist  vor  allem  jenes  kummet  begreiflich, 
und  wenn  Jonas  aus  dem  Schiff  geworfen  wird,  heißt  das  nichts 
anderes  als:  er  wird  nach  der  früher  öfter  erörterten  Art  in  die 
von  uns  entdeckte  Altarraumtür  gestoßen,  aus  der  er  dann  im 
nächsten  Akte  wieder  auftaucht,  als  käme  er  aus  dem  Walfisch- 
bauch. Die  redaktionelle  Arbeit  Hans  Sachsens  aber,  bei  der  er 
das  Jonasdrama  für  die  Aufnahme  in  die  Gesamtausgabe  seiner 
Werke  zurecht  machte,  fällt  in  das  Jahr  1561,  in  die  Zeit  also,  in 
der  er  eben  die  Wirkung  jenes  neuen  Requisits  in  drei  Fällen  er- 
probt hatte;  es  mußte  ihm  also  nahe  liegen,  hier  nachträglich  ein 
paar  szenische  Anweisungen  einzuschieben,  die  das  Schiff  nun  auch 
dem  älteren  Drama  dienstbar  zu  machen  suchten. 

Ein  einigermaßen  ähnliches  Requisit  hat  auch  die  mittelalter- 
liehe Bühne  schon  gekannt,  insofern  die  Arche  Noae  als  ein  großes 
Boot  vorgestellt  wurde  0 ;  den  Kahn,  der  bei  der  Züricher  Aufführung 
des  , Wilhelm  Teil  verwendet  worden  ist,  werden  wir  in  diesem 
Zusammenhange  nicht  nennen  dürfen,  weil  es  sich  hier  um  ein 
wirkhches  Boot  gehandelt  haben  wird,  das  auf  dem  Wasser  schwamm. 
Daß  aber  die  Technik  um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  imstande 
war,  eine  solche  auf  Rädern  gehende  Schiffsnachbildung  herzustellen. 


1)  Vgl.  He  inzel,  S.  32. 


90  Feuerwerk. 

brauchen  wir  nicht  nur  als  selbstverständhch  anzunehmen:  ein 
Einzelblatt  z.  B.,  das  uns  den  Brüsseler  Festzug  bei  der  Totenfeier 
für  Karl  V.  im  Jahre  1558  vorführti),  gibt  uns  eine  deutliche  Vor- 
stellung davon,  wie  ein  solches  auf  Rädern  laufendes  Schiffsmodell 
ausgesehen  haben  mag. 

Und  da  wir  nun  hier  von  einem  Schaustücke  gesprochen  haben, 
so  mag  anhangsweise  gleich  auch  vom  Feuerwerk  die  Rede 
sein,  das  ja  streng  genommen  zu  den  Requisiten  nicht  gehört. 
Wenn  wir  den  Begriff  Feuerwerk  sehr  weit  fassen,  so  enthält 
auch  der  HS.  eine  dahingehörige  Stelle.  In  der  großen  Bühnen- 
bemerkung nach  Vers  198,  in  der  Sewfrids  Kampf  mit  dem  Höhlen- 
drachen geschildert  wird,  heißt  es :  der  trach  geit  die  fluecht,  lauffen 
paid  ab.  Daus  macht  Sewfrid  ain  rawch,  sam  verprenn  er  den 
trachen.  Der  Rauch  mußte  also  für  den  Zuschauer  sichtbar  hinter 
dem  die  Bühne  abschließenden  Vorhang  aufsteigen;  es  war  immer- 
hin einigermaßen  feuergefährlich,  in  dem  engen  Raum  zwischen 
Vorhang  und  Altar  eine  derartige  Manipulation  vorzunehmen.  Wie 
man  sich  geholfen  hat,  zeigt  eine  szenische  Bemerkung  im  Alexan- 
der 1558  (KG.  13,  S.  518),  wo  der  weise  Calanus  hinter  der  Szene 
sich  selbst  den  Flammentod  gibt :  Da  mag  man  aussen  mit  nassem 

stro  ein  rauch  machen,  samb   verbren  er  sich Aber  auch 

größere  Anforderungen  werden  gestellt,  zu  deren  Ausführung 
eine  wirkliche  Feuerwerkskunst  gehört.  Im  Gideon  1556  (KG.  10, 
S.  151)  lesen  wir:  Gideon  setzt  korb  vnd  hafen  nider,  geust  die  brü 
auß;  der  enget  rürts  mit  dem  stab  an,  geht  fewr  raus,  und  im 
Abraham  1558  (KG.  10,  S.  35)  heißt  es  beim  Untergang  Sodoms: 
Nach  dem  fecht  es  an,  regnet  fewer. 

Von  den  Feuerwerkskünsten  des  mittelalterlichen  Theaters 
wissen  wir  wieder  nichts  zu  sagen;  Donner  und  BHtz  wird  hier 
allerdings  vielfach  verlangt^,  aber  über  das  Wie  der  Ausführung 
ist  nichts  gesagt.  Hans  Sachs  scheint  für  die  Darstellung  des  Ge- 
witters die  Pyrotechnik  nicht  bemüht  zu  haben;  wenigstens  heißt 
es  in  Romus  und  Remulus  1560  (KG.  20,  S.  180) :  Da  machet  man 
ein  gerümpel  als  ob  es  donner  und  ein  vngestiimm  weiter  sey, 
dasselbe  „Gerümpel",  das  auch  andere  akustische  Hergänge  hinter  der 
Bühne  andeuten  muß;  im  Simson  1556  (KG.  10,  S.  213)  z.  B.  steht: 
Der  knab  führt  Simson  hin;  denn  wirt  ein  groß  gerümpel,  samb 
falle  das  rathauß  ein,  und  ebenso  werden  im  Josua  1556  (KG.  10, 
S.  108)  Jerichos  Mauern  umgeblasen:  Die  statt  feit  mit  gerümpel. 
Die  Schweizer  Bühnenrodel  aus  dem  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
empfehlen  für  pyrotechnische  Zwecke  besonders  ein  Pulver,  das 
man  in  Mailand  ausgezeichnet  herzustellen  verstände^).    Narhamers 

1)  Abgebildet  bei  Hymans,  Bruxelles  ä  travers  les  ät^es  1881.   1,  S.  81. 

2)  Vgl.  Heinzel,  S.  32. 

3)  Brandstetter,  Die  Regenz  bei  den  Luzerner  Osterspielen  1886,  S.  11. 


F"euenverk.    Herbeischaffung  der   Requisiten.  91 

Hiobdrama  vom  Jahre  1546  liefert  auch  wieder  einen  kleinen  Beitrag; 
hier  heißt  es  (fol  Aviija)  bei  der  Schilderung  von  Hiobs  Opfer:  Jetzt 
bet  er  zu  Gott  und  thiit  sein  opffer,  wie  man  das  von  Wollen,  oder 
Flachs,  mag  zurichten,  das  vom  Fewer  so  es  angezündet,  inn  die 
höhe  geführt. 

Im.  übrigen  scheint  die  Geschichte  der  Feuerwerkskunst  noch 
ganz  ungeschrieben  zu  sein.  Daß  diese  Kunst  aber  in  Nürnberg 
zu  Hans  Sachsens  Zeit  schon  auf  einer  ansehnlichen  Höhe  sich  be- 
fand, die  es  dem  Regisseur  ermöglichte,  Feuer  regnen  und  aus  einer 
Flüssigkeit  eine  Flamme  hervorgehen  zu  lassen,  entnehmen  wir  nicht 
nur  jener  oben  zitierten  Stelle  aus  Hans  Sachsens  Gedicht  über 
Karls  V.  Einzug  in  Nürnberg i);  ein  bildender  Künstler  jener  Periode, 
der  während  des  letzten  Teils  der  theatralischen  Tätigkeit  Hans 
Sachsens  nach  Nürnberg  kam,  Jost  Amman,  hat  uns  ein  Blatt  hinter- 
lassen, auf  dem  ein  Feuerwerk  dargestellt  ist,  welches  im  Jahre  1570 
auf  der  Burg  zu  Nürnberg  stattfand");  hier  sehen  wir  verschieden- 
artige Raketen  steigen,  die  durchaus  mit  den  heutigen  Leistungen 
auf  diesem  Gebiete  übereinzustimmen  scheinen. 

Nachdem  wir  so  hinsichtlich  der  Requisiten  die  Materialfrage 
behandelt  haben,  treten  wir  nun  an  die 

Lokal-   und   Personalfrage 

heran.  Wer  bringt  die  Requisiten  auf  die  Bühne  und  woher  werden 
sie  gebracht?  Am  einfachsten  steht  es  jedenfalls  um  diejenige 
Gattung  von  Requisiten,  die  nicht  vom  Beginn  der  Szene  an,  in  der  sie 
gebraucht  werden,  in  dem  Räume  sich  befinden  dürfen,  den  die  Bühne 
gerade  darstellt.  In  diesem  Falle  müssen  sie  also  aus  einem  andern 
Raum  geholt  werden.  Der  Dichter  pflegt  einen  Auftrag  dazu  an 
eine  bestimmte  Person  erteilen  zu  lassen,  und  der  terminus  technicus, 
der  in  diesem  Falle  zur  Anwendung  kommt,  scheint  bringen  zu 
sein.  Hier  steht  es  mit  den  Requisiten  und  mit  der  Art,  in  der  sie 
auf  die  Szene  kommen,  nicht  anders  als  mit  den  Personen,  die  erst 
während  der  Szene  hinzugeholt  werden,  und  auch  in  bezug  auf 
sie  kommt  der  Ausdruck  bringen  zur  Verwendung.  Das  sehen 
wir  auch  im  HS.,  wo  es  nach  v.  99  heißt:  Der  herolt  naigt  sich,  get 
ab,  pringt  Sewfrid  und  nach  v.  252 :  Der  herolt  pringt  Crimhilden. 
In  diesen  beiden  Fällen,  die  wir  nicht  durch  analoge  aus  andern 
Dramen  vermehren  wollen,  treten  Sewfrid  oder  Crimhild  mit  dem 
Herold  durch  den  Hintervorhang  oder  durch  die  Sakristeitür  auf 
die  Bühne.  —  Bringen  steht  auch  dort,  w^o  nicht  eine  auf  der 
Bühne  stehende  Person  den  Befehl  zum  Herbeiholen  einer  Sache 
erteilt,   sondern  wo    der  Auftrag   von    einer  draußen  befindlichen 


1)  Vgl.  oben  S.  63  f. 

2)  Expl.  im  Berliner  Kupferstich-Kabinett;  vgl.  Andresen,  Le  peintre-graveur. 


92  Requisiten:  Lokalfrage. 

Persönlichkeit  ausgeht  oder  wo  die  Herbeischaffung  aus  eigenem 
Antriebe  des  Auftretenden  erfolgt,  der  kurz  vorher  zu  solchem 
Zwecke  die  Bühne  verlassen  hat;  so  im  HS.  nach  v.  679:  Der  zwerg 

pringt  ain  güelden  schalen   mit  confect  und  spricht ferner 

z.  B.  KG.  12,  S.  377,  477,  509;  13,  S.  27.  In  allen  diesen  Fällen  werden 
die  Hauptaufgänge  der  Bühne  benutzt,  ohne  daß  das  der  Phantasie 
der  Zuschauer  irgend  welche  Störung  bereiten  kann. 

Mit  der  weitaus  größeren  Zahl  von  Requisiten  steht  es  anders. 
Sie  befinden  sich  gleich  von  Beginn  der  Szene  an  in  dem  Räume, 
in  dem  diese  spielt,  oder  es  liegt  wenigstens  nichts  daran,  zu  be- 
tonen, daß  sie  erst  herbeigeschafft  werden  müssen :  sie  sind  irgend- 
wo, und  es  kommt  nur  darauf  an,  sie  möglichst  schnell  an  der  be- 
treffenden Stelle  der  Handlung  zur  Hand  zu  haben.  Hier  ist  der 
einfachste  Fall  der,  daß  die  betreffende  Person,  die  den  Gegenstand 
braucht,  ihn  gleich  in  ihren  ersten  Worten  erwähnt  oder  daß  sie 
in  der  vorhergehenden  Szene,  an  der  sie  beteiligt  war,  ihn  in  der 
Hand  tragend  abgegangen  ist.  So  ist  es  im  HS.  z.  B.  vor  v.  193: 
Sewfrid  kiimpt  mit  dem  korb  oder  vor  v.  499:  Der  ries  Kuperan 
tregt  ain  grosen  schluessel;  dieser  Fall  ist  so  häufig,  daß  wir  darauf 
verzichten  können,  die  Beispiele  aus  Hans  Sachsens  sämthchen 
Werken  zusammenzustellen,  und  der  normale  Ausdruck  ist  hier 
durchaus:  kummt  mit  .  .  oder  geht  ein  mit;  fließend  sind  hier 
natürlich  die  Grenzen  nach  der  Seite  des  Kostüms  hin,  da  man  z.  B. 
kaum  noch  wird  sagen  können,  ob  das  Gebetbüchlein,  das  der  Ein- 
siedler mitbringt,  und  sein  Rosenkranz  als  dauerndes  Requisit  be- 
zeichnet oder  zur  Kleidung  gerechnet  werden  müssen.  Hier  wird 
also  das  Requisit  im  Beginn  der  Szene  genannt,  weil  es  eben  sofort 
gebraucht  wird.  Auch  sonst  aber  ist  es  Hans  Sachsens  Prinzip,  in 
der  szenischen  Anweisung  das  Requisit  erst  da  namhaft  zu  machen, 
wo  es  für  die  Handlung  notwendig  wird,  ohne  daß  da  noch  von 
einem  bringen  oder  dergl.  die  Rede  ist. 

Die  Frage  ist  nun  die:  wo  befinden  sich  derartige  Requisiten, 
ehe  sie  gebraucht  werden?  Sollen  wir  annehmen,  daß  vor  dem 
Beginn  jeder  Szene,  in  der  ein  Requisit  zur  Verwendung  kam,  nicht 
zur  Handlung  gehörige  Theaterdiener  erschienen  und  vor  den  Augen 
des  Publikums  das  Requisit  auf  die  durch  keinen  Vorhang  abge- 
schlossene Bühne  stellten?  Die  Frage  ist  wichtig,  denn  wenn  wir 
sie  bejahen  müßten,  würde  es  sich  ergeben,  daß  die  Bühne  der 
Meistersinger  an  die  Phantasie  ihrer  Zuschauer  nicht  nur  die  An- 
forderung stellte,  dorthin  im  Geiste  etw^as  zu  zaubern,  wo  tatsäch- 
lich nichts  war,  sondern  daß  ihr  auch  zugemutet  wurde,  eine  fort- 
währende Illusionsstörung,  ein  ständiges  Herausgerissenwerden  aus 
der  mühsam  geschaffenen  fremden  Welt  auf  sich  zu  nehmen.  Es 
wird  sich  von  vorneherein  empfehlen,  so  lange  es  irgend  angeht, 
nicht  mit  einer  derartigen  Annahme   zu  rechnen,   sondern  zu  ver- 


Requisiten:  Herbeisclialfung.  93 

suchen,  wie  weit  wir  aus  den  szenischen  Verhältnissen  heraus  die 
Lösung  jener  Aufgabe  auf  andere  Art  zu  erklären  vermögen. 

Das  einfachste  Verfahren  war  ganz  gewiß  dies,  daß  der  be- 
treffende Gegenstand,  auch  wo  er  nicht  sofort  im  Beginn  der  Szene 
in  die  Handlung  hineingezogen  wurde,  von  einer  der  auftretenden 
Personen  mitgebracht  ward.  In  sehr  vielen  Fällen  war  das  natür- 
lich auch  dem  Sinn  nach  sehr  gut  möglich.  Daß  z.  B.  im  Alt  reich 
burger  (KG.  12,  S.  131)  der  Vater  beim  Auftreten  den  Wechsel 
schon  in  der  Hand  hält,  den  er  dann  seinem  Schuldner  Lamprecht 
bei  der  Rückgabe  der  entliehenen  Summe  wieder  zustellt,  bedeutet 
keine  Zumutung  an  den  Intellekt  der  Zuhörer,  da  wir  alsbald  hören, 
daß  er  den  Schuldner  an  diesem  Tage  erwartet  hat.  So  mag  auch 
Frau  Glück  im  Fortunatus  (KG.  12,  S.  192  ff.)  den  Glücksseckel, 
den  sie  nachher  dem  Helden  übergeben  wird,  von  vornherein  in 
der  Hand  tragen.  Etwas  bedenklicher  ist  es  vielleicht  schon,  wenn 
in  der  Rosamunda  (KG.  12,  S.  406)  König  Albuinus  gleich  mit  jenem 
aus  dem  Schädel  des  Gepidenkönigs  gefertigten  Pokal  erscheint, 
aus  dem  er  nachher  seine  Gemahlin  zu  trinken  zwingt;  da  er  sich 
aber  gleich  in  seiner  ersten  Rede  dieser  Trophäe  rühmt,  wird  es 
auch  nicht  zu  sehr  befremdet  haben,  wenn  er  diesen  Becher  von 
vornherein  in  der  Hand  hielt.  Aber  nicht  in  allen  Fällen  hegt  die 
Möglichkeit  dieses  Verhaltens  vor,  selbst  wenn  wir  eine  kleine  Un- 
wahrscheinlichkeit  mit  in  den  Kauf  nehmen.  Wenn  im  Verlauf 
einer  Unterredung  ein  Gegenstand  gefordert  wird,  an  den  der  Mit- 
unterredner  unmöglich  vorher  schon  gedacht  haben  kann,  so  geht 
es  auch  nicht  an,  ihn  schon  vorher  ihm  in  die  Hand  zu  geben.  So 
steht  es,  um  ein  paar  Beispiele  herauszugreifen,  im  Florio  (KG.  8, 
S.  327),  wo  Florio  im  Gespräch  mit  dem  Herzog  Ascheion  an  ihn 
die  Forderung  stellt:  Gieb  ein  sack  mit  ducaten  her!  und  wo  es 
dann  in  der  szenischen  Bemerkung  heißt:  Hertzog  Ascheion  geit 
im  ein  sack,  oder  im  Alt  reich  burger  (KG.  12,  S.  132),  wo  der 
Vater  von  seinem  Sohne  eine  Goldwage  verlangt,  eine  Forderung 
auf  die  der  Sohn  vorher  unbedingt  nicht  gefaßt  gewesen  sein  kann 
und  die  er  dann  doch  sofort  zu  erfüllen  vermag.  Daß  Hans  Sachs 
auch  in  solchen  bedenklichen  Fällen  gelegentlich  nicht  davor  zu- 
rückscheut, den  betreffenden  Gegenstand  von  vorneherein  mit- 
bringen zu  lassen,  scheint  eine  Stelle  im  Cyrus  (KG.  13,  S.  329)  zu 
zeigen;  hier  heißt  es:  Thomiris,  die  küngin,  kumbt  mit  einer  bälgen 
mit  blut  vnnd  spricht.  Nachdem  sie  dann  in  vierzehn  Versen  den 
Ruhm  ihres  Sieges  verkündet  und  einige  Anweisungen  für  die  Ihrigen 
gegeben  hat,  fährt  sie,  von  dem  Haupte  des  Königs  Cyrus  redend,  fort : 

Bringt  auch  ein  gfeß  mit  mensche nblut, 
Darinn  man  sein  haiibt  trencken  thut, 

sie  gibt  also  den  Befehl  das  herbeizuholen,  was  sie  in  Wirklichkeit 


94  Requisiten:  Herbeischaffung. 

schon  in  der  Hand  hält.     Tatsächhch   aber  wird  hier  wolil  nur  ein 
Versehen  des  Dichters  vorhegen,  er  wird  vergessen  haben,  daß  er 
die  Königin  bereits  mit  jenem  Gefäß  hat  auftreten  lassen.    Darauf 
deutet   auch   eine   nach   weiteren   zehn  Versen   folgende   szenische 
Anweisung:  Sie  stöst  das  todt  haiibt  in  ein  gefeß  mit  blut.    Hans 
Sachs  hätte  nicht  „ein",  sondern  „das"  Gefäß  geschrieben,  wenn 
er  noch  im  Sinne  gehabt  hätte,  daß  es  schon  einmal  erwähnt  war. 
So  werden  wir   für  eine  große  Anzahl  von  Fällen   doch  nach 
einem  andern  Ausweg  zu  suchen  haben.    Woher  nehmen,   um  ein 
charakteristisches  Beispiel  aus  dem  HS.  zu  bringen,  Sewfrids  Mörder 
das  Reisig,   mit  dem  sie  nach  v.  1073  laut  Angabe  der  szenischen 
Bemerkung  seine  Leiche  zudecken?     Gibt   es    einen  Platz   auf  der 
Meistersingerbühne,  der  nicht  eigentlich  draußen  liegt  und  an  den 
die  betreffenden  Gegenstände  doch  erst  im  entscheidenden  Moment 
unauffällig  von  außen  her  gesetzt  zu  werden  brauchen?  Ein  solcher 
Platz  ist  auf  der  von   uns    rekonstruierten  Bühne  tatsächlich  vor- 
handen ;    es  ist  die  Stelle,  die  uns  schon  aus  so  mancher  Verlegen- 
heit geholfen   hat:    die    neuerschlossene   Altarraumtür.      Sie   stellt 
in  der  größten  Mehrzahl  der  Stücke  für  den  Zuschauer  keinen  Auf- 
gang zur  Bühne  und  keinen  Abgang  vor,  ja,  sie  ist  sozusagen  ge- 
wöhnlich überhaupt   nicht  vorhanden:    eine  Öffnung  von  geringer 
Höhe,  die  man  leicht  übersieht.   Von  hier  aus  nun  ließen  sich,  ohne 
daß  die  auf  der  Bühne  befindhchen  Personen  abzugehen  brauchten, 
und  ohne  daß  ein  Theaterdiener  sichtbar  wurde,  beliebige  Gegen- 
stände   im    entscheidenden  Moment  heraufreichen.     Von  hier  also 
konnten   z.  B.  im  HS.  die  drei  Brüder   das  Reisigbündel  nehmen, 
um  Sewfrids  Leiche  zu  bedecken.     Gelegentlich  läßt  sich  sogar  der 
Zusammenhang  dieser  neuen  Aufgabe  der  Altarraumthür  mit  ihren 
sonstigen  Funktionen  deutlich  machen.    Im  Abraham  1558  (KG.  10, 
S.  38)  heißt  es  von  Lots  Töchtern,   die  ihren  Vater  trunken  machen 
wollen:    Die  töchter  nemen   wein  in  ein  giildine  schaln.     Da   wir 
nun  vorher  gehört  haben,    daß  Lot   mit  seinen  Töchtern  in  einer 
Höhle  hauste,  empfahl  es  sich  besonders,  die  beiden  Mädchen  den 
Wein  und  die  Schale  aus  der  Altarraumtür  nehmen  zu  lassen,  die 
ja  auch  sonst,  wie  wir  gesehen  haben,  der  Phantasie  des  Zuschauers 
als  Eingang   zu  einer  Höhle   gelten    mußte.     Wenn    im  Fortunatus 
1553  (KG.  12,   S.  201  f.)  der  Sultan   aus   seiner  Schatzkammer  den 
Wunschhut  herausnimmt,  um  ihn  dem  Fortunat  zu  zeigen,   so  war 
es  gewiß  besonders   praktisch,    daß   er  ihn  aus   jener  Türöffnung 
nahm:    sie  stellte   in  diesem  Falle   zugleich  die  Schatzkammer  dar, 
auf  deren  sonstigen  köstlichen  Inhalt   der  Eigentümer  seinen  Gast 
in  den  der  Überreichung  des  Hutes  vorausgehenden  zwanzig  Versen 
genau    aufmerksam   macht.    Wenn    in  Nabot  1557,    KG.  10,  S.  411 
die   zwei  falschen  Zeugen  den   Angeklagten   mit  Steinen  zu  Tode 
werfen,  so  wird  es  ihnen  um  so  leichter,  die  gemachten  steine  aus 


Requisiten:  Herbeiscliaüung.  95 

der  Altarraumtür  zu  nehmen,  als  sie  ihr  nach  der  ganzen  Bühnen- 
situation offenbar  am  allernächsten  stehen.  Aber  auch  sonst  wird 
die  Verwendung  dieser  Stelle  der  Bühne  fast  aus  allen  Schwierig- 
keiten heraushelfen.  Nun  könnte  man  aber  vielleicht  noch  der 
Meinung  sein,  in  allen  diesen  Fällen,  wo  es  ausgeschlossen  erscheint, 
daß  eine  Person  gleich  im  Beginn  der  Szene  mit  dem  betreffenden 
Requisit  auftritt,  sei  irgend  jemand  hinter  den  Vorhang  ge- 
gangen und  habe  von  dort  den  Gegenstand  herbeigeholt;  es  werde 
also  hier  nicht  anders  verfahren  als  in  denjenigen  Situationen,  für 
die  wir  oben  den  terminus  technicus  bringen  als  bezeichnend 
angesehen  hatten.  Es  läßt  sich  aber  zeigen,  daß  Hans  Sachs  diese 
Bringe-FäWe  von  den  hier  in  Betracht  kommenden  ganz  charakte- 
ristisch und  zwar  nicht  nur  durch  die  Verwendung  jenes  terminus 
unterscheidet.  Während  in  denjenigen  Fällen  nämlich,  wo  jemand 
etwas  zu  bringen  d.  h.  wo  er  die  Bühne  zu  verlassen  und  sie  dann 
erst  wieder  mit  dem  Gegenstand  zu  betreten  hat,  wo  also  durch 
dieses  Herbeischaffen  des  Requisits  im  Dialog  eine  größere  Pause 
entsteht,  der  Dichter-Regisseur  vorher  das  Gespräch  stets  mit  einem 
vollen  Reimpaar  beschließen  läßt^),  finden  wir  in  denjenigen  Situationen, 
um  die  es  sich  hier  handelt,  mit  der  gleichen  fast  vollständigen 
Ausnahmslosigkeit  den  Stichreim  verwendet,  d.  h.  die  Herbeischaffung 
des  Requisits  fällt  zwischen  die  Reden  zweier  Personen,  die  durch 
die  Reime  miteinander  verbunden  sind.  Während  also  in  jenen 
Fällen  die  Möglichkeit  zum  Eintreten  einer  größeren  Pause  gegeben 
ist,  ist  sie  hier  ausgeschlossen.  Die  Verteilung  eines  Reimpaars 
auf  die  Reden  zweier  Personen  wird,  sobald  ein  größerer  Zeitraum 
zwischen  sie  gelegt  wird,  aus  einem  Kunstmittel  zu  einer  Sinnlosig- 
keit; anderwärts  aber-)  ist  gezeigt  worden,  daß  Hans  Sachs  das 
Kunstmittel  des  Stichreims  mit  der  größten  Feinfühligkeit  handhabt. 
Wenn  aber  die  betreffenden  Requisiten  an  der  Altarraumtür,  also 
auf  der  Bühne  selbst  bereit  gehalten  wurden,  so  brauchte  tatsäch- 
lich eine  nennenswerte  Pause  im  Dialog  nicht  einzutreten. 

Wer  das  betreffende  Requisit  herbeilangt,  soll  hier  nicht  aus- 
führlich erörtert  werden:  im  allgemeinen  wird  es  die  betreffende 
Person  sein,  die  mit  dem  Gegenstande  zu  agieren  hat;  unter  Um- 
ständen kann  das  auch  der  König  selbst  sein,  wie  im  Abraham 
1558  (KG.  10,  S.  41),  denn  offenbar  sitzt  der  König  hier  ausnahms- 
weise einmal  nicht.  Wo  das  aber  ;der  Fall  ist  und  wo  wir  also 
nicht  erst  annehmen  mögen,  daß  er  von  dem  Chorstuhl  herunter- 
steigt und  zur  Altarraumtür  sich  begibt,  pflegen  Trabanten  oder 
andere  Personen  auf  der  Szene  zu  sein,  die  ihn  bedienen  können.  — 
Auch  die  Frage:  wohin  wird  das  Requisit  auf  der  Bühne  gestellt,  wenn 

1)  Vgl.  KG.  8,  S.  157,  209;  10,  S.  107.  143,  440;  11,  S.  73;  12,  S.  92,  406;  18, 
S.  329,  517;    15,  S.  64;    16,  S.  173;    20,  S.  199. 

2)  Vgl.  Herrmann,  Hans  Sachs-Festschrift  der  Stadt  Nürnberg,  1894,    S.  407 ff. 


96  Requisiten:  Herbeischatfung. 

es   nicht  in    den  Händen  der  Agierenden  bleibt?   wird  prinzipiell 
nicht  beantwortet  werden  können,   das  wird  vielmehr  von  den  be- 
treffenden Ansprüchen  jedes  einzelnen   Stückes   abhängig  bleiben. 
Im  Jüngling  im  Kasten  1557  (KG.  13,  S.  246 f.)  steht: 
Der  artzet  hat  ein  glaß  mit  wasser  vnnd  spricht: 

Nun  wil  ich  das  tolm-dranck  zu- richten 

Das  er  des  schmertzen  entjjfindt  mit  nichten 

Vnd  wil  in  den  lufft  setzen  das 

Für  das  fenster  in  diesem  glas. 

Er  setzt  das  glas  nider. 

Dieses  Glas  spielt  dann  weiter  noch  eine  entscheidende  Rolle  im 
Stück,  und  es  ist  offenbar  nötig,  daß  es  an  einer  dem  Auge  besonders 
auffallenden  Stelle  steht;  vielleicht  daß  es  wirklich  für  das  fenster 
d.  h.  oben  auf  den  Sims  des  Kirchenfensters  gestellt  worden  ist.  — 
Im  übrigen  kann  umgekehrt  die  Ermittlung,  daß  viele  Requisiten 
aus  der  Altarraumtür  genommen  wurden,  dazu  dienen,  uns  in 
manchen  Szenen  den  Standort  der  mitspielenden  Personen  erkennen 
zu  lassen. 

Vor  allem  aber  scheinen  wir  durch  diese  Ermittlung  nun  so 
weit  gekommen  zu  sein,  daß  wir  kaum  noch  jenes  illusionsstörende 
Auftreten  von  Theaterdienern  anzunehmen  brauchen.  Freilich: 
einige  wenige  Situationen  bleiben  übrig,  in  denen  man  zunächst 
weder  an  ein  Mitbringen  noch  an  ein  Holen  von  jener  Tür  wird 
denken  mögen.  Eine  solche  Situation  findet  sich  gerade  im  HS. 
Hier  steht  mitten  in  der  Szene,  die  uns  den  jungen  Sewfrid  in  der 
Schmiede  zeigt,  nach  v.  153:  Sewfrid  thuet  ain  grawsamen  schlag 
auf  den  ampos.  Wo  kommt  der  Amboß  her?  Der  Amboß  in  der 
Schmiede  pflegt  fest  auf  seinem  Platz  zu  stehen,  und  es  geht  nicht 
gut  an,  daß  ihn  die  Schmiede  im  geeigneten  Moment  erst  aus  der 
Ecke  herbeiholen.  Minder  schwierig  steht  es  wohl  mit  dem  Tisch 
im  Daniel  1557  (KG.  11,  S.  50)  und  im  König  Sedras  1560  (KG.  16, 
S.  173).  In  beiden  Fällen  wird  in  der  szenischen  Bemerkung  aller- 
dings nur  angegeben,  daß  man  den  Tisch  deckt  oder  zurichtet, 
man  wird  wohl  aber  ruhig  annehmen  diu-fen,  zumal  der  geschlossene 
Reim  vorher  eine  Pause  ermöglicht,  daß  der  Tisch  in  beiden  Fällen 
von  des  Königs  Trabanten  nun  erst  von  draußen  hereingetragen 
wird,  so  wie  in  einigen  andern  Fällen  geradezu  vorgeschrieben  ist, 
daß  man  einen  Sessel  hereinbringt.  Als  Bett  im  König  Saul  1557 
(KG.  15,  S.  57)  und  als  Bank  in  der  Cleopatra  1560  (KG.  20,  S.  226) 
diente  vermutlich  der  Chorstuhl.  Das  Jägerhorn,  das  im  vierten 
Akt  des  Wilhelm  von  Oesterreich  1556  KG.  12,  S.  506  plötzlich  am 
Stuhl  hängt,  konnte  wohl  unbemerkt  schon  vom  Beginn  des  Stückes 
an  hinten  am  Chorstuhl  befestigt  sein.  Wenn  im  Hagwarlus  1556 
KG.  13,  S.  241  und  in  der  Arsinoe  1559  KG.  13,  S.  552  die  szenische 


Wegschaffen  der  Requisiten.  97 

Bemerkung  vorschreibt,  daß  geplündert  wird,  so  ist  es  freilich 
vielleicht  etwas  bedenklich,  anzunehmen,  daß  zu  dem  Zwecke  erst 
etwas  aus  der  Altarraumtür  oder  unter  dem  Hintervorhang  weg  auf 
die  Bühne  geschoben  wurde.  Im  ganzen  aber  sind  dieser  nicht 
recht  erklärten  Fälle  so  verschwindend  wenige,  daß  wir  um  ihrer 
allein  willen  nicht  die  Verwendung  illusionsstörender  Theaterdiener 
werden  annehmen  mögen.  Ganz  aus  der  Welt  geschafft  aber  ist 
die  Möglichkeit  ihrer  Existenz  doch  noch  nicht:  wenn  sie  für  das 
Herbeischaffen  der  Requisiten  nicht  gerade  notwendig  sind,  so  könnte 
man  doch  vielleicht  für  das  Fortschaffen  nicht  ohne  sie  ausge- 
kommen sein. 

So  erhebt  sich  die  letzte  Frage:  wie  werden  die  Requisiten  nach 
ihrer  Benutzung  wieder  von  der  Bühne  weggebracht? 

Viel  mehr  noch  als  beim  Herbeischaffen  versagen  hier  die  aus- 
drücklichen Angaben  in  den  szenischen  Bemerkungen.  Als  Haupt- 
regel läßt  sich  aufstellen:  das  Fortschaffen  des  Requisits  wird  vom 
Dichter  nur  in  den  verhältnismäßig  wenigen  Fällen  ausdrücklich 
bemerkt,  wo  in  den  letzten  Worten  des  Dialogs  besonders  vom 
Mitnehmen  die  Rede  ist,  wo  es  dem  Inhalt  der  Handlung  gröblich 
widersprechen  würde,  wenn  die  abgehende  Person  den  betreffenden 
Gegenstand  auf  der  Bühne  stehen  ließe').  Es  zeigt  sich  also,  daß 
in  dieser  Hinsicht  die  szenischen  Bemerkungen  nicht  eigentlich 
theatralisch  sind.  In  vielen  Fällen,  in  denen  das  Abtragen  der 
Gegenstände  theatralisch  ganz  notwendig  ist,  wird  es  nicht  erwähnt. 
Ein  charakteristisches  Beispiel  findet  sich  im  Sedras  1560  (KG.  16, 
S.  172):  der  König  hat  von  fremden  Herrschern  Geschenke  empfan- 
gen und  teilt  sie  nun   alsbald  wieder  aus;    unter    anderm  sagt   er: 

Die  krön  zimt  meiner  köngin  wol, 
Das  purpur  mein  bul  haben  sol. 

Nach  18  weiteren  Versen  heißt  es  dann:  Die  königin  gehet  herein 
in  ihrer  krön  und  deß  königs  bul  im  purpur.  Mindestens  also 
Krone  und  Purpur  müssen  inzwischen  von  der  Bühne  entfernt 
worden  sein;  aber  keine  szenische  Bemerkung  verrät  etwas  darüber. 
Im  allgemeinen  aber  ist  der  Schaden  nicht  groß,  und  die  Ver- 
hältnisse lagen  hier,  rein  theatralisch  betrachtet,  so  einfach,  daß  der 
Dichter  in  seinen  sämtlichen  Bühnenanw^eisungen  nicht  noch  be- 
sonders aufmerksam  darauf  zu  sein  brauchte.  Die  meisten  Requi- 
siten bleiben  während  der  Szene  in  der  Hand  dessen,  der  mit  ihnen 
agiert,  und  es  ist  natürlich,  daß  er  sie  auch  mit  hinaus  nimmt. 
Nicht  beseitigt  zu  werden  brauchten  die  Requisiten  ferner  am  Schluß 
des  Stückes ;  hier  folgte  der  große  Abschiedsaufzug  aller  Mitspielen- 
den, und  da  woirde  dem  Auge  der  Zuschauer  so  viel  geboten,  daß 


1)    Solche  SteUen  sind  KG.  8,  S.  176,  310:  10.  S.  20,  86;  11,  S.  75:  12,  S.  134,  207 
18,  S.  299,  310;  15,  S.  62;  20,  S.  118,  132,  154. 

Herrmann  ,  Theater.  7 


98  Wegschaffen  der  Requisiten,  Abtragen  der  Toten. 

seine  Aufmerksamkeit  von  etwa  noch  rechts  oder  hnks  herumliegen- 
den Gegenständen  abgelenkt  wurde,  die  dann  entfernt  werden 
konnten,  nachdem  das  Publikum  die  Kirche  verlassen  hatte.  So 
können  in  der  Belagerung  Samariae  1552,  KG.  10,  S.  464  die  großen 
Getreidesäcke  ruhig  stehen  bleiben;  so  brauchen  im  Alt  reich 
burger  des  gleichen  Jahres  KG.  12,  S.  140  die  Teppiche  mit  dem 
Schatz,  der  sich  in  Sand  und  Steine  verwandelt  hat,  nicht  fortgetragen 
zu  werden ;  so  bleiben  im  Hagwartus  1556  KG.  13,  S.  241  die  Maien 
liegen,  mit  deren  Hilfe  die  Burg  erobert  worden  ist;  so  wird  in  der 
Cleopatra  1560  KG.  20,  S.  231  niemand  darauf  geachtet  haben,  wenn 
die  Lade,  aus  der  Gift  und  Schlange  genommen  waren,  stehen  blieb ; 
so  brauchte  auch  in  unserm  HS.  nach  v.  1106  niemand  das  Reisig 
zu  beseitigen,  das  auf  Sewfrids  Leiche  gelegen  hatte.  Wenn  aus- 
nahmsweise im  Witfräulein  mit  dem  Ölkrug  1556,  KG.  10,  S.  442 
ausdrücklich  steht:  Sie  tragen  das  öl  aiiß,  und  wenn  im  Abraham 
1558,  KG.  10,  S.  56  (vgl.  S.  74)  zu  lesen  ist:  Die  knecht  kommen, 
nemen  das  holtz,  so  mag  das  darum  geschehen  sein,  weil  das  Öl 
leicht  umgeschüttet,  der  künstlich  geschichtete  Holzhaufen  leicht 
umgeworfen  werden  und  dadurch  Verwirrung  in  den  großen  Schluß- 
aufzug hineinkommen  konnte.  Im  übrigen  sind  stets  am  Schlüsse 
der  Szenen  oder  der  Akte  Personen  auf  der  Bühne,  die  unauffällig 
und  so,  daß  es  ihrer  Stellung  nicht  widerspricht,  ein  etwa  stehen 
gebliebenes  Requisit  mit  herausnehmen  können,  wenn  kein  ande- 
rer da  ist,  wenigstens  der  Ehrenholdt,  der  ja  in  der  Hofsphäre  für 
alle  möglichen  Aushilfsdienste  stets  zur  Hand  sein  muß.  Er  wird 
z.  B.  im  Ahab  1557,  KG.  10,  S.  415  Zepter  und  Krone  fortgebracht 
haben,  die  der  büßende  König  nach  der  Zwiesprache  mit  dem  Pro- 
pheten abgelegt  hat.  Er  wird  nach  der  Beschwörungsszene  des 
Alexander  1558,  KG.  13,  S.  481  das  Becken  fortgetragen  haben,  das 
er  vorher  auch  herbeigebracht  hat.  Höchst  bezeichnend  scheint 
es  mir  zu  sein,  daß  bei  Hans  Sachs  in  denjenigen  Szenen,  die 
nicht  am  Hofe  spielen,  in  denen  der  Ehrenholdt  also  nicht  direkt  zur 
Verfügung  ist,  keine  einzige  Stelle  sich  findet,  wo  wir  über  die  Mög- 
lichkeit, Requisiten  fortzuschaffen,  in  Verlegenheit  geraten  könnten, 
und  jedenfalls  zeigt  es  sich  deutlich :  Hilfskräfte,  die  am  Stück  selbst 
einen  Anteil  nicht  haben,  sind  für  die  Beseitigung  der  Requisiten 
nicht  vonnöten. 

Es  bleibt  aber  in  diesem  Zusammenhang  noch  eine  Frage  zu 
erörtern,  von  der  wir  an  einer  ganz  andern  Stelle  (S.  58  ff.)  schon 
einmal  kurz  gesprochen  haben.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  Fort- 
schaffen von  der  Bühne,  aber  nicht  um  Beseitigung  von  Requisiten, 
sondern  um  das  Abtragen  der  Toten. 

Die  Nonnalform  der  Bühnenanweisung  pflegt  hier,  mag  es  sich 
nun  um  einen  Toten  oder  um  mehrere  handeln,  die  zu  sein:  Sie 
tragen    den    todten    ab   oder  Man   tregt   den  todten  ab.     So  ist  es 


Abtrafjon  der  Toten.  99 

schon  an  sich  wahrscheinhch,  daß  zwei  Männer  jedesmal  notwen- 
dig sind,  um  einen  scheinbar  gestorbenen  Darsteller  von  der  Bühne 
zu  schleppen.  Daß  es  sich  so  verhält,  wird  ganz  deutlich  im  Wil- 
helm von  Österreich  1556  (KG.  12,  S.  522);  hier  heißt  es:  Sie  schla- 
gen einander,  bijS  sie  beide  nider  fallen.  Die  zwen  Jäger  klimmen 
gelauffen,  der  erst  Jäger  spricht:  .  .  .  Die  Jäger  tragen  den  hertzo- 
gen  ab  und  klimmen  wider  zu  dem  todten  könig  Graneas  .  .  .  Sie 
tragen  ihn  auch  ab.  Offenbar  ging  es  also  nicht  an,  jede  der  bei- 
den Leichen  von  e  i  n  e  m  Jäger  fortschaffen  zu  lassen.  Nur  zweimal 
in  Hans  Sachsens  gesamter  Produktion  finden  wir  eine  einzige  Person 
mit  dem  Tragen  eines  Toten  beauftragt:  im  Jüngling  im  Kasten  1556 
(KG.  13,  S.  251):  Die  magt  tregt  den  toden  ab;  das  andere  Mal  in 
der  Witfrau  Franziska  1560  (KG.  20,  S.59):  Rinutzo  tregt  den  todten 
daher.  Es  mag  bemerkt  werden,  daß  es  sich  in  beiden  Fällen  um 
Komödien  und  um  die  Fortschaffung  von  Scheintoten  handelt;  hier 
durfte  vielleicht  der  Tote  mit  seinen  Beinen  ruhig  ein  bißchen  nach- 
helfen, ohne  daß  das  dem  Publikum  wider  den  Strich  ging.  In  den 
früheren  Jahren  werden  gewöhnlich  diejenigen,  die  den  Totschlag 
ausgeführt  haben,  auch  wenn  sie  von  vornehmem  Stande  sind,  von 
Hans  Sachs  zum  Forttragen  der  Leiche  verwendet;  allmählich  aber 
wird  es  immer  mehr  der  Normalzustand,  daß  Knechte  oder  Traban- 
ten mit  solchem  Dienste  betraut  werden.  Gewöhnlich  wird  die  Fort- 
schaffung nicht  stillschweigend  vorgenommen,  sondern  der  Dichter 
läßt  die  bestimmende  Persönlichkeit  ausdrücklich  den  Befehl  zum 
Abtragen  der  Toten  erteilen,  und  nicht  selten  wird  das  Publikum 
auch  noch  darüber  orientiert,  wohin  die  Leichen  gebracht  werden: 
so  z.  B.  im  Hagwartus  1556  (KG.  13,  S.  220),  wo  der  König,  dem 
beide  Söhne  erschlagen  sind,  am  Schluß  des  ersten  Aktes  zu  den 
Trabanten  sagt: 

Nun  tragt  sie  allbaid  in  vnmiit 
Gehn  kirchen  von  dem  sal  herab, 
Das  man  sie  königklich  begrab  .  .  . 
Solche  Motivierung  wird  in  diesen  Jahren  dermaßen  geregelt,  daß 
man,  wo  sie  fehlt,  geradezu  von  einer  Nachlässigkeit  des  Dichters 
reden  kann;  ebenso  kommt  es  vor,  daß  er  auch  die  szenische  An- 
weisung über  das  Abtragen  der  Personen  ganz  vergißt.  Wenn 
beides,  Motivierung  und  Bühnenanweisung,  fehlt,  können  wir  eigent- 
lich immer  den  Grund  für  Hans  Sachsens  Vergeßlichkeit  erkennen : 
es  pflegt  dann  der  Fall  zu  sein,  w^enn  der  betreffende  Todesfall 
nicht  unmittelbar  am  Schluß  eines  Bildes  oder  eines  Aktes  erfolgt, 
sondern  wenn  hinterher  noch  längere  Gespräche  geführt  werden. 
So  steht  es  z.  B.  in  der  Jael  1557,  KG.  10,  S.  146,  in  der  Arsinoe,  1559, 
KG.  13,  S.  571,  in  den  Maccabäern  1556,  KG.  11,  S.  106  und  beson- 
ders in  dem  auch  sonst  liederlich  gearbeiteten  König  Saul  1557. 
KG.  15,  S.  34,  37,  48. 


100  Abtragen  der  Toten. 

Freilich  wird  es  sich  nicht  in  allen  Fällen,  wo  die  betreffende 
Bühnenanweisung  vermißt  wird,  um  Nachlässigkeit  handeln,  die  wir 
ruhig  durch  eine  Ergänzung  im  sonst  üblichen  Sinne  gut  machen 
könnten.  Im  Perseus  1558,  KG.  13,  S.  448,  hat  der  Held  in  Gegen- 
wart des  Königs  und  seiner  Tochter  das  Meerwunder  umgebracht; 
am  Aktschluß  aber,  wo  alle  drei  die  Bühne  verlassen,  ist  von  einem 
Forttragen  des  toten  Ungeheuers  nicht  die  Rede;  und  hier  wäre  es 
auch  schier  unmöglich,  daß  auf  dem  einsamen  Felsen  mitten  im 
Meere  plötzlich  Trabanten  erscheinen,  um  das  tote  Untier  abzutragen. 
So  unmöglich,  wie  wenn  auf  dem  öden  Drachenstein  des  HS.,  den 
keines  Menschen  Fuß  Je  betreten  hat,  zuerst  der  Leichnam  des  von 
Sewfrid  erlegten  Riesen  und  dann  der  Kadaver  des  Drachen  von 
hinzueilenden  Trabanten  fortgebracht  worden  wären.  Wir  wissen, 
wie  Hans  Sachs  sich  in  diesen  Fällen  half):  Sewfrid  wurß  in  (den 
Drachen)  pey  aim  pain  vberab  .  .  .  den  (Drachen)  wirft  er  auch 
hinab.  Riese  und  Drachen  werden  hinten  am  Vorhang  vom  Podium 
geworfen,  und  so  wird  es  auch  mit  dem  Meerwunder  des  Perseus 
geschehen  sein.  Hans  Sachs  vermeidet  es  also,  Theaterdiener  auf- 
treten zu  lassen,  die  in  der  betreffenden  Situation  unmöglich  sind. 
Wo  diese  nicht  so  schwierig  ist,  wo  aber  im  entscheidenden  Augen- 
blick die  Knechte  oder  Trabanten  die  Bühne  bereits  verlassen  haben, 
bemüht  er  sich  gern,  ihr  Wiederauftreten  wenigstens  einigermaßen 
zu  motivieren,  und  so  wird  ihr  Erscheinen  in  einer  Situation,  wie 
sie  im  Alexander  1558,  KG.  13,  S.  488  vorliegt,  die  Zuschauer  nicht 
gar  zu  sehr  befremdet  haben.  Nur  ganz  ausnahmsweise  macht  der 
Dichter  es  sich  einmal  gar  zu  leicht,  wie  im  Hugschapler  1556,  KG.  13, 
S.  7,  wo  die  Knechte  eigentlich  nicht  kommen  dürfen,  um  den  Ritter 
abzutragen,  da  sie  just  von  diesem  Platze  vorher  geflohen  sind. 
Wenn  im  Drama  Trabanten  nicht  auftreten,  die  den  Dienst  des  Toten- 
abtragens übernehmen  können,  so  führt  der  Dichter  wohl  auch 
Personen  eigens  dazu  ein,  die  dann  nicht  im  Personenverzeichnis 
stehen.  Aber  es  sind  Statisten,  die  sich  doch  wenigstens  in  der 
Kleidung  der  Situation  passend  einfügen,  nicht  Theaterdiener,  die 
fremd  und  störend  in  die  vorgetäuschte  Welt  hineintreten  würden. 
Deutlich  sehen  wir  das  im  HS.,  wo  (vor  v.  1074)  in  Crimhilds  Ge- 
folge ein  Jäger  erscheint,  der  den  im  Walde  ermordeten  Sewfrid 
mit  abtragen  hilft ;  ebenso  wird  es  wohl  auch  in  denjenigen  Fällen 
sein,  die  zweifelhaft  bleiben,  weil  Hans  Sachs  keine  Person  in  der 
szenischen  Bemerkung  nennt,  so  z.  B.  in  den  Vier  Liebhabenden 
1556  (KG.  13,  S.  207).  Eine  Art  von  Theaterdiener  ist  freilich  immer 
zur  Verfügung:  der  Ehrenholdt,  und  dort  wo  er  ohne  die  Illusion  zu 
stören  in  die  Erscheinung  treten  kann,  in  der  höfischen  Sphäre  also, 
muß   er   sich    denn    auch,    wenn    niemand    anders    zu    haben    ist. 


1)  Vgl.  oben  S.  37. 


Keine  Theaterdiener.  101 

beim  Abtragen  der  Toten  beteiligen ;  so  in  der  eben  zitierten  Stelle 
des  HS.,  wo  er  zusammen  mit  dem  Jäger  Sewfrids  Leiche  fortzu- 
schaffen hat.  Nur  ganz  wenige  Stellen  bleiben  übrig,  an  denen 
wir  nicht  erkennen  können,  durch  welche  Personen  Hans  Sachs  die 
auf  der  Bühne  liegenden  Toten  hat  wegbringen  lassen:  so  wenige, 
daß  sie  unsere  Gesamtauffassung  nicht  zu  erschüttern  vermögen'). 
Diese  Gesamtauffassung  aber  ist  dieselbe,  die  wir  für  das  Fort- 
schaffen und  auch  für  das  Hineinbringen  der  Requisiten  als  richtig 
erkannt  zu  haben  glauben.  Hans  Sachs  vermeidet  es,  die  Illusion 
durch  das  Auftreten  nicht  zur  Handlung  oder  deren  Sphäre  gehöriger 
Theaterdiener  zu  stören,  und  schiebt  die  für  solche  Zwecke  not- 
wendige Tätigkeit  den  Personen  des  Dramas  selbst  zu.  So  werden 
wir  also  auch  in  dem  einzigen  Fall  unseres  HS.,  der  unerklärt  ge- 
bheben ist,  in  der  Frage,  wie  kommt  der  Amboß  auf  die  Bühne? 
lieber  annehmen,  daß  die  Schmiede  eine  leicht  tragbare  Nachbildung 
eines  Amboß  bei  ihrem  Auftreten  mit  auf  die  Bühne  bringen  oder 
alsbald  aus  der  Altarraumtür  holen,  als  daß  wir  uns  zu  der  An- 
nahme entschließen,  Hans  Sachs  habe  zwischen  der  Szene  am 
Königshofe  und  dem  Bilde,  das  in  der  Schmiede  spielt,  ganz  seiner 
sonstigen  Gewohnheit  entgegen  Theaterdiener  auftreten  lassen,  die 
einen  Amboß  auf  die  Szene  stellten.  Von  den  geistlichen  Spielen 
her  war  das  Publikum  wohl  gewöhnt,  daß  die  handelnden  Personen 
gelegentlich  solche  Zurüstung  des  Schauplatzes  selbst  vornahmen, 
obwohl  man  hier  natürlich  im  großen  und  ganzen  ohne  Theater- 
diener nicht  auskam.  Noch  in  den  Bühnenrodeln  aus  Luzern  vom 
Jahre  1583  heißt  es  in  den  Angaben,  die  sich  auf  die  „Rüstung" 
der  zwölf  Brüder  Josephs  beziehen2):  Oiich  söllent  sy  aen  Sod- 
brunnen oder  Cistern  rüsten,  dargn  sy  Josephen  werffend,  derselbig 
Brunn  sol  vnden  am  Platz  stan  gegem  Platzbrunnen,  den  söllent 
sy  mit  Ebhöw  oder  Lovbästen  umstecken  oder  vmbbinden,  doch  sol 
er  wedei  galg,  Eymer  noch  anders  oben  drüber  haben. 


1)  Es  sind:  Clinia  und  Agatocles  1555  KG.  12,  S.  446;  Vier  Liebiiabende  1556  KG.  13, 
S.  207;  König  Saul  1557  KG.  15,  S.  37;  Romulus  und  Remus  1560,  KG.  20,  S.  165;  Anto- 
nius und  Cleopatra   1560  KG.  20,  S.  231. 

2)  Germania  80,  S.  328. 


102 


Kostüme. 


Abb.  6:  Nürnberger  Musikanten.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  164  (s.  u.  S.  129.) 


Kostüme. 

Indem  wir  unsere  Aufmerksamkeit  auf  die  Theaterkostüme  der 
Hans  Sachsischen  Bühne  richten,  bemerken  wir  zunächst,  daß  wir 
hier  ein  Material  zur  Verfügung  haben,  das  über  das  gewöhnhch 
zugrunde  gelegte:  die  szenischen  Bemerkungen  hinausgeht.  Bei 
allem,  was  die  eigentliche  Bühneneinrichtung  angeht,  mußten  wir 
uns  auf  sie  beschränken,  denn  die  Andeutungen  innerhalb  des  Dia- 
logs dienten  hier  nur  dazu,  die  Phantasie  der  Zuhörer  zu  veranlassen, 
daß  sie  aus  dem  Nichts  ein  Etwas  mache.  Bei  den  Kostümen  liegt 
es  nicht  so:  hier  ist  tatsächlich  etwas  vor  die  Augen  des  Publikums 
gestellt  worden;  wo  in  den  Reden  der  handelnden  Personen  auf  die 
Kostüme  hingewiesen  wird,  dürfen  solche  Hinweise  keinen  Wider- 
spruch gegen  das  wirklich  Gesehene  enthalten.  Und  so  können 
wir  hier  die  Hindeutun<ren  des  Dialoirs  zu  den  Anjiaben  der  szeni- 


Kostüme  in  Hans  Sachsens  Eizäliliingen.  103 

sehen  Bemerkungen  hinzunehmen.  Ein  sehr  reichhaltiges  Material 
kommt  freilich  auch  auf  diese  Weise  nicht  zAistande,  offenbar  des- 
wegen, weil  ein  besonders  wichtiges  theatralisches  Gebiet,  ein  Ge- 
genstand eifriger  und  origineller  Arbeit  auch  die  Kostüme  nicht 
gewesen  sind;  das  Material  reicht  aber,  so  bald  wir  es  wieder  in 
den  allgemeinen  Zusammenhang  einstellen,  völlig  aus,  um  uns  über 
die  Nürnberger  Verhältnisse  aufzuklären. 

Daß  Hans  Sachs  auf  diesem  Gebiete  ein  großer  Erneuerer  nicht 
werden  konnte,  geht  schon  aus  den  Kostümschilderungen  in  seiner 
epischen  Poesie  hervor:  hier,  wo  kein  Theateretat  seine  Einbildungs- 
kraft in  ihre  Schranken  verwies,  zeigt  sich  deutlich,  daß  Hans  Sachs 
ein  phantasiebegabter  Schneider  nicht  gewesen  ist  und  auch  zu 
einer  besonders  eindringlichen  Beobachtung  der  Wirklichkeit  auf 
diesem  Gebiete  oder  einem  wissenschaftlichen  Studium  des  Längst- 
vergangenen und  des  Fremdländischen  auf  dem  Gebiet  der  Tracht 
keine  ausgesprochene  Neigung  besessen  hat.  Nur  bei  wenigen  un- 
gew^öhnlichen  Gelegenheiten  ist  Hans  Sachsens  Blick  dem  auf  der 
Straße  sich  bietenden  Trachtenbild  aufmerksam  zugewendet:  bei 
den  Einzügen  Ferdinands  und  Karls  in  Niu-nberg  1540  und  1541, 
allenfalls  auch  beim  Gesellenstechen  des  Jahres  1538  —  da  bringt 
er  in  seinen  gereimten  Schilderungen  der  festlichen  Hergänge  auch 
mehr  oder  minder  ausführliche  Kostümbeschreibungen.  Gelegent- 
lich ist  der  Erzähler  —  bei  der  Charakteristik  der  äußeren  Erschei- 
nung antiker  Götter  oder  allegorischer  Gestalten  —  von  den  Dar- 
stellungen bildender  Künstler  beeinflußt,  und  zwar  nicht  nur,  wenn 
er  es  selbst  sagt,  wie  etwa  bei  der  Gestalt  des  Winters  (KG.  4,  S.  255  : 
1538),  als  eines  alten,  dürren,  langbärtigen,  pelz-  und  filzbekleideten 
Mannes,  ^^^-^  ^^^  ^^^  ^^^  Saturnum  malt, 

(im  Gegenteil,  öfters,  so  z.  B.  KG.  7,  S.  424  :  1550,  ist  die  Berufung  auf 
ein  Gemälde  sicher  so  gut  bloße  Fiktion  wie  Spaziergang  und  Traum), 
sondern  auch,  ohne  daß  wir  eine  ausdrückliche  Erklärung  treffen, 
wie  etwa  in  der  Schilderung  der  Fama  als  einer  greifenflügligen 
Frau,  die,  mit  einer  Trompete  in  der  Hand,  auf  einem  Elefanten 
sitzt  (KG.  7,  S.  432  :  1559).  Und  endlich :  die  Phantasie  des  Dichters 
gibt  wenigstens  einiges  her,  wenn  sich  allegorischen  Figuren  rea- 
listische Embleme  des  Alltags  in  parodistischer  Symbolik  in  die  Hand 
geben  lassen.  Im  ganzen  ist  der  kostümliche  Ertrag  solcher  Be- 
mühung gering.  Von  den  hochfürstlichen  Besuchen  her  weiß  Hans 
Sachs  wenigstens,  daß  die  Könige  nicht  in  jedem  Augenblick  mit 
Purpur,  Zepter  und  Krone  ausgerüstet  sind^);  ganz  allgemein  be- 
kannte Götterkostüme   der  Antike:    Merkurs  fußkleit,  daran  zwen 


1 1  Besonders  deutlich  in  der  Hinsicht  ein  Zusatz  zu  dem  Bericht  der  Quelle  KG.  20. 
338  ZI.  12—15;  oder  16,  S.  414,  wo  er  ohne  Anregung  der  Quelle  (Sueton-Vielfeld)  als  ein 
Zeichen  von  Caligtüas  großem  Übermut  hervorhebt,  daß  er  mit  Zepter  und  Krone  herumlief. 


104  Kostüm  in  Hans  Sachsens  Epik.     Interesse  der  Zeit  für  die  Tracht. 

flügel  groß  und  breyt,  sein  Helm  mit  dem  Hahnenschmuck,  sein 
Schlangenstab  sind  auch  ihm  nicht  fremd,  und  er  weiß  Neptuni  mör- 
waffen,  von  denen  seine  Quelle  spricht  (KG.  16,  S.  414),  genauer  als 
drispitzing  scepter  wiederzugeben.  Es  fällt  ihm  auch  wohl  einmal  der 
Schnitt  eines  Gewandes  auf,  so  daß  er  eine  vornehme  Frau  (KG.  20, 
522)  auff  außlendisch  manier  gekleidet  sein  läßt.  In  der  Haupt- 
sache aber  ist  nicht  daran  zu  denken,  daß  er  dem  Schnitt  der  Kleider 
sein  Augenmerk  zuwendet:  daß  er  sie  je  einmal  hoflich  beschnitten 
oder  zerschnitten  nennt,  ist  schon  eine  Ausnahme,  und  auch  von 
einem  kurtzen  und  einem  hohen  Kleid  ist  nur  je  einmal  die  Rede. 
Im  allgemeinen  hat  er  nur  Auge  für  den  Stoff  des  Gewandes  und 
namenthch  für  die  Farbe,  die  zumal  für  die  allegorischen  Gestalten 
das  wichtigste  Kennzeichnungsmittel  darstellt  —  so  entschieden, 
daß  es  sich  schon  einmal  lohnen  würde,  die  von  dem  Dichter  ge- 
wählten Farben  mit  der  Farbensymbolik  der  Maler  in  Beziehung  zu 
setzen;  aber  auch  sonst  sind  Farbe  und  Stoff  die  Gebiete,  auf  denen 
seine  Phantasie  etwas  hergibt,  und  wenn  z.  B,  bei  Xenophon-Boner 
die  treue  Gattin  Panthea  vor  ihrem  Tode  nur  anordnet,  ein  kleit 
über  sie  zu  breiten,  so  macht  Hans  Sachs  ohne  Reimzwang  (KG.  20, 
S.  273)  ein  rotes  Seidenkleid  daraus.  Endlich  ist  bei  ihm  eine  Nei- 
gung ersichtlich  (z.  B.  KG.  3,  S.  150,  S.  213,  S.  214,  S.  481,  S.  486, 
S.  432,  16,  S.  228),  allegorischen  Gestalten  und  Ungeheuern  Flügel 
und  Schwanz,  auch  wohl  Tierfüße  zu  verleihen  —  volkstümliche 
Vorstellungen  bieten  wohl  mancherlei  Anregung^),  Mit  den  realisti- 
schen Alltagsrequisiten  geben  diese  phantastischen  Vorstellungen 
zusammen  mitunter  etwas  seltsame  Gebilde. 

Mit  solchem  eben  aufdämmernden,  praktisch  aber  noch  wenig 
ausgebildeten  Interesse  für  die  Tracht  ist  nun  Hans  Sachs  wie  so 
häufig  ganz  und  gar  ein  Kind  seiner  Zeit,  ganz  und  gar  der  Aus- 
druck des  kulturgeschichtlichen  Moments,  den  er  vertritt;  eher  ist 
er  ein  wenig  rückständig,  als  daß  er  seiner  Zeit  voran  wäre.  In  den 
letzten  Jahren  seines  Lebens,  da  der  größte  Teil  seiner  dichterischen 
Tätigkeit  schon  hinter  ihm  liegt,  setzt  in  fast  ganz  Europa,  in  Frank- 
reich, Holland,  Italien  und  im  besondern  auch  in  Deutschland  die  prak- 
tische Betätigung  eines  so  brennenden  Interesses  am  Kostüm  ein,  wie 
es  kaum  zu  einer  andern  Zeit  zu  finden  ist.  Von  1562  bis  1600  er- 
schienen in  den  verschiedensten  Orten:  Paris,  Antwerpen,  Venedig? 
Nürnberg,  Rom  u.  a.  nicht  weniger  als  zwölf  verschiedene 
Trachtenbücher,  zum  Teil  in  mehreren  Auflagen,  im  Buch- 
handel 2).    Auch  diese  Leistungen  aber  haben  ihre  bisher  nur  sehr 

1)  Vgl.  etwa  die  Qiiellenanalyse  bei  Drescher,  Studien  v.w  Hans  Saclis  I  (Berlin  1890) 
S.  65  zu  Nr.  3. 

2)  Über  sie  unterrichtet  die  Ireftliciii'  AhiiandlunK  von  H.  Doege,  Die  Trachtenbücher 
des  16.  Jahrhunderts:  Beiträge  zur  BücherUundc  und  Pliilologie,  August  Wihiianiis  gewid- 
met.    Leipzig  1903,  S.  429—44. 


Historische  Notizen.     Einzelne  Traclitenbilder.  105 

wenig  beachtete  Vorgeschichte,  vor  allem  in  handschriftlichen 
Trachtenbüchern,  die  ganz  und  gar  in  Hans  Sachsens  Blütezeit  fallen 
und  von  denen  Wichtiges  unmittelbar  seinen  Lebenskreisen  angehört; 
und  während  die  gedruckten  Werke  völlig  auf  Geschichte  der 
Tracht  verzichten,  ferner  das  lokale  Element  stark  zurücktreten 
lassen,  in  erster  Reihe  also  ethnologisches  hiteresse  mit  besonderer 
Betonung  des  Exotischen  bekunden,  sind  in  der  Zeit  der  handschrift- 
lichen Bilderreihen  auch  die  historische  Richtung  und  die  heimat- 
liche Volkskunde  entschieden  vertreten. 

Gelegentliche  Beobachtungen  über  den  Wechsel  der  Kleider- 
moden tauchen  in  der  Literatur  schon  zeitig  auf  i).  Freilich  in  den 
allermeisten  Fällen  sind  die  eingehenden  Schilderungen  der  Trachten 
und  ihrer  Wunderlichkeiten  nicht  Selbstzweck,  sondern  nur  die 
Grundlage  donnernder  Moralpredigten  gegen  die  Auswüchse  der 
Mode;  aber  schon  das  modernste  Buch  Deutschlands  im  14.  Jahr- 
hundert, die  Limburger  Chronik,  behandelt  die  sich  wandelnden 
Trachten  rein  vom  kulturgeschichtlichen  Standpunkt,  im  beginnen- 
den 16.  Jahrhundert  kommen  bei  dem  Schweizer  Chronisten  Valerius 
Anshelm  ganz  ähnliche  hiteressen  zum  Ausdruck,  und  Joh.  Agricola, 
der  in  seinen  Sprichwörtererläuterungen  auch  sonst  so  rege  Teil- 
nahme an  den  Gebräuchen  der  einzelnen  deutschen  Landschaften 
bekundet,  hat  die  verschiedenen  deutschen  Frauentrachten  des 
Jahres  1528  ausdrückhch  mit  dem  Hinweis  charakterisiert,  künftiger 
historischer  Betrachtung  der  Tracht  damit  ein  Stückchen  Material 
bieten  zu  wollen  2). 

Aber  von  solchen  literarischen  Aufzeichnungen  zu  bildlicher 
Darstellung,  zur  Herstellung  wirklicher  Trachtenbücher,  wenn  auch 
zunächst  nur  in  der  Form  von  Handschriften,  ist  doch  noch  ein 
großer,  ja  der  entscheidende  Schritt.  Einzelne  Zeichnungen,  die 
irgend  eine  interessante  Tracht  festhielten,  mag  es  auch  schon 
früher  gegeben  haben.  Das  Früheste  sind  wohl  fünf  Holzschnitte 
in  Breydenbachs  Beschreibung  seiner  Fahrt  ins  heilige  Land,  in 
denen  ein  Reisegenosse,  Erhard  Neuwich,  verschiedene  orientalische 
Trachten  dargestellt  hat.  Ja,  Albrecht  Dürers  Genialität  ist  auch 
auf  diesem  Gebiete  soweit  seiner  Zeit  voran,  daß  er  zweimal  schon 
den  Ansatz  zu  einer  wirklichen  Trachtenfolge  nimmt:  zuerst  etwa 
1500,  wo  er  die  Nürnbergerin  im  Hauskleid,  auf  dem  Kirchgang  und 
beim  Tanz  in  drei  Blättern  vorführt-^),  und  dann  1521,  wo  er  auf  vier 
Blättern  Irländer  und  Isländer  darstellt ,  die  er  vielleicht  in  einer 
niederländischen  Hafenstadt   gesehen  hat^).     Ebenso   hat   Holbein 


1)  Vgl.  besonders  die  Materialzusamnienstellungen  bei  Alwin  Schultz,  Deutsches  Leben 
im   14.  und  15.  -Jahrhundert  1902,  S.  286  ft. 

2)  Hagenau  1529,  Nr.  370. 

3)  Lippmann,  Dürers  Zeichnungen,  Nr.  463/5. 

4)  Ebenda.  Nr    62,  373.  5. 


106  Handschrittliclie  Traclitenbücher  liöfischen  und  bürgerlichen   Ursprungs. 

—  wohl  im  Anfang  der  zwanziger  Jahre  —  auf  losen  Blättern  einige 
Baseler    Frauentrachten    gezeichnet  i);    übrigens    doch     wohl   mehr 
Vorstudien  für  größere  künstlerische  Produktionen,  nicht  Betätigun- 
gen rein  kostümlichen  Interesses.    Aber  der  wirklich  entscheidende 
Schritt   ist  doch   erst   der  zum   Trachtenbuch,    und   gerade  dieser 
Schritt  fällt  in  die  Periode,  die  wir  ins  Auge   fassen:    in  die  Zeit 
von  Hans  Sachsens  Lebenswirksamkeit.    Der  Schritt  oder  richtiger: 
die  Schritte.   Denn  wenn,  wie  wir  sahen,  in  den  gedruckten  Trachten- 
büchern des  ausgehenden  16.  Jahrhunderts  lediglich  das  ethnologisch- 
volkskundliche  Interesse  erscheint ,  von  geschichtlicher  Betrachtung 
aber  keine   Spur   sich   zeigt,    so   tritt  noch  in  dem  letzten  großen 
Dokument  der  Handschriftenzeit,   dem  gleich   noch  genauer  zu  be- 
handelnden, unserm  Zusammenhang  besonders  wichtigen  Trachten- 
buch  des  Sigismund  Heldt,   dessen  Anlage    um   1560    erfolgt   ist  2), 
neben  dem  Ethnologisch-Volkskundlichen,  das  im  Gegensatz  zu  den 
gedruckten  Werken  das  einheimische  Element  fast  bevorzugt,  uns  auch 
der  Sinn  für  geschichtliche  Entwicklung   entgegen.     Offenbar   ver- 
einen  hier   sich   zwei   Ströme,    über  deren   Quellen   immerhin  eine 
Vermutung  gewagt  werden  kann.     Das  Interesse  für   die  Entwick- 
lung der  Tracht  und  ihre  Darstellung  in  fortlaufenden  Bilderreihen 
wird  sich  zurückführen  lassen  auf  die  im  16.  Jahrhundert  aufkommende 
praktische  Gewohnheit   fürstlicher   Hofkammern,    den  Rechnungen 
für  die  Herstellung  der  Hoftrachten   deren  Abbildung   beizugeben 
und  diese   sich   auf  diese  Art  Jährlich  erweiternden  Reihen  in  be- 
sondern Büchern   zusammenzuhalten.      Von    solcher  Art   sind    der 
Gothaer  Codex  der  kurfürstlich  sächsischen  Hoftrachten  3)   und  der 
Münchener  Codex  1591,  der  die  bayerischen  Hofkostüme  zusammen- 
stellt^);   daß   solche  Bücher  nicht  auf  die   praktischen  Zwecke  be- 
schränkt blieben,   sondern  in  weiteren   Kreisen  Teilnahme    fanden, 
geht  aus   dem  Vorhandensein   von   gleichzeitigen    Kopien   hervor^). 
Und  wenigstens  e  i  n  Beispiel  lehrt,  wie  dann  solche  Trachtenfolgen 
auch  in  bürgerlichen  Kreisen  zu  ganzen  Büchern  zusammengestellt 
worden   sind:    das    zu    Braunschweig   bewahrte    Trachtenbuch    des 
Augsburger  Matthäus  Schwarz  ist  um  1520  angelegt  und  bildet  bis 
zum  Jahre  1560  die  Kostüme  ab,   die  dieser  prunkliebende  Reichs- 
städter getragen   hat,    ja  er    hat    sich    bemüht,    nachträglich   seine 
wechselnden  Kostüme  bis  zu  seiner  Geburt  (1497)  zurückzuverfolgen, 

1)  Woltmann  1.   l()5tf.,  II,   108. 

2)  Jetzt  Nr.  4    der   Lipperheidischen    Kostümbibliotliek    in    der  Bibliothek    des  Kunst- 
gewerbemuseums zu  Berlin.     Vgl.  u.  S.  1 11  f. 

3)  Vgl.  Gallerie    altdeutscher    Trachten    (Leipzig    o.  .).  =    1802)    S.    t2ff.    37  ff.    nebst 
Tafel    1—9,   13—15. 

4)  Auch  der  Büdinger  Kodex  Wetterauischer  Hoftrachten,    von    dem  die  Lipi)erheidi- 
sche  Kostümbibliothek  eine  moderne  Kopie  besitzt,  gehört  in  diesen  Zusammenhang. 

5)  Eine  Kopie  des  sächsischen  Werkes  ebenfalls  in  Gotha,  eine  Kopie  des  bayerischen 
Kleiderbuches  im  Nürnberger  Germanischen  Museum:    HS.  34,  152  in  fol. 


Ethnolotjische   Interessen.     Ausland;  Türkei   und   Spanien.  107 

und  ihre  Bilder  jenen  übrigen  vorangestellt;  von  1561  hat  sein  Sohn 
Veit  Konrad  Schwarz  das  Verfahren  des  Vaters  aufgenonnnen  und 
hat  ebenfalls  seine  Jugendbilder  (von  1541  an)  nachgeliefert!). 

Die  andere  Reihe,  die  ethnologisch-volkskundliche,  wird  schwer- 
lich in  der  deutschen  Heimat  ihre  Wurzeln  haben:  zunächst  wird 
es  nur  lohnend  erschienen  sein,  fremdartige  ausländische  Merk- 
würdigkeiten auf  dem  Papier  festzuhalten  und  zu  verbreiten2).  Es 
ist  dann  auch  auffallend,  eine  wie  große  Rolle  in  dem  obenerwähn- 
ten großen  Trachtenbuch  des  Nürnbergers  Heldt  und  in  den  zeitlich 
sich  ihm  anschließenden  gedruckten  Kostümwerken  die  Kleidung 
der  östlichen  und  südösthchen  Völker  einerseits,  die  der  spanischen 
Untertanen  anderseits  spielen.  Während  aber  die  orientalischen 
Bilder  der  gedruckten  Werke  sich  wenigstens  bis  auf  die  Beschrei- 
bung der  türkischen  Reise  des  Nicolaus  Nicolay  (1567)  als  auf  die 
wesentliche  Quelle  hat  zurückverfolgen  lassen-'),  harrt  die  ältere  Zeit, 
die  eigentliche  Entstehungsepoche,  und  zumal  jene  starke  Bevorzu- 
gung der  spanischen  Trachten  noch  der  gründlichen  Erklärung.  Daß 
die  Spanier  selbst  auf  den  Gedanken  gekommen  sein  sollten,  ihre 
heimischen  Kostüme  in  zusammenhängenden  Bilderfolgen  vorzu- 
führen, ist  bei  dem  Stande  ihrer  Kunst  und  Kultur  in  der  ersten 
Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  nicht  gerade  wahrscheinlich^),  wohl  aber 
wäre  es  begreiflich,  wenn  die  ungemein  zahlreichen  Ausländer,  die 
durch  den  Handel  und  durch  die  habsburgische  Dynastie  nach 
Spanien  geführt  wurden-^),  sich  durch  den  Reiz  einerseits  der  ver- 
wandten Kultur,  anderseits  des  fremdartigen,  vielfach  ganz  fremd- 
rassigen Volkstums  bewogen  fühlten,  den  nächstliegenden  Ausdruck 
solchen  bunten  Lebens:   die  Trachten   den  Landsleuten   daheim   in 


1)  Genaue  Mitteilungen  über  das  Buch,  zumal  auch  seine  kulturgeschichtlich  sehr 
wichtigen  Textbeigaben,  die  eine  Art  Autobiographie  darstellen,  bei  E.  C.  Reichard, 
Mattliäus  und  Veit  Konrad  Scliwarz  (Magdeburg  1786).  Einige  Bilder  aus  der  Jugendzeit 
der  beiden  Schwarz  habe  ich  reproduziert  und  erläutert :  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für 
deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  20,  S.  125 — 145. 

2)  Doch  mag  bemerkt  werden,  daß  der  erste  Versuch,  das  wohl  im  Archiv  des 
„Pfänters"  aufbewahrte  Material  über  die  beim  Schembartlaufen  zu  Nürnberg  verwendeten 
Trachten  zu  besonderen  Schembartbüchern  zusammenzustellen,  die  chronologisch  angeordnet 
sind  wie  die  fürstlichen  Kostümwerke  und  ihre  bürgerliche  Nachahmung,  in  die  Zeit 
zwischen  1525  und   1539  zu  fallen  scheint. 

3)  Doege  a.  a.  0.  S.  436.  Vgl.  auch  oben  S.  105  den  Hinweis  auf  Reuwichs  Holz- 
schnitte aus  d.  J.  1486. 

4)  In  Spanien  selbst  sind  denn  auch,  wie  ein  gründlicher  Kenner  der  graphischen 
Kunstleistungen  des  Landes,  Herr  Angel  Barcia  Pavon  in  Madrid,  mir  mitteilt,  handschrift- 
liche Trachtenbücher  nicht  bekannt;  die  Libros  espagnoles  de  sasteria,  über  die  El  conde 
de  las  Navas  in  der  Revista  de  archivos,  hibliothecas  y  mus30s,  8,  S.  483  ff.  gehandelt  hat, 
gehören  in  den  Ausgang  des  16.  Jh.,  sind  gedruckt  und  zeigen  einen  von  dem  hier  in 
Betracht  kommenden  Material  völlig  verschiedenen  Charakter. 

5)  Vgl.  über  die  Ausländer  in  Spanien  während  des  16.  Jh.:  K.  Haebler,  Die  wirt- 
schaftliche Blüte  Spaniens  im  16.  Jh.  und  ihr  Verfall  (Berlin  1888)  S.  164ff. 


l08  Spanische  Trachtenbilder. 

Bildern  zu  vermitteln.  Die  Vermutung,  daß  der  Hergang  sich  so 
vollzogen  hat,  läßt  sich  ziemlich  zur  Gewißheit  erheben,  und  der 
knappe  Beweis  für  solche  Behauptung  führt  uns  schheßlich  vom 
welthistorischen  Ausblick  wieder  in  unsere  nürnbergische  Sphäre. 
Zwei  derartige  spanische  Bilderfolgen  weisen  nach  Italien:  die  70 
Blätter  umfassende  Reihe  spanischer  Trachtenbilder,  die  der  italieni- 
sche Stecher  Enea  Vico  (1523—67)  gestochen  hat^),  und  die  ganz 
unverhältnismäßig  große  Folge  spanischer  Trachtenbilder,  die 
Bertellis  im  Druck  zu  Venedig  1563  erschienenes  Werk  Omnium 
fere  gentium  nostrae  aetatis  habitus  enthält  —  beide  Reihen  sind 
voneinander  vollständig  unabhängig2).  Uns  interessanter  und  auch 
an  sich  viel  anziehender  ist  die  dritte  Reihe,  die  auf  deutschen 
Ursprung  weist.  Sie  liegt  uns  vor  in  dem  äußerst  wichtigen,  bis- 
her, wie  es  scheint,  völlig  unbeachtet  gebliebenen  Cod.  22,  474  des 
Nürnberger  Germanischen  Museums^),  der  eine  viel  eingehendere 
Betrachtung  verdient,  als  sie  ihm  hier  zuteil  werden  kann.  Statt 
der  Steifheit,  mit  der  in  den  Vicoschen  und  Bertellischen  Dar- 
stellungen die  Gestalten  in  wenig  variierten  Positionen  Parade 
stehen,  ist  hier  eine  Lebendigkeit  zu  spüren,  die  vielfach  ins  Genre- 
mäßige übergeht  und  dafür  spricht,  daß  hier  ein  künstlerisch  ver- 
anlagter Beobachter  meistens  unmittelbar  nach  der  Natur  gearbeitet 
hat,  nur  ganz  gelegentlich  sein  Material  durch  die  Nachbildung  von 
Gemälden  ergänzend.  Es  ist  ein  Trachtenbuch,  das  er  geliefert  hat, 
und  zugleich  mehr  als  das.  Das  kostümliche  Interesse  steht  obenan; 
so  stark  sogar  ist  es,  daß  —  eine  sonst  nirgends  nachzuweisende 
Erscheinung  —  ein  frei  gebliebenes  Stück  Papier  (fol.  73)  benutzt 
wird,  um  ein  Kleidungsstück  ohne  den  bekleideten  menschlichen 
Körper,  ainen  spanischen  schiircz  abzubilden.  Aber  neben  dem 
Sinn  für  das  Kostüm  ist  auch  der  Sinn  fürs  Ethnologische  stark 
entwickelt:  die  granadischen  Mauren,  die  merkwürdigen  Bewohner 
von  Biscaya,  eine  Gesellschaft  von  „Indianern",  die  Cortez  nach 
Spanien  geführt  hat,  werden  in  ganzen  Blätterfolgen  dargestellt, 
und  endlich  hat  der  Beobachter  das  regste  volkskundliche  Interesse, 
indem  er  nicht  nur  jene  Vertreter  ganz  fremder  Rassen  bei  allerhand 
Verrichtungendes  Alltags  und  des  Feststags  vorführt^),  sondern  auch  die 

1)  Bartsch,  Peintre-Üraveur  XV,  325,  Nr.  134—203.  Sie  sind  in  den  großen  Kabi- 
netten von  Berlin,  Dresden,  München  nicht  vorhanden,  vollständig  aber  in  der  Kupferstich- 
sammlung  König  Friedrich  August's  II.  auf  tler  Brühischen  Terrasse  zu  Dresden.  Ich  be- 
nutzte photogi-aphische  Reproduktionen,  die  die  Direktion  der  genannton  Sammlung  freund- 
lichst für  mich  hat  anfertigen  lassen. 

2)  Doege  a.  a.  0.  S,  433  möchte  allerdings  Bertellis  Bilder  auf  Vico  zurückführen: 
er  hat  aber  Vicos  spanische  Trachtenbilder  nicht  gesehen  und  schließt  nur  aus  dem 
freilich  verlockenden  Umstand,  daß  Bertelli  die  29  nicht  spanischen  'rraclitenliilder 
Vicos  tatsächlich  kopiert  hat. 

3)  Ich  durfte  ihn  durch  die  Freundlichkeit  der  Direktion  in  Berlin  benutzen. 

4)  Am  wenigsten  die  Basken,  liie  auch  in  ihren  Stellungen  jener  Art  der  Wiedergabe 


Spanische  Trachtcnbikier  augsbiirgisclien  Urspriitifjjs.  109 

eigentlichen  Spanier  beider  Arbeit  des  Hauses,  des  Handels,  des  Feldes, 
des  Handwerks,  der  Schiffahrt,  bei  Spiel  und  Tanz,  beim  Spazieren- 
gehen und  Spazierenreiten,  endlich  auch  die  Missetäter  und  ihre 
Strafen  sehen  läßt.  Die  ziemlich  ausführli(;hen  Beischriften  neben 
den  Bildern  sind  in  deutscher  Sprache  abgefaßt:  von  einem  deutschen 
Künstler  rührt  das  Ganze  her,  von  einem  deutschen  Künstler  aber, 
der  in  Spanien  selbst  gearbeitet  hat:  spanische  Worte  sind 
verschiedentlich  eingestreut  und  verschiedene  Slangausdrücke 
deuten  auf  die  internationalen  Fremdenkreise  hin.  Noch  ge- 
nauer aber  läßt  sich  die  Heimat  des  Künstlers  bestimmen. 
Nicht  nur  weist  die  Orthographie  und  mancher  Ausdruck  jener 
Beischriften  auf  Augsburg,  entscheidend  ist  vielmehr  ein  Blatt,  auf 
dem  ein  junger  Mann  in  Seemannskleidung  dargestellt  ist;  da- 
neben steht  folgende  Erläuterung:  Allso  ist  der  Stoffeil  weydicz 
mit  dem  kolman  heim  Schmidt  jber  Mär  gevarn.  Christoph  Weiditz: 
das  ist  ein  Augsburger  Bildhauer,  ein  Verwandter  des  erst  neuer- 
dings mit  seinem  Namen  nachgewiesenen  sog.  Petrarcameisters 
Hans  Weiditz  —  er  hat  1532  in  Augsburg  die  Gerechtigkeit  erlangt^), 
und  Kolman  Helmschmidt  ist  ein  Angehöriger  der  weltberühmten 
Augsburger  Waffenschmiede-Familie  dieses  Namens,  jedenfalls  De- 
siderius  Kolmann,  der  Sohn  des  1532  gestorbenen  Koloman  Colman, 
der  viel  für  Karl  V.  gearbeitet  hat  und  selbst  später  vor  allem  im 
Dienste  Philipps  IL  von  Spanien  tätig 2).  Keine  Frage:  es  ist  ein 
Augsburger  Künstler  gewesen,  der  bei  einem  längeren  Aufenthalt 
in  Spanien  diese  Trachten-  und  Volkslebensbilder  größtenteils  nach 
der  Natur  aufs  Papier  gebracht  hat,  um  sie  später  daheim  zunächst 
im  Kreise  der  Kunstgenossen  zeigen  zu  können,  und  der,  um  auch 
einen  Lacherfolg  zu  haben,  als  einmal  zwei  heimische  Kollegen  in 
einer  spanischen  Hafenstadt  auftauchten,  den  einen  von  ihnen 
schleunigst  in  seiner  fremdartigen  Schiffstracht  abkonterfeite^).  Das 


bei  Vico  und  Bertelli  am  meisten  gleichen  —  man  möchte  glauben,  daß  der  Künstler  hier 
nicht  nach  der  Natur  arbeitet.  Eine  einigermaßen  auffallende  Ähnlichkeit  eines  Bildes  mit 
einer  der  Vicoschen  Darstellungen  findet  sich  nur  einmal  (bl.  119:  Bartsch  1371).  isi  aber 
auch  da  nicht  so  groß,  daß  man  annehmen  müßte,  beide  Künstler  hätten  hier  die  gleiche 
Vorlage  nachgebildet.  So  sind  wohl  auch  die  verhältnismäßig  wenigen  Trachten  aus  England, 
Frankreich,  Italien  und  Holland,  die  am  Schlüsse  des  Ganzen  auftauchen,  nach  Vorlagen 
gemacht  —  nur  bei  den  holländischen,  die  wieder  mehr  ins  Volkskundliche  gehen,  möchte 
man  auf  Autopsie  des  heimreisenden  Künstlers  schließen.  —  Mitten  im  Buch  (fol.  30) 
findet  sich  die  (sonst  nirgends  vertretene)  Darstellung  einer  Wienerin  —  gewiß  war  das 
Original  eine  Wiener  Dame,  die  ihre  Heimatstracht  nach  Spanien  mitgenommen  hatte. 

1)  Vgl.    H.  Röttinger,  Hans  Weiditz  der  Petrarkameister  (Straßburg  1904).     S.  22. 

2)  Über  ihn  W.  B  ö  h  e  i  m  ,  Jahrbücher  der  Kunstsammlungen  des  Allerhöchsten 
Kaiserhauses  1890  S.  201  ff.  und  Meister  der  Waffenschmiedekunst  (Berlin  1897)  S.  43ff. 

3|  Aus  dem  Umstand,  daß  er  den  andern,  den  Kolman  Helmschmidt,  wegließ,  möchte 
man  beinahe  schließen,  daß  er  selbst  dieser  Kolman  Helmschmidt  gewesen  i.st.  Dann 
würde  man  allerdings  das  Bild  statt  in  der  Mitte    mehr    im  Anfang  des  Codex  zu  suchen 


110  Spanische  Trachtenbilder  augsburgischen  Ursprungs. 

gleiche  Blatt  gibt  uns  einen  wichtigen  chronologischen  Anhalt  für 
die  Entstehung  des  Codex:  da  die  beiden  Künstler  offenbar  1532 
wieder  daheim  sind^j,  muß  das  Gesamtwerk  etwas  älter  sein;  an- 
dere Blätter  liefern  den  terminus  ante  quem  non:  Ferdinand  Cortez 
wird  nach  einem  Bilde  aus  dem  Jahre  1529  dargestellt  und  ist  eben 
damals  in  Spanien  (1526—1530);  Andrea  Doria,  der  berühmte  Seeheld, 
kämpft  schon  einige  Zeit  auf  selten  Karls  V.  (seit  1528);  und  einige 
weitere  Momente  sprechen  ebenfalls  für  die  Richtigkeit  der  Hypothese: 
der  Augsburger  Künstler  hat  die  Zeichnungen  um  das  Jahr  1530 
in  Spanien  gefertigt.  In  Augsburg  aber  hatten  wir  in  den  zwanziger 
Jahren  schon  das  starke  Kostüminteresse  der  Zeit  in  Leistungen 
der  Bildkunst  ausgedrückt  gefunden :  in  dem  historischen  Trachten- 
buch des  Matthäus  Schwarz  und  in  dem  großen  historischen  Ge- 
schlechtertanzgemälde,  und  ohne  behaupten  zu  können,  daß  der  in 
Spanien  arbeitende  Künstler  seine  Neigung  für  Kostüm  Zeichnung 
von  jenen  durch  Schwarz  bestimmten  Interessen  der  Vaterstadt  in 
die  Fremde  mitgenommen  und  sie  hier  nur  aus  dem  Historischen 
ins  Ethnologische  gewandelt  hat'^),  werden  wir  doch  die  Tatsache 
als  gesichert  ansehen  dih'fen :  Augsburg  ist  die  Wiege  des  moder- 
nen Kostüminteresses  bürgerlicher  Kreise,  und  das  dritte  Jahrzehnt 
des  16.  Jahrhunderts  die  eigentliche  Ursprungszeit. 

Von  da  aus  aber  verbreitet  sich  das  Interesse  weiter,  und  die 
soeben  behandelten  Zeichnungen  spielten  dabei  eine  wichtige  Rolle. 
Keineswegs  sind  sie  nämlich  ein  Unikum  geblieben,  sondern  haben 
offenbar  eine  starke  Wirkung  getan.  Der  Codex  selbst,  dem  wir 
die  Bekanntschaft  mit  ihnen  verdanken,  ist  nicht  etwa  das  Original, 
sondern  wie  einige  Sinnlosigkeiten  in  der  Wiedergabe  der  Namen 
zeigen  (z.  B.  Vollodoliff),  eine  in  Deutschland  von  fremder  Hand 
hergestellte  Kopie;  auch  das  Papier  ist  deutschen  Ursprungs.  Solche 
Kopien  waren  offenbar  in  den  folgenden  Jahrzehnten  mannigfach  im 
Umlauf,  und  ihre  Benutzung  durch  andere  läßt  sich  mehrfach  nach- 
weisen. Wichtiger  für  unsern  Zusammenhang  als  die  Feststellung, 
daß  Bertelli  in  sein  1563  gedrucktes  Trachtenbuch  zwei  unzweifel- 
haft von  dem  Augsburger  nach  dem  Leben  gezeichnete  Bilder  (fol.  17 
und  23)  übernommen  hat,  ist  die  Ermittlung,  daß  der  schon  genannte 
Sigismund  Heldt  in  seinem  riesigen  handschriftlichen  Kostümwerk 
eine  sehr  große  Zahl   der  Zeichnungen   des  Augsburger  Künstlers 


geneigt  sein  —  oder  es  mülSte  sicii  hei  der  „Meerfahrt"  niciit  um  die  Ankunftsreise  der 
t)(>iden,  sondern  um  eine  gelegentliciie  Faln-t  von  Hafen  zu  Hafen  gehandelt  haben. 

1 1  Das  oben  erwähnte  zweimalige  Auftreten  dieser  Jahreszahl  ist  doch  gar  zu  auf- 
fallend. In  den  Augsburger  Steuerlisten  wird  Des.  Kolman  allei'diugs  erst  1584  zuerst 
erwähnt. 

2)  AiUii'dings  finden  sich  /.wWx  Darstellungen  älterer  deutscher  Traciileii  milleii 
unter  den  damaligen  spanisclusn  —  das  könnte  fiii-  den  oben  ini  Text  nur  als  möglich 
angenommenen  Zusannnemhang  sprechen. 


Trachtfiiinteresse  in    Nüiiiljoifj.      Sigis-uiiind   Hcldt. 


111 


kopiert  hat,  und  sich  auch  für  seine  eigenen  Aufnahmen  von  ihm 
allgemein  hat  beeinflussen  lassen.  Diese  Ermitthuig  führt  uns  von 
Augsburg  nach  Nürnberg  und  damit  direkt  wieder  in  die  Hans 
Sachsische  Sphäre. 

Die  überaus  umfängliche  Handschrift,   um   die  es  sich  handelt 


Abb.  7:  Zwei  Türken.     Aus  Cod.  Heldt.     fol.  316  (s.  u.  S.  129). 

—  sie  umfaßt  nicht  weniger  als  867  einzelne  Zeichnungen  — ,  gehört 
jetzt  der  dem  Berliner  Kunstgewerbemuseum  angegliederten  Lipper- 
heidischen  Kostümbibliotheki) ;  Sigismund  Heldt,  der  1559  in  Nürn- 
berg als  Losungsschreiber  erscheint,  hat  sie  vermutlich  im  Laufe 
der  zweiten  Hälfte  der  sechziger  Jahre  zusammengestellt-).    In  der 


1)  Nr.  4.     Vgl.    die    ausführliche    Beschreibung    in    dem    gedruckten   Katalog.    Bd.   I 
(Berlin  1896  ff.),  S.  5  ff. 

2)  Die  jüngste    datierte  Tracht  weist    ins    Jahr  1565;    Heldt   benutzt  BerteUis  Werk, 


112  Sieglsmund  Heldts  Trachtenwerk. 

Vorrede  gibt  er  seinem  Werke  das  zeitübliche  moralische  Mäntelchen 
um :  er  habe  diese  Trachtenbilder  zusammengestellt,  um  die  Jugend 
vor  den  Auswüchsen  der  Mode  zu  warnen;  in  Wirklichkeit  zeigen 
sich  bei  ihm  die  drei  Arten  des  Interesses  vereinigt,  die  wir  bisher 
nur  neben  einander  nachweisen  konnten :  das  historische,  das  ethno- 
logische, des  volkskundliche,  z.  T.  so,  daß  die  Bekundungen  dieser 
verschiedenen  Interessen  ineinander  übergehen.  So  haben  wir  eine 
ganze  Menge  von  Bildern  alter  trachten:  nicht  nur  des  Kaisers 
und  hoher  Fürsten,  sondern  auch  alte  römische  Kleidungen,  ferner 
Trachten  von  Nürnbergern  aller  Stände  vom  Patrizier  bis  zum 
Simpeln  Handwerksmann,  z.  T.  mit  genauer  Datierung  (1500,  1512, 
1520,  1530,  1560  usw.).  Die  Quellen  Heldts  sind  hier  offenbar  ein- 
zelne datierte  Bilder  —  am  deutlichsten  in  der  sehr  umfangreichen 
Folge  von  Männern  und  Frauen  aus  Nürnberger  Geschlechtern  „in 
fünf  Veränderungen",  fünf  Entwicklungsstufen  der  einheimischen 
Tracht,  deren  jüngste  ins  Jahr  1480  verlegt  wird  —  offenbar  nach 
einem  Geschlechtertanzgemälde  gemacht,  wie  es  Matth.  Schwarz 
in  Augsburg  angeregt  hatte:  solche  kostümgeschichtlichen  Ideen 
haben  also,  wie  es  scheint,  auch  schon  vor  Heldt  in  Nürnberg 
Nachfolge  gefunden.  Die  rein  ethnologischen  Partien  bringen 
einmal  zahlreiche  Trachten  fremder,  zumal  exotischer  oder  doch 
weitabwohnender  Völker,  dann  aber  auch  viele  Kostüme  aus 
deutschen  Städten,  am  meisten  eigentümlicherweise  aus  Berlin  (19», 
ferner  aus  Hamburg  (10),  Königsberg,  Leipzig  und  Gandersheim  [!] 
(je  8),  Wittenberg  (5)  und  vieles  Verstreute.  Während  für  die 
ausländischen  Trachten  wenigstens  teilweise  die  Quellen  fest- 
gestellt werden  können:  die  spanisch -augsburgische  Handschrift 
und  Bertellis  gedrucktes  Buch,  bleibt  es  im  ganzen  zweifelhaft,  ob 
für  die  inländischen  Heldts  Zeichnungen  auf  lebendige  Beobachtung, 
auf  einzelne  Blätter,  oder,  wie  das  für  Königsberg  ziemlich  gewiß 
ist  und  wenigstens  für  Berlin  wahrscheinlich  aussieht,  auf  lokale 
Gesamtfolgeni),  zurückgehen.  Endlich  der  heimisch-volkskundliche 
Teil  —  im  gewissen  Sinne  der  wertvollste :    denn  hier,  wo  die  Wirk- 


das  in  erster  Auflage  1563,  in  letzter  1569  erschienen  ist,  während  die  gedruckten  Bücher 
der  siebziger  Jahre  nicht  mehr  ausgebeutet  sind.  Später  hat  H.  noch  ein  ilhistriertes 
Gesclilechtsbuch  hergestellt,  das  handschriftlich  in  Nürnberg  bewahrt  wird. 

1)  Im  Druck  liegen  solche  lokalen  Trachtenbücher  zunächst  allerdings  nicht  vor, 
sondern  beginnen  erst  1601  mit  Möllers  Danziger  Frauentrachtenbuch  (Doege  S.  431);  doch 
scheint,  was  bisher  nicht  bekannt  war,  schon  1573  ein  StratJburger  Trachtenbuch  von 
Christoph  Riedacker  erschienen  zu  sein,  das  der  Rat  aber  als  schimpflich  rnd  .spottlich 
alsbald  unterdrückte.  Handschriftlich  existiert  hat  jedenfalls  ein  ost-  und  westpreußisches 
Trachtenbuch,  das  neben  städtischen  Gewändern  auch  allerhand  litauische  Kostüme  u.  d<il. 
enthielt  —  ein  Abkömmling  davon  ist  ein  Codex,  der  der  Firma  Börner  in  Leipzig  gehört  und 
in  einem  ilir(>r  Kataloge  fälschlich  als  „brandenburgisches  Trachtenbuch  v.  J.  1539"  er- 
scheint. Heldt  hat  einige  Blätter  daraus  benutzt,  ebenso  das  Weigelsche  Trachtenbuch 
V.  .1.  1577. 


Siegismund  Heldts  Trachtenweik  und  sein  Einfluß  in  Nürnberg. 


113 


werden    mag,    daß 
zu    spüren  ist,    so 


lichkeitstreue  uns  durchaus  verbürgt  ist,  sind  Alltags-  und  Festtags- 
leben der  Nürnberger  und  des  benachbarten  Landvolkes  in  einer 
Fülle  und  einem  Nuancenreichtum  vorgeführt,  die  es  verbieten,  hier 
mit  einer  Charakteristik  auch  nur  den  Anfang  zu  machen ;  bemerkt 
auch  hier  der  historische  Zug  nicht  selten 
z.  B., 
wenn  etwa  die  altmodische 
Tracht  vorgeführt  wird,  in 
der  die  Barbiere  „noch  in 
Anno"  1550  in  die  Häuser 
gingen.  Angeregt  aber  ist 
Heldt  zu  der  Darstellung 
solcher  Volksszenen,  die 
über  das  bloße  Kostüm- 
bild weit  hinausgehen, 
zweifellos  durch  die  volks- 
kundlichen Darbietungen 
des  spanisch  -  augsburgi- 
schen Codex:  die  Vor- 
führung z.B.  der  zu  Markte 
ziehenden  Bauern  mit 
Wagen  und  Pferden  sind 
beinahe  als  Übersetzungen 
aus  dem  Spanischen  ins 
Nürnbergische  anzusehen. 
Dies  volkskundliche  Inter- 
esse aber  an  der  Tracht 
und  seine  Bedeutung  für 
die  Herstellung  von  Bilder- 
folgen regt  sich  nun  in 
Heldts  Tagen  und  mög- 
licherweise durch  seine 
Anregung  auch  sonst:  die 

Vervielfältigung  der 
Schembartbücher  w  ird  seit 
der    zw^eiten    Hälfte    des 
Jahrhunderts     mit     uner- 
hörtem   Eifer    betrieben, 

und  alle  möglichen  Bilder  von  Nürnberger  Volksbelustigungen 
werden  beigegeben,  die  ihre  Verwandtschaft  mit  Heldtschen  Dar- 
stellungen nicht  verleugnen  könneni). 


Abb.  8 :  Jakobsbruder.  Aus  Cod.  Heldt  fol.  43  (s.  u.  S.  1 28) 


1)  Vgl.  o.  S.  107,  Anm.  2.     Von  solchen  Ermittlungen    findet    .sich  allerdings  in  der 
leider   wenig  wertvollen   Einleitung    zu    der   durch    die  Gesellschaft    der  Bibliophilen   ver- 
anstalteten Reproduktion    der  Hamburger  Handschrift    des  „Nürnberger  Schembartbuches'" 
Herrmann,   Theater.  8 


114  Trachten  in  der  Bücherillustration.    —  Tradition  des  Theaterkostüins. 

Für  das  steigende  Interesse  an  authentischen  Kostümen  liefert 
endlich  —  worauf  hier  eben  nur  hingewiesen  werden  kann  —  auch 
die  bildende  Kunst  des  16.  Jahrhunderts  gewisse  Belege  im  Gemälde 
und  namentlich  in  der  graphischen  Darstellung,  die  ja  zumal  in 
der  Form  der  Bücherillustration  für  einen  Mann  wie  Hans  Sachs 
besonders  maßgebend  gewesen  ist.  So  tritt  der  Zug  zu  einer 
Charakteristik  von  Personen  vergangener  Zeiten  durch  Anwendung 
früher  im  Gebrauch  gewesener  Kostüme  bei  einem  Maler  wie  Lukas 
von  Leyden  zutage.  Das  eigentliche  Hauptgebiet  für  die  Ersetzung 
der  Gegenwartsgewänder  durch  historische  Tracht  ist  aber  die 
Illustration  der  Antike,  die  ja  eben  in  den  Büchern  dieser  Zeit  eine 
so  hervorragende  Rolle  spielt,  und  tatsächlich  zeigen  manche  Künst- 
ler der  für  uns  hier  wichtigen  Jahrzehnte  das  entschiedenste  Mühen 
um  archäologische  Kenntnisse;  die  große  Mehrzahl  der  Bilder  zu 
griechischen  und  römischen  Schlachten  fährt  allerdings  fort,  die 
Krieger  ruhig  in  die  moderne  Ritterrüstung  zu  stecken.  Ebenso 
steht  es  in  etfinologischer  Beziehung.  Von  einer  Einführung  spani- 
scher Tracht  scheint  freilich  noch  nicht  die  Rede  zu  sein :  die 
Illustrationen  zu  Calixt  und  Melibia  z.  B.  zeigen  durchaus 
die  deutschen  Gewänder,  aber  auf  das  orientalische  Kostüm 
wird  doch  schon  mehr  Rücksicht  genommen,  und  so  gibt  etwa 
die  Wittenberger  Bibel  von  1534  durch  Einführung  mindestens 
von  türkischen  Kopfbedeckungen,  Waffen  u.  dgl.  den  bi- 
blischen Bildern  schon  einen  gewissen  morgenländischen  Charakter. 
Es  ist  also  hier  wie  überall:  noch  ist  der  Bann  nicht  eigentlich 
gebrochen,  sichtlich  aber  regt  sich  doch  schon  ein  eben  erwachtes 
neues  Leben. 

Es  wird  sich  nun  fragen :  stellt  sich  diesen  eben  in  Hans  Sachsens 
Zeit  lebhafter  hervortretenden  Kostüminteressen  eine  Tradition  des 
Theaterkostüms  entgegen,  die  stark  genug  ist,  allen  etwaigen  Neue- 
rungsgelüsten und  -forderungen  den  Eintritt  zu  verwehren?  Die 
stärkste  Tradition  wird  von  vornherein  bei  den  Trachten  zu  erwarten 
sein,  die  in  den  neutestamentlichen  oder,  wir  dürfen  wohl  sagen : 
den  biblischen  Spielen  gebraucht  wurden.  Leider  sind  die  in  den 
vorreformatorischen  Dramentexten  enthaltenen  kostümlichen  Hin- 
weise und  Anspielungen  im  allgemeinen  so  dürftigij,  daß  sich  in 
bezug  auf  diese  Zeit  über  die  Theatertrachten  wenig  sagen  läßt 
—  man  müßte  denn  im  Bewußtsein  der  viel  betonten  Tatsache,  daß 
sich  die  mittelalterlichen  Maler  vielfach  von  den  Marktplatzaufführun- 
gen beeinflussen  ließen,  den  Versuch  wagen,  auf  den  Gemälden 
die  vielleicl^J;  hie  und  da  auch  mit  übernommenen  Theaterkostüme 
herauszufinden.      Dieser    Versuch    kann    hier    nicht    unternommen 


(Weimar    1908)    nicht    das    Geringste    —    ja    überhaupt    kaum    ein    Ansatz    /u   wirklicher 
Sammlung  und  kritischer  Sichtung  des  Materials. 

1)  Vgl.  die  Materialzusammenslellungen  bei    Heinzel,  S.  23 — 26. 


Theaterkostüm  im  Mittelalter.  115 

werden.  Aus  der  Spärlichkeit  der  Trachtenvorschriften  in  den 
szenischen  Bemerkungen  aber  kann  man  zunächst  einen  doppelten 
Schluß  ziehen:  entweder  könnten  die  Kostüme  im  allgemeinen  als 
ein  nicht  sehr  wesentlicher  Bestandteil  der  Aufführung  der  Willkür 
der  einzelnen  Darsteller  überlassen  sein  oder  aber:  die  Tradition 
war  hier  so  fest  und  streng,  daß  besondere  Bemerkungen  si(;h  fast 
ganz  erübrigten;  wenn  gelegentlich  einmal  (im  Erlauer  Dreikönigs- 
spiel) die  Vorschrift  sagt:  Maria  cum  angelis  et  Joseph  de  vestibus 
ipsis  decentibiis  seciindum  beneplacitiim  registranfis,  so 
möchte  man  aus  dem  Umstände,  daß  ein  solches  ausdrückliches 
Zugeständnis  an  die  Willkür  des  Regisseurs  eben  nur  einmal  er- 
scheint, die  Folgerung  ziehen,  daß  ihm  sonst  die  Hände  gebunden 
waren.  Anderseits  aber  zeigt  das  Gebot,  daß  die  Kostüme  Dezenz  zu 
bekunden  hätten,  das  nicht  nur  hier,  sondern  im  Verhältnis  zur  Spär- 
lichkeit des  Materials  verhältnismäßig  häufig  im  14.  und  15.  Jahr- 
hundert uns  entgegentritt,  daß  man  im  allgemeinen  in  bezug  auf  die 
Kleidung  den  Mitwirkenden  ziemlich  viel  Freiheit  gelassen  hat  und  in- 
folgedessen sich  öfters  gegen  Auswüchse  wenden  mußte.  Vielleicht 
war  es  so,  daß  man  bei  den  ganz  kleinen  Rollen  alles  den  einzelnen 
Darstellern  überließ  und  daß  namentlich  die  Statisten  sich  kleiden 
konnten  wie  sie  wollten,  wenn  sie  nur  aus  dem  stilus  honestus  des 
Ganzen  nicht  herausfielen,  daß  dagegen  für  allegorische  Figuren, 
für  fürstliche  Personen  und  namentlich  für  die  heiligen  Haupt- 
gestalten eine  gewisse  feste  Tradition  sich  herausbildete.  So  darf 
etwa  der  Praecursor  nicht  mit  den  närrischen  Attributen  des  Fast- 
nachtspieleinschreiers sich  ausstaffieren.  Wohl  aber  spielen  sym- 
bolische Attribute,  zumal  bei  den  allegorischen  Gestalten  eine  große 
Rolle:  die  Gerechtigkeit  z.  B.  trägt  Buch  und  Schwert;  die  heiligen 
drei  Könige  haben  auch  auf  der  Reise  die  Krone  auf  dem  Haupte, 
und  der  sie  begrüßende  Herodes  hält  noch  dazu  das  Zepter  in  der 
Hand.  Die  Stilisierung  der  Kostüme  der  Protagonisten  scheint 
in  den  eigentlich  liturgischen  Spielen  am  strengsten  gewesen 
zu  sein  —  bei  der  Nürnberger  Osterfeier  wie  dann  bei  der  späten 
Bordesholmer  Marienklage  kommen  priesterliche  Gewänder  zur 
Verwendung,  und  Christi  Nacktheit  wird  nur  symbolisch  an  einem 
leblosen  Crucifixus,  den  der  völhg  bekleidete  Sprecher  der  Christus- 
rolle in  der  Hand  hält,  angedeutet.  Auf  dem  geistlichen  Stadt- 
theater dagegen  erscheint  Christus  bei  der  Kreuzigung  nackt,  d.  h. 
jedenfalls  in  libkleidern,  und  auch  bei  Lebzeiten  geht  er  nudis 
pedibus  einher:  in  Übereinstimmung  mit  den  gleichzeitigen  Dar- 
stellungen der  bildenden  Kunst;  noch  in  einem  Prosadialog  Hans 
Sachsens  vom  Jahre  1546  (KG.  22,  S.  367)  heißt  es  von  einem  Wan- 
derer, der  dem  Erzähler  begegnet:  Als  aber  ich  neher  zw  im  kam 
und  in  recht  pesach,  da  war  es  unser  hergot,  den  ich  als-pald  a  n 
seinem  parfues-gen   vnd  praunem  gestrickten  rock  erkennet. 


116  Theaterkostüm  im  Mittelalter. 

Nachweisbar  sind  die  Itbkleider  und  Itbstrümpfe  allerdings  erst  im 
16.  Jahrhundert  1). 

Für  die  mehr  stilisierende  Behandlung  des  Kostüms  bei  den 
wichtigeren  Gestalten  sprechen  auch  zwei  Erwägungen  allgemeinerer 
Art.  Die  eine  ist  die:  daß  es  für  die  nur  jährlich  oder  in  noch 
größeren  Abständen  wiederkehrenden  Aufführungen  wenigstens  für 
die  bedeutsamen  Rollen  gewiß  eine  Art  Theatergarderobe  gab;  die 
Kostüme  blieben  lange  Zeit  hindurch  verwendbar,  wurden  altertüm- 
lich und  wurden  schließlich  gewiß  nicht  mehr  als  unmodern,  sondern 
als  für  die  betreffende  Gestalt  wesentlich  empfunden,  so  daß,  wenn 
einmal  eine  Neuanfertigung  nötig  war,  der  frühere  Zustand  im 
ganzen  wieder  zugrunde  gelegt  wurde.  Und  das  andere:  bei  der 
mittelalterlichen  Marktauf  führung  kann  nicht  damit  gerechnet  werden, 
daß  jeder  im  Publikum  alle  gesprochenen  Worte  tatsächlich  ver- 
nimmt. Sie  bietet  viel  weniger  als  unsere  heutige  Bühnenkunst 
die  Vorführung  einer  dramatischen  Dichtung,  bei  der  das  Wort  die 
vornehmste  Rolle  spielt:  sie  ist  in  erster  Reihe  Theater,  sie  ver- 
mittelt das  Verständnis  mit  Hilfe  des  Schauens  —  durch  die  Be- 
wegungen der  Personen  auf  dem  großen,  alle  heiligen  Orte  um- 
fassenden Schauplatz  wird  dem  Zuschauer,  der  ja  mit  dem  Gesamt- 
hergang durchaus  vertraut  ist,  klar,  an  welchem  Punkte  der  Hand- 
lung man  sich  in  jedem  Augenblick  befindet.  Zur  Erreichung  dieses 
Zieles  ist  es  aber  nötig,  daß  man  auch  auf  weitere  Entfernung  hin 
die  Personen  erkennt,  und  das  beste  Mittel  in  dieser  Hinsicht  ist 
das  stilisierte  Kostüm.  Vielleicht  tritt  in  der  ja  wohl  gewiß  nicht 
regelmäßig,  aber  doch  vielfach  zu  beobachtende  Neigung  der  Maler, 
die  Nebenpersonen  ins  Alltagsgewand  zu  hüllen,  die  Hauptgestalten 
dagegen  mit  einem  mehr  idealisierten  Kostüm  zu  versehen,  eine 
Abhängigkeit  von  den  Trachtenverhältnissen  der  Marktplatzbühne 
zutage. 

Glücklicherweise  gibt  durch  einen  freundlichen  Zufall  unser 
karges  Material  einen  Hinweis,  der  uns  in  bezug  auf  das  Vorhanden- 
sein von  Typisierung  und  Stilisierung  aus  dem  Bereich  der  Ver- 
mutung etwas  hinausführt  und  Gelegenheit  gibt,  eine  Brücke  zu 
dem  reicheren  Material  des  16.  Jahrhunderts  zu  schlagen.  In  dem 
Tiroler  Mariälichtmeßspiel  des  15.  Jahrhunderts  heißt  es  in  bezug 
auf  den  greisen  Simeon,  der  bei  Maria  Tempelgang  den  Christus- 
knaben auf  dem  Arm  tragen  darf:  Interim  venu  Simeon  in  habitu 
prophetali  .  .  .  Etwas  Ungewöhnliches  also,  denn  dieser  Simeon 
(Luc.  2,25)  ist  kein  Prophet;  aber  als  etwas  ganz  Bekanntes,  im 
Typus  Feststehendes  wird  der  habitns  prophetalis  vorausgesetzt: 
das  Gewand,  an  dessen  Schnitt  und  etwa  auch  an  dessen  Farbe 
der  Zuschauer  den  Träger  als  einen  Propheten  erkennt.  Diese 
Prophetentracht   als   eine  besondere  Eigentümlichkeit  taucht   dann 

1)   Hei  HZ  ei    a.  a.  0.,   S.  25,    Anm. 


Kostüm  des  geistliclien  Theaters  im  16.  Jahrhundert.  117 

auch  in  den  Luzerner  Bühnenrodeln  des  16,  Jahrhunderts  wieder  aufi), 
und  namenÜich  schreiben  die    sehr  austuhrHchen  Kostümangaben 
des   Jahres   1583    deutlich    vor,    die  Propheten    als  Propheten   vasf 
(/lychförmig  uff  seltzame  manier   auftreten    zu  lassen;    es   kommt 
offenbar  besonders  darauf  an,  sie  von  Abraham   und  seiner  Sippe, 
die  patriarchisch,  und  Petrus,  Johannes  und    den   übrigen   Jüngern 
die  got  zwelff'bottisch  gekleidet  gehen,   zu   unterscheiden;    und  auf 
ein  so  feines  Verständnis  für  den  symbolischen  Sinn  solcher  Kostü- 
me rechnet  man   beim  Zuschauer,    daß  Moses,    der    zwischen    den 
Patriarchen  und  Propheten  steht,  auch  ettwas  vnderschydlich  zwischen 
einem  Patriarchen  und  Propheten  gekleidet  sein  soll.    Gekhlaidt  wie 
ein   Patriarch  als    ein  feststehender  Begriff   kommt    auch    in    den 
Kostümanweisungen  vor,  die  um  1580  ein  österreichischer  Regisseur 
seinen  katholisierenden   Bearbeitungen   und  Ineinanderarbeitungen 
Hans  Sachsischer  Bibeldramen  beigegeben  hat  2);  so  stimmen  auch 
in  der  am  Ende  dieses  Bandes  ausführlich  behandelten,  ohne  Zweifel 
stark   das  Theatralische    berücksichtigenden   Bilderhandschrift  von 
Jakob  Rufs  Drama  Der  Weingarten  des  Herrn  (Zürich,  ca.  1540)  die 
Trachten  der  Propheten  untereinander  gegen  die  wieder  unter  sich 
stark  verwandten  Trachten   der  Apostel  ziemlich  deutlich   überein. 
Es  handelt  sich  offenbar  um  einen   an  den  verschiedensten  Orten 
gültigen  Gebrauch,    und  da  wir  den  habitiis  prophetalis  schon  im 
Mittelalter  nachweisen  konnten,  werden  wir  das  Recht  haben,  auch 
den  habitus  patriarchalis  und  den  habitiis  apostolicus  bis  in  die  alte 
Zeit  zurückzuverlegen.  Die  Gleichheit  bezieht  sich  aber  wohl  mehr  auf 
das  Prinzip    als    auf    die  Haltung  der  Kostüme  im  einzelnen,    die 
gewiß  auch  von  lokalen  Verhältnissen  mitbestimmt  war:  so  scheinen 
z.  B.  die  Luzerner  Propheten  mehr  den  Züricher  Aposteln   ähnhch 
und  umgekehrt;    noch  weniger  werden  wir  also  mit  Sicherheit  die 
eine  oder  andere  Kostümkategorie  mit  all  ihren  Einzelheiten  bis  ins 
15.  Jahrhundert  zurückdatieren  dürfen. 

Daß  auch  sonst  im  16.  Jahrhundert  längst  feststehende  Trachten- 
typen immer  wieder  zur  Verwendung  gelangen,  geht  aus  der  Form 
einiger  Anweisungen  deutlich  hervor:  Die  Engel.  Wie  Engel  sond 
cleyt  syn^)  und  Maria  gekhlaidt  in  jren  gewonlichen  khlaidern^). 
Der  König  und  sein  Hofgesinde  in  Johannes  Heros'  Drama  Der 
irdisch  Pilgerer  (1562  in  dem  Nürnberg  benachbarten  Städtchen 
Roth  geschrieben)  sind  all  bekleidet  nach  gewönlicher  arth.    Ferner 


1)  Abgedruckt  durch  R.   Brandstetter,   Germania  30,   S.  205ff.,   325ff. 

2)  Cod.  germ.  Mon.  3635  an  verschiedenen  Stellen:  z.  T.  gedruckt  bei  Hampe: 
Die  Entwicklung  des  Theaterwesens  in  Nürnberg,  S.  49ff.  Ich  durfte  die  Handschrift  hier 
in   Berlin  benutzen. 

3)  Germ.  30,  S.  205. 

4)  P.  Expeditus  Schmidt,  Die  Bühnenverhältnisse  des  deutschen  Schuldramas, 
S.    75. 


118    Das  Theaterkostüm  des  16.  Jahrliunderts  und  das  neue  Interesse  an  der  Tracht. 

bekunden  einige  mehr  oder  weniger  große  Übereinstimmungen  in 
der  kostümlichen  Ausgestaltung  verschiedener  Hauptgestalten  in 
Luzern,  Zürich,  Österreich  —  so  besonders  in  bezug  auf  die  Tracht 
des  Gottvaters,  doch  auch  des  Kain,  des  Abel,  der  Schlange,  der 
EngeP),  daß  neben  aller  lokalen  Differenziertheit  auch  eine  gewisse 
Gesamttradition  sich  bis  gegen  Ende  des  16.  Jahrhunderts  erhalten 
hat;  zu  einer  direkten  Anknüpfung  an  die  Theatertracht  des  14. 
und  15.  Jahrhunderts  reicht  das  kärgliche  Material  freilich  bei  weitem 
nicht  hin  2). 

Jedenfalls:  die  Existenz  einer  stark  wirksamen  Tradition  bei 
Hans  Sachsens  Zeitgenossen  ist  als  erwiesen  zu  betrachten  —  nun 
fragt  sich  noch:  läßt  sich  eben  in  der  Zeit,  in  der  er  das  Nürnberger 
Theater  leitet,  umgekehrt  das  Eindringen  der  neuen  Tendenz  zum 
historischen  und  ethnologischen  Kostüm  an  dem  bisher  betrachteten 
Material  spüren  ?  Kein  Zweifel  zunächst,  daß  in  der  Luzerner  Aus- 
stellung des  Jahres  1583  die  neue  Periode  deutlich  zu  merken  ist. 
Vor  allem  der  historische  Zug  in  der  Scheidung  der  Personen  des 
alten  und  des  neuen  Testamentes:  immer  wieder  wird  für  die  Ge- 
stalten der  vorchristlichen  Zeit  eine  gar  allte  manier  der  Trachten 
und  dergleichen  entschieden  verlangt,  während  für  die  Personen 
der  eigentlichen  Oster-  und  Passionsspiele  davon  nicht  die  Rede 
ist:  man  merkt  die  Absicht,  den  Zuschauer  die  chronologischen 
Unterschiede  spüren  zu  lassen.  Und  ferner:  während  im  Mittelalter 
die  Nebenfiguren  einfach  die  zeitgenössische  deutsche  Tracht  ge- 
tragen haben,  hier  das  ethnologisch  gerichtete  Bestreben,  sie  wenig- 
stens in  jüdische  Gewänder  zu  stecken.  Wenn  weiter  für  viele 
NichtJuden  der  heiligen  Vorgänge,  zumal  für  Pilatus  und  seine 
römische  Umgebung,  vielfach  heidnische  Manier  vorgeschrieben 
wird,  so  ist  wenigstens  für  den  Kreis  des  Neuen  Testaments  dar- 
unter schwerlich  irgend  eine  behebige  fremde  Tracht,  sondern  eben 
die  antik  römische  zu  verstehen:  sonst  würde  nicht  für  Herodes 
angegeben  sein:  weder  jüdisch  noch  heidnisch,  sonst  frömbder 
Manier,  doch  meer  jüdisch,  denn  er  war  ein  Proselyt  oder  be- 
schnitner  Heyd.  Der  neue  kostümwissenschaftliche  Zug  der  Zeit 
spricht  sich  übrigens  in  solcher  subtilen  Scheidung  besonders  aus. 
Das  besondere  Interesse  für  die  orientalische  Tracht  geht  endlich 
aus  der  Vorschrift  hervor,  die  für  die  ägyptischen  Kaufleute,  die 
Käufer  des  jungen  Joseph  gilt :  Sond  bekleidt  sin  jn  langen  kleidern 
mitt  krummen  Seblen,   auch  hohen  Hütten  mitt  Fädern,  alls  heid- 

1)  In  dem  eben  genannten  Ii'dischen  Pilger  des  .loh.  Heros  steht:  Der  Eiujel  svl  in 
lauter  weis  gekleidt  sein,  mit  einem  rot/ien   Creutz  über  die  Alben. 

2)  Die  heiligen  drei  Könige  tragen  in  Österreich  wie  hundert  .Jaiue  Irüiier  im  Er- 
lauer Spiel  noch  Kron(Mi  auf  dem  Haupte  (in  Luzern  ist  davon  nicht  die  Rede);  aber  im 
Gegensatz  zu  der  älteren  Darstellung  (vgl.  oben  S.  115)  gibt  man  ihnen  hier  nun  auch 
iine   Zepter   auf  die    Reise   mit. 


Theaterkostüm  bei  der  Aufführung  weltlicher  Dramen.  119 

nische  oder  türckische  Koiifflüt.  —  So  deutlich  wie  hier  tritt 
in  dem  österreichischen  Material  der  gleichen  Zeit  die  neue  Periode 
noch  nicht  zutage  —  ist  es  doch  auch  bei  weitem  nicht  so  um- 
fassend und  entstammt  es  doch  offenbar  auch  einer  viel  einfacheren 
Sphäre;  immerhin  tauchen  auch  hier  nicht  nur  der  Judenhut,  sondern 
auch  türkischer  Hut  und  türkisches  Kleid  auf.  Allerdings:  all  das 
ist  nachhanssachsisch.  Aber  auch  in  der  Luzerner  Aufführung  des 
Jahres  1545  beginnt  das  Neue  sich  wenigstens  schon  zu  regen. 
Zwar  von  jener  chronologischen  Scheidung  der  alt-  und  der  neu- 
testamentlichen  Tracht  ist  hier  noch  nicht  die  Rede,  aber  auch  hier 
wird  doch  schon  für  die  Nebenpersonen  jüdisches  Gewand  an- 
geordnet; wenn  die  Kostüme  von  Pilatus  und  seiner  Frau  als 
heydisch  bezeichnet  werden,  so  darf  man  vielleicht  schon  an  An- 
tikes denken,  und  vor  allem  kommt  der  Sinn  für  orientalische 
Trachten  mit  merkwürdiger  Deutlichkeit  in  den  Gewändern  der 
heiligen  drei  Könige  zum  Ausdruck :  sie  sond  cleyd  syn  bim  kost- 
lichsten.    Caspar  arabisch,  Melchior  tarsisch,  Balthasar  mörisch. 

Läßt  sich  somit  schon  angesichts  des  Bibeldramas  behaupten, 
daß  in  Deutschland  zur  Zeit  der  Meistersängerbühne  die  mittel- 
alterliche Kostümtradition  in  der  Hauptsache  noch  lebendig  war, 
daß  aber  anderseits  das  neu  erwachte  Interesse  für  authentische 
Trachten  auch  auf  dem  Theater  sich  eben  geltend  zu  machen 
anfing,  so  wird  sich  endlich  fragen,  ob  das  seit  dem  Ende  des  15. 
Jahrhunderts  immer  mächtiger  auf  die  Bühne  sich  drängende  welt- 
liche Drama  die  moderne  Bewegung  noch  zu  fördern  imstande 
war.  Leider  ist  hier  das  Material  noch  wesentlich  dürftiger  als  in 
bezug  auf  die  geistlichen  Aufführungen.  Die  szenischen  Bemer- 
kungen der  Dramentexte  und  die  bisher  bekannt  gewordenen  Archiv- 
notizen über  stattgehabte  Vorstellungen  geben  so  gut  wie  nichts 
her,  und  es  bleiben  eigentlich  nur  die  Dramenillustrationen;  auch 
von  den  dort  wiedergegebenen  Kostümen  aber  scheidet,  wie  die  im 
zweiten  Teil  dieses  Buches  angestellten  bilderkritischen  Untersuchun- 
gen zeigen,  sehr  vieles  als  gar  nicht  dem  Theater  zugehörig  aus, 
und  von  den  positiven  Ergebnissen  ist  für  die  hier  behandelte 
Frage:  nach  dem  Vorhandensein  einer  festen  Tradition  und  dem 
leisen  Streben  nach  Berücksichtigung  des  neuen  historisch-ethnolo- 
gischen Moments  kaum  etwas  zu  verwenden;  denn  es  handelt  sich 
durchaus  um  Dinge,  die  der  hier  in  Betracht  kommenden  Periode 
noch  voran  liegen,  und  die  Gelegenheit,  ethnologisch  Fremdartiges 
anzubringen,  ist ^ nicht  allzu  groß.  Allerdings:  die  Antike  kommt  in 
erster  Reihe  in  Betracht:  beim  Terenz;  aber  hier  in  den  Darstellun- 
gen aus  dem  bürgerlichen  Leben  ist  die  Versuchung  nicht  allzu 
groß,  nach  besonderer  Eigentümlichkeit  der  Tracht  zu  streben;  zu 
mindesten  genügt  eine  gewisse  Altertümlichkeit,  die  sich  hier 
wieder  durch  die  Konservierung  alter  Theatergarderoben  einstellt. 


120  Kostüm  des  weltlichen  Theaters.     Hans  Sachsens  Theaterkostüme. 

Eher  locken  Szenen  mythologischen  oder  historischen  Inhalts  zu 
aparter  Kostümierung,  und  dabei  hat  allerdings  offenbar  zum  Teil 
malerische  Phantasie  sich  geltend  machen  dürfen,  hie  und  da  sich 
anlehnend  an  irgend  ein  einzelnes  antikes  Kostümstück,  auf  das 
die  werdende  Renaissancekultur  schon  hingewiesen  hatte,  öfter 
aber  an  den  Mummenschanz  der  heimischen  Feste.  Gewiß  hat 
also  hier  auf  dem  Gebiete  des  weltlichen  Spiels  das  Moderne  leichter 
seinen  Einzug  halten  können;  eine  Bemühung  um  archäologische 
Kostümtreue  bei  der  Darstellung  altgriechischen  Lebens  aber  hat 
sich  bisher  nicht  vor  dem  Jahre  1566  nachweisen  lassen,  und  da 
handelt  es  sich  um  eine  besondere  Vorführung  an  einer  Stätte 
hervorragender  Gelehrsamkeit:  am  Gymnasium  zu  Straßburg i).  So 
etwas  wird  bei  Durchschnittsaufführungen  bürgerlicher  Kreise  nie- 
mand verlangt  haben,  zumal  es  die  Anfertigung  völlig  neuer  Kostü- 
me erheischt  und  somit  große  Kosten  gemacht  hätte.  Aber  die 
gelegentliche  Einführung  von  Trachten  fremder  Völker,  für  deren 
Eigenart  auch  weiteren  Kreisen  die  Augen  geöffnet  waren,  wurde 
vermuthch  hier  im  weltlichen  Spiel  noch  mehr  als  im  geisthchen 
verlangt  und  konnte  schließlich  auch  ohne  gar  zu  tiefen  Griff  in 
den  Geldbeutel  geleistet  werden. 

Kommen  wir  so  vorbereitet  an  Hans  Sachsens  Theaterkostüme 
heran,  so  sind  wir  nun  imstande,  das  Material  recht  zu  deuten 
und  zu  erkennen :  er  bereitet  uns  auch  auf  diesem  Gebiete  keine 
Überraschungen,  sondern  läßt  sich  von  der  geschichtlichen  Situation 
tragen.  Zunächst  auch  hier  keine  völlige  Emanzipation,  sondern 
ein  starkes  Fortleben  der  Tradition,  zumal  im  geistlichen  Drama. 
Die  hier  hervortretende  Dürftigkeit  in  den  szenischen  Bemerkungen 
hinsichtlich  der  Kostüme,  die  in  den  neutestamentlichen  Spielen 
zu  fast  völliger  Schweigsamkeit  gesteigert  ist,  erinnert  an  die  mittel- 
alterlichen Texte,  die  auch  so  sehr  wenig  über  die  Tracht  bemerkten, 
weil  sie  eben  im  allgemeinen  fest  in  der  Tradition  begründet,  also 
selbstverständlich  war,  und  zeigt,  daß  Hans  Sachs  auch  noch  an 
der  Überlieferung  festhielt.  Zu  solchem  Argumentum  ex  silentio 
gesellt  sich  auch  einiges  Positive :  wenigstens  an  der  Kostümierung 
der  Hans  Sachsischen  Könige  zeigt  sich,  daß  man  bei  den  Meister- 
singern der  alten  Tracht  treu  blieb.  Der  Hans  Sachsische  König 
trägt  beständig  die  Krone  auf  dem  Haupt  so  gut  wie  der  König 
Herodes  und  die  heiligen  Drei  aus  dem  Morgenlande  in  den  geist- 
lichen Spielen  des  Mittelalters,  obschon  man  in  Nürnberg  bei  den 
Einzügen  Karls  V.  und  Ferdinands  gesehen  hatte,  daß  der  Herrscher 
auch  in  feierlichen  Situationen   von    diesen  Zeichen  seiner  Würde 


1)  Vgl.  P.  Expedit  US  Schmidt,  S.  68.  Übrigens  mag  man  auch  auf  das  oben 
(S.  112)  erwähnte,  isolierte  Straüburger  Trachtenbuch  von  1573  in  diesem  Zusammenhang 
hinweisen. 


Tradition  und  Neuerungsspuren.  12  L 

keinen  Gebrauch  macht;  er  trägt  sie  niclit  nur  in  festlichen  Momen- 
ten, sondern  immer,  etwa  auch  wenn  er  zu  Tisch  geht  (KG.  11, 
S.  143),  und  es  ist  ein  großer  Ausnahmefall,  wenn  König  Artaxerxes 
beim  Zubettgehen  (KG.  23,  S.  213)  statt  der  Krone  die  Schlafhaube 
auf  dem  Kopfe  trägt:  sie  spielt  im  Fortgang  der  Handlung  eine  be- 
deutsame Rolle.  So  muß  der  Hans  Sachsische  König  auch 
noch  wie  weiland  König  Herodes  das  Zepter  stets  in  der  Hand 
halten  —  werden  Krone  und  Zepter  beiseite  gelegt,  so  kann  das 
die  Abdankung  bedeuten,  so  wie  der  Thronprätendent  bei  seiner 
Anerkennung  mit 'Krone  und  Zepter  geschmückt  wird.  Die  Krone 
kommt  auch  der  Königin  ständig  zu.  Ebenso  aber  ist  es  offenbar 
alte  Tradition,  daß  der  König  immer  in  einem  besondern  „könig- 
lichen Gewand"  einher  geht:  es  ist  mit  Gold  geschmückt  (KG.  13, 
S.  349)  und  besteht,  wie  öfter  hervorgehoben  wird,  aus  „Purpur"; 
ist  der  König  in  tiefer  Trauer,  so  trägt  er  ein  Klagkleid,  wie  andere 
Trauernde  auch,  aber  über  dem  Königsgewand  (KG.  6,  S.  107),  in 
der  Schlacht  trägt  er  den  Harnisch,  aber  über  ihm,  um  als  König 
kenntlich  zu  sein,  den  Purpurmantel  (KG.  13,  S.  509).  Unter  „Purpur" 
aber  dürfen  wir  hier  und  anderwärts  nicht  die  hochrote  Farbe  der 
gewöhnlichen  Vorstellung  uns  denken,  das  Wort  hat  vielmehr  den 
ihm  schon  Jahrhunderte  v  o  r  Hans  Sachs  eigenen  Sinn :  farbiges 
Seidengewebe;  völlig  deutlich  tritt  uns  das  in  Hans  Sachsens  Esther- 
drama entgegen,  wo  die  könglich  kleijdung,  die  Mardocheus  vom 
König  Ahasverus  erhält,  folgendermaßen  charakterisiert  wird:  ein 
piirpurkleijd,  gelb  und  weiß  seiden  (KG.  15,  S.  123)i).  Des  Dichters 
früher  aus  seiner  Epik  ermitteltes  Interesse  für  Stoff  und  Farbe 
kommt  hier  zum  Ausdruck,  um  so  mehr,  als  die  Bibel  an  der  zu- 
grunde liegenden  Stelle  ein  blau  und  weißes  Kleid  anführt,  bei 
dem  von  Seide  nicht  die  Rede  ist.  Oder  geht  diese  Veränderung 
nicht  auf  den  persönlichen  Geschmack  des  Dichterregisseurs,  sondern 
wie  die  gesamte  Königstracht  auf  alte  Tradition  zurück?  Die 
ältere  Überlieferung  reicht,  wie  wir  sahen,  nicht  aus,  um  das  zu 
entscheiden. 

Wenn  wir  aber  so  im  allgemeinen  annehmen,  daß  die  Nürn- 
berger Kostüme  dem  gewöhnlichen  Zug  der  Zeit  entsprechend  noch 
an  die  mittelalterliche  Theatertracht  anknüpfen,  so  sehen  wir  ander- 
seits auch  hier  wie  anderwärts  ein  paar  Spuren  des  neu  auftauchen- 
den Interesses  für  authentische  Kostüme  und  eine  Erneuerung  der 
Theatergarderobe  in  diesem  Sinne.  Charakteristischerweise  be- 
schränkt sich  die  Modernisierung  aber  auf  wenige  Punkte :  im  For- 
tunatusdrama  (1553)  kommt  Andolosia  türckisch  gekleidet  (KG.  12, 
S.  214),  und  in  Wilhelm  von  Österreich  (1555)  erscheint  sogar  der 


1)  In  der  Handschrift  steht  allerdings  nur  gewant  gelb  und  weiß. 


122 


Ausländische  Traclit.     Götter  und  Heroen. 


Heidenkönig  Graneas  ebenfalls  türckisch  gekleidt  (KG.  12,  S.  521); 
ferner  heißt  es  in  Fiorio  und  Biancefora  (1551,  KG,  8,  S.  324): 

Schaw!  dort  kommen  spanisch  gekleidt 
Etlich  herren  und  auch  knecht. 

Es  scheint  also,  daß  Hans  Sachsens  Theatergarderobe  die  Trachten 
dieser  beiden  Völker,  der  Türken  und  der  Spanier,  die  auch  in  dem 

allgemein  kosttimlichen  Interesse  der 
Zeit  die  Ausgangspunkte  gebildet 
hatten,  einbezogen  hat  —  andere  aber 
nicht:  König  Graneas  ist  kein  Türke 
und  trägt  doch  das  türkische  Gewand 
—  da  kein  anderes  in  der  Theater- 
garderobe vorhanden  ist,  muß  dieses 
genügen,  um  den  Heiden  äußerlich 
zu  charakterisieren.  Keine  Spur  vor 
allem  von  einer  Vorführung  antiker 
Tracht  —  die  zwei  Dialogstellen,  an 
denen  eine  Differenzierung  ange- 
deutet ist:  das  troyanisch  gwant,  in 
dem  Agamemnon  heimkehrt  (KG.  12, 
S.  330)  und  das  thuscanisch  kleyd,  das 
sich  Mucius  Scaevola  anlegen  will, 
um  Porsenna  zu  überfallen  (KG.  8, 
jl^         ^^Ä^^BP^^B  S.  207),  sind  sicher  nur  aus  des  Dichters 

^B  ^^KflV%  ^^H  Quellen    rein    wortmäßig   herüberge- 

^  ^B^B  m^^H  nommen,    während    die    Wirklichkeit 

der  Bühne  hier  vielleicht  auch  mit 
dem  Surrogat  des  türkischen  Kostüms 
operiert  hat. 

Im  übrigen  haben  vielmehr  auch 
die   griechischen   Götter  und  Heroen 
eine  besonders  fremdartige  oder  gar 
archäologisch  begründete  Tracht  nicht 
gehabt  1),  sondern  sind  lediglich  durch 
Hans  Sachsens  beUebtestes  Charakteri- 
sierungsmittel   gekennzeichnet    wor- 
den :  durch  Verleihung  eines  typischen 
Requisits.    Phebiis  kiimbi  mit  seinem 
bogen,    köcher    und   pf'eilen    (KG.  13,  S.  462),    Cupido  .   .   mit  ver- 
punden   äugen,    mit    köcher   vnnd    handtbogen   (ibid.,   S.  465)   und 
Perseus  gehet  ein  in  seim  geflügelten  füßkleidt  (ibid.,  S.  433)  —  es 

1)  Durcli  ein  im  Anfang  des  näclisten  Kapitels  erörtertes  Meisterlied  des  Dichters 
erfahren  wir  eines  authentisch:  daß  der  Darsteller  des  Jupiter  in  der  Komödie  .Tupitt>r 
und  Juno  v.  J.    1534   zepter  vnd  krön  getragen  hat. 


Abb.  9:  Vornehmer  Spanier. 
Aus  Cod.  Heidt  fol.  392  b  (s.  u.  S.  129). 


Das   typische  Attribut   als   Kostümniittcl. 


128 


sind  die  typischen  Attribute  der  Götter,  die,  wie  oben  bei  Behand- 
lung des  Kostüms  in  Hans  Sachsens  Epik  gezeigt  wurde,  dem 
Dichter  vertraut  waren;  die  angeführten  Stellen  weisen  freilich  alle 
drei  erst  ins  Jahr  1558,  so  daß  es  sich  vielleicht  erst  um  eine 
späte  theatralische  Ausnutzung  seiner  Kenntnisse   handelt  und  die 


Abb.  10:  Brief  böte.     Aus  Cod.  Heldt  fol.  451b      (s.u.  S.  128). 


Frage  offen  bleibt,  ob  Merkur  in  Dramen  der  Jahre  1551  und  1554 
und  Minerva  im  Jahre  1555  schon  ähnlich  gekennzeichnet  waren 
—  von  den  Göttergestalten  der  Jugenddramen  ganz  abgesehen,  i) 


1)  Höchstens  mag  auch  hier  mit  der  Farbe  des  Kostüms  gewirkt  worden  sein,  wie 
denn  der  schon  oben  genannte  Joh.  Heros  aus  dem  mittelfränkischen  Roth  —  literarisch 
jedenfalls  ein  unmittelbarer  Nachfahr  des  Hans  Sachs  —  1562  vorschreibt:  Ciipido  sol  in 
lauter  rodt  gekleidf  sein.  Felix  Platter  spielt  als  Knabe  zu  Basel  in  der  Hypocrisis  des 
Gnapheus  ein   Gratia;  er  erzählt  über  das  Kostüm  (Boos,  Th.   u.   F.  Platter,  1878,  S.   1-44): 


124 


Das  typische  Attribut. 


Sonst  aber  ist  die  Charakteristik  eines  Standes  durch  das  Attri- 
but bei  Hans  Sachs  längst  das  Übhche :  der  Gelehrte  hat  ein  Buch 
(KG.  13,  S.  96),  der  Nigromant  die  spera  celi  (13,  S.  486),  die  Rich- 
terin den  Stab  (10,  S.  133,  allerdings  nur  in  der  Handschrift),  der 
Jäger  Hörn  und  Spieß  (1,  S.  92),  der  Schiffer  das  Ruder  (8,  S.  147), 
der  Fischer  dazu  noch  das  Fischfäßlein  (16,  S.  81),  der  Hirt 
Hirtentasche  und  Stecken  (20,  S.  152),  der  Bote  biilgen  und 
Trompete    (12,   S.  105  r   16,  S.  134),   der  Bauer   Sichel    oder  Rechen 

(10,  S.  223;  12,  S.  237),  der 

Wanderer  Bündelein  und 
Stecken  (10,  S.  19  u.  ö.), 
der  Bettler  ebenfalls  den 
Stecken  und  dazu  den 
Sack  am  Hals  (12,  S.  29). 
Diese  nahe  liegende  und 
bequeme  Art  der  Kenn- 
zeichnung ist  natürlich 
keinesfalls  Hans  Sachsens 
Erfindung:  das  dlh-ftige 
Material  des  Mittelalters 
und  die  reichlichen  schwei- 
zerischen Angaben  aus 
dem  16.  Jahrundert  deuten 
auf  Ähnliches  hin  —  nur 
läßt  sich  die  stereotype 
Art  der  Durchführung 
nirgends  so  deutlich  nach- 
weisen wie  in  Nürnberg. 
Als  etwas  besonders  Cha- 
rakteristisches sei  des  wie- 
derholt genannten  Joh. 
Heros  Anordnung  v.  J. 
1562  hervorgehoben:  der 
Tod  sol  mit  einem  langen 
rotgeferbtn  stächet  kom- 
men, während  bogen  und 
köcher  vol  pfeif  dem  weib- 
lichen Nuncius  mortis  zu- 
erteilt ist. 

ohne   sie  wird    nun  auch 

Der  Aussätzige  hat 

antel. 


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-^^m'wmm: 

Abb.  1 1  :  Aussätziger.  Aus  Cod  Heldt  toi.  44  (s.  u.  S.  128). 


Neben  solchen  Attributen    und   auch 
die  eigentliche  Kleidung  hie   und  da  genannt 
nicht  nur  des  kleppeiiin,    sondern    auch  Schlafhaube   und 


mann  legt  mir  der  Heriveijenen  docter  Gertriidl  klcider  mi.  Elx'uso  trägt  er  als  Lycondes 
in  der  Aulularia  des  Plautus  ein  schönen  nuintel  so  des  Svliiirlins  sun  wer.  Also  durch- 
aus zeitgenössische  Kostüme. 


Naive  Benutzung  des  Zeitkostüms. 


125 


der  Wallfahrer  nicht  nur  Bulgen  und  Stab,  sondern  auch  Mantel 
und  Hut,  der  Einsiedler  nicht  allein  Stecken,  Paternoster  und  Gebet- 
bu(;h,  sondern  auch  Einsiedelrock  und  Kappen,  der  Ritter  nicht  nur 
Schwert,  Spieß  und  Schild,  sondern  auch  Helm  und  Harnisch,  und 
auch  sonst  ist  von  Mantel,  Schauben,  Imsecken,  Hemd  usw.  öfter 
in   den  szenischen  Bemerkungen  die  Rede;    auch  das  „Klagkleid" 


Abb.  12:  Nürnberger  Fußturnier.     Aus  Cod.  Heldl  fol.  95     (s.  o.  S.  128). 

kommt  nicht  selten  vor.  Immer  aber  sind  es  Hinweise  auf  die 
allbekannten  Gewänder  der  Wirklichkeit,  irgend  etwas  anderes  fehlt 
vollständig,  und  ebenso  mag  hervorgehoben  werden,  daß  die  Eigen- 
schaftsworte, die  zur  allgemeinen  Anweisung  über  die  Kostüm- 
gestaltung verwendet  werden,  sich  stets  in  der  Wirklichkeitssphäre 
halten:  also  etwa  köstlich,  fürstlich,  geschmückt,  fein  geputzt; 
übelbekleidet,  armutselig,  erbärmlich,  daß  dagegen  niemals  ein  Wort 
wie  „abenteuerlich"  oder  „seltsam"  in  den  szenischen  Bemerkungen 


126  Mangel  an  Phantasie.     Stoff  und  Farbe. 

vorkommt.  Es  ist  also  wohl  nicht  zu  bezweifeln:  wenn  wir  von 
den  für  das  biblische  Kostüm  vorhandenen  Traditionen  und  von 
den  Zugeständnissen  ans  Modern-Ethnologische  absehen  und  auch 
noch  bedenken,  daß  aus  früheren  Jahrzehnten  altmodisch  Geworde- 
nes mit  in  Hans  Sachsens  Theatergarderobe  hinein  gekommen  sein 
kann,  besteht  sie  aus  Gewändern  der  damaligen  Gegenwart,  und 
so  wenig  wie  ein  in  der  Kostümkunde  bewanderter,  ist  ein  phan- 
tasiereicher Theaterschneider  beschäftigt  worden.  Hans  Sachsens 
Mangel  an  Einbildungskraft  in  bezug  auf  die  Tracht  war  uns  schon 
angesichts  seiner  epischen  Dichtung  entgegengetreten;  aber  wir 
können  auch  sonst  sagen:  es  fehlt  den  Nürnbergern  überhaupt  an 
der  Fähigkeit,  sich  bei  der  Gestaltung  der  Kleidung  sonderlich  frei 
gehen  zu  lassen  selbst  dort,  wo  solche  Freiheit  geradezu  geboten 
wäre.  Die  Nürnberger  Schembartbücher  und  die  in  ihnen  enthaltenen 
Karnevalskostüme  legen  mit  ihrem  geringen  Humor,  mit  ihrem 
Mangel  an  Mut  zu  einer  rechten  Emanzipation  von  der  gewöhn- 
lichen Tracht  für  die  spießbürgerliche  Beschränktheit  der  damaligen 
Schneiderphantasie  ein  sehr  beredtes  Zeugnis  abi).  Auch  die  alle- 
gorischen Gestalten,  die  freilich  nicht  in  so  dichten  Scharen  auf 
die  Bühne  gelassen  werden  wie  in  der  Lesedichtung,  werden  ruhig 
ins  Zeitkostüm  gesteckt  oder  mit  dem  ausstaffiert,  was  die  Theater- 
garderobe sonst  bot  —  Frau  Armut  geht  wie  eine  Nürnberger 
Bettelfrau  einher,  so  wie  jener  Heros'sche  Nuncius  mortis  ein  lum- 
pets  weibskleidt  haben  soll,  und  Frau  Glück  ist  hochprechtig  wie 
ein  keisserin  peklaid  und  geschmücket.  Das  Attribut  —  so  bei  der 
Gerechtigkeit  das  bloße  Schwert  —  dient  auch  da  zur  Ergänzung. 
Dagegen  tritt  uns  in  den  szenischen  Bemerkungen  Hans  Sachsens 
und  den  zugehörigen  Textstellen  das  entgegen,  was  uns  auch 
in  seinen  epischen  Kostümbeschreibungen  als  Gegenstand  seines 
Interesses  auffiel:  Stoff  und  Farbe,  während  die  auch  dort  so  spär- 
lichen Hindeutungen  auf  den  Schnitt  der  Kleider  so  gut  wie  ganz 
fehlen.  Schon  oben  gelegentlich  der  Königstracht  war  darauf  hin- 
gewiesen worden.  Von  Sammet  und  Seide  ist  öfter  die  Rede  — 
allerdings  nur  im  Text,  sodaß  man  hier  nicht  gerade  anzunehmen 
braucht,  die  Kostüme  hätten  wirklich  aus  so  kostbaren  Stoffen  be- 
standen; gelb,  weiß,  schwarz,  grün,  rot,  blau  werden  als  Farben 
von  Kleidern  oder  Kleiderteilen  erwähnt;  Hamann  im  Estherdrama 
trägt  sogar  rote  Stiefel2).  Besonders  beweiskräftig  aber  für  Hans 
Sachsens  Neigung  zu  kostümlichen  Farbenwirkungen  auf  der  Bühne 
scheint  mir  eine  Stelle  in   den  „Vier  unglückhaften  Liebhabenden" 

1)  Allerdings  steht  (vgl.  o.  S.  113  Anm.)  die  Untersuchung  noch  aus,  inwieweit  wir 
in  den  Schembartbuchillustrationen  wirklich  authentische  Reproduktionen  der  Original- 
kostüme und  nicht  etwa  wenigstens  teilweise  nur  Versuche  besitzen,  die  textliche  Über- 
lieferung illustrativ  auszugestalten. 

2)  Ob  dieser  Zug  vielleicht  auch  auf  alte  Tradition  hinweist? 


Stoff  und  Farbe. 


127 


(1556,  KG.  13,  S.  177,  vgl.  176,  26  f.)  zu  sein,  wo  der  König,  inbezug 
auf  Gernier,   Gabriotto  und   Reinhardt   zu  seinem  Marschall  sagt: 

Marschalck,  wer  warn  die  drey  in  grün? 
Diese  Worte  entsprechen  allerdings  der  Angabe   in  Hans  Sachsens 
Vorlage  (Wickram);   an   sich   wäre  es  aber  natürlich  durchaus  für 


Abb.  13:  Hofmann.    Au.s  Cod.  Heldt  fol.  441  b     (s.  u.  S.  128). 

den  Dichter  nicht  nötig  gewesen,  hier  Quellentreue  zu  üben  und 
um  ihretwillen  etwa  dem  Theaterschneider  drei  neue  grüne  Kostüme 
in  Arbeit  zu  geben;  es  hegt  vielmehr  gewiß  umgekehrt:  in  der 
Theatergarderobe  waren  eine  ganze  Menge  von  Kostümen  in  allen 
Farben  vorhandeni),  und  weil  der  Dichter  das  wußte,  konnte  er  die 
Angabe  der  Vorlage  herübernehmen. 


1)    Vgl.  Felix   Platters   Erzählung    über    die    Baseler    Aufführung   von   V.  Boltz  Spiel 
„Pauli  Bekehrung"  i.  J.  1546  (H.  Boos,  Th.  u.  F.  Platter.     1878.    S.  144):   der  Rudolf  Fry 


128  Wiederbelebung  Hans  Sachsischer  Bühnentrachten. 

Über   solche    allgemeine  Feststellungen    hinaus    aber   uns    ein 
bestimmtes   Bild    wenigstes    von    einigen    der   auf   Hans   Sachsens 
Bühne  gebrauchten  Kostüme   zu   schaffen,   ermöglicht  uns  die  An- 
nahme, daß  es  sich  doch  zum  großen  Teil   um  die  Alltagskostüme 
des  damaligen  Nürnberg  gehandelt  hat,  und  das  in  bezug  auf  sie 
vorhandene   Material,    obenan  also    der   Heldtsche    Kodex,    und  so 
konnten    dem    hier    vorliegenden    Abschnitt    eine   Anzahl   solcher 
Trachtenbilder  eingefügt  werden.     Eine  gewisse  Fehlerquelle  muß 
dabei  freilich  berücksichtigt  werden:  Heldts  Bilder  geben,  wie  wir 
sahen,  in  der  Hauptsache  die  Kostüme  nicht  der  fünfziger,  sondern 
der  sechziger  Jahre  des  16.  Jahrhunderts  wieder.    Groß  aber  ist  die 
Differenz  im  allgemeinen  wohl  nicht;   wenigstens   erscheint   sie   in 
den    meisten  Fällen,    in    denen    ein  Vergleich    dadurch    ermöglicht 
wird,  daß  Heldt  auch  die  Trachten  vorführt,  wie  sie  vor  jähren  ge- 
wesen sind,  meist  nicht  sehr  bedeutend,  und  namentlich  wird  man 
die  Kleidung  der  niederen  Stände  wohl  als  ziemlich  stabil  sich  vor- 
stellen dürfen,  so  daß  durch  die  Wiedergabe  ihrer  Trachten  als  der 
Hans  Sachsischen  kein   zu  großer  Anachronismus   begangen  wird. 
Wenn  Heldt  einmal  (fol.  159  b)  einen  Barbier  in  altertümlicher  Tracht 
abbildet,    wie  er  noch  1550  auf  der  Straße   zu  sehen  gewesen,    so 
mag  das  ein  Zeichen  dafür  sein,  daß  eben  um  diese  Zeit  die  neuen 
Handwerkertrachten   sich   durchgesetzt    haben.     Wie  Herr  Tristant 
und  Curnefal  als  Jacobs-bräder  bekleid  ausgesehen   haben  (KG.  12, 
S.  176),  können  wir  uns  also  nach  Heldts  Bild  (fol.  43;  vgl.  o.  S.  113) 
(genau   vorstellen;    Ulisses    als   Bettelmann   KG.  12,   S.  359)   steht 
durch  Heldts  Bild  (fol.  44  b  vor  uns,    ebenso  der  aussätzige  Mark- 
graf Hato  mit  schlaff haiiben,  klepeiiein  und  mantel  (KG.  8,  S.  151) 
durch   die   Darstellung   des  Aussätzigen   (fol.  44a;    vgl.   o.   S.  124). 
So  sehen  wir  ferner  die  Diener:  Köchin,  Hausknecht,  Kellermeister 
(fol.  433b,  fol.  444,  462)  vor  Augen,  der  in  Hans  Sachsens  Dramen  so 
häufige  Bote  erscheint  (fol.  451b;  vgl.  o.  S.123j  und  für  die  Sphäre  des 
Bauerntums  liegt  ein  ungemein  reiches  Material  vor,  das  uns  nament- 
lich die  Typen  des  Hans  Sachsischen  Fastnachtspiels  völlig  wirklich- 
keitsgetreu schauen  läßt :  denn  nicht  irgend  beliebige  Bauern,  sondern 
die  Bauern  aus   der  Umgegend  von  Nürnberg  bildet  Heldt  ab  (vgl. 
bes.  fol.  422  b,  456  ff.,  462  b,  466,  472).     Aber  auch   aus  der  vorneh- 
men Welt  werden  wir  einige  Typen  uns  aneignen  dürfen:  so  etwa 
den  Hofmann  (fol.  441b  und  442  a;  vgl.  o.  S.  127)  und  die  Geschlech- 
terbraut   (fol.  400);    die  Darstellung    eines   Nürnberger  Fußturniers 
(fol.  95  a;  vgl.  o.  S.  125)  gibt  uns  ein  Bild  der  ritterlichen  Rüstung. 

war  hauplman,  hatte  by  WO  biirger,  alle  seiner  färb  angethon,  imder  sehn  fenlin. 
Ferner  in  des  Heros  oben  erwälinten  Drama  v.  ,1.  15(52:  Cupido  sol  in  lauter  rodt  ye- 
kleidt  sein  .  .  .  Praecepter  sol  ein  eober  sc.hwartz  hleidt  haben  .  .  .  Knab  .  .  in  lauter 
schwartz  yeUleidt  Dazu  auch  die  oben  (S.  118  Anni.  1)  erwähnte  wcil.^e  KhMdung  des 
?-ng<>ls  niil   (hMii   roten   Kreuz. 


Wiederbelebung  Hans  Sachsischer  Biihnentrachten.     Kostümliche  Phantastik.      129 


Für  die  Ausrüstung  des  Narren,  der  mit  Kappe  und  Kolben  bei  Hans 
Sachs  so  häutig  erscheint,  in  dessen  Gewand  z.  B.  auch  Herr  Tristant 
sich  hüllt,  mag  eine  Narrengestalt  aus  der  Darstellung  eines  Auf- 
zuges im  Heldtschen  Kodex  verdeutlichend  wirken  (fol.  68).  Der 
letztere  gibt  uns  ferner  mehrfache  Gelegenheit,  uns  Hans  Sachsens 
Musikanten  vorzustellen  (fol.  164  b,  397  b;  vgl.  o.  S.  102),  und  das 
Bild  des  Ehrenholds  (s.  u.  S.  134)  dürfen  wir  wohl  dem  1562  in 
Nürnberg  hergestellten  Druck 
eines  Dramas  „Der  irdische 
Pilgerer"  entnehmen,  das  ein 
anderer  „Held",  jener  Schulmei- 
ster Johannes  Heros  in  dem 
mittelfränkischen  Städtchen 
Roth  verfaßt  hafi).  Endlich 
gibt  der  Heldische  Kodex  auch 
die  beiden  ausländischen  Trach- 
ten her,  die  Hans  Sachsens 
Theater  einführte:  den  Spanier 
(fol.  329  b ;  vgl.  o.  S.  122)  und  die 
Türken  (fol.  316,  o.  S.  111)  — 
wenigstens  (und  das  ist  für  uns 
das  Entscheidende)  das  Bild  der 
Vorstellung,  die  man  im  dama- 
ligen Nürnberg  von  türkischen 
Kostümen  hatte.  —  Alle  unsere 
Reproduktionen  geben  freilich 
die  Farben  der  Heldtschen  Bil- 
der nicht  wieder:  vernach- 
lässigen dadurch  aber  durchaus 
kein  Wirklichkeitselement:  bei 
einem  Vergleich  der  Heldtschen 
Bilder  mit  ihren  Vorlagen  stellt 
sich  heraus,  daß  er  die  Farben 
vollständig  willkürlich  behan- 
delt. Im  übrigen  aber  vermitteln  sie  uns  auch  für  unsere  besonderen 
Zwecke  lebendigste  Anschauung. 

Die  kostümliche  Phantastik  beschränkt  sich,  wenn  wir  absehen 
von  den  traditionell  gegebenen  Gestalten  des  älteren  Dramas,  den 
Engeln  und  Teufeln  und  der  Paradiesschlange,  von  denen  im  zweiten 
Teil  dieses  Buches  die  Rede  ist,  auf  eine  einzige  Leistung.  Bei  der 
letzten  Erscheinung  der  schönen  Magelone  vom  Jahre  1556  (KG.  12, 


Abb.  14:   Aus  Cod.  Heldt  fol.  168  (s.  o.  S.  123). 


1)   Exemplar  in  Berlin,    Kgl.  Bibliothek.     Zum  Vergleich  mag   man   die  Herolde   der 

Ruoffschen  Weingartenhandschrift  (vgl.   Register)  heranziehen,  die  freilich  schon   ins   Jahr 
1539  gehören. 

H  errm  ann,  Ttieater.  9 


130  Das  Drachenkostüm. 

S.  552)  sind  Flügel  und  Schlangenschwanz  nur  Zugabe  zu  dem  ge- 
wöhnlichen Kostüm  und  wurden  gewiß  von  den  vorhandenen  Aus- 
stattungen des  Engels  und  der  Paradiesschlange  genommen.  Im 
nächsten  Jahre  aber  wagt  Hans  Sachs  —  geführt  von  einer  Neigung, 
die  wir  auch  in  seiner  Epik  beobachteten  —  etwas  Neues,  so 
wie  er  auch  auf  dem  Gebiete  der  Requisiten  um  die  gleiche 
Zeit  die  Technik  stärker  in  Anspruch  zu  nehmen  begann:  im 
Harnen  Seufrid  führt  er  die  Drachen  selbst  auf  die  Bühnei),  mit 
denen  der  Held  zu  kämpfen  hat  (KG.  13,  S.  341,  344  ff.).  Und  nach- 
dem er  einmal  für  diesen  Zweck  das  Drachenkostüm  hat  herstellen 
lassen  müssen,  schreibt  er  sozusagen  im  nächsten  Jahre  für  dieses 
Kostüm  zwei  neue  Stücke:  die  Andromeda  am  22.  März  und  die 
Daphne  am  29.  März  1558  (KG.  13,  S.  427,  458).  Und  so  groß 
muß  das  Entzücken  der  Zuschauer  beim  Anblick  dieses  Drachens 
gewesen  sein,  daß  der  Dichter  ihn  am  27.  September  des  gleichen 
Jahres  im  Alexanderdrama  noch  einmal  anbringt  und  zwar  etwas 
gewaltsam.  Der  zauberkundige  König  Nectanabus  liebt  Alexanders 
Mutter  Olympias,  und  um  sie  zu  besitzen,  spiegelt  er  ihr  vor,  Zeus 
sei  in  Leidenschaft  für  sie  entbrannt  und  wolle  sie  zur  Nachtzeit 
in  Gestalt  eines  Drachens  besuchen.  In  einem  Monolog  erklärt  er 
sodann,  selbst  die  Rolle  des  Drachens  spielen  zu  wollen,  und  darauf 
folgt  die  szenische  Bemerkung  (KG.  13,  S.  485) :  Nectanabus  gehet 
ab,  kiimbt  bald  wider  wie  ein  trach  und  gehet  herumb  und  wider 
ab.  Der  Anfang  eines  Hergangs,  der  durchaus  hinter  die  Szene 
gehört,  wird  auf  sie  verlegt,  damit  die  Zuschauer  noch  einmal  das 
Drachenkostüm  bewundern  können.  Es  ist  also  offenbar  etwas, 
was  aus  der  im  ganzen  nicht  sensationellen  Art  der  Nürnberger 
Kostüme  stark  herausfällt.  —  Und  wie  sah  der  Drache  nun  aus? 
Die  szenischen  Bemerkungen  geben  darüber  nicht  viel  her,  aber 
hier  können  wir  ja  auch  die  Schilderungen  des  Dialogs  heranziehen ; 
so  heißt  es  im  Hürnen  Seufrid  von  dem  Drachen : 
Gefluegelt  mit  grawsamen  fiirm. 
Sein  zen,  die  sint  eyseren  ganz, 
Mit  ainem  giftig  langen  schwänz. 
Auch  thuet  er  hellisch  fewer  speyen. 

und  in  dem  Drama  Perseus  mit  Andromeda : 

Des  fewr  schoß  im  auß  dem  rächen  .  . 
Hat  wol  ein  klaff ter  langen  schwantz, 
Hat  auch  zwen  flügel  in  meers-grufjt  .  . 
Sehr  grawsam  scharpff  waren  sein  klaen\ 
von  seinen  Klopern,  seinen  langen  zen  und  freijsam  klaen,  seinem 
Feuerspeien    ist   auch    sonst    die    Rede.     Daß    die  Vorstellung  des 

1)  übrigens  schreibt  auch  schon  in  einem  vorhanssaclisischen  Fastnachtsspiel   (Keller 
S.   173)  eine  szenische  Bemerkung  vor:  Hie  gel  ein  Trach  und  speit  fear  miß. 


Das  Draclienkostüm.     Umkleiden  und  Unterkleidung.  131 

Feuerspeiens  nicht  der  Phantasie  des  Publikums  überlassen  blieb, 
sondern  mit  den  im  vorigen  Kapitel  charakterisierten  Feuerwerks- 
mittelh  wirklich  ausgeführt  wurde,  beweisen  die  szenischen  Be- 
merkungen, wo  das  speit  feiver  dreimal  gefordert  wird  (KG,  13, 
S.  360,  448,  464);  in  dem  Andromedadrama,  wo  der  Drache  eigent- 
lich ein  Meerwunder  ist,  verlangt  des  Dichters  Handschrift  sogar 
speit  feiner  und  wasser,  —  der  Druck  aber  hat  die  beiden  letzten 
Worte  fortgelassen:  die  Durchführung  ist  offenbar  technisch  nicht 
möglich  gewesen.  Von  dem  Aussehen  dieses  Drachen  können  wir 
uns  wieder  ungefähr  eine  Vorstellung  machen:  beim  Nürnberger 
Schembartlaufen  hat  man  einmal  ein  solches  Monstrum  durch  die 
Straßen  der  Stadt  geführt,  einen  dreiköpfigen  Drachen  allerdings; 
wenn  man  aber  von  der  Abbildung,  die  die  Nürnberger  Schembart- 
bücher bringen,  zwei  Köpfe  fortläßt,  bleibt  etwas  übrig,  was  gewiß 
dem  Drachenkostüm  der  Bühne  sehr  ähnlich  sieht^). 

Es  bleibt  endlich  übrig,  eine  Nebenfrage  des  Kostümwesens 
noch  zu  erledigen:  die  Frage  nach  einem  etwaigen  Umkleiden  der 
Personen  vor  den  Augen  des  Publikums  und  das  damit  zusammen- 
hängende Problem  einer  angemessenen  Unterkleidung.  Auch  diese 
Frage  läßt  sich  beantworten,  und  das  Ergebnis  ist  charakteristisch. 
In  den  ersten  Jahren  der  Meistersingerbühne  stehen  die  bühnen- 
gemäßen Unterkleider  offenbar  noch  nicht  zur  Verfügung:  ein 
Kleiderwechsel  bei  offener  Szene  findet  nur  statt,  wenn  die  be- 
treffende Person  das  eine  Kostüm  über  dem  andern  tragen  kann. 
Die  „unschuldige  Kaiserin"  zeucht  die  mannßkleider  ab;  da  steht 
sie  wie  ein  fraw  (KG.  8,  S.  157  :  1551)  —  die  Mannskleider  waren 
das  lange  Gewand  des  Arztes.  Oder  (KG.  6,  S.  107,  wieder  1551) 
im  „Absalon":  David  sthet  auff  vnd  thiit  sein  schwartz  Meid  ab 
—  das  lange  Trauergewand,  das  er  über  der  königlichen  Tracht 
getragen  hat.  Sonst  aber  geht  jemand  ab,  um  sich  hinter  der 
Szene  umzuziehen^);  so  noch  im  Hugschapler  aus  dem  Juni  des 
Jahres  1556  (KG.  13,  S.  39):  der  König  überredet  den  Einsiedler, 
mit  ihm  die  Kleider  zu  tauschen,  und  nun  spricht  dieser: 

.  .  .  Kumbt  in  mein  zelln,  vnd  leget  an 

Mein  rock,  mantel,  hat  vnd  hentzschuch, 
Nembt  Pater  noster,  stab  vnd  buch. 

Sie  gehen  beide  ab.  König  Hugo  kumbt  wider  in  des  ainsidels 
Meid.    Wenige  Monate  aber  nach  der  Abfassung  dieser  besonders 


1)  Der  Drache  des  Schembartlaufs  gehört  allerdings  ins  Jahr  1511;  aber  gerade  in 
bezug  auf  die  sog.  „Hölle"  des  Schembarts,  zu  der  auch  der  Drache  gehört,  besteht  mir 
der  Verdacht,  daß  die  Bilder  erst  in  Hans  Sachsens  Spätzeit  auf  Grund  der  Textüberlieferung 
hergestellt  sind,  also  im  ganzen  die  Vorstellungen  der  Zeit  um  1560  wiedergeben. 

2)  In  der  Schlußszene  der  Unschuldigen  Kaiserin  vom  J.  1551  (KG.  8,  S.  158)  handelt 
es  sich  jedenfalls  nur  um  ein  „Schmücken",  nicht  um  ein  eigentliches  Umkleiden. 

9* 


132  Umkleiden  und  Unterkleidung. 

charakteristischen  Stelle  vollzieht  sich  ein  Umschwung ;  wir  dürfen 
nicht  vergessen,  daß  wir  auch  sonst  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr- 
zehnts eine  Tendenz  zum  Komplizierteren  beobachtet  haben.  Das 
Drama  vom  Kaiser  im  Bade  aus  dem  September  des  Jahres  1556 
verlangt  geradezu  eine  Umkleidung  vor  den  Augen  des  Publikums, 
wenn  das  Ganze  seine  Wirkung  nicht  verfehlen  sollte:  Er  zeucht 
ketten  und  schauben  ab  und  hut.  Sie  geben  in  ein  badtmantel  vmb, 
und  er  geht  ab  .  .  .  Der  enget  kumbt  im  badtlach,  wie  der  kayser 
abgangen  ist  .  .  .  Sie  legen  dem  enget  des  kaysers  gwandt  vnnd 
geschmuck  an  (KG.  13,  S.  116f.)i).  Und  jetzt  geht  es  ebenso  wie 
mit  dem  Drachenkostüm:  das  Neue,  einmal  gefunden,  wird  nun 
gründlich  ausgenutzt;  zum  erstenmal  gleich  im  nämlichen  Drama 
in  einer  Situation,  die  eine  getreue  Wiederholung  der  eben  aus 
dem  Hugschapler  angeführten  Szene  ist:  Herrscher  und  Einsiedler 
wechseln  das  Kostüm;  diesmal  aber  gehen  sie  nicht  ab,  sondern 
die  szenische   Bemerkung  schreibt  vor:    Der  kaiser  legt  den    ein- 

siedelrock  an,   setzt  sein  huet  auff (S.  134).    Und   in   den 

Dramen  der  Folgezeit  kommt  das  Umziehen  vor  dem  Publikum 
so  häufig  vor,  daß  wir  fast  annehmen  möchten:  es  ist  kein  Notbehelf 
mehr,  sondern  etwas  was  die  Zuschauer  gern  mitansehen  2). 

Und  was  tragen  die  Darsteller  unter  dem  Kostüm,  das  sie  nun 
vor  den  Augen  des  Publikums  abzulegen  haben?  In  dem  eben 
genannten  Drama  kommt  es  durchaus  darauf  an,  daß  man  den 
Kaiser  einen  Augenblick  nackt  sieht;  ebenso  muß  im  Passions- 
drama des  Jahres  1558  Christi  Körper,  nachdem  die  Knechte  des 
Pilatus  die  Kleider  von  ihm  abgestreift  haben,  bloß  erscheinen, 
denn  gleich  nachher  heißt  es  (KG.  11,  S.  294):  Ein  knecht  bringt 
geysel  vnnd  rufen  in  rotte  färb  eingetaucht.  Sie  hawen  in  sein 
leg  b  ,  wirf  blutig.  Wir  müssen  also  annehmen,  daß  in  solchen 
Fähen  die  Darsteller  unter  ihrer  Tracht  fleischfarbene  Trikots,  leib- 
kleider  gehabt  haben,  so  wie  sie  jedenfalls  auch  im  Schöpfungs- 
drama Adam  und  Eva  trugen:  sind  ganz  nacket  und  darzu  bloß 
(KG.  1,  S.  39),  während  bei  dem  blofJ  eingehenden  Teufel  im  Drama 
David  zählt  Volk  (10,  S.  370 :  1552)  wohl  an  den  zottigen  Teufels- 
habitus der  Tradition  zu  denken  ist,  wie  er  uns  in  der  Handschrift 
des  Ruofschen  Weingartendramas  entgegentritt.  Die  „Leibkleider'' 
aber  stehen  auch  ihrerseits  in  der  Tradition  und  sind  nicht  etwa 
erst  eine  Erfindung   der  Meistersingerbühne^).      In    andern  Fällen 


1)  Befördernd  mag  auch  das  Drama  vom  Verlorenen  Sohn  vom  April  des  gleichen 
Jahres  gewirkt  haben,  wo  wenigstens  eine  bessere  Bekleidung  des  Helden  vor  den  Augen 
des  Publikums  erfolgen  muß  (KG.  11,  S.  236). 

2)  Dagegen  findet  die  Bekleidung  des  Kaisers  mit  dem  Herrscherornat  (KG.  13.  S.  138) 
mit  Recht  hinter  der  Szene  statt:  Der  Zuschauer  durfte  ihn  nun  nicht  noch  einmal 
entblößt  sehen. 

3)  Vgl.  o.  S.  115f. 


Umkleiden  und  Unterkleidung.     'Rüstung'  der  'Stulticia'.  133 

dagegen,  in  denen  die  Umkleidiingdem  Publikum  sichtbar  wird,  werden 
wir  an  wirkliche  Unterkleider  zu  denken  haben;  wenigstens  wäre 
es  doch  bedenklich  anzunehmen,  daß  in  der  ernsten  Situation,  in 
der  der  Ritter  Gottfried  und  die  Märtyrerin  Pura  die  Gewänder 
wechseln  (KG.  11,  S.  350:1559),  die  züchtige  Jungfrau  auch  nur 
scheinbar  die  Blöße  ihres  Körpers  zur  Schau  stellt.  Hans  Sachsens 
Bühne  mußte  daher  für  die  Darsteller  auch  die  entsprechende  weib- 
liche Unterkleidung  zur  Verfügung  halten;  eine  gewisse  Verfeine- 
rung hat  sich  also  bei  aller  Einfachheit  des  Kostüinwesens  schließ- 
lich herausgebildet. 

Eine  Bestätigung  verschiedener  hier  für  das  Nürnbergische 
Kostümwesen  ermittelten  Grundtendenzen  wird  geliefert  durch  einen 
handschriftlichen  Fund,  der  in  letzter  Stunde  gemacht  just  noch 
zurecht  kommt,  um  für  dieses  Kapitel  eine  Ergänzung  zu  bieten. 
Während  das  Material  für  unsere  Kenntnis  der  von  Hans  Sachs  vor- 
geschriebenen Trachten  sonst  nur  auf  einzelne  in  den  Werken  ver- 
streute Gelegenheitsbemerkungen  sich  bezieht,  haben  wir  nun  auch 
eine  Stelle,  an  der  der  Dichterregisseur  im  Zusammenhang  über  die 
kostümliche  Rüstung  aller  Personen  eines  Dramas  Vorschriften 
macht;  es  handelt  sich  allerdings  um  ein  Werk  aus  des  Dichters 
Frühzeit  und  um  eine  Komödie,  die  in  ihrer  ganzen  Art  dem  Fast- 
nachtspiel recht  nahe  steht :  um  die  1532  verfaßte  Stulticia  mit  irem 
hofgesind.  Die  bisher  wenig  beachtete  Handschrift  686  des  Klosters 
Einsiedeln  1)  stellt  offenbar  eine  Abschrift  der  verlorenen  Urfassung 
der  Komödie  dar,  sei  es,  daß  sie  auf  das  zweite  Spruchbuch,  sei  es, 
daß  sie  auf  ein  Einzelmanuskript  des  Dichters  zurückgeht'^),  und 
in  ihr  heißt  es  zum  Schluß  (S.  42/44) : 


1)  Aufmerksam  wurde  ich  auf  sie  durch  einen  Hinweis  Goetzes:  KG.  23,  S.  5'20,  der 
aber  nur  angibt:  „mit  besonderen  Bülinenanweisungen".  Ich  durfte  den  Codex  durch  die 
Güte  der  Bibliotheksverwaltung  hier  in  Berlin  benutzen. 

2)  Daß  es  sich  nicht  um  eine  Abschrift  aus  den  gesammelten  Werken  des  Dichters 
handelt,  wie  man  zunächst  annehmen  könnte,  geht  schon  daraus  hervor,  daß  am  Ende  der 
Kopie  das  Jahr  1554  genannt  wird,  während  der  zweite  Band  der  Folioausgabe,  in  dem 
die  Komödie  zuerst  gedruckt  ist,  1560  erschienen  ist.  Aber  auch  ein  positiver  Beweis  dafür 
läßt  sich  liefern,  daß  die  Vorlage  der  Handschrift  mit  der  früheren  Fassung  identisch  ge- 
wesen sein  muß :  Hans  Sachs  gibt  in  seinem  handschriftlichen  Generalregister,  das  nach 
den  geschriebenen  Spruchbüchern  oder  z.  T.  nach  Sondermanuskripten  gearbeitet  ist,  als 
Personenzahl  der  Stulticia  an:  28  perfon,  der  Druck  des  Werkes  dagegen  nennt  29;  tat- 
sächlich fehlt  im  Einsiedler  Codex  die  ganze  kleine  Szene  mit  dem  wunderlichen  mann 
(KG.  7,  S.  35 f.):  sie  ist  offenbar  ein  späterer  Zusatz.  [Die  Verszahl  des  Gesamtregisters  (692) 
stimmt  weder  mit  dem  Einsiedler  Codex  (686)  noch  mit  dem  Druck  (702),  wenn  auch  immer- 
hin etwas  mehr  zu  dem  Codex:  Hans  Sachs  wird  sich  wohl,  wie  nicht  selten,  etwas  ver- 
zählt haben.]  Außerdem  finden  wir  zahlreiche  kleine  Einzelabweichungen;  metrisch  und 
sprachlich  aber  weisen,  wie  hier  nicht  im  einzelnen  gezeigt  werden  kann,  die  Lesarten 
der  Einsiedler  Handschrift  so  sehr  auf  Hans  Sachsische  Art,  daß  man  auch  sie  für  die  Ui- 
sprünglichkeit  des  Einsiedler  Textes  als  Beweis  heranziehen  und  nicht  etwa  in  ihnen  Ände- 


134 


'Rüstung'  der  'Stulticia'. 


Hernach  volgen  die  perfon  mit  irer  rüstung  in  die  Comedj 
Der  herolt,  in  ainer  herolts  khlaydung 


Abb.   15:   Nürnberger  Herold  |vgl.   o.   S.  r29| 


rungen  eines  fremden  Bearbeiters  gegenüber  dem  uns  bekannten  Texte  sehen  darf.  —  Nun 
könnte  man  freilich  zwar  zugeben,  daß  der  Wortlaut  der  eigentlichen  Komödie  auf  Hans 
Sachs  zurückgeht,  aber  die  Ansicht  aufstellen,  daß  die  oben  abgedruckte  Rüstung  der 
Zusatz  eines  fremden  Regisseurs  sei,  eben  dessen,  der  sich  für  Aufführungszwecke  den 
(jetzt  freilich  neugebundenen)  Gesamtcodex  von  5  Hans  Sachsischen  Stücken  zusammen- 
gestellt hat ;  doch  spricht  dagegen  der  Umstand,  daß  unter  diesen  Prosanotizen  noch  der 
Satz  steht  :  Auch  inac/  man  wol  etlich  perfon  auslaffen  wo  der  zu  vill  wern,  der  doch 
wohl  nur  von  dem  Dicliter  herrühren  kann,  ferner  die  oben  gekennzeichnete  innere  Über- 
einstimmung der  Kostümanweisungen  mit  der  Hans  Sachsischen  Art.  —  Auf  die  kritische 
vStellung  der  übrigen  in  dem  Codex  enthaltenen  Stücke  (Fastnachtspiele  N.  14,  6,  7,  13) 
kann  bei  der  Schwierigkeit  dieser  Frage  nicht  eingegangen  werden.  Der  Abschrift  von 
F.  6  ist  eine  Kostümvorschrift  beigegeben  (vgl.  KG.  25,  S.  82,  N.  746);  sie  ist  aber  hier 
vorangestellt  und  geht  so  ganz  anders  als  die  oben  mitgeteilten  Anweisungen  ins  spezifisch 
Schauspielerische  über,  daß  sie  schwerlich  Hans  Sachs,  sondern  wohl  dem  erwähnten 
Regisseur  zuzuschreiben  ist.  Immerhin  ist  sie  interessant  genug,  um  hier  einen  Abdruck 
zu  verdienen : 

(S.  73)    Die   Klayduufi  der  Ferfoii. 

Der  vatter  mit  groben  har  luid  pari  auf  alt  fraukhifcli  Iddait ,  au  ainem  ftebleiii 
oder  ftekhen  geeilt  zitrent  unnd  hueftent  kraifteut  mit  langfameu  leifeu  driten  rund  lanli- 
famer  leifer  redt  vnnd  aiii  varpanlt  oder  fchrouen  mitten  in  der  ftueben  darauff  er  fi/tz 
zw  feyuer  zeit  wie  verzeiclinet  ift  vnd  ein  dafehn,  darineu  er  vil  reellen  Pfenning  liab.  e. 

Der  Sun  ein  Haifiger  Jüngling  uh>1  gebutzt  mit  federpüfclien  rnd  gefelimukht,  wie 
man  es  zu   wegen  pringen  mag.  e. 

Der  los  gefel  in  ainem  narren  lüilagd  der  unierfl  nuud  taller  lieg  im  liab,  rund  mit 
vil  fett  famer  abeis  rund  hoffen,  als  ein  luiechler  oder  zirtutler  guet  rar  aiigeii  falfrli 
hinternach  der  iui  offt  die  feggen  hinterwertz  zeig.  e. 


'Rüstung'  der  'Stulticia'.  135 

Siiilticia,  als  ein  künigin,  doch  ein  narrenkhapp  am  hals 
hanngc  vnnd  vill  narrenkhappen  peij  Ir  haben  das  fij  yedeni  eine 
an  [heng] 

lieb  Ir  felb,  die  Erff  hoff'raw  ein  SpiegfelJ  drage,  vnnd  oft 
darein  fchawen  hoch  fertig  gecl[aijt] 

Schmale hlereij  die  annder  foll  ein  fuchsfchwantz  dragen, 
die  ftulticiam  mit  beftreichen 

Vergeffenhaydt  die  dritt  Soll  ain  küß  mit  dragen  fleh  fchläf- 
rig  ftellen, 

wolliift  die  vierdt  ain  pomerantze  dragen 
J  eckte  in  aim  narre  klag  dt  vnd  kolben 
Das  kindt  auf  ein?  pfertlein  reiten  vnnd  ain  äpfel  dragen 
Die  frauw  fein  erber  klaydt  als  ein  Eefraw 
Der  pawer  Im  pawren  klaydt 

Der  handtwergsmä  mit  hamer,  zang^  ein  fchmidt 
Der  kauf  man  Im  mädrem  pireth  vnnd  rockh 
Der  karg  mit  aine  gelt  fackh  am  arm  alt  und  grab 
Der  drinckher  mit  groffem  pauch  ein  wein  kandl  drag^ 
Der  pueler  fein  ftolz  in  fpanifch'  kappe  und  federn 
Der  Spiler  würfet  und  karte  übel  klaydt 
Der  lantsknecht  in  hofen  wames,  ein  hollenpart^ 
Der  Reutf  in  ftifel  unnd  Spore  vnd  reit  rockh 
Der  walprueder  in  mantel  hiiet  mit  mufchell  vnnd  zaichen 
Der  Alchamift  mit  eim  diftilier  glafs 
Der  paw  herr  mit  ein  winckhel  maß  vnd  gult[.  .] 
Der  doctor  in  docto  pireth  vnd  hrockh  ein  puch  dra[g^] 
Der  Regen  dt  köftlich  gefchmuckht  groffe  fed'pufch 
Der  minie h  in  ainer  kutten  fchwarz  grab  od'  weyfs 
Der  Curtifan  ein  kurzen  pffaffen  rockh,  ain  groffe  fchlappen 
auf,  ein  prief  in  der  hanndt, 

Der  alt  man  an  ein  fteckhen  geent  grab,  vnd  alt  fain  pog- 
rueckhet  hinckh'^  in  alt  frenckhifch^  klag  [dt] 

Die  fafs nacht  in  frawen  klaydern  voll  fchelflen]  narren  oren, 
kartenpletern,  vnd  d' gleiche  hangen 

Die  faften  hinckhendt  in  fchwartze  mantl  ei[n]  fchlayr  wie  ein 
pogin  od'  pethfchwefter  ain  pa[ter]-nofter  vnnd  prezen  drgendtf!] 
Die  Aufmerksamkeit  Hans  Sachsens  auf  Stoff  und  Farbe  der 
Kostüme  tritt  auch  hier  hervor;  vom  Schnitt  ist  wiederum  kaum 
die  Rede.  Nur  einmal  wird  charakteristischerweise  das  Altmodische 
der  Tracht  hervorgehoben,  und  umgekehrt  wird  das  Neumodische 
im  Aufzug  des  Buhlers  gekennzeichnet,  indem  ihm  eine  spanische 
Kappe  gegeben  wird:  wir  denken  an  das  oben  ausführhch  be- 
handelte Interesse  für  die  spanische  Tracht.  Im  übrigen  gehen  auch 
hier  die  allegorischen  Gestalten,  ohne  daß  die  Phantasie  stark  be- 
müht wird,   im  überlieferten  Theaterkleid   oder  im  Alltagsgewand; 


136  'Rüstung'  der  'Stulticia'. 

bei  der  Gestalt  der  Frau  Narrheit  taucht  das  typische  Kostüm  der 
Königin  wieder  auf.  Eine  gewisse  Ausnahme  scheint  nur  die 
Rüstung  der  Fastnacht  zu  machen,  die  etwas  phantastisch  aus- 
gestaltet erscheint;  auch  hier  aber  ist  von  einer  selbständigen 
Leistung  Hans  Sachsischer  Einbildungskraft  nicht  die  Rede:  solche 
Kostüme  aus  Kartenblättern  u.  dgl.  erscheinen  in  den  Nürnberger 
Schembartbüchern,  auf  die  schon  mehrfach  verwiesen  wurde.  Das 
Hauptmittel,  mit  dem  der  Dichterregisseur  kostümhch  charakteri- 
siert, ist  auch  hier  wieder  das  Attribut. 

Ein  paarmal  aber  gibt  Hans  Sachs  hier  Vorschriften,  die  sich 
nicht  mehr  nur  auf  das  Kostüm  beziehen,  sondern  auf  die  Schau- 
spielkunst. 


Drittes   Kapitel. 

Die  Schauspielkunst. 

Wenn  wir  den  Umstand,  daß  Hans  Sachs  seine  Werke  in  dem 
Bewußtsein  schrieb,  bei  ihrer  Aufführung  Regie  zu  führen,  bisher 
benutzt  haben,  um  aus  ihnen  ihren  Bühnensinn  herauszulesen  und 
unter  Heranziehung  der  technischen  Verhältnisse  das  Theater  der 
Meistersinger  zu  rekonstruieren,  so  können  wir  das  gleiche  Material 
nun  auch  verwerten,  um  über  die  Schauspielkunst  der  Nürnberger 
ins  Klare  zu  kommen.  In  den  Anweisungen,  die  ein  dichtender 
Regisseur  den  Personen  seiner  Dramen  gibt,  spiegelt  sich  natur- 
gemäß seine  Auffassung  von  der  schauspielerischen  Darstellung. 
Hans  Sachs  aber  ist  sogar  nicht  nur  Regisseur  gewesen,  sondern 
hat  selbst  in  einer  großen  Anzahl  von  Rollen  als  Mitspieler  die 
Bühne  betreten  i);  um  so  mehr  haben  wir  ein  Recht  zu  der  Annahme, 
daß  zumal  seine  szenischen  Bemerkungen,  soweit  sie  sich  auf  das 
Agieren  der  Personen  beziehen,  durchaus  praktischen  Theatersinn 
besitzen. 

Immerhin:  es  wird  sich  empfehlen,  nicht  nur  dieses  Recht  zu 
betonen.  Schließlich  handelt  es  sich  doch  nicht  um  einen  Schau- 
spieldichter, der  nur  Rollenstücke  schreibt  und  weiter  nichts,  son- 
dern um  einen  Autor,  der  auch  auf  anderm,  theaterfernem  Gebiete 
arbeitet,  der  auch  epische  Dichtungen  in  ungeheurer  Zahl  verfaßt. 
So  könnte  die  Auffassung,  die  der  Epiker  von  der  Aktion  seiner 
Gestalten  hat,  in  die  szenischen  Bemerkungen  sich  eingeschlichen 
haben.  Darum  müssen  wir  das  Material  selbst  befragen,  ohne  vor 
der  erschöpfenden  Durcharbeitung  seiner  erschreckenden  Fülle 
zurückzuschaudern.  Zunächst :  macht  es  einen  in  sich  einheitlichen 
Eindruck,  hat  es  terminologischen  Charakter?  Diese  Frage  ist  sofort 
mit  Ja  zu  beantworten,  sobald  wir  das  Gesamtmaterial  in  zwei 
Teile  zu  scheiden  uns  entschließen.  Ganz  offenbar  kennt  das  Theater 
des  Hans  Sachs  zwei  schauspielerische  Stile  sehr  verschiedenen 
Charakters:  die  Darstellung  der  großen  Dramen,  der  Komödien  und 
Tragödien  ist  von  der  der  Fastnachtspiele  streng  geschieden,  wenn 
auch  natürlich  ein   paar  mehr  indifferente    Züge  hier  wie    dort  in 

1)  KG.   10,  S.  6. 


138     Terminologischer  Sinn  der  szenischen  Bemerkungen.    Zwei  schauspielerische  Stile. 

den  Anweisungen  zu  finden  sind  und  eine  gelegentliche  Herüber- 
nahme gewisser  wesentlich  dem  Drama  zukommenden  Spielvor- 
schriften ins  Fastnachtspiel  nicht  völlig  vermieden  ist.  Auf  die 
Unterschiede  der  beiden  Stile  wird  später  genauer  einzugehen 
sein;  hier  mag  der  Hinweis  genügen,  daß  die  Anweisungen  des 
Fastnachtspiels  dem  Naturalismus  weit  näher  stehen  und  somit 
dem  Nuancieren  und  Individualisieren  größeren  Raum  geben,  so 
daß  sich  hier  doch  manche  nicht  typische  Vorschriften  finden,  ja 
daß  der  Dichter  hie  und  da  in  den  Spielbemerkungen  die  gleich- 
mäßige, rein  technische  Ausdruckweise  verläßt  und  sich  mehr 
humoristisch-schriftstellerischer  Wendungen  bedient,  die  nicht  so 
wohl  an  den  Schauspieler  wie  an  den  Leser  sich  wenden:  gibt  jm 
ein  beiiderling  (27,  148),  troldi  daruon  (34,  80),  sieht  den  waidhoffer 
(75,  150)  und  —  besonders  bezeichnend  —  einmal  statt  des  üblichen 
hat  den  Kopff  in  der  hand:  seczt  ein  sorgseulen  (64,  60).  In  den 
Spielanweisungen  der  großen  Dramen,  von  denen  wir  hier  vornehm- 
lich reden,  ist  derartiges  undenkbar:  hier  herrscht  eine  verhältnis- 
mäßig einförmige,  trockene,  sichtlich  technisch-terminologische 
Ausdrucksart,  sachhch  ein  ständiges  Wiederkehren  bestimmter 
Vorschriften,  denen  eine  gewisse  Systematik  nicht  fehlt  und  unter 
denen  nicht  wenige  einen  durchaus  eigenartigen  Charakter  haben. 

Ganz  besonders  verschieden  aber  sind  die  Aktionsvorschriften 
für  Tragödie  und  Komödie  von  den  Bemerkungen,  die  der  Dichter 
in  seinen  epischen  Werken  über  die  körperliche  Beredsamkeit  seiner 
Gestalten  macht;  jener  eben  bezeichnete  Stil  der  Fastnachtspiele 
steht  dieser  weiterhin  auch  noch  genauer  zu  charakterisierenden 
epischen  Mimik  und  Pantomimik  näher.  Auch  hier  zeigt  sich  neben 
gelegentlich  auftauchender  individueller  Beobachtung  eine  typische 
Wiederkehr  des  Gleichen;  aber  sie  geht  auf  wesentlich  andere 
Züge  als  in  den  szenischen  Bemerkungen  der  Dramen  und  hat  ihre 
wesentlich  andere  Begründung:  den  epischen  Zug  zum  Formelhaften 
und  den  Vers-  und  Reimzwang.  Höchst  charakteristisch  aber  ist 
es,  daß  die  gar  nicht  seltenen  Stellen  der  Dramen,  an  denen  die 
auftretenden  Personen  erzählend  über  die  von  ihnen  beobachtete 
körperliche  Aktion  anderer,  nicht  auf  der  Szene  befindlicher  Per- 
sonen berichten,  sich  durchaus  dem  epischen  Stil  einreihen:  die 
Anweisungen  der  szenischen  Bemerkungen  sind  offenbar  etwas  ganz 
Besonderes :  nicht  Beobachtungsergebnisse,  sondern  Vorschriften  für 
den  Schauspieler. 

Zu  der  gleichen  Überzeugung  kommen  wir,  indem  wir  Hans 
Sachsens  Dichtungen  mit  ihren  Quellen  verglei(;hen.  Hätten  die 
hier  in  Frage  stehenden  szenischen  Bemerkungen  der  Dramen  keinen 
besonderen  theaterterminologischen  Charakter,  so  müßten  wir  er- 
warten, daß  ein  so  quellengetreuer  Autor  wie  Hans  Sachs  auch 
die    Angaben    seiner   Vorlagen    über    die   Körperbewegungen    der 


Vollständigkeit  der  szenischen  Bemerkungen.  139 

handelnden  und  sprechenden  Personen  im  wesenthchen  mit  über- 
nehmen würde.  Tatsächlich  ist  das  Verhältnis  i)  denn  auch  in  den 
epischen  Darstellungen  Hans  Sachsens  ein  ziemlich  enges,  wenn- 
gleich von  einer  Einheitlichkeit  nicht  die  Rede  sein  kann:  die 
Historien  in  ihrem  Bestreben,  den  Stoff  ins  Großzügige  zu  kompri- 
mieren, und  manche  Meistergesänge')  von  kurzer  Strophenform  werfen 
die  mimischen  Andeutungen  der  Vorlagen  vielfach  ganz  beiseite; 
anderseits  führt  der  Zwang,  Zeilen  zu  füllen  und  Reimworte  zu 
finden,  auch  hier  oft  zu  Abweichungen.  Ganz  anders  aber  bei  den 
dramatischen  Werken  und  zumal  bei  Tragödien  und  Komödien. 
Hier  herrscht  eine  vollständige  und  offenbar  bewußte  Selbständig- 
keit, die  nur  selten  außer  acht  gelassen  wird:  alles  wird  verschmäht, 
was  den  typischen  Vorschriften  der  szenischen  Bemerkungen  wider- 
spricht, außerordentlich  viel  Neues  wird  eingeführt,  wozu  die  Quelle 
nicht  einmal  eine  Anregung  bietet.  Verhältnismäßig  am  engsten 
ist  der  Anschluß  an  die  Vorlage  auch  hier  wieder  bei  den  Fast- 
nachtspielen mit  ihrem  minder  streng  geschlossenem  System;  einige 
auffallende  und  später  noch  zu  besprechende  Beziehungen 
zum  Grundtext  finden  sich  in  den  biblischen,  zumal  in  den  neu- 
testamentlichen  Dramen.  Sonst  aber  ist  der  Unterschied  zwischen 
der  Arbeitsweise  des  Epikers  und  der  des  Theaterdichters  auch 
hier  sehr  deutlich,  —  besonders  lehrreich  ist  es,  das  verschieden- 
artige Verhalten  Hans  Sachsens  dort  zu  studieren,  wo  er  einen  Stoff 
dramatisch  und  episch  gestaltet  hat.  So  wird  kein  Zweifel  mehr 
bestehen,  daß  die  szenischen  Bemerkungen  in  Hans  Sachsens 
Dramen  die  Schauspielkunst  der  Nürnberger  Meistersinger  uns 
vorführen. 

Die  Frage  ist  nur  noch :  ob  wirklich  die  ganze  Schauspiel- 
kunst? oder  ob  die  Darsteller  außer  dieser  vorgeschriebenen  Mimik 
und  Pantomimik  und  allem  was  dazu  gehört,  auch  noch  andere 
schauspielerische  Mittel  anwandten?  Das  wird  trotz  der  verhältnis- 
mäßig großen  Zahl  der  szenischen  Anweisungen  nicht  bezweifelt 
werden  können,  daß  hie  und  da  einige  fehlen,  die  der  Verfasser 
sozusagen  aus  Versehen  fortgelassen  hat:  nicht  nur  scheinen 
einige  ganze  Stücke  wie  Gideon  1556  und  Jael  1557  in  schau- 
spielerischer Beziehung  merkwiirdig  wenig  durchgearbeitet  zu  sein, 
sondern  es  fehlen  auch  an  einzelnen  Stellen  anderer  Dramen  die 
szenischen  Vorschriften,  die  der  Situation  nach  durchaus  zu  erwarten 
sind.  Einige  Male  scheinen  auch  die  Reden  der  Personen,  die  die 
Aktion  einer  mit  ihnen  auf  der  Szene  befindlichen  Gestalt  be- 
schreiben, auf  solche  Ausfälle  hinzuweisen.    Im  großen  und  ganzen 


1)  Vergleiche  sind  natürlich  nur  auf  Grund  des  heutigen  Standes  der  Quellenforschung 
angestellt  worden. 

2)  Durchgearbeitet  sind  für  unsere  Untersuchung  allerdings  nur  die  von  Goetze  und 
Drescher  in  den  „Fabeln  und  Schwänken"  veröffentlichten  Meisterlieder. 


140  Vollständigkeit  der  szenischen  Bemerkungen. 

aber  zeigt  schon  die  ganz  auffallend  kleine  Zahl  derartiger  Stellen 
des  Dialogs,  wie  wenig  dem  Schauspieler  überlassen  bleiben  soll, 
seine  Aktion  selbst  zu  bestimmen:  in  dem  ganzen  gewaltigen 
Corpus  Hans  Sachsischer  Komödien  und  Tragödien  zähle  ich  nur 
fünfi),  dazu  drei,  in  denen  die  Beschreibung  nachträghch  erfolgt, 
und  endlich  sechs,  in  denen  der  körperliche  Zustand  einer  Person 
geschildert  wird,  die  eben  auftreten  soll,  die  die  auf  der  Bühne 
befindlichen  Personen  daher  einen  Augenblick  früher  erblicken  als 
der  Zuschauer.  Im  ganzen  also  14  Stellen.  Immerhin  größer  ist  die 
Zahl  in  den  Fastnachtspielen,  und  das  bedeutet  um  so  mehr,  als 
ihr  Gesamtumfang  hinter  dem  der  Komödien  und  Tragödien  er- 
hebhch  zurücksteht:  ich  rechne  22  Fälle  (10  +  3  +  8)  heraus; 
tatsächlich  entspricht  es  dem  noch  ausführlicher  zu  behandelnden 
Stil  der  Fastnachtspieldarstellung,  daß  dem  Schauspieler  hier  ein 
wenig  mehr  Aktionsfreiheit  gewährt  wird. 

Zu  diesen  36  (14  -f-  22)  Stellen  des  dramatischen  Gesamtwerks 
kommen  nun  allerdings  noch  23  (13  -4-  10),  in  denen  die  Sache 
anders  liegt.  Während  jene  36  im  Rahmen  der  theatralischen 
Ausführbarkeit  bleiben,  fallen  diese  aus  dem  System  der  Meister- 
singerkunst heraus,  ja  sie  liegen  jenseits  alles  dessen,  was  man 
überhaupt  einem  Schauspieler  vorschreiben  kann. 

Wie  sitzt  du  also  au  ff  dir  selb  ? 

Bist  so  erschluchtzet,  bleich  und  gelb? 

fragt  Ahab  T  1557  (KG.  10,  S.  405)  Königin  Isabel  ihren  Gemahl 
Ahab,  dem  Naboth  soeben  den  Weinberg  verweigert  hat.  Der  könig 
sitzt  trawrig  heißt  es  kurz  vorher  in  der  szenischen  Bemerkung; 
erschluchzet  mag  sein  darauf  folgender  Monolog  gesprochen  worden 
sein,  —  bleich  und  gelb  zu  werden,  hat  der  Schauspieler  nicht  in 
seiner  Gewalt  2).  Ja,  gelegentlich  findet  sich  zwischen  der  szenischen 
Bemerkung  und  der  Dialogstelle  geradezu  ein  Widerspruch.  In 
Daniel  C  1557  (KG.  11,  S.  50  f)  heißt  es  von  Belsacer:  Der  künig 
schawt  gegen  der  wandt,  fehrt  vom  tisch  auff .  . ,  er  sagt  dann 
aber  sofort: 

Mein  gmüt  vor  ängsfen  sich  anstreckt, 
Das  mir  gleich  zittern  fuß  vnd  hendt. 
Mir  schüchtern  beide  brüst  vnd  lendt. 

Hier  haben  wir  eine  einfache  Herübernahme  der  biblischen 
Angabe  in  den  Monolog: .  .  .  dafd  ihm  die  lenden  schulterten  und  die 
beine  zitierten,  während  das  Auffahren  in  der  Quelle  nicht  zu  finden 
ist.    Dieses  verschiedenartige  Verhalten   zur  Quelle  aber  symboli- 

1)  Nicht  mitgerechnet  sind  natürlich  die  Fälle,  wo  der  Dialog  nur  das  anfninnnt,  was 
die  szenische  Bemerkung  vorschreibt. 

2)  Nicht  hierher  geiiören  die  Stellen  F.  42,  193tf;  58,  UatT;  7!»,  277:  da  liegt  der 
Darsteller,  und  sein  Gesicht  ist  dem  Zuschauer  kaum  sichtbar. 


Meistersängerische  Schauspielkunst.  141 

siert  förmlich  den  Gesamtsinn  der  sämtlichen  Dialogangaben  über 
die  Aktion  der  Personen:  sie  gehören  ebenso  wie  die  schon 
oben  charakterisierten  Dialogbemerkungen  über  Mimik  und  Panto- 
mimik  in  nicht  vorgeführten  Szenen  in  die  nächste  Nachbarschaft 
der  rein  epischen  Behandlung  dieses  Gebiets  und  haben  mit  dem 
Theater  kaum  etwas  zu  schaffen;  bezeichnenderweise  befinden  sich 
auch  unter  den  vorher  behandelten  Stellen,  die  nicht  so  offensicht- 
lich der  Nürnberger  Schauspielkunst  widersprechen,  doch  keine 
solche,  die  ganz  eigentümliche  Vorschriften  des  theatralischen  Stils 
wiedergeben  und  sich  nicht  ebenso  gut  auch  dem  epischen  Stil 
einordnen  ließen. 

Und  so  dürfen  wir  erklären:  von  wenigen  Stellen  abgesehen, 
die  wir  durch  Analogie  leicht  erkennen  können,  haben  Hans  Sachsens 
Schauspieler  nur  da  ihren  Körper  irgendwie  in  Aktion  treten  zu 
lassen  oder  ihrem  Vortrag  eine  bestimmte  Färbung  zu  geben,  wo 
die  szenischen  Bemerkungen  das  ausdrücklich  vorschreiben;  im 
übrigen  herrscht  einfache  Deklamation  des  Textes.  Wenn  der  Zu- 
schauer gelegentlich  im  Dialog  von  Ausdrucksbewegungen  und  dgl. 
hört,  die  der  Darsteller  nicht  ausführt,  so  wird  er  daran  so  wenig 
Anstoß  genommen  haben  wie  an  den  Dialogstellen,  die  ihm  von 
Garten,  Straße  und  Meer  redeten,  während  er  doch  immer  nur  die 
kahlen  Wände  der  Marthakirche  vor  Augen  hatte.  Die  Einschnürung 
der  Darsteller  aber  in  ein  unschwer  erlernbares  System  von  Aus- 
drucksbewegungen und  Vortragstönen,  diese  Dressur  nach  Regeln, 
die  der  Meister  vorschreibt,  diese  Ausmerzung  jeder  Möglichkeit 
individueller  Kunstübung,  wie  sie  zumal  in  den  Tragödien  und 
Komödien  uns  entgegentritt,  darf  uns  nicht  wundernehmen.  Es 
handelt  sich  um  die  Meistersinger.  Geradeso  wie  auf  dem  lyrisch- 
musikalischen Gebiete  dem  krassesten  Dilettantismus  durch  die 
Beobachtung  eines  großen,  jede  Individualität  erstickenden  Systems 
von  Regeln  doch  ein  gewisser  Kunstbetrieb  ermöglicht  wurde,  so 
mußte  hier  gegenüber  dem  schauspielerischen  Dilettantentum,  der 
mimischen  Talentlosigkeit  verfahren  werden.  Lieber  einmal  einer 
einzelnen  ausgesprochenen  Begabung  die  Bewegungsfreiheit  nehmen 
als  auf  eine  gewisse  Schulung  des  unbegabten  Durchschnitts  ver- 
zichten. Eine  der  Grundfragen  jeden  Theaterlebens  wird  somit  in 
Nürnberg  in  einem    ganz  bestimmten  Sinne  entschieden. 


Und  welches  ist  dieses  meistersingerische  System?  so  dürfen 
wir  nun  fragen.  Ein  Negatives  drängt  sich  uns  zunächst  auf. 
Diese  Schauspielkunst  verschmäht  ganz  und  gar  alles,  was  auf  die 
charakterisierende  Herausarbeitung  einer  menschlichen  Individualität 
geht.  Ob  Saul,  ob  David,  ob  Batseba  —  wenn  wir  zunächst  wieder 
die  Kunst  des  großen  Dramas  ins  Auge  fassen,  die  ja  den  eigent- 


142  Verzicht  auf  Individualisierung. 

liehen  Gegenstand  dieser  ganzen  Untersuchung  bildet  —  ob  Alexander, 
ob  Romulus  oder  Tristan:  die  Darstellungskunst  arbeitet  immer  mit 
genau  denselben  Mitteln.  Und  es  fehlt  auch  der  geringste  Ansatz, 
wenigstens  einzelne  Rollenfächer  zu  unterscheiden:  zwischen  der 
Gesamthaltung  der  Väter  und  der  jugendlichen  Liebhaber,  der 
Anstandsdamen  und  der  Naturburschen  usw.  besteht  schauspielerisch 
nicht  die  kleinste  Differenz.  Wie  die  „lyrischen"  Leistungen  der 
Meistersinger  vollständigste  Gleichförmigkeit  als  Ideal  aufstellen, 
so  erstreben  auch  die  schauspielerischen  gänzliche  Unterschieds- 
losigkeit.  Jeder  überhaupt  Zugelassene  und  Eingeweihte  muß  im- 
stande sein,  jede  Aufgabe  zu  übernehmen. 

Diese  theoretische  Erkenntnis  aber  vermögen  wir  vielleicht 
durch  eine  Untersuchung  der  wirklichen  Verhältnisse  zu  kontrollieren. 
Freilich:  Theaterzettel  der  aufgeführten  Stücke  mit  Angabe  der 
Rollenbesetzung,  aus  der  wir  ersehen  könnten,  ob  bestimmte  Schau- 
spieler immer  wieder  Rollen  bestimmter  Art  spielen,  oder  ob  ein 
vollständiges  Durcheinander  herrscht,  gibt  es  nicht.  Wohl  aber  ein 
einzelnes,  möglicherweise  brauchbares  Surrogat.  Hans  Sachs  selbst 
zählt  in  einem  Meistergesang  vom  6.  März  1551  die  Rollen  auf,  die 
einem  nicht  näher  bekannten  Meistersänger  Schmidtlein  bis  zu  diesem 
Tage  zugefallen  sind.  Wir  lassen  den  Text  dieses  Gedichts  hier 
zunächst  folgen  i),  um  ihn  dann  für  unsern  Zweck  kommentieren  zu 
können ;  die  Anmerkungen  bieten  die  Identifikationen  der  einzelnen 
Rollen  2)  unter  Angabe  der  Jahreszahl  der  Abfassung,  die  in  den 
meisten  Fällen  den  der  Aufführung  benachbart  sein  wird,  der 
Gattung  des  betr.  Stückes  und  des  Umfangs  der  Rolle. 

In  des  Romers  gesanckweis. 
Die  27   Spil   des   Schmidlein. 
Ach  got,  wie  oft  hat  Sich  nur  mein  person  verkert! 
Als  ob  ich  het  der  gottin  Circes  kunst  gelert, 
Det  doch  in  kainer  gstalt  zw  lang  verharren. 

Erstlich  war  ich  mit  meinem  posen  weih  ain  mon'^), 
Wart  darnach  Jupiter  vnd  trueg  zepter  vnd  kron^); 
Das  nechst  Jar  darnach  war  ich  zw  aim  narren^). 


1)  Nach  dem  ersten  Abdruck  bei  V.  Michels:  VLG.  3,  S.  43  ff.  Vgl.  f515f:  über  den 
Schmidlein  A.  Rauch,  Barbara  Herscherin  (Nürnberg   1896)  S.   24. 

2)  Zum  größten  Teil  stimmen  sie  natürlich  mit  den  von  Michels  S.  45  f.  Gebotenen 
überein. 

3)  F.  4,  8.  Okt.   1533  (?1530?),  «(i  v.  480  Versen  (5  Personen). 

41  Jupiter  und  Juno  C,  30.  Apr.  1534.  107  v.  871  V.  (5  P.)  oder  Judicium  Paridis, 
9.  Jan.  1532,  342  v.  736  V.,   15  P. 

5)  Esther  C,  8.  Okt.  1536,  70  v.  632  V.  (13  P.)  oder  Slultitia  C,  1.  Febr.  1532,  63 
V.  703  V.,  28  P.,  oder  C  Jupiter  und  Juno,  30.  Apr.   1534,  38  v.  871   V.,  5  P.). 


Die  Rollen  des  Schmidtleiii.  143 

Nach  dem  wart  ich  ain  driincken  polcz 

Mit  grofem  pawch,  ein  grolczei  und  ain  koczer^); 

Nach  dem  schnit  man  den  narren  stolcz 

Mir^) ;  nach  dem  wurt  ich  des  Franczen  Schmaroczer^). 

Nach  dem  wart  ich  der  Dolpen  Fricz, 

Ein  pawer^);  darnach  wart  ich  der  Haincz  Flegel-^); 

Nach  dem  wart  ich  auch  der  Vurwicz^); 

Nach  dem  wart  der  milt  nach  Sant  Marteins  reget'); 

Nach  dem  ich  ain  zigeuner  war, 

Dort  in  der  rockenstueben^) ; 

Nach  dem  wart  ich,  das  ander  jar, 

Der  äewjfel  gar 

Vnd  truege  in  die  hele  dar 

Ein  jungen  posen  pueben^). 


Nach  dem  wart  ich  am  fürstlichen  hof  ain  trabant^^). 
Nach  dem  aber  wart  ich  der  hewchler,  weit  erkant^^) ; 
Wurt  darnach  der  dewffel  mit  der  vnhuelden^'^). 

Nach  dem  wurt  ich  Haincz,  der  verschlagen  pawren  knechi^^); 
Nach  dem  wurt  ich  Vrban,  des  schwangern,  nachtpaur  schlecht 
(Kunt  wir  nachpaurn  Sein  kargheit  gar  nit  duelden)^^). 

Wart  wider  ein  trabant  zw  stünd^^) ; 

Nach  dem  ein  knecht  vnd  ain  duerck  paidesander, 

Da  ich  den  falschen  poswicht  schiind^^) ; 


1)  F.  5,  1535,  107  V.  495  V.  (4  P.). 

2)  F.  11,  3.  Okt.  1536,  123  v.  379  V.  (3  P.). 

3)  F.  6,  30.  Sept.  1536,  138  v.  368  V.  (3  P.). 

4)  F.  15,  31.  Dez.  1540,  193  v.  326  V.  (3  P.). 

5)  F.  12,  21.  Nov.  1539,  161  v.  384  V.  (3  P.). 

6)  F.  8,  12.  Juli  1538,  168  v.  435  V.  (3  P.). 

7)  F.  7,  17.  Febr.  1.538  (?),  246  v.  504  V.  (3  P.). 

8)  F.  10,  28.  Dez.  1536,  57  v.  214  V.  (5  P.). 

9)  Vermutlich  eine  Rolle  in  einer  nicht  Hans  Sachsischen  Komödie.   Goetze  (KG.  26, 
S.  48)  denkt  an  eine  Aufführung  des  (epischen)  Schwankes  'Das  Höllenbad'. 

10)  Gismunda  mit  Guisgardo  T  (vgl.  KG.  2,  29,  5),  17.  Nov.  1545,  11  v.  472  V.  (10  P.). 

11)  F.  14,  30.  Dez.   1540,  141  v.  390  V.  (3  P.). 

12)  F.  18,  19.  Nov.    1545,  107  v.  341  V.  (3  P.|. 

13)  Vermutlich  wieder  in  einer  Komödie,  die  nicht  von  Hans  Sachs  stammt. 

14)  F.  16,  -25.  Nov.  1544,  37  v.  324  V.  (5  P.). 

15)  Griselda,  C,  15.  April  1546,  27  oder  35  v.  810  V.  (13  P.). 

16)  Genura  C,  6.  März  1548,  20  +  4  v.  700  V.  (9  P.). 


144  Die  Rollen  des  Schmidtlein. 

Wart  ein  reivter  und  hencker  mit  einander, 

Hawt  aus  ein  jungen  zv  dem  dot, 

Der  dem  riter  Sein  dochter  het  peschlafen  ^ ; 

Wart  auch  ain  Jeger  und  postpot 

Vnd  ein  hencker  und  Solt  die  kungin  strafen'^). 

Nach  dem  wart  ich  der  dewffel  gancz, 

Must  mich  der  weiber  weren^). 

Nach  dem  ich  an  dem  nasentancz 

Erlangt  den  krancz, 

Wart  kung  (die  pawren  vmb  die  schancz 

Betten  einander  peren  !)  ^). 


Nach  dem  wart  ich  Marcolfus  pey  kung  Salomon, 
Die  weiber  ich  pald  auf  den  kunig  hezet  on, 
Erzelt  ir  duegent  in  manigen  dingen^). 

Nach  dem  wart  ich  auch  ein  farender  schueler  weis, 
Da  mich  ein  pewrin  schicket  in  das  paradeis, 
Dem  gstorben  mangelt  vnd  klaider  zu  piingen^l 

Nach  dem  ich  erst  ein  rewter  wuer 

Vnd  halff  ein  abt  Selb  fangen  vnd  auch  paden  '^). 

Nach  dem  wart  ich  ein  marschalck  nur 

Vnd  ein  hoffschmaichler,  pracht  herschaft  zw  schaden^). 

Also  her  auf  Achzehen  jar 

Hab  Spilen  helffen  neun  schöner  Comedj 

Vnd  Sechze  fasnacht  Spil,  vurwar, 

Vnd  darzw  auch  zwo  trawriger  tragedj, 

Aus  den  ler,  frewd  vnd  kurz  weil  vil 

Den  lewten  ist  erwachsen  : 

Got  geb  noch  lenger,  ists  Sein  wil, 

Nach  disem  zil, 

Das  ich  helff  halten  noch  mer  spil 

Mit  meim  vater  Hans  Sachsen. 


1)  Violanta  C,  27.  Nov.   1545,  '23  (27?)  +  8  v.  586  V.  (13  P.). 

2»  Königin   aus    Frankreich  C,   12.  Dez.  1549,  7  +  6  +  7  v.  850  V.  (13  P.):   doch 
Goetze  a.  a.  0.  S.  49. 

3)  F.   19,  27.  Nov.  1549,  59  v.  324  V,  (5  P.). 

4)  F.  20,  4.  Febr.  1550,  23  v.  330  V.  (9  P.). 

5)  ludicium  Salomonis  C,  6.  März   1550,  7ß  v.  718  V.  (8  P.). 

6)  F.  22,  8.  Okt.   1550,  98  v.  322  V.  (3  P.). 

7)  F.  27,  17.  Dez.   1550,  51  oder  «2  v.  35(3  V.  (5  P.). 

8)  Jocasta  T  v.,  19.  April   1550,  20  -\-  34  v.  700  V.  (13  P.). 


Die  Rollen  des  Sclunidlein.  j^45 

Zunächst  scheint  hier  allerdings  das  Überwiegen  der  Fastnacht- 
spielrollen auffallend  (16  Fastnachtspiele  gegen  9  Komödien  und  2 
Tragödien  1)  und  im  Zusammenhang  damit  der  Umstand,  daß  der 
Schmidlein  in  den  größeren  Dramen  vorwiegend  gemeine  Leute 
spielt.  Das  könnte  darauf  hinweisen,  daß  innerhalb  der  Komödien- 
und  Tragödienaufführung  die  Rollen  der  geringeren  Leute  fastnacht- 
spielmäßig  gegeben  worden  seien. 

Indessen:  so  sehr  überwiegend  ist  bei  genauerem  Zusehen  das 
Fastnachtspiel  doch  nicht,  Hans  Sachs  hat  bis  zu  der  Zeit,  zu  der 
er  jenes  Rollenverzeichnis  in  Verse  brachte,  29  Fastnachtspiele  und 
30  größere  Dramen  gedichtet,  unter  denen  die  Komödien  durchaus 
überwiegen ;  sicherlich  aber  sind  viel  mehr  von  den  Fastnachtspielen 
als  von  den  Dramen  wirklich  zur  Aufführung  gekommen,  und  so 
wird  das  Verhältnis  16:9  (zwei  Rollen  scheiden  aus,  weil  sie  nicht- 
sächsischen Stücken  angehören)  dem  Verhältnis  jener  Aufführungen 
wohl  etwa  entsprechen;  dazu  stimmt  die  Beobachtung,  daß  ganz 
ebenso  wie  die  Mehrzahl  der  vom  Schmidlein  gespielten  Dramen- 
rollen (7  von  9)  auch  die  Mehrzahl  der  von  Hans  Sachs  verfaßten 
größeren  Dramen  (18  von  30)  in  die  Zeit  nach  1545  gehört,  —  von 
den  voranliegenden  Komödien  und  Tragödien  des  Dichters  sind 
gewiß  nur  ganz  wenige  auf  die  Bühne  gelangt.  Weiter:  sehr 
lehrreich  ist  eine  chronologische  Betrachtung  der  dem  Schmidlin 
übertragenen  Rollen  hinsichtlich  ihres  Umfangs. 

1532  542?  (h)  Ö5?  (m) 

1533  66  (g) 

1534  iö7?  (g)  38?  (m) 

1535  107  (g) 

1536  123  (g)  138  (g)  57  (g)  60?  (m) 

1537  246  (h) 

1538  168  (h) 

1539  161  (h) 

1540  193  (h)  141  (g) 

1544  37  (n) 

1545  107  (g)  11  (n)  23  (27)  +  8  (nn) 

1546  27  (35)  (n) 

1548  20  +  4  (nn) 

1549  59  (m)  7  +  ö  +  7  (nnn) 

1550  23  (n)  98  (g)  51  (62)  (n)  76  (m)  20  +  34  (nn) 

Mögen  im  einzelnen  die  Jahreszahlen  der  Abfassung  denen 
der  Aufführung  auch  nicht  immer  entsprechen,  —  im  ganzen  wird 
doch  das  chronologische   Bild  richtig  sein.     Und    da  tritt    uns  eins 


1)  Komödien-  und  Tragödien-Rollen  in  der  folgenden  Übersicht  sind  kursiv  gedruckt ; 
die  Bedeutung  der  einzelnen  Partien  im  Rahmen  des  gesamten  Dramas   ist  in  vier  Stufen 
geschieden;   h  (-Hauptrolle),  g  (-große  Rolle),  m  (-mittlere  Rolle),  n  (-Nebenrolle). 
Herrmann,  Theater.  10 


j^46  Gründe  für  die  Rollenzuteilung. 

gleich  deutlich  entgegen:  die  Zeit  bis  1540  ist  von  der  seit  1544 
sichtlich  verschieden.  Nach  den  aufführungslosen  vier  Jahren 
werden  im  ganzen  dem  Schmidlein  größere  Aufgaben  nicht  mehr 
übertragen,  mag  es  sich  nun  um  Fastnachtspiele  oder  um  eigent- 
liche Dramen  handeln.  Nur  zweimal  hält  sich  die  Verszahl  der 
Rolle  oder  des  Rollenkomplexes  in  der  Nähe  der  100;  von  den 
Zahlen  der  dreißiger  Jahre  ist  nicht  mehr  die  Rede.  Vermutlich 
reichte  sein  Gedächtnis  nicht  mehr  zu.  Da  nun  die  überwiegende 
Zahl  der  Komödien-  und  Tragödienaufführungen  in  die  zweite 
Periode  fällt,  so  erklärt  sich  die  Beschränkung  auf  gemeine  Per- 
sonen ganz  einfach:  ihrem  Kreise  wesentlich  gehören  die  kleineren 
Rollen  der  Komödien  und  Tragödien  an.  In  der  ersten  Periode, 
als  der  Schmidlein  noch  große  Aufgaben  zu  bewältigen  vermochte, 
hat  er  auch  den  Jupiter  gespielt.  Ein  Zweites  kommt  wohl  dazu. 
Es  fällt  nicht  nur  auf,  daß  er  niemals  Frauenrollen  dargestellt  hat, 
sondern  auch,  daß  er  in  F.  10  den  Zigeuner  (vgl.  v.  72)  und  in  F. 
20  den  Heinz  Flegel  vorführte :  zu  beiden  Rollen  war  wohl  ein  be- 
sonders groteskes  Äußeres  notwendig,  und  was  den  Schmidlein  hier 
empfahl,  machte  ihn  für  die  Darstellung  fürstlicher  Personen  und 
dgl.  ungeeignet;  immerhin  hat  er  einmal  1550  in  der  Jocasta  den 
Marschall  Nicias  gespielt.  Auch  der  Umstand,  daß  man  ihm  mehr- 
fach (3,  12,  15,  22,  24)  die  Rollen  des  Narren  und  des  Teufels 
übertragen  hat  —  besonders  beachtenswert,  daß  dazu  zwei  von 
den  drei  Fällen  gehören,  in  denen  man  dem  Schmidlein  noch  in  der 
zweiten  Periode  etwas  größere  Partien  überwies  — ,  auch  dieser 
Umstand  weist  darauf  hin,  daß  der  Mann  etwas  Groteskes  an  sich 
hatte,  was  ihn  für  die  Darstellung  vieler  Rollen  ungeeignet  er- 
scheinen ließ.  So  spricht  die  Untersuchung  dieses  poetischen 
Rollenverzeichnisses  nicht  gerade  für,  aber  auch  nicht  gegen  die 
Richtigkeit  der  oben  vorgetragenen  Theorie;  gewisse  psychische 
und  physische  Eigentümlichkeiten  des  Schmidlein  verboten  es,  ihm 
unterschiedslos  Rollen  aller  Art  anzuvertrauen;  für  die  Besetzung 
der  Komödien  und  Tragödien  gibt  unser  Dokument  überhaupt  nicht 
viel  Erkenntnis,  und  die  Hauptmasse  der  Hans  Sachsischen  Dramen 
ist  ja  erst  nach  der  Abfassung  unseres  Meistergesanges  entstanden. 
Wenn  die  Schauspielkunst  der  Meistersinger  nun  aber  die 
Aufgabe,  Individuen  zu  charakterisieren,  ganz  bei  Seite  läßt,  welchen 
Zielen  strebt  sie  dann  tatsächUch  zu?  Ein  Doppeltes  hat  der  Dar- 
steller zu  leisten.  Er  hat  einerseits  die  körperliche  Aktion  vorzu- 
führen, die  das  Drama  verlangt,  mag  sie  nun  ganz  unabhängig 
von  der  gesprochenen  Rede  erfolgen  oder  in  den  Worten  der 
handelnden  Personen  so  deutlich  angekündigt  werden,  daß  die 
Ausführung  notwendig  vor  den  Augen  des  Publikums  erfolgen 
muß.  Das  andere  ist  die  Aufgabe,  Zustände  und  Hergänge  des 
Leibes    und  der  Seele    körperlich    mit  visuellen    oder    akustischen 


„Gestus"  und  Aktion.  1^7 

Mitteln  so  deutlich  werden  zu  lassen,  daß  das  gesprochene  Wort 
dadurch  ersetzt,  ergänzt  oder  verstärkt  wird.  Wenn  wir  diese  zuletzt 
genannten  Leistungen  unter  der  hier  sehr  weit  gefaßten  Bezeichnung 
„Gestus"  zusammenfassen,  so  unterscheiden  sich  Gestus  und  Aktion 
zunächst  dadurch,  daß  die  Aktion  im  vorhin  definierten  Sinne 
eigentlich  keine,  der  Gestus  dagegen  sehr  viele  entbehrliche  Ele- 
mente enthält:  entbehrhch  in  der  Beziehung,  daß  der  Zuschauer 
schließlich  auch  ohne  sie  den  Sinn  des  Dramas  verstände.  Die 
eigentliche  Aktion  gehört  so  gut  wie  der  Dialog  eigentlich  nicht 
zur  Theaterkunst,  sondern  zum  Drama. 

Natürhch  aber  zieht  das  Theater  auch  die  Aktion  mit  in  sein 
Bereich:  es  werden  „Handlungen"  vorgeführt,  die  für  das  Verständnis 
des  Dramas  entbehrlich  sind,  und  andere  weiter  ausgedehnt,  als 
die  Zwecke  des  Dramas  es  bedingen.  Solche  reine  Theateraktion 
reicht  einerseits  in  das  Gebiet  der  Regiekunst,  anderseits  in  das 
des  Schauspielers  hinein;  hier,  wo  es  sich  nur  um  Regie  primitivster 
Art  handelt,  möge  sie  mit  in  die  Betrachtung  der  Darstellung  ein- 
bezogen werden.  Und  über  den  Umfang  und  die  Sonderart  solcher 
Theateraktion  auf  Hans  Sachsens  Bühne  mag  hier  zunächst  das 
Nötigste  gesagt  werden. 

Die  Aktion  auf  Hans  Sachsens  Bühne. 

Auf  der  einen  Seite  ist  es  der  Kampf,  in  dessen  Vorführung 
das  Theater  sich  auslebt  und  Selbstzweck  wird.  Der  Kampf  des 
einzelnen  sowohl,  zumal  der  Zweikampf,  wie  namentlich  der  Massen- 
kampf, die  Schlacht.  Mit  der  gleichen  Energie,  mit  der  moderne 
Bühnenkunst  der  Vorführung  solcher  Szenen  aus  dem  Wege  geht, 
werden  sie  hier  gesucht  und  über  die  dramatische  Notwendigkeit 
hinaus  ausgedehnt.  Das  zweite  Hauptgebiet  rein  theatralischer 
Vorführung  aber  ist  die  öffentliche  Handlung.  Die  bürgerliche  Form 
der  Eheschließung  (z.  B.  KG.  8,  S.  101),  das  ganze  Gerichtsverfahren 
von  der  Zeugenvernehmung  zum  Urteilsspruch  und  zur  Exekution, 
die  Ausstellung  und  Vorweisung  der  öffentlichen  Urkunde,  neben 
der  aber  auch  der  Privatbrief  eine  Rolle  spielt:  sehr  charakteristisch 
etwa,  wie  Hans  Sachs  (KG.  10,  S.  483  f.)  in  der  Belagerung  Jeru- 
salems die  Botschaft  der  Quelle  (2  Kön.  19,  9  ff.)  zu  einer  großen 
Briefszene  ausbeutet. 

Mit  dieser  Vorliebe  für  die  umständliche  Wiedergabe  öffent- 
licher Handlungen  steht  das  Theater  des  Hans  Sachs  sichtlich  in 
einer  alten  theatralischen  Tradition,  mag  auch  im  besondern  die 
Vorliebe  für  Urkunden-  und  Briefszene  auf  eine  individuelle  Eigen- 
tümlichkeit des  schreibfrohen  Dichterregisseurs  zurückgehen.  Hochzeit 
und  Gerichtssitzung  führt  das  Fastnachtspiel  des  15.  Jahrhundert 
auf  einer  Stufe  seiner  Entwicklung  immer  wieder  vor,  wo  es  sich 

10* 


j^48  Aktion:  öffentliche  Hergänge;  Schlachten. 

noch  gar  nicht  um  ein  dramatisches  Gebilde,  sondern  nur  um 
naturahstischen  Theaterulk  handelt:  solche  Hergänge,  an  denen  auch 
das  schhchteste  Leben  einen  Augenblick  lang  an  die  Öffentlichkeit 
tritt,  sind  dem  Städter  besonders  interessant.  Auch  in  den  geist- 
lichen Spielen  ist  die  theatralische  Vorliebe  für  diese  Akte  vielfach 
sichtbar,  wie  denn  z.  B.  in  einer  der  Sterzinger  Dramenhand- 
schriften sogar  die  wichtigsten  Rechtssymbole  in  Federzeichnung  der 
„sententia  Pilati"  beigegeben  sindi).  Dagegen  fehlt  mit  einziger 
Ausnahme  von  Hans  Sachsens  Passionsdrama,  in  der  die  Tradition 
der  mittelalterlichen  Passionsspiele  bis  ins  Detail  fortlebt,  die  in 
allen  älteren  Darstellungen  als  Hauptcharakteristikum  hervortretende 
Neigung,  die  Grausamkeiten  bei  der  Exekution  bis  ins  Groteske 
gesteigert  vorzuführen,  bei  Hans  Sachs  eigentlich  ganz,  so  sehr 
seine  Stoffe  Gelegenheit  zur  Ausgestaltung  solcher  Aktion  bieten. 
Ganz  gewiß  aber  war  das  Interesse  des  Bürgers  für  die  Folterqualen 
der  armen  Sünder  im  16.  Jahrhundert  nicht  minder  brennend  wie  im 
15.;  angesichts  dieses  vollständigen  Ausfalls  bei  Hans  Sachs  wird 
man  vielleicht  geneigt  sein,  sich  einer  neuerdings  hervorgetretenen 
Auffassung  anzuschheßen,  die  in  der  Neigung  zur  Ausmalung  der 
Marterung  Christi  nicht,  wie  es  allgemein  geschieht,  die  naturalistisch- 
theatrahsche  Übertragung  bürgerlicher  Grausamkeit  auf  die  Passions- 
hergänge, sondern  das  Ergebnis  dogmatischer  Erwägungen  der 
geisthchen  Textdichter  sieht:  je  mehr  man  Christum  leiden  sah, 
um  so  tiefer  war  der  Eindruck,  den  die  Idee  seiner  Selbsthingabe 
machte. 

Dagegen  finden  wir  umgekehrt  für  jene  ausgesprochene  Freude, 
die  das  Hans  Sachstheater  an  der  Vorführung  von  Schlachten  hat, 
kein  rechtes  Seitenstück  in  den  geistlichen  Spielen  des  Mittel- 
alters, deren  Stoffe  allerdings  auch,  zumal  in  Deutschland,  wenig 
Gelegenheit  zur  Darbietung  von  Kampfszenen  boten.  Man  hat  die 
Wahl,  ob  man  annehmen  will,  daß  es  sich  um  eine  Art  Stilisierung 
der  auf  der  Fastnachtspielbühne,  auch  auf  der  Hans  Sachsischen, 
so  beliebten  Prügelei  handelt  (einmal  in  den  Menächmen  1548: 
KG.  7,  S.  116  hat  der  Dichter  auch  für  die  Komödie  eine  nicht  schlachten- 
mäßige Straßenprügelszene  breit  auszugestalten  gewagt  2),  oder  ob 
man  lieber  auf  die  in  der  bildenden  Kunst  der  Zeit  allgemein 
hervortretende  Neigung  zur  Darstellung  von  Kampfszenen  hinweisen 
mag.  Sie  beschränkt  sich  nicht  auf  den  Holzschnitt  der  Bücher- 
illustration, sondern  tritt  zu  Hans  Sachsens  Zeit  auch  schon  auf 
dem  Tafelgemälde  zutage :  man  denke  etwa  an  Burgkmairs  Schlacht 
bei  Cannae  und  Jörg  Prews  Schlacht  bei  Zama. 

Über  die  Art,  in  der  solche  Theateraktion  durchgeführt  wurde. 


1)  Wackernell,  Altdeutsche  Passionsspiele  aus  Tirol  (Graz   1897)  p.  CCII. 

2)  Vgl.  auch  Romulus  und  Remus  1560:  KG.  20,  S.   156. 


Kämpfe  auf  der  Bühne.     Vorbild  des  Turniers.  ;149 

ist  natürlich  nicht  viel  zu  sagen.  Am  wenigsten  über  die  Hoch- 
zeits-  und  Gerichtsbräuche :  hier  liegt  in  der  naturalistischen  Wieder- 
gabe der  Wirklichkeit,  in  dem  Zusammengehen,  im  Schwören,  im  Stab- 
brechen usw.  schon  etwas  Feierliches,  etwas  Stilisiertes.  Nur  das 
Problem  der  Vorführung  von  Kämpfen  auf  der  Bühne  mag  ein- 
gehend erörtert  werden.  Von  der  naturalistischen  Darstellung  einer 
Schlacht  kann  schon  darum  nicht  die  Rede  sein,  weil  Hans  Sachs 
—  wenigstens  bis  zum  Frühjahr  des  Jahres  1552  —  keinen  Krieg 
in  nächster  Nähe  erlebt  hat: 

Vnd  hab  doch  nie  kein  krieg  gesehen 
sagt  er  damals  selbst  i);  die  Schilderung  aber,  die  er  von  den 
Nürnberger  Kriegs-  und  Belagerungszeiten  in  diesem  Gedicht  vom 
18.  Juni  entwirft,  lassen  deutlich  erkennen,  daß  eine  offene  Feld- 
schlacht ihm  nicht  zu  Gesicht  gekommen  ist,  und  die  Anordnung 
seiner  Theaterschlachten  ist  auch  nach  1552  keine  andere  als  vor- 
her. Etwas  anders  steht  es  um  die  Grundlage  für  die  Vorführung 
des  Einzelkampfs :  das  Turnier  spielt  in  Nürnberg  eine  große  Rolle, 
Hans  Sachs  hat,  wie  verschiedene  seiner  Spruchgedichte  beweisen, 
ein  besonderes  Interesse  dafür,  und  eine  szenische  Bemerkung  in 
seinem  Ödipusdrama  v.  J.  1550  (KG.  8,  S.  38)  weist  deutlich  darauf 
hin,  daß  er  die  in  Nürnberger  Turnieren  gemachten  Beobachtungen 
für  die  Inszenierung  des  Kampfes  zwischen  Laios  und  Oedipus  ver- 
wendete: Hie  nimbt  ieder  hauptman  sein  rundet-)  von  seinen  tra- 
bandten,  kempffen.  Wir  werden  uns  danach  vorstellen  dürfen,  daß 
auch  sonst  die  Zweikämpfe  der  Hans  Sachsbühne,  also  etwa  der 
Kampf  der  Horatier  und  Kuriatier,  nach  den  Vorschriften  der 
damaligen  Turnierbücher,  z.  B.  des  großen  Werkes  von  Georg 
Rüxner  ausgefochten  wurden ;  freilich  konnten  nicht  die  gewöhnlichen 
Reitergefechte,  sondern  nur  die  seltneren  Fußturniere  das  Muster 
abgeben.  Wie  beim  Turnier  handelt  es  sich  darum,  den  Kampf 
möghchst  lange  auszudehnen  und  so  das  Publikum  in  Spannung 
über  den  Ausgang  zu  halten:  Sie  kempffen  lang,  so  lang  biß  sie 
endlich  fallen  —  solche  Wendungen  finden  sich  zu  wiederholten 
Malen.  Das  Kämpfen  besteht,  wie  wir  einmal  (KG.  8,  S.  51)  er- 
fahren, in  stechen  vnd  hawen;  auf  eine  wirkliche  turniermäßige 
Handhabung  der  Waffen  werden  sich  die  nie  turnierfähigen  Meister- 
sänger schwerlich  verstanden  haben,  und    so   hilft   man    sich    mit 


II  KG.   7,  S.  415. 

2)  So  in  S. ;  in  A  statt  sein  rundel:  hämisch    vnd  runde/,  was  eine   noch  umständ- 
lichere Theaterszene  ergeben  würde. 

//•  ieder  an  der  stet 
Seinen  rüstmeyster  hett, 
Der  in  schraubt  auß  vnd  ein 
heißt  es  in  Hans   Sachsens   Turnierschilderung   „Das  Gesellenstechen"    v.  J.  1538  (KG.  8, 
S.  746). 


150  Kämpfe  auf  der  Bühne.     Vorbild  des  Turniers. 

einer  Aktion,  die  zugleich  Leben  ins  Bühnenbild  bringt:  die 
Kämpfenden  treiben  einander  lang  vmb  (KG,  8,  51;  12,  291  u.  ö.): 
jeder  weicht  ein  weil  (KG.  8,  183)  und  läßt  sich  von  dem  Gegner 
in  alle  ecken  treiben  (KG.  12,  S.  306):  dann  steht  er  einen  Augen- 
blick und  treibt  nun  nach  kurzem  Hauen  und  Stechen  seinerseits 
den  Feind  die  vier  Seiten  des  Schauplatzes  entlang.  Diese  ent- 
schiedene Verwendung  der  Bühnenperipherie  zeigt  ebenfalls,  daß 
Hans  Sachs  von  der  Vorstellung  des  Turnierplatzes  und  seiner 
Schranken  ausgeht. 

Wie  aber  steht  es  mit  den  Massenkämpfen?  Für  sie  war  die 
Aufgabe  natürlich  noch  schwerer  zu  lösen,  um  so  mehr  als  auch 
hier  das  Publikum,  wie  verschiedene  szenische  Bemerkungen  (z.  B. 
KG.  13,  S.  28;  20,  S.  218)  zeigen,  eine  längere  Dauer  der  Vorführung 
verlangt.  An  einen  Naturalismus  war  hier  von  vornherein  nicht 
zu  denken.  Wir  wissen  zwar  nicht,  aus  wieviel  Personen  die  Heere 
des  Hans  Sachs  bestanden:  die  Personenverzeichnisse  führen  nur 
die  redenden  Gestalten  auf;  aber  die  beschränkten  Bühnenver- 
hältnisse erheischen  ein  Minimum  von  Statisten,  das  sich  heut  auch 
ein  kleinstädtisches  Publikum  nicht  gefallen  lassen  würde.  Hätte 
Hans  Sachs  seinen  ganzen  Schauplatz  mit  neben-  und  hintereinander 
stehenden  Gewaffneten  ausfüllen  wollen,  so  hätte  er  etwa  40 
Personen  stellen  können;  aber  davon  kann  gar  keine  Rede  sein, 
denn  dann  hätten  sie  keine  Kampfbewegungen  vorführen  kön- 
nen. So  sehen  wir:  an  die  Phantasie  der  Zuschauer  werden 
wieder  die  größten  Anforderungen  gestellt:  es  heißt  beinahe 
so  viel,  sechs  Soldaten  für  ein  großes  Kriegsheer  wie  den 
Chorraum  der  Marthakirche  für  einen  Blumengarten  und  die 
Saki'isteitür  für  eine  Höhle  ansehen. 

Wie  aber  läßt  der  des  lüleges  nicht  kundige  Hans  Sachs  seine 
Heere  miteinander  kämpfen?  Ein  blindes  Drauflosholzen  ging 
unmöglich  an,  zumal  nicht  wenn  der  Kampf  längere  Zeit  dauern 
sollte;  wie  der  Regisseur  stihsierte,  wird  durch  ein  paar  szenische 
Bemerkungen  klar,  die  das  gewöhnliche  Sie  kempffen  genauer 
spezialisieren.  Im  Hertzog  Wilhelm  von  Österreich  1556  heißt  es 
(KG.  12,  S.  509):  Sie  schlagen  aneinander  par  und  par,  biß  könig 
Belwan  feit.  Das  ist  das  Entscheidende :  die  Schlacht  wird  in  eine 
Reihe  von  Einzelgefechten  aufgelöst,  es  geht  in  der  Schlacht  wie 
in  einem  großen  Turnier  zu,  das  also  auch  für  den  Massenkampf 
dem  Regisseur  als  Vorbild  dient: 

Je  par  und  par  znsammen  strichen, 
In  kecker  man  hei  t  sie  nit  wichen, 

Als  ob  es  wer  in  einem  kämpf 

Ein  schlahen,  fechten  hin  und  her, 
Sam  obs  ein  rechte  feldschlacht  wer, 


Kämpfe  auf  der  Bühne.     Pathetische  Pose.  151 

SO  charakterisiert  er  1541  in  einem  Sprucligedicht  (KG.  2,  S.  346) 
das  Turnier  und  deutet  damit  schon  an,  welchen  Weg  seine  Phantasie 
gehen  werde,  wenn  er  künftig  eine  Schlacht  zu  inszenieren  habe. 
Und  ferner:  jener  Hauptregietrick  für  den  Einzelkampf  kehrt  auch 
bei  der  Darstellung  des  Massenkampfes  wieder:  sie  jagen  einander 
lang  vmb  (z.  B.  KG.  20,  S.  200),  sie  weichen  zurück  auff  der  piin 
herumb.  Ich  vermag  mir  danach  bloß  vorzustellen,  daß  die  beiden 
„Heere"  im  Gänsemarsch  auftreten  und  bald  auf  den  beiden  Seiten 
der  Bühne,  an  den  Mauern  des  Chors  postiert  aufeinander  losgehen, 
bald  wieder  hintereinander  um  die  Peripherie  der  Bühne  herum 
eine  Geschwindpolonaise  aufführen  i). 

In  dieser  Neigung  zur  Darstellung  großer  Bewegungen  auf  der 
Bühne  steht  Hans  Sachs  durchaus  im  Zusammenhang  mit  dem 
mittelalterlichen  Theater,  das  bei  der  Geräumigkeit  seines  Schau- 
platzes in  dem  Hin-  und  Herziehen  der  Personen  das  eigentlich 
Charakteristische  seiner  Gesamtleistung  geboten  hatte.  Daneben 
macht  sich  schüchtern  eine  Neigung  zur  pathetischen  Pose  geltend, 
zur  bloßen  Geste  statt  der  Aktion,  wo  es  sich  um  den  Gebrauch 
der  Waffe,  wenn  auch  nicht  um  eigentlichen  Kampf  handelt  oder 
zunächst  nur  um  Kampfandrohung.  Da  kommen  die  Helden  mit 
blossem!  schwerdt  geloffen,  sie  greiffen  an  die  wehr,  man  stürtzt  die 
wehr,  man  zuckt  sein  schwert,  man  zeucht  vom  leder,  oder  wenn 
Blut  geflossen  ist,  so  würfft  der  Sieger  sein  schwert  auff,  oder 
wuscht  sein  schwert-).  Besonders  groß  ist  die  Geste  KG.  8, 
S.  257:  Oliver  zeucht  auß  in  alle  hoch,  sam  wolt  er  ir  das  haupt 
von  einander  spalten  und  beim  versuchten  Selbstmord  KG.  11,  S.  159: 
Herodes  nimbt  das  messer,  zuckt  es  hoch  auff,  wil  sich  erstechen; 
auch  die  Steigerung  der  bibhschen  Angabe:  und  reckte  seine  Hand 


1)  Besonderes  Interesse  haben  zwei  Stellen  in  „Des  Leviten  Kebsweib"  (1555 
KG.  10,  S.  235)  und  Josua  (1556  KG.  10,  S.  112).  Beidemal  verlangt  die  Quelle,  daß 
ein  Hinterhalt  gelegt  wird,  beidemal  wird  das  Problem  mit  den  gleichen  Mitteln  bewältigt. 
Die  Gibeanitter  fallen  hinauß  (der  Schauplatz  wechselt;  er  stellt  nicht  mehr  die  belagerte 
Stadt,  sondern  eine  Gegend  in  ilirer  Nähe  dar),  jagen  Israel  herein  auff  den  platz  (die 
Israeliten  stehen  nun  vom  ganz  nahe  bei  den  Stufen,  die  zum  Publikum  führen,  mit  dem 
Gesicht  diesem  zugekehrt;  dicht  dahinter  in  einer  zweiten  Reihe  die  Gibeoniter).  Israel 
wend  sich  (so  nur  in  A,  in  S  fehlt  dieser  Passus),  da  kiimbt  der  hinterhalt  hinten  (so 
nur  in  S,  in  A  nur:  der  hinterhalt  kombt;  der  Hinterhalt  d.  h.  Eleasar  mit  einigen 
Israeliten,  die  sich  vorher  inn  die  groß  holen  zu  Gaba  versteckt  hatten,  d.  h.  in  die 
Sakristei,  kommt  aus  deren  Tür  auf  die  Bühne  hinten)  an  die  Gibeanitter  (Eleasar  und 
seine  Knechte  bilden  eine  dritte  Reihe,  so  daß  die  Gibeoniter  nun  eingeschlossen  sind). 
Die  Gibeanitter  werden  geschlagen  .  .  .  Genau  so  an  der  andern  Stelle,  nur  daß  durch 
den  Satz  sie  weichen  zurück  auf  der  pun  herumb  die  Aktion  noch  deutlicher  wird.  In 
A  vorher  nur  Hemor,  der  hauptman,  versteckt  sich,  in  S  dahinter  noch  mit  etling  — 
was  einen  ungefähren  Schluß  auf  die  Zahl  der  Statisten  erlaubt. 

2)  Auch  der  Henker  zewcht  sein  schwert  aus  (KG.  13,  282,  so  in  S,  in  A  nur 
zeucht  aus)  und  besonders  bezeichnet  streicht  sein  scharsach,  ehe  er  abgeht,  um  Mnter 
der  Szene  eine  Hinrichtung  zu  vollziehen  (KG.  23,  S.  214). 


152  Darstellung  rein  körperlicher  Erlebnisse. 

aus  und  faßte  das  Messer  in  die  Anweisung  Abraham  nimbi 
in  beim  schopff  und  zucket  sein  messer  inn  alle  hoch  zum 
streich  (KG.  10,  S.  72)  scheint  mir  charakteristiscli.  Die  merk- 
würdigste Stelle  aber  findet  sich  in  der  Tragödie  „David  ließ  seine 
Mannschaft  zählen"  v.  J.  1552  (KG.  10,  S.  375),  da  wo  der  Engel 
erscheint,  um  die  Pest  über  Davids  Hauptstadt  zu  bringen.  Die 
Bibel  (2.  Sam.  24,  16)  gibt  hier  nur  an,  daß  er  seine  Hand  über 
Jerusalem  ausstreckte,  Hans  Sachs  aber  schreibt  vor :  Der  enget 
kombt  mit  einem  bloßen  blutigen  schwerdt  und  ....  schlecht 
auft  die  vier  ort  mit  dem  schwerdt.  Ob  diese  großzügige  sym- 
bolische Geste  in  Hans  Sachsens  eigener  Phantasie  ihren  Ursprung 
hat,  vermag  ich  leider  nicht  zu  entscheiden;  sie  gemahnt  am  ehesten 
an  die  Vorstellungen  der  Offenbarung  St.  Johannis. 

Darstellung  rein  körperlicher  Erlebnisse. 

Es  fragt  sich  nun  weiter :  wie  ist  es  um  die  Veränderungen  des 
äußeren  körperlichen  Habitus  bestellt,  die  durch  rein  körperliche 
Vorgänge  bestimmt  sind?  Auszudrücken  versucht  das  ernste 
Drama  Hans  Sachsens:  Schlaf;  Erwachen;  Trunkenheit;  Erkrankung  — 
vornehmlich  Vergiftung  und  Irrsinn,  gelegentlich  auch  Verwundung, 
Blindheit,  Geburtsschmerzen  ;  endlich  den  Tod.  Etwas  größer  ist 
der  Kreis  der  im  Fastnachtspiel  herangezogenen  Körperhergänge 
immerhin,  und  der  mehr  naturalistische,  individualisierende,  detail- 
lierende Charakter  ist  in  ihnen  nicht  zu  verkennen :  Der  pfarrer 
reispert  sich,  bevor  er  den  Bauern  eine  feierliche  Strafpredigt  hält 
(F.  65,  105);  Herman  Dol  w'urfft  den  jngwer  im  maul  hin  vnnd 
wider,  sieht  sawr  (F.  41,  253);  Die  Mutter  geyt  jr  etwas  in  den 
Mund,  sie  kewet  daran  (F.  56,  318)  —  solche  Dinge  wären  im  ernsten 
Drama  nicht  möglich.  Die  erzählende  Dichtung  hat  dann  noch 
einiges  mehr  —  soweit  sie  überhaupt  der  Schilderung  solcher 
Körperlichkeiten  Raum  gibt,  also  besonders  in  den  Schwänken; 
namentlich  die  Sphären  mangelhafter  Ernährung  und  mangelhafter 
Verdauung  spielen  eine  Rolle. 

Die  charakteristischen  Tendenzen  der  meistersingerischen  Schau- 
spielkunst aber  sind  auch  auf  diesem  Gebiete  zu  erkennen,  sobald 
wir  jene  auch  im  ernsten  Drama  vorgeführte  Gestik  des  körper- 
lichen Erlebens  genauer  ins  Auge  fassen:  sie  ist  von  einer  nach 
dem  Symbolischen  strebenden  Einfachheit  und  Großzügigkeit,  die 
dem  Zuschauer  sofort  deutlich  machen,  um  was  es  sich  handelt,  die 
an  den  Darsteller  keine  besonders  großen  Anforderungen  stellen 
und  die  endlich  —  im  großen  Drama  —  allem  Naturalistischen  sich 
fernhalten.  Der  Tod  —  in  erster  Reihe  natürlich  der  Tod  im 
Kampfe  —  wird  regelmäßig  dadurch  dargestellt,  daß  der  Betreffende 
zu  Boden  stürzt  und  ruhig  liegen   bleibt;   eine   andere  Bedeutung 


sterben,  Schlafen,  Kranksein.  153 

hat  das  völlige  Niederstürzen  nie,  es  sei  denn  die  der  Ohnmacht, 
bei  der  ja  aber  der  Zuschauer  zunächst  in  spannender  Ungewißheit 
bleiben  soll,  ob  es  sich  nicht  wirklich  um  den  Tod  handelt;  ein 
Sterben  in  anderer  Situation,  im  Sitzen  oder  im  Liegen,  dem  kein 
Niederstürzen  vorangegangen  ist,  erfolgt  nur  in  wenigen  Fällen,  in 
denen  die  Notwendigkeit  dann  jedesmal  zuerkennen  ist:  im  Schlaf 
oder  ein  paarmal  nach  längerer  Krankheit.  Aber  auch  in  ihrer 
eigenen  Sphäre  betrachtet,  sind  es  Ausnahmefälle,  daß  der  Schlafende 
am  Boden  liegt  oder  der  Kranke  sitzt.  Das  Typische  ist  vielmehr, 
daß  der  Schlafende  sitzt,  der  Kranke  steht:  das  Sitzen  ist,  wie 
wir  sahen  und  sehen  werden,  ein  schon  zu  stark  in  Anspruch  ge- 
nommenes Ausdrucksmittel,  als  daß  es  bei  dem  allgemeinen  Streben 
nach  Simplizität  auch  noch  das  Kranksein  bedeuten  könnte.  Liegen 
muß  nur  der  schlafende  Sisera  in  der  Jael  v.  J.  1557  (KG.  10,  S.  144), 
weil  die  Tötung  mit  dem  Nagel  nicht  anders  darzustellen  war:  ins 
Podium  konnte  man  ihn  schlagen,  nicht  aber  in  den  besonderer 
Schonung  empfohlenen  Chorstuhl ;  liegen  im  Schlafen  muß  Seufried 
(1557,  KG.  13,  S.  374),  weil  er  auf  dem  Chorstuhl  nicht  zwischen  sein 
schultern  ermordet  w^erden  konnte  ;  liegen  müssen  die  drei  Türken 
in  Pontus  und  Sidonia  (1558,  KG.  13,  S.  393),  weil  drei  Schlafende 
auf  dem  einen  Chorstuhl  nicht  Platz  haben  i).  Sitzen  darf  die  durch 
Vergiftung  todkranke  Gismunda,  weil  sie  schon  vorher  die  t^'pische 
Stellung  des  „Traurigsitzens"  eingenommen  hatte  (vgl.  o.  S.  47  u.  u.) : 
so  stirbt  sie  denn  auch  im  Sitzen,  ebenso  wie  Tristant,  der  auf 
einem  Sessel  blutig  auf  die  Bühne  gebracht  wird  (1553,  KG.  12,  S.  182), 
weil  es  doch  nicht  angegangen  wäre,  einen  Sterbenden  so  lange 
stehen  zu  lassen,  ohne  von  dem  Schauspieler  einen  starken  dar- 
stellerischen Naturalismus  zu  verlangen 2). 

Wie  sehr  die  Nürnbergische  Schauspielkunst  den  Naturalismus 
zu  meiden  strebt,  zeigt  sich  nun  auch  zunächst  an  denjenigen 
Stellen,  an  denen  das  Sterben  nicht  ohne  w^eiteres  durch  das 
Zubodenstürzen  bezeichnet  w^ird,  sondern  im  Sitzen  oder  im 
Liegen  erfolgt.  Hier  wird  der  Tod  noch  durch  eine  weitere  Be- 
wegung bezeichnet,  aber  sie  ist  von  der  äußersten  Einfachheit. 
Wenn  jemand  schon  gestürzt  ist,  aber  noch  letzte  Worte  zu  sagen 
hat,  wie  König  Darius  (Alexander,  1558,  KG.  13,  S.  502),  so  genügt 
es,  daß  er  todtschwach  spricht  und  dann  eben  aufhört;  der  sterbende 
Jüngling   im   Jüngsten  Gericht    (1558,  KG.  11,  S.  413)   redet   noch 


1)  Allerdings  sitzen,  der  biblischen  Angabe  gemäß,  die  drei  Jünger  Jesu  in  der 
Ölbergszene  der  Passio  Christi  (1558,  KG.  11  S.  269);  es  ist  aber  wohl  anzunehmen,  daß 
dieses  Hans  Sachsische  Stück  nicht  in  der  Marthakirche  gespielt  worden  ist,  deren  Raum 
schwerlich  ausgereicht  hätte. 

2)  Der  sieche  Hiob  liegt  (1547,  KG.  6,  S.  41),  im  Gegensatz  zur  Bibel,  die  ihn 
sitzen  läßt,  weil  die  Phantasie  des  Zuschauers  doch  wohl  nicht  bereit  gewesen  wäre, 
im  Chorstuhl  den  Misthaufen  zu  sehen. 


154  sterben,  Schlafen. 

lange  Zeit,  ehe  er  den  Geist  aufgibt,  und  so  ist  hier  ein  etwas 
deuthcheres  Symptom  nötig,  als  es  zu  Ende  ist:  Da  zeucht  der 
kranck,  samb  er  sterbe.  Auffallender  aber  und  weithin  bemerkbar 
muß  die  Bewegung  des  Sterbenden  sein,  wenn  er  nicht  nieder- 
gestürzt ist,  sondern  sich  zum  Schlaf  hingelegt  hat  und  im  Schlaf 
vom  Tode  ereilt  wird :  Sisera  krümmet  sich  undter  dem  mantel,  mit 
dem  er  im  Schlafe  bedeckt  ist,  Seufried  zabelt  ein  wenig,  ligt 
darnach  still.  Immerhin:  auch  hier  ist  es  jedesmal  nur  ein 
Symptom,  und  das  ein  wenig  soll  einem  zu  starken  Auftragen 
seitens  des  Darstellers  Einhalt  gebieten.  Etwas  mehr  in  mimischer 
Beziehung  wird  nur  in  den  zwei  Fällen  getan,  wo  der  Tod  nicht  im 
Liegen,  sondern  im  Sitzen  erfolgt i):  Gismunda  spricht  nicht  nur 
mit  kleglich  niderer  Stim,  sondern  läßt  auch  den  Kopf  sinken, 
nachdem  sie  die  letzten  Worte  gesagt;  Tristan  spricht  kränkhch, 
lest  hend  vnd  haubt  fallen  ....  streckt  sich  vnnd  stirbt.  Und 
als  hätte  der  Dichterregisseur  immer  noch  die  Besorgnis,  daß  das 
Publikum  angesichts  der  ungewöhnlichen  Situation:  des  Sterbens 
im  Sitzen,  doch  noch  übersehen  könne,  daß  nun  wirklich  der  Tod 
erfolgt  sei,  tut  er  in  beiden  Fällen  noch  ein  Übriges  äußerer  Art: 
Gismunda  trägt  man  hinaus  aiiff  eym  sessel  m  it  verdecktem  an- 
gesicht,  und  ebenso  trägt  man  auch  Tristan  auf  dem  Sessel  ab 
vnd  tregt  ein  verdeckte  todtenbar  ein. 

Bei  der  Darstellung  des  Schlafs  muß  nun  außer  dem  Sitzen 
immer  noch  ein  Weiteres  zur  Kennzeichnung  des  Schlummerns  ge- 
tan werden  :  weil  das  Sitzen  nicht  wie  das  Niederstürzen  eindeutig 
ist,  sondern  noch  in  anderm  Sinne  verwendet  wird.  Aber  auch 
in  solcher  Beigabe  zeigt  sich  das  Streben  nach  Einfachheit:  der 
Schlafende  neigt  sein  Haupt  —  das  ist  alles,  was  an  Sondervor- 
schriften über  das  gewöhnliche  schlefß,  entschlefft,  natzt  hinaus 
noch  geboten  wird  (KG.  12,  S.  91 ;  207 ;  312).  Daß  die  schlafenden 
Jünger  auf  dem  Ölberge  in  Hans  Sachsens  Passionsdrama  sich  auff- 
rünstern  (KG.  11,  S.  269),  d.  h.  räuspern,  ist  so  ganz  isoliert,  daß 
man  hier  wieder  an  eine  aus  der  Tradition  übernommene  Vor- 
schrift glauben  möchte ;  diese  Tradition  ist  diesmal  freilich  aus  dem 
überlieferten  Material  nicht  nachzuweisen.  Ergänzend  und  verdeut- 
lichend kommt  dann  öfters  noch  die  Geste  des  Aufwachens  dazu. 
Auch  hier  ist  bezeichnenderweise  das  Wichtigste  die  einfache, 
weithin  sichtbare  Bewegung  des  Auffahrens  (KG.  10,  S.211;  12,  S. 312 
U.Ö.),  neben  der  noch  die  Geste  des  Augenwischens  erscheint  (KG.  11, 
S.189;  270;  vgl.  20,  S.  83). 


1)  Von  der  Statira  im  Trauerspiel  Artaxerxes  {1560,  KG.  23,  S.  207),  die  zuerst  in 
einem  Zwischenzustand  zwischen  der  Tendenz  zu  dem  gewöhnlichen  „traurigen  Sitzen"  und 
dem  auch  körperlichen  Brechen  des  Herzens  auf  den  Sessel  gesunken  ist,  heißt  es  im 
Moment  des  Todes:  Sie  sincket  gar  nid  er  sam  dot  —  das  heißt  doch  wohl:  auf 
die  Erde. 


Darstellung  der  Krankheit.  155 

Stärker  noch  muß  die  Charakterisierung  der  Krankheit  oder  Ver- 
wundung sein,  weil  hier  jene  Hauptkennzeichnung  durch  Hinstürzen 
oder  Sitzen  vöHig  fortfällt.  Das  für  den  Zuschauer  wie  für  den 
Darsteller  einfachste  Mittel  ist  hier  die  Kennzeichnung  durch  das 
Requisit,  das  wir  ja  auch  auf  dem  Gebiet  des  Kostümwesens  eine 
so  große  Rolle  spielen  sahen.  Der  Blinde  geht  mit  verhangen 
äugen  (KG.  1,  S.  92,  138),  wohl  auch  dazu  an  eini  stecken  ^'Mucius 
Scaevola  mit  seiner  verbrannten  Hand  tregt  den  arm  im  bandt  {KG.  8, 
S.  216);  schlimme  Verwundung  oder  Entzündung  wird  durch  zugebun- 
den schenckel  charakterisiert  (KG.  8,  S.  67;  11,  S.  120),  auch  geht 
der  so  Verbundene  wohl  noch  an  zweien  krucken  (z.  B.  KG. 
12,  S.  148),  die  gelegenthch  auch  für  sich  allein  die  Verwundung 
andeuten  (KG.  8.,  S.  246)  oder  das  Siechtum  bezeichnen  (KG.  6, 
S.  41).  Auch  das  Fortwerfen  der  Krankheitsrequisiten  gehört  in 
die  gleiche  Richtung:  Tobias,  der  wieder  sehend  wird,  wirfß  sein 
Stab  und  augentüchlein  hin  (KG.  1,  S.  156);  hier  mag  auch  erwähnt 
werden,  wie  die  Heilung  des  aussätzigen  Hato,  dem  die  Kaiserin 
einen  wohltätigen  Trank  gereicht  hat,  besonders  sichtbar  gemacht 
wird:  sie  wischt  im  das  angesicht  und  hend  (KG.  8,  S.  151:  1551), 
die  offenbar  vorher  irgendwie  mißfarbig  geschminkt  worden  waren. 
Sehr  verständlich  also  flh's  Publikum  und  völlig  antinaturahstisch. 
Doch  scheint  dieses  ganze  etwas  grobe  Mittel  in  der  zweiten  Hälfte 
der  50  er  Jahre  sehr  zurückzutreteji. 

Eine  andere  Art  der  Charakteristik  stellt  ebenfalls  an  den  Schau- 
spieler geringe  Aufgaben,  läßt  dem  Zuschauer,  auch  dem  entfernter 
sitzenden,  kaum  einen  Zweifel  darüber,  was  gemeint  ist  und  strebt 
wieder  nach  einer  mehr  symbolisierenden  als  naturalistischen  Ein- 
fachheit :  der  Kranke  greifft  auff  den  Körperteil,  in  dem  er  das  Ge- 
fühl des  Schmerzes  oder  auch  des  Schmerznachlassens  spürt:  die 
Brust  oder  den  Leib;  daß  er,  statt  diese  nur  hinweisende  Geste  zu 
tun,  naturalistisch  den  Leib,  in  dem  das  Gift  tobt,  mit  beiden  henden 
reibt,  kommt  nur  ausnahmsweise  vor:  im  Alexander  d.  J.  1558 
(KG.  13,  S.  524). 

Daneben  erscheint  endlich  der  Versuch,  durch  den  Gesamt- 
habitus des  Schauspielers  die  Krankheit  der  dargestellten  Person 
zu  charakterisieren,  zumal  dort,  wo  eine  bestimmte  Lokalisation  der 
Krankheit  nicht  wohl  vorgenommen  werden  kann.  Häufiger  wird 
dieser  Versuch  erst  gegen  Ende  der  Hans  Sachsischen  Dramatiker- 
zeit, als  jene  grobe  Kennzeichnung  durch  das  Requisit  fast  ganz 
aufgehört  hat.  Die  Charakteristik  der  Krankheit  erfolgt  mit  der 
Summe:  spricht  krencklich  und  mit  dem  Gang:  kumbt krencklich  oder 
get  krenklich  ab;  daß  es  sich  dabei  vor  allem  um  die  Art  des 
Gehens  handelt,  wird  gelegentlich  deutlich,  wenn  es  im  Artaxerxes 
V.  J.  1560  von  Ariaspes,  der  auf  der  Bühne  Gift  genommen  hat, 
heißt:  er  get  ab  mit  schwancketen  dritten  (KG.  23,  S.  220),  so  wie 


156  Darstellung  der  Krankheit  im  ernsten  Drama  und  im  Fastnachtspiel. 

schon  in  dem  älteren  Hiob  (KG.  6,  S.  37)  der  vom  Feuer  geblendete 
Knecht  Distichus  dapt  daher  wie  ein  blinder.  Auch  in  der  Art  des 
Sichsetzens  oder  des  Sichanlehnens  kann  die  Schwäche  zum  Aus- 
druck gebracht  werden  (KG.  10,  S.  47:  1558;  20,  S.  226:  1560);  ganz 
selten  kommt  es  auch  wohl  vor,  daß  ein  Schwerverwundeter  im 
Stehen  sich  krüpfft,  d.  h.  schmerzhaft  den  Körper  zusammenzieht 
(KG.  13,  S.  219:  1556),  ein  Vergifteter  sich  ersehnt  (KG.  12,  S.  428: 
1555)  oder  sich  rünp/ft  (13,  S.  524,  in  S:  sich  krnmbt)  —  in  den 
beiden  letzteren  Fällen  aber  wird  aus  jener  zweiten  Zeichenreihe 
noch  ein  Zug  hinzugefügt:  greuft  an  die  brüst  und  reibt  den  leyb, 
wohl  aus  der  Besorgnis  heraus,  der  Schauspieler  könne  versagen 
oder  sein  Zittern  und  sein  Sichwinden  könne  nicht  auffallend  und 
verständlich  genug  sein.  Das  dreimal  vorkommende  Torckeln  des 
Betrunkenen  (KG.  10,  S.  361,  15,  S.  80;  20,  S.  83)  mag  im  gleichen 
Zusammenhang  erwähnt  und  besonders  hervorgehoben  werden,  daß 
hier  wie  bei  jenem  kränklichen  Gehen  der  charakteristische  Habitus 
den  szenischen  Bemerkungen  zufolge  nur  beim  Betreten  wie  beim 
Verlassen  der  Bühne  zur  Anwendung  kommen  soll.  Am  ehesten 
kommt  einem  gewissen  Naturalismus  noch  die  Darstellung  des 
Wahnsinns  nahe,  des  wirklichen  wie  des  fingierten,  so  daß  es  statt 
des  älteren  stellt  sich  grewlich  oder  grawsam  (KG.  7,  S.  113,  116: 
1548)  später  1557  heißt:  Saul  wird  unsinnig,  schreyet  und  tobet 
(KG.  15,  S.  50),  David  stellt  sich,  samb  sey  er  unsinnig  und  kollert 
(ibid.  S.  65)  und  gar  von  Nebukadnezar:  Hie  wirdt  der  könig  un- 
sinnig, schreyet,  tobet,  kratzt  und  krelt  (KG.  11,  S.  47).  Vermutlich 
läßt  hier  der  Mangel  einer  physisch  aufzeigbaren  Lokalisation  der 
Erkrankung  die  starke  Verdeutlichung  der  Symptome  besonders 
wünschenswert  erscheinen. 

Manches  von  dem,  was  wir  so  bei  der  Darstellung  des  Körper- 
lichen im  stilisierten  Drama  beobachtet  haben,  kehrt  auch  bei  der 
Aufführung  des  Fastnachtspiels  wieder;  das  Sterben  resp.  das 
Sichtotstellen  erfolgt  auch  hier  am  Boden,  nur  daß  die  Gelegenheit 
dazu  naturgemäß  zu  selten  ist,  um  Beobachtungen  zu  ermöghchen, 
die  den  oben  angestellten  analog  wären;  ein  Schlafen  vor  den  Augen 
des  Publikums  findet  überhaupt  nicht  statt  —  trotzdem  wird  der 
Kranke  auch  hier  im  allgemeinen  nicht  sitzend,  sondern  stehend  vor- 
geführt. Das  Mittel,  die  Krankheit  durch  Requisit  zu  charakteri- 
sieren, wird  auch  hier  verwendet  und  sogar  noch  zu  einer  Zeit,  da  es 
im  großen  Drama  kaum  noch  vorkommt,  das  Greifen  nach  der 
kranken  Körperstelle,  das  kränkhche  Sprechen  und  Gehen,  das  Augen- 
reiben des  eben  Erwachten  ist  hier  wie  dort  vorgeschrieben.  Nicht 
wenige  solcher  Vorschriften  aber  sind  in  einer  Weise  ergänzt  und 
erweitert,  die  einen  sehr  bezeichnenden  Unterschied  von  dem  Stil 
des  Schauspiels  bedeutet:  die  Darstehung  des  Fastnachtspiels  neigt 
viel  entschiedener  zum  Naturalismus.     Die  Requisitencharakteristik 


Körperliches  im  Fastnachtspiel  und  in  der  epischen  Diclitunjj;.  ■[57 

wird  gelegentlich  (F.  75,  v.  298)  stärker  differenziert  als  das  im 
Schauspiel  denkbar  wäre :  Scheuenfrid  kümpt  auf  zweyen  kruecken, 
Sewfist  hat  ain  pindn  vmb  den  kopff,  Engelmayr  dregt  ein  arm 
im  pandt;  neben  dem  Greifen  des  kranken  Teils  spielt  das  reali- 
stische Reiben  eine  weit  größere  Rolle,  man  greift  auch  nicht  nur  an 
Brust  und  Leib,  sondern  auch  in  die  seyten  (F.  11,  v.  179),  und  ein 
Zug  wie  der,  daß  (F.  67,  v.  137)  der  mit  einem  Kater  gesegnete  Petrus 
den  kopff  reipt,  wäre  im  Schauspiel  nicht  möghch.  Der  Trunkene  torkelt 
nicht  nur,  sondern  grblczt  auch  (F.  68,  v.  301),  die  drei  Blinden  des 
einen  Eulenspiegelspiels  hangen  an  einander  (F.  51,  v.  21);  beson- 
ders naturgetreu  aber  wird  das  Erwachen  gegeben :  der  Betreffende 
denet  sich,  gienet  auff,  kratzt  sich  im  kopff  (F.  25,  34,  42,  81),  — 
nirgends  ist  es  hier  mit  dem  bloßen  Reiben  der  Augen  getan  wie 
im  ernsten  Drama,  wo  freilich  öfter  das  Auffahren  dazu  kommt, 
das  hier  ja  (bis  auf  den  besonderen  Fall  in  F.  42,  v.  247)  nicht  in 
Betracht  kommen  kann,  da  der  Erwachende  stets  die  Bühne  betritt, 
ohne  daß  man  seinen  Schlaf  gesehen  hat. 

Auch  diese  stärkere  Neigung  zum  Naturalismus  aber,  wie  sie 
hier  zutage  tritt,  charakterisiert  sich  noch  als  Zurückhaltung,  so- 
bald wir  in  bezug  auf  die  gleichen  Elemente  die  Beobachtungsgabe 
daneben  halten,  die  Hans  Sachs  in  seinen  nicht  dramatischen  Dich- 
tungen bekundet;  gleichzeitig  tritt  uns  dann  auch  noch  deutlicher 
vor  Augen,  wie  stark  Hans  Sachs  als  Regisseur  nach  Einfachheit  der 
Vorschrift  für  den  Darsteller  und  nach  Erkennbarkeit  für  den  Zu- 
schauer strebt.  Die  Historien,  in  denen  nur  die  Herausarbeitung 
der  großen  Erzählungszüge  beabsichtigt  und  das  Detail  fast  gar 
nicht  ausgemalt  ist,  bieten  freilich  weniger  Material  als  die  Schwanke 
und  die  allegorisch-didaktischen  Dichtungen.  An  eine  systematische 
Behandlung  des  sich  an  diesen  Stellen  darbietenden  Materials  kann 
hier  nicht  gedacht  werden;  es  genügt,  an  einigen  prägnanten  Bei- 
spielen zu  zeigen,  daß  Hans  Sachsens  Blick  ganz  andere  Symptome 
jener  körperlichen  Vorgänge  zu  erfassen  imstande  war,  als  sie  in 
seinen  szenischen  Bemerkungen  sich  zeigen,  wie  er  denn  auch  bei 
solcher  Gelegenheit  Züge  seiner  Quelle  ganz  anders  als  für  das 
Theater  sich  zunutze  machte.  Wieviel  differenzierender  und  natur- 
getreuer ist  etwa  die  Kleinmalerei,  mit  der  der  Dichter  in  einem 
späteren  Schwank  (312,  v.  96)  die  Sterbenden  charakterisiert: 

.     .     .  sie  lagen  all  erplichen, 
Ir  rotte  mundlein  waren  fal,  .  . 
Betten  nichs  den  kreisten  vnd  gemern, 
Achiczen,  dief  seufzen  vnd  wemern, 
Mancherley  angst  ain  ides  lied, 
Pis  es  doch  mit  dem  dot  abschied, 
Mit  prochen  awgn  vnd  offnem  mund. 


j^58  Körperliches  in  der  epischen  Dichtung. 

Wie  weiß  er  in  einem  Göttergespräch  v.  J.  1544,  also  auch  in 
einer  Dichtung  gehobenen  Stils,  Kennzeichen  der  verschiedensten 
Krankheiten  deutlich  gegeneinander  zu  setzen  in  einer  Schilderung, 
die  zu  lang  ist,  um  hier  abgedruckt  zu  werden  (KG.  4,  S.  406 f.', 
so  wie  er  etwa  anderwärts,  in  einem  Schwank  d.  J.  1558,  die 
Qualen  des  Zahnleidenden  zu  charakterisieren  versteht  (193,  v.  9ff.): 

So  thet  er  grisscjramen  und  geineni  .  .  . 
Vnd  leget  den  kopff  in  sein  hent, 
Sties  ihn  zu  zelten  an  die  went 

oder  die  Leiden  der  Schwangerschaft  (278,  v.  25) : 

Echtzet,  kreist  vnd  sich  krümmet  sehr, 

während  es  von  Rebecca  im  Drama  Jacob  und  Esau  v.  J.  1550, 
jenem  theatrahschen  Stil  gemäß,  da  die  Wehen  einsetzen,  nur  heißt : 
Rebecca  greifft  auf  den  bauch.  Ebenso  finden  sich  ganz  andere 
Bilder  des  Schlafenden:  z.  B.  im  Schwank  40  v.  J.  1543  (v.  15ff.): 

Da  saß  die  Magd  beym  hert  vnd  schlleff, 
Lautschnarchend  durch  die  Nasen  pfiff, 
Gleich  wie  ein  alter  acker  Gaul. 
Die  zollen  Mengen  jr  Ins  Maul. 

Selbst  die  wenigstens  im  Fastnachtspiele  ziemlich  spezialisierten 
Kennzeichen  des  Erwachens  sind  hier  im  Epischen  durch  andere, 
etwa  durch  das  Husten  vermehrt,  und  die  Symptome  der  Trunkenheit: 
die  zitternden  Hände,  die  triefenden  Augen,  das  Aufstoßen,  Speien, 
Juchzen  und  Singen  in  grotesken  Häufungen  zu  schildern,  macht 
dem  Erzähler  besonderes  Vergnügen.  Daneben  kommen  natürlich 
auch  die  Charakteristiken  der  szenischen  Bemerkungen  allein  oder 
mit  spezifisch  epischen  Angaben  vermischt  vor,  nirgends  aber  sind 
jene  theatralischen  Mittel  in  der  oben  erwähnten,  auffallenden 
Reinheit  der  Durchführung  in  der  Erzählung  angewendet.  Umge- 
kehrt macht  Hans  Sachs  auf  dem  Theater  von  der  Schärfe  seiner  Be- 
obachtungsgabe keinen  Gebrauch:  die  gekennzeichneten  Symptome 
sind  meist  Veränderungen  des  Gesichtsausdrucks  und  leise  Äuße- 
rungen der  Stimme,  werden  also  nicht  weithin  sichtbar  oder  hörbar; 
sie  würden  im  ganzen  über  das  Darstellungsvermögen  des  nürn- 
bergischen Schauspielers  weit  hinausgehen  und  sie  widersprächen 
schließlich  auch  dem  nur  andeutenden,  symbolisierenden  Stil  wenig- 
stens der  Schauspielaufführung  gar  zu  stark.  Dort  aber,  wo  nur  inner- 
halb des  Dialogs  vom  Sterben,  Kranksein  und  dgl.  die  Rede  ist, 
da  werden  ruhig  jene,  dem  Epiker  geläufigen  Mittel  verwendet, 
und  zwar  nicht  nur,  wo  die  Personen  von  Vorfällen  berichten,  die 
hinter  der  Szene  erfolgt  sind,  sondern  auch  dort,  wo  das  Publikum 
zugegen  ist:  der  Sterbende  z.  B.  wälzt  sich  in  seinem  Blut  (KG.  8, 
S.  51 ;  12,  S.  147  u.  ö),  sein  Angesicht  erspitzt  sich  (KG.  8,  S.  210), 


Körperliches  auf  dem  niitlelalterliclien  Theater.  j^59 

ist  erblichen,  und  seine  Hand  ligt  ellendt  (KG.  12,  S.  298).  Offenbar 
ist  der  Nürnberger  Zuschauer  also  bereit,  auf  Grund  der  vorge- 
führten symbolischen  Andeutungen  mit  Hilfe  seiner  willigen  Phan- 
tasie sich  jene  körperlichen  Vorgänge  zur  Genüge  auszumalen. 

Ob  diese  Regelung  der  Bewegungen  zur  Darstellung  körperlicher 
Hergänge  eine  völlig  selbständige  Schöpfung  des  Nürnberger 
Theaters  ist,  wird  sich  kaum  ausmachen  lassen;  aber  das  Eine 
läßt  sich  sagen,  daß  es  sich  zum  mindesten  in  bezug  auf  die  Grund- 
ausdrucksformen nicht  um  eine  Fortsetzung  der  mittelalterlichen 
Art  handelt.  Für  das  Passionsspiel  und  seinen  Kreis  war  die  Not- 
wendigkeit einer  festen  Regelung  des  Sterbens,  Schlafens,  Krankseins 
schon  darum  nicht  geboten,  weil  die  Gelegenheit  zur  Vorführung 
solcher  Körperhergänge  nicht  eben  groß  war;  die  wenigen  alt- 
testamentlichen  Szenen  der  Fronleichnamspiele  und  der  Präfi- 
gurationen  brauchen  wir  nicht  zu  beachten.  Wenn  wir  von  Christi 
Kreuzigung  und  der  Hinrichtung  des  Johannes  und  der  wenigen 
dramatisch  vorgeführten  Heiligen  absehen,  stirbt  eigentlich  nur 
Lazarus  zuweilen  vor  den  Augen  des  Publikums.  Schlafend  werden 
nur  die  drei  Jünger  am  Ölberg,  die  Grabwächter  und  gelegentlich 
die  Frau  des  Pilatus  dargestellt;  etwas  häufiger  gibt  die  biblische 
Grundlage  Gelegenheit,  Ki'anke  vorzuführen :  die  nämlich,  die  durch 
Christi  Wunderkraft  geheilt  werden;  von  dieser  Gelegenheit  wird 
aber  doch  nur  verhältnismäßig  selten  Gebrauch  gemacht.  Dazu 
kommt  noch  Malchus'  Verwundung,  Christi  Mißhandlung  und  weniges 
andere.  Die  Bibel  gibt  für  diese  Hergänge  keine  oder  nicht 
charakteristische  Vorschriften:  die  Kranken  sitzen  oder  gehen, 
die  schlafenden  Jünger  sitzen  —  doch  braucht  das,  da  sie  ja  wachen 
sollten,  keine  eigentliche  Schlafstellung  zu  sein.  Die  Folge  ist,  wie 
erwähnt,  auf  dem  mittelalterlichen  Theater  der  Mangel  einer 
einheitlichen  Regelung  der  körperlichen  Hergänge.  Am  größten 
scheint  wohl  die  Neigung  zu  sein,  jeden  ganz  vom  Normalen  ab- 
weichenden Körperzustand  durch  Zubodenstürzen  oder  Amboden- 
liegen  zu  kennzeichnen :  in  offenbarer  Rücksichtnahme  auf  die 
Raumverhältnisse  der  Marktbühne,  die  am  liebsten  mit  den  weit- 
hin Sichtbaren  arbeitete.  So  ist  es  im  Egerer  Fronleichnamspiel, 
wo  Luzifer  vom  Engel  verwundet  zu  Boden  stürzt  gerade  so  wie 
später  der  des  Ohres  beraubte  Malchus,  wie  der  eine  Soldat,  der 
sich  bei  der  Geißelung  Christi  überanstrengt  hat  und  wie  Christus 
selbst,  als  ihm  Malchus  einen  Backenstreich  gibt  und  dann  als 
man  ihm  das  Kreuz  aufgelegt  hat;  und  von  den  Grabwächtern  heißt 
es:  milites  iacent  quasi  dormiendo. 

Die  Schlafenden  pflegen  auch  sonst  zu  liegen  (Redentiner 
Osterspiel ,  Frankfurter  Passionsspiel ,  Tiroler  Spiele,  Heidel- 
berger Passionsspiel,  Donaueschinger  Passionspiel).  Anderseits 
müssen    die    Jünger  in    der    Ölbergszene    zuweilen    auch    sitzen, 


160  Körperliches  auf  dem  mittelalterlichen  Theater.     Das  seelische  Erleben. 

(Donaueschillger  Passionsspiel),  und  besonders  bezeichnend 
für  diesen  Widerstreit  ist  das  Heidelberger  Passionsspiel,  wo  es 
von  den  Jüngern  zuerst  heißt:  sie  sezenn  sich  nydder,  und  dann 
als  der  Schlaf  sie  überwältigt:  sie  legenn  sich  nydder.  Das  Zu- 
bodenstürzen  des  verwundeten  Malchus,  des  mißhandelten,  des 
kreuztragenden  Christus  ist  auch  in  andern  Spielen  zu  finden 
(Frankfurter,  Heidelberger,  Donaueschinger,  Tiroler  Passionsspiele). 
Im  Alsfelder  Spiel  aber  wankt  er  nur  unter  der  Last,  und  die 
vom  Geißeln  müden  Soldaten  haben  sich  im  Frankfurter  Passions- 
spiel nur  zu  setzen.  Die  Kranken  endhch  gehen,  sitzen  oder 
liegen,  und  der  Unsicherheitszustand  der  Regie  wird  besonders 
deutlich  vom  Frankfurter  Passionspiel  beleuchtet,  wo  es  in  bezug 
auf  den  kranken  Lazarus  heißt:  sedens  vel  iacens.  Von  hier  aus 
konnte  also  Hans  Sachs  für  jene  prinzipielle  Scheidung  seiner 
Ausdrucksformen  nichts  lernen ;  die  mittelalterliche  Tradition,  soweit 
eine  solche  bestand,  bezog  sich  wohl  mehr,  in  einem  hier 
nicht  zu  erörternden  Verwandtschaftsverhältnis  mit  den  Leistungen 
der  bildenden  Kunst,  auf  die  Beibehaltung  der  einmal  erfaßten 
Darstellung  der  einzelnen  Situation,  so  z.B.  in  dem  von  der 
Bibel  nicht  gegebenen  Niederstürzen  des  Herrn,  dem  die  Kreuzes- 
last zu  schwer  wird;  diesen  Zug  hat  noch  Hans  Sachs,  seiner 
eigenen  Gesamtregulierung  zuwider,  in  seinem  Passionsspiel  (KG. 
11,  S.  299)  übernommen.  Eher  mag  die  sparsame  Art,  mit  der 
Hans  Sachs  naturalistische  Körpergebärden  verwendet,  auf  die 
Kargheit  zurückzuführen  sein,  die  in  dieser  Beziehung  auf  der 
mittelalterhchen  Bühne  herrscht:  der  kranke  Lazarus  krochtzet 
(Heidelberger  Passionsspiel),  die  aus  dem  Schlaf  aufgeschreckte 
Grabwache  lugt  vmb  sich  und  wiisf  vff  (Donaueschinger  Passions- 
spiel); allenfalls  noch  das  Sehendwerden  des  Longinus  im  Frank- 
furter Passionsspiel  kommt  in  Betracht. 

Das  ist  alles  und  wie  man  sieht,  weniger  als  wenig.  Die 
Zurückhaltung  des  mittelalterlichen  Theaters  in  bezug  auf  die 
eigentlichen  Gesten  wird  uns  alsbald  auch  auf  dem  bedeutsamsten 
Gebiete  der  schauspielerischen  Darstellung  wieder  begegnen. 

Das  seelische  Erleben. 

Und  nun  endlich  die  letzte,  die  wichtigste  und  schwierigste 
Frage :  nach  dem  Ausdruck  seelischer  Zustände  und  Hergänge  und 
der  Eigenart,  den  die  nürnbergische  Schauspielkunst  in  dieser  Be- 
ziehung aufweist.  Auch  hier  interessiert  uns  vor  dem  Wie?  das 
Was?  Welche  seelischen  Dinge  sind  es  überhaupt,  die  durch  Hans 
Sachsens  Schauspielervorschriften  irgend  wie  akzentuiert  werden 
und  nicht  bloß  in  dem  Inhalt  der  Monologe  und  Dialoge  zum  Aus- 
druck konnnen  ?    Welche  psychischen  Vorkommnisse  sind  besonders 


Inhalte  der  Darstellung.     Grull     Leben  der  Sinne.  'IQ\ 

häufig  durch  eine  Notiz  über  Vortrag  oder  Gestus  ausgezeichnet, 
so  daß  man  sieht:  sie  sollen  dem  Publikum  vor  allem  deutlich  ge- 
macht werden?  welche  treten  mehr  oder  ganz  und  gar  zurück? 

Die  Inhalte  der  Darstellung. 

Nicht  recht  zuzurechnen  ist  den  eigentlich  psychischen  Aus- 
drucksformen der  Gruß  —  Gruß  im  weiten  Sinne  des  Wortes,  so  daß 
auch  der  Abschiedsgruß  mit  eingeht  — :  er  ist  vielfach  so  starr  ge- 
worden, daß  er  beinahe  zur  Aktion  gehört ;  anderseits  sind  seine 
Grenzen  gegen  eigentlich  psychische  Zustände  und  Hergänge  wie 
Liebe,  Huldigung,  auch  Bitte  mannigfach  fließend.  So  sei  er  hier  vor- 
weggenommen, ehe  wir  uns  dem  Rein-Seelischen  zuwenden;  und 
da  muß  betont  werden,  daß  er  auf  Hans  Sachsens  Bühne  eine  sehr 
große  Rolle  spielt :  er  kommt  in  den  szenischen  Bemerkungen  bei- 
nahe so  oft  wie  die  Anweisung  über  die  charakteristischste  seelische 
Funktion  vor,  so  oft,  daß  man  annehmen  muß :  in  der  Praxis  wurde 
auf  seine  Durchführung  die  peinlichste  Sorgfalt  verwendet.  Und 
das  gibt  der  Hans  Sachsischen  Schauspielkunst  jedenfalls  von  vorn- 
herein einen  gewissen  feierlich-zeremoniellen  Charakter. 

Daß  das  naturalistische  Element  in  ihr  keine  sonderliche  Rolle 
spielt,  zeigt  sich  auch  schon  darin,  daß  dem  Leben  der  Sinne  kein 
oder  doch  nur  ein  ganz  bescheidener  Ausdruck  zukommt.  Körper- 
liche Schmerzen  werden  im  Zusammenhang  mit  der  oben  gekenn- 
zeichneten Vorführung  körperlichen  Übels  hie  und  da  durch  Ton 
oder  Bewegung  hervorgehoben,  Unlust-  oder  gar  Lustempfindungen 
anderer  Sinnesgebiete  dagegen  nicht  gekennzeichnet,  —  g  anz 
steht  die  szenische  Bemerkung  halfen  all  die  nasen  zu  in  den 
Machabäern  (1556,  KG.  11,  S.  120),  an  einer  Stelle,  da  ein  bei 
lebendigem  Leibe  in  Verwesung  übergehender  Kranker  auf  die 
Bühne  getragen  wird.  Was  die  scharfe  Anspannung  der  Sinne 
betrifft,  so  wird  sie  nur  auf  dem  Gebiet  des  Auges  verhältnismäßig 
häufig  hervorgehoben,  und  auch  die  nicht  gar  zu  seltene  Vorschrift 
des  Sichumsehens,  Nachsehens  oder  Aufsehens  mag  man  dahin 
rechnen;  dagegen  ist  eine  Anweisung  über  körperlich  zu  zeigendes 
Hinhören  so  gut  wie  nie  zu  finden.  Man  wird  daraus  übrigens 
einen  Schluß  auf  gleichmäßig  lauten  Vortrag  der  dramatischen  Rede 
ziehen  dürfen,  wenigstens  in  dem  Sinne,  daß  die  Stimme  niemals 
gedämpft  wurde;  wo  gelegentlich  ein  Raunen  vorgeschrieben  wird, 
geschieht  es  wortlos:  so,  daß  Worte  überhaupt  nicht  gesprochen 
werden  oder  verstanden  werden  sollen. 

Wenden  wir  uns  nun  dem  psychischen  Leben  im  höheren 
Sinne  zu,  so  bemerken  wir  zunächst,  daß  das  intellektuelle  Gebiet 
in  bezug  auf  Gestus  eigentlich  ganz  leer  ausgeht.  Keine  Spur  etwa 
von  einem  Versuch,  das  Nachdenken  oder  den  Zweifel  körperhch 

H  e  rrm  a  n  n,  Theater.  U 


162  Gefühlsleben.     Mehr  Unlust  als  Lust.     Mehr  Zuneigung  als  Abneigung. 

ZU  charakterisieren;  selbst  so  einfache  Dinge  wie  Hinweisen,  Zu- 
stimmen oder  Verneinen  durch  körperhchen  Ausdruck  kommen  nicht 
sehr  häufig  vor.  Alle  schauspielerischen  Vorschriften  des  Dichters, 
soweit  sie  das  Seelenleben  betreffen,  beziehen  sich  viel- 
mehr in  ihrer  überwältigenden  Majorität  auf  das  Gefühl,  ihre 
Zahl  ist  außerordentlich  groß,  und  so  zeigt  sich  deutlich,  daß  der 
nürnbergischen  Schauspielkunst  wesentlich  ein  lyrisch-pathe- 
tischer Charakter  innewohnt. 

Bei  dieser  allgemeinen  Erkenntnis  aber  brauchen  wir  nicht 
stehen  zu  bleiben,  sondern  können  auch  noch  weiter  den  speziellen 
Ausbau  dieses  immer  noch  sehr  großen  Gesamtgebietes  charak- 
terisieren ;  daß  es  sich  dabei  nicht  etwa  um  willkürliche  Auf- 
stellungen handelt,  die  durch  eine  unzulässige  Addition  eines  großen, 
durch  eine  lange  Zeit  hindurchreichenden  Materials  zustande  ge- 
bracht wären,  zeigt  sich  darin,  daß  wir  zu  ziemlich  gleich  bleibenden 
Verhältniszahlen  kommen,  wenn  wir  statt  der  Gesamtzeit  von 
1550 — 1564  die  szenischen  Bemerkungen  einzelner  Jahrgruppen 
(1550—54,  1555—57,  1558  ff.)  den  Berechnungen  zugrunde  legen,  i) 

Den  dritten  Teil  aller  Vorschriften  umfassen  die,  welche  Trauer, 
seelische  Unlust  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  (Klage,  Verzweif- 
lung, Schreck,  Entsetzen,  Angst,  Ärger)  durch  Gestus  oder  Stimm- 
ton besonders  hervorgehoben  haben  wollen,  während  daneben  der 
Ausdruck  der  seelischen  Lust  nur  eine  ganze  verschwindende  Rolle 
spielt  (3:34).  Ziemhch  ebenso  stark  wie  die  Gesten  der  Trauer 
sind  die  der  Zuneigung  im  weiten  Wortverstande  (Liebe,  Freund- 
schaft, Huldigung,  Ergebung,  Glückwunsch,  Dank,  Verzeihung)  her- 
vorgehoben, während  die  der  Abneigung  (Zorn,  Drohung,  Verachtung, 
Trotz)  zwar  nicht  so  selten  sind  wie  die  Korrelate  der  Trauer,  aber 
hinter  denen  der  Zuneigung  jedenfalls  auch  weit  zurückbleiben 
(9  :  30).  Schließlich  pflegt  die  Anrufung  Gottes,  das  Gebet  mit 
seinen  verschiedenen  Inhalten,  durch  eine  Geste  betont  zu  werden; 
das  gleiche  gilt  von  der  Bitte,  die  an  Menschen  gerichtet  wird  (14 
bzw.  10  Prozent  aller  psychologischen  Vorschriften).  Andere  Ge- 
mütshergänge aber  spielen  eine  so  geringe  Rolle  für  die  Schauspiel- 
kunst, daß  im  ganzen  auf  sie  nur  etwa  3  Prozent  aller  auf  das 
Seelische  bezüglichen  Vorschriften  entfallen. 

Daß  in  diesen  Verhältnissen  ein  dem  großen  Drama  eigentüm- 
licher Schauspielstil  sich  offenbart,  tritt  auch  darin  zutage,  daß 
keine  vollständige  Übereinstimmung  mit  dem  Inhalt  der  entspre- 
chenden Bemerkungen  im  Fastnachtspiel  besteht.  Zwar  ist  trotz 
des  heiteren  Charakters  der  kleinen  Spiele  das  Verhältnis  der  Trauer- 


1)  „Berechnungen"  :  alle  Angaben  dieses  Abschnittes  beruhen  auf  genau  durchgeführten 
Zälilungen,  deren  Ergebnisse  aber  im  allgemeinen  nicht  zifferngetreu,  sondern  mehr  eindruck- 
artig mitgeteilt  werden. 


Fastnachtspiel.     Lyrisch-pathetischer  Stil  im  ernsten  Drama.  ^gg 

gesten  zu  den  Freudegesten  i)  in  ihnen  das  gleiche  wie  im  großen 
Drama  (38 : 2),  und  auch  die  Bitte  ist  ungefähr  ebenso  häufig  hier 
wie  dort  vom  besonders  vorgeschriebenen  Gestus  begleitet;  aber 
es  treten  nicht  nur  die  Bemerkungen  bei  der  Anrufung  Gottes  ganz 
auffallend  zurück,  sondern  es  ist  vor  allem  das  Verhältnis  der 
Sympathie-  und  Antipathiegesten  beinahe  umgekehrt  (15  :  26) 
wie  im  Trauerspiel  und  Lustspiel:  die  Antipathie  überwiegt  ent- 
schieden. 

Man  wäre  demnach  also  vielleicht  geneigt,  die  Schauspielkunst 
im  großen  Drama  als  lyrisch-sentimental  zu  bezeichnen  und  etwa 
an  das  VolksHed  zu  denken,  in  dem  auch  Liebe  und  Trauer,  Bitte 
und  Gottesfurcht  besonders  akzentuiert  sind.  Diese  Gesamtcharak- 
teristik aber  muß  doch  eine  wesentliche  Einschränkung  oder  rich- 
tiger Erweiterung  erfahren;  man  erkennt  ihre  Notwendigkeit,  wenn 
man  das  wichtigste  Gestengebiet,  das  der  Trauer,  für  die  Höhezeit 
des  Hans  Sachsischen  Dramas  genauer  zu  spezialisieren  sucht.  Im 
Gegensatz  zur  Frühzeit,  im  Gegensatz  auch  zum  Fastnachtspiel, 
wo  es  sich  fast  durchweg  2j  um  einfache  Klage,  ruhige  Trauer 
handelt,  wird  nun  auf  ihre  Kosten  der  gesteigerte  Grad:  die  Ver- 
zweiflung und  namentlich  der  Affekt,  das  plötzliche  Eintreten:  der 
Schreck  und  vor  allen  Dingen  das  Entsetzen  zu  lebhaftem  Ausdruck 
gebracht^).  Dem  lyrischen  gesellt  sich  also  sehr  stark  das  pathe- 
tische Element ;  und  wenn  wir  bei  einer  Kontrastierung  der  Ab- 
neigungsgebärden im  Fastnachtspiel  und  im  Drama  dort  Spott  und 
Ärger  auch  hervortreten  sehen,  während  hier  eigentlich  nur  Zorn 
und  Trotz  ihre,  immerhin  auch  bescheidene  Rolle  spielten,  so  führt 
diese  Beobachtung  in  die  gleiche  Richtung.  Und  so  ergibt  sich 
zum  Schluß  dieser  Betrachtung  die  Bestätigung  der  Behauptung, 
die  wir  schon  bei  ihrem  Eingang  aufgestellt  haben :  lyrisch-pathetisch, 
das  ist  der  Grundcharakter  der  Hans  Sachsischen  Schauspielkunst; 
die  Nuance  zeremonieller  Feierlichkeit,  die  wir  vorhin  feststellten, 
darf  ebenfalls  nicht  vergessen  werden.  Mit  jener  weiter  oben  her- 
vorgehobenen antinaturalistischen,  mehr  dem  Symbohschen  zu- 
strebenden Haltung  der  Aktion  stimmt  das  zu  einem  recht  einheit- 
lichen Gesamtbilde  zusammen. 

Schon  der  Aktion  und  dem  rein  Körperlichen  gegenüber  hatten 
wir  die  Frage  nach  den  entsprechenden  Zuständen  der  mittelalter- 
lichen Bühnenkunst  berührt ;  hier  wo  es  sich  um  den  Gestus  handelt, 
wird  sie  mit  größerer  Entschiedenheit  aufgenommen.   Denn  während 


1)  Es  sei  wieder  einmal  daran  erinnert,  daß  unter  „Gesten"  auch  besonders  vorge- 
schriebener Stimraton  mitverstanden  wird. 

2)  Wenn  schon  vor  1540  im  großen  Drama  dreimal  der  Ausdruck  der  Verzweiflung 
vorkommt,  so  darf  man  wohl  auch  daran  erinnern,  daß  uns  des  Dichters  älteste  Stücke 
nur  in  der  Redaktion  der  Blütezeit  vorliegen. 

3)  Einfache  Trauer  58,  Verzweiflung,  Schreck,  Entsetzen  42  Prozent. 

11* 


\Q4:  Dramentexte  des  Mittelalters  als  Untersuchungsmaterial. 

sie  sich  mit  alleiniger  Ausnahme  des  Kostüms  den  früher  be- 
handelten Elementen  des  Hans  Sachsischen  Theaters  gegenüber 
erübrigte,  weil  die  von  Grund  auf  veränderten  Bühnenverhältnisse 
eine  Übernahme  mittelalterlicherEinrichtungen  beinahe  ausschlössen, 
könnte  auf  dem  jetzt  behandelten  Gebiet,  auf  dem  die  Umgestal- 
tung der  Bühne  zunächst  keine  entscheidende  Rolle  zu  spielen 
scheint,  der  urkonservative  Grundzug  alles  Theaterlebens  recht 
wohl  mittelalterliche  Kunst  bis  tief  ins  sechzehnte  Jahrhundert 
fortgeführt,  könnte  die  Darstellung  des  psychischen  Habitus 
der  einzelnen  Personen  den  mittelalterlichen  Grundcharakter  be- 
wahrt haben. 

Die  mittelalterliche  Kunstübung  festzustellen  und  kurz  zu  charak- 
terisieren, ist  auch  abgesehen  von  dem  vollständigen  Mangel  aller 
Vorarbeiten  1)  nicht  ganz  leicht,  und  zumal  ein  Vergleich  mit  der 
Art  der  Nürnberger  Meistersinger  begegnet  den  größten  Schwierig- 
keiten. An  den  unerschöpflichen  Reichtum  des  Hans  Sachsischen 
Dramencorpus  und  seiner  szenischen  Bemerkungen  reicht  das  mittel- 
alterliche Material  bei  weitem  nicht  heran,  und  vor  allem:  wir  stehen 
hinsichtlich  seiner  Ausbeutung  nicht  auf  so  sicherem  Boden.  Es 
fehlt  die  so  wichtige  Gleichartigkeit,  die  uns  ermöglicht,  alles  ein- 
fach zu  addieren  und  aus  dem  seltenen  Vorkommen  gewisser  Aus- 
drucksvorschriften einen  sichern  Schluß  auf  die  Vernachlässigung 
der  entsprechenden  psychischen  Kategorien  in  der  Nürnberger  Schau- 
spielkunst zu  ziehen.  Die  mittelalterlichen  Dramenmanuskripte  sind 
zwar  zum  größten  Teile  geradezu  als  Regiebücher  zu  bezeichnen, 
aber  sie  sind  in  bezug  auf  Ort,  Zeit  und  die  Person  des  Regisseurs 
untereinander  sehr  verschieden,  ja  wir  haben  angesichts  der  Kom- 
pilations-,  man  möchte  sagen  Klebearbeit,  durch  die  so  viele  der 
mittelalterhchen  Dramen  zustande  gekommen  sind,  nicht  einmal  dem 
einzelnen  Manuskript  gegenüber  die  Sicherheit,  daß  es  sich  in  den 
szenischen  Bemerkungen  um  das  Residuum  einer  einheitlichen  Auf- 
führung handelt.  So  ist  hier  jenes  allgemeine  Additionssystem  und 
die  methodisch  durchgeführte  statistische  Ausbeutung  des  Materials 
wohl  nicht  möglich.  Ein  anderer  Hauptunterschied  ist  der  :  während 
uns  Hans  Sachsens  Drama  durch  die  Erlebnisse  aller  Länder  und 
Zeiten  führt  und  so  für  die  Vorführung  aller  Seelenregungen  den 
mannigfachsten  Anlaß  bietet,  ist  der  Gegenstand  des  mittelalterlichen 
Dramas  sehr  beschränkt :  in  der  Hauptsache  immer  wieder  Christi 
Lebens-  und  Leidensgeschichte  und  dazu  verhältnismäßig  wenig 
Erweiterungen,  zumal  aus  den  Begebenheiten  des  alten  Testamentes. 
Jedenfalls  wird  man  also  hier  eigenthch  nur  jedes  Drama  für  sich 
betrachten  und   strenge  Ergebnisse  des  Gesetzes   der  großen  Zahl 


1)  Mit  Heinzeis  schematisiereuden  Zusammenstellungen  vermag  ich  nicht  viel  anzu- 
fangen. 


Besonderheiten  der  mittelalterlichen  Schauspielkimst.  165 

nicht  erwarten  dürfen ;  manche  Texte  zumal  bieten  so  geringes 
Material,  daß  ein  Zählen  und  Rechnen  sich  beinahe  verbietet. 

Und  dennoch  zeigt  sich  eine  nicht  verkennbare,  zuweilen  so- 
gar auffallende  Gleichförmigkeit,  zumal  für  die  allerletzte  Zeit  des 
Mittelalters,  und  so  darf  hier  wohl  versucht  werden,  die  psycholo- 
gische Akzentuierung  der  mittelalterlichen  Schauspielkunst  mit 
der  des  Hans  Sachsischen  Dramas  zu  vergleichen. 

Eines  muß  freilich  noch  vorweg  festgestellt  werden  :  jene  psy- 
chologische Akzentuierung  bezieht  sich  im  Mittelalter  auf  eine  wesent- 
lich andere  Gesamtschauspielkunst  als  bei  den  Nürnberger  Meister- 
singern. Letztere  schließt,  wie  wir  sahen,  im  großen  Drama  alles 
Individualisieren  aus,  während  das  mittelalterliche  Drama  dem  Ziel 
individueller  Charakteristik  entschieden  mehr  zustrebt.  Eine  szenische 
Vorschrift  wie  sie  z.  B.  das  Benediktbeurer  Weihnachtspiel  für 
den  Archisynagogus  bietet:  imitando  gestus  Judei  in  omnibus 
wäre  bei  Hans  Sachs  unmöglich.  Es  hängt  ferner  zum  Teil  damit 
zusammen,  daß  im  Gegensatz  zu  der  stark  symbolisierenden  Art,  die 
auf  der  Nürnberger  Bühne  auch  die  eigentliche  Aktion  hat,  das  mittel- 
alterliche Spiel  hierin  doch  mehr  auf  Naturalismus  gestimmt  ist. 
Wir  werden  also  wohl  sagen  dürfen  —  freilich  ohne  an  mittel- 
alterlichen Fastnachtspieltexten  eine  direkte  Gegenprobe  machen  zu 
können,  da  diese  ja  ausnutzbare  Bühnenanweisungen  kaum  auf- 
weisen — ,  daß  die  nürnbergische  Scheidung  in  zwei  Schauspielkunst- 
stile, einen  dramatischen  und  einen  fastnachtspielmäßigen,  für  das 
Mittelalter  nicht  in  Betracht  kommt.  Solcher  minderen  Stilgebunden- 
heit der  älteren  Art  steht  anderseits  im  Mittelalter  eine  mindere 
Freiheit  von  den  Angaben  der  biblischen  Vorlage  gegenüber. 

Ein  weiterer  höchst  wichtiger  Unterschied  muß  ferner  noch  be- 
tont werden.  Die  besondere  Nuancierung  seelischer  Hergänge  über 
die  bloße  Mitteilung  durch  das  Wort  hinaus  scheint  im  Mittelalter 
nicht  ganz  die  Rolle  zu  spielen  wie  bei  Hans  Sachsens  Darstellern  ; 
auf  die  Gründe  dieser  Erscheinung  kommen  wir  später  noch  zu 
sprechen  :  sie  hangen  zum  Teil  mit  den  Verhältnissen  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Ausdrucksmittel  zusammen.  Namentlich  in  den 
früheren  Jahrhunderten  scheint  das  Psychologische  in  der  Dar- 
stellung sehr  zurückzutreten  ;  allmählich  entwickelt  es  sich  und 
zwar,  wie  man  vielleicht  wird  annehmen  können,  besonders  inner- 
halb des  Passionsspiels  und  nimmt  in  der  letzten  Zeit  des  Mittelalters, 
da  eben  dieses  Spiel  die  eigentlich  typische  und  normgebende 
Theaterkunst  bedeutet:  in  der  zweiten  Hälfte  des  fünfzehnten  und 
im  beginnenden  sechzehnten  Jahrhundert  schon  eine  beträchtliche 
Stelle  ein.  Die  quantitative  Verschiedenheit  aber  auch  dieser  spät- 
mittelalterlichen Art  von  den  entsprechenden  Verhältnissen  bei  den 
Nürnberger  Meistersingern  wird  besonders  deutlich,  wenn  wir  dazu 
noch  eine  letzte  Differenz  herausheben :  in  den  alten  Spielen  handelt 


166  Seelische  Inhalte  der  mittelalterlichen  Schauspielkunst. 

es  sich  häufig  um  wortlose  psychische  Geste,  während  diese 
in  Hans  Sachsens  Theater  nur  eine  ganz  geringe  Rolle  spielt,  — 
im  Zeitalter  des  demokratisch  gewordenen  Humanismus  ist  das  ge- 
hörte Wort  eben  doch  von  zu  großer  Wichtigkeit,  als  daß  man  sich 
mit  einem  bloßen  Zeichen  begnügt  hätte,  das  das  Fortschreiten  der  be- 
wegten Handlung  dem  Auge  verständlich  machte.  Dadurch  schrumpfen 
die  Ziffern  für  das  unmittelbar  Vergleichbare:  die  psychische  Ak- 
zentuierung der  Rede  durch  Geste  und  Ausdruck  für  das  alte  geist- 
liche Stadttheater  noch  mehr  zusammen. 

Wenn  man  dann  aber  unter  Berücksichtigung  all  dieser  Unter- 
schiede schheßlich  doch  zu  vergleichen  wagt  und  nun  jene  Frage 
stellt :  welche  seehschen  Inhalte  der  Rede  werden  im  mittelalter- 
lichen Drama  durch  Geste  oder  Ausdruck  betont  und  wie  stellen 
sich  die  Verhältnisse  zu  den  entsprechenden  im  Nürnberger 
Theater?,  so  wird  sich  etwa  folgendes  sagen  lassen.  Jener  Grund- 
charakter: die  fast  ausschließliche  Charakterisierung  des  Gefühls- 
mäßigen findet  sich  auch  schon  im  Mittelalter;  das  Intellektuelle 
ist  auch  hier  fast  vollständig  ungekennzeichnet  —  in  den  Spielen 
seit  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  fehlen  auch  die  ein- 
fachsten Gebärden  der  Art,  wie  Winken  und  Hinweisen,  so  gut  wie 
ganz,  während  sie  in  der  noch  dem  14.  Jahrhundert  angehörigen 
Frankfurter  Dirigierolle  etwas  häufiger  erschienen.  Die  Anspannung 
der  Sinne  ist  auch  auf  einige  wenige  Fälle  und  durchaus  aufs 
visuelle  Gebiet  beschränkt. 

Ferner  innerhalb  des  Gefühlsgebietes:  die  starke  Betonung  der 
Unlustgefühle,  das  ganz  auffallende  Zurücktreten  der  Lustbetonung 
ist  auch  im  Mittelalter  zu  finden,  allerdings  so  völlig  entschieden 
wie  dann  bei  Hans  Sachs  wohl  erst  nach  1450  (Egerer  Fronleich- 
namspiel, Alsfelder,  Heidelberger,  Donaueschinger,  Frankfurter  Passi- 
onsspiele), während  vorher  (Frankfurter  Dirigierrolle)  doch  auch 
das  Lustgefühl  stärker  akzentuiert  scheint.  Haben  wir  im  Hans 
Sachsischen  Theater  somit  noch  einen  deutlichen  Nachhall  der 
Sentimentalität,  die  die  Generationen  seit  der  Mitte  des  15.  Jahr- 
hunderts ausgebildet  haben,  so  ist  dagegen  das  Verhältnis  zwischen 
Sympathie-  und  Antipathiekennzeichnung  im  großen  Nürnberger 
Drama  gerade  umgekehrt  wie  im  Mittelalter.  Während  bei  Hans 
Sachs  die  Sympathie  stark  hervor-,  die  Antipathie  sehr  zurücktritt,  ist 
im  mittelalterhchen  Spiel  die  Geste  der  Antipathie  meist  geradezu 
vorwiegend.  In  bezug  auf  die  Anrufung  Gottes  ist  eine  rechte 
Einheitlichkeit  nicht  zu  beobachten,  doch  spielt  die  Geste  des 
Gebets  in  den  meisten  Spielen  etwa  dieselbe  Rolle  wie  bei  Hans 
Sachs;  ungefähr  ebenso  steht  es  mit  der  im  ganzen  vielleicht  ein 
wenig  mehr  zurücktretenden  Gebärde  der  nicht  an  Gott  gerichteten 
Bitte.  Übereinstimmung  endlich  auch  darin,  daß  alles  Übrige  fast 
völlig  verschwindet,  ganz  und  gar  vereinzelt  bleibt. 


Die  Mittel  der  Darstellung  auf  Hans  Sachsens  Bühne.     Akustisches.  167 

Untersuchen  wir  endlich  im  besondern  jene  Gruppe  der  wich- 
tigsten Kongruenz  :  die  Unlustbezeichnung  auf  ihre  Besonderheiten. 
Indem  wir  zunächst  feststellen,  daß  im  Mittelalter  wie  in  Hans 
Sachsens  Drama  Arger  und  Angst  fast  ganz  unbetont  bleiben,  er- 
kennen wir  als  Hauptunterschied  diesen:  das  ältere,  auch  das 
spätmittelalterliche  Spiel  charakterisiert  nur  die  Trauer  und  da- 
neben Schreck  im  allgemeinen,  —  die  gesteigerten  Grade:  Ver- 
zweiflung und  Entsetzen,  deren  äußere  Bezeichnung  bei  Hans  Sachs 
so  bedeutende  Ziffern  aufweist,  sind  im  Mittelalter  nur  ganz  selten 
besonders  gekennzeichnet. 

Das  Ganze  überschauend  werden  wir  sagen  :  gewisse  Zusammen- 
hänge mit  dem  alten  Spiel  in  der  Gesamtanlage  und  im  einzelnen 
sind  noch  vorhanden,  ein  paar  gewichtige  Unterschiede  aber  sind 
nicht  zu  übersehen.  Viel  näher  steht  dem  mittelalterlichen  Theater 
der  Stil  der  Hans  Sachsischen  Fastnachtspielaufführung :  hier  er- 
scheinen zwar  ein  paar  Besonderheiten :  das  starke  Auftreten  der 
Bittgeste  und  das  häufige  Vorkommen  von  Angst  und  Ärger  unter 
den  betonten  Unlustzuständen  recht  eigentümlich,  im  übrigen  aber 
sind  zwei  entscheidende  Züge  des  alten  Spiels  :  das  starke  Hervor- 
treten des  Antipathieausdrucks  und  der  Mangel  an  besonderer 
Betonung  der  Verzweiflung  und  des  Entsetzens  hier  bewahrt.  Das 
Überwiegen  des  Sympathieausdrucks  und  der  stark  pathetische  Ein- 
schlag ins  lyrische  Grundelement  sind  wesentliche  Neuerscheinungen 
des  Nürnberger  Dramentheaters.  Woher  stammen  sie  ?  Diese 
Frage  bleibt  noch  offen. 

Die  Mittel  der  Darstellung. 

Wir  treten  endlich  an  die  Betrachtung  der  Mittel  heran,  mit 
denen  die  von  der  Nürnberger  Theaterkunst  vorzugsweise  beach- 
teten Seelenzustände  zum  Ausdruck  gebracht  werden. 

Es  sind  zunächst  die  akustischen  Mittel  zu  behandeln. 

Unzählige  Male  haben  Hans  Sachsens  Schauspieler  weinen 
müssen.  Nun  muß  freilich  zunächst  bewiesen  werden,  daß  es  sich 
dabei  auch  um  eine  bloße  Aktion  der  Stimme,  nicht  um  etwas  dem 
Zuschauer  Sichtbares  gehandelt  hat;  aber  dieser  Beweis  ist  leicht 
zu  führen.  Von  vornherein  wird  niemand  daran  denken,  daß  die 
Nürnberger  Handwerker  auf  der  Bühne  wirkliche  Tränen  geweint 
haben,  ja:  bei  dem  bald  zu  erörternden  Zurücktreten  fast  aller 
Gesichtsmimik  wäre  das  Hervorpressen  von  Tränen  nicht  einmal 
darstellerisches  Ideal  gewesen.  Aber  man  könnte  doch  sich  vor- 
stellen, daß  das  Weinen  statt  durch  lautes  Schluchzen  der  Stimme 
durch  eine  Handbewegung:  durch  Tränenwischen  hätte  vorgeführt 
werden  können.  Daß  das  im  allgemeinen  nicht  der  Fall  ist,  wird 
bald  deutlich.  Die  mutier  vmbfecht  den  sun  weynend  (Tobias  1533, 


\Q§  Weinen,  Seufzen,  Lachen. 

KG.  1,  S.  157):  sie  hat  also  die  Hände  nicht  frei,  um  sie  an  die 
Augen  zu  führen;  Die  gräfln  gehet  hinach  viind  weynei  (Falsch 
Kaiserin,  1551,  KG.  8,  S.  120,  ebenso  127):  sie  dreht  dem  Zu- 
schauer den  Rücken  zu,  man  würde  also  ihr  Gesicht  gar  nicht 
sehen ;  Sie  (Gismonda)  weynet  ob  der  schewren,  von  der  sie  sich 
nachher  aufrichtet  (Concretus,  1546,  KG.  2,  S.  36)  und  das  kebs- 
weib  kombt  weinendt  und  hat  sich  verhält  (Leviten  Kebsweib, 
1555,  KG.  10,  S.  218;  vgl.  auch  16,  S.  38)  —  auch  in  diesen  beiden 
Fällen  kann  das  Publikum  nur  durch  den  Ton  des  Schluchzens 
orientiert  worden  sein.  An  der  Concretusstelle  heißt  es  allerdings 
hinterher :  Gismonda  rieht  sich  auff\  trücknet  die  äugen  vnd  spricht, 
aber  hier  handelt  es  sich  —  in  genauem  Anschluß  an  die  Quelle 
—  darum,  nicht  das  Weinen  selbst,  sondern  das  Nichtmehrweinen 
hervorzuheben:  diese  Stelle  beweist  gerade,  daß  das  eigent- 
liche Weinen  nicht  mit  solchem  visuellen  Mittel  markiert  wird.  Be- 
stätigt wird  der  so  auf  indirektem  Wege  festgestellte  akustische 
Charakter  durch  zwei  direkte  Vorschriften:  Esaw  weint  laut 
{Jacob  mit  Esaw,  1550,  KG.  1,  S.  99,  erst  in  A)  und  sie  fecht 
laut  an  zu  weinen  (Abraham,  1558,  KG.  10,  S.  48).  Vielfach 
wird  nur  geweint,  ohne  daß  Worte  gesprochen  werden,  oder  das 
Weinen  setzt  erst  nach  der  Rede  ein;  sehr  oft  aber  geht  die  be- 
treffende Anweisung  den  Worten  voran.  Die  gewöhnliche  Vor- 
schrift lautet  dann :  weint  vnd  spricht;  schwerlich  wird  das  bedeu- 
ten, daß  das  Weinen  eine  der  Rede  voraufgehende  Sonderaktion 
ist,  vielmehr  wird  die  ganze  Rede  in  weinerlichem  Ton  vorgetragen 
sein.  So  heißt  es  denn  auch  einmal  am  Schluß  eines  längeren 
Dialogstücks  der  Beritola  (Beritola,  1559,  KG.  16,  S.  131):  Sie 
durchbricht  mit  weinen :  das  schon  vorher  zum  Ausdruck  gebrachte 
Schluchzen  steigert  sich  so,  daß  es  ihr  unmöglich  ist  weiter  zu  sprechen, 
oder,  wie  die  Quelle  Hans  Sachsens  sagt  (Decam.,  deutsch,  S.  101) : 
vnd  von  grossem  weynen  nicht  mer  reden  mocht,  stille  schweige. 

Neben  dem  Weinen  kommt  ganz  gelegentlich  (ein  halbes 
Dutzend  Male)  auch  das  Seufzen  vor,  einmal  (KG.  8,  S.  134)  als 
Zeichen  der  Liebe,  auch  sonst  aber  in  richtiger  Differenzierung 
vom  Weinen:  wenn  dem  bloßem  Schmerzgefühl  noch  ein  anderes 
sich  beimischt  u.  dgl.  und  offenbar  nur  vor  kurzen  Ausrufen,  nie 
vor  längeren  Reden. 

Sehr  bezeichnend  für  die  oben  betonte  Abneigung  gegen  die 
Darstellung  seelischer  Freude  ist  es,  daß  in  Hans  Sachsens  sämt- 
lichen großen  Dramen  nur  an  fünf  Stellen  Lachen  vorgeschrieben  ist; 
in  dreien  dieser  Fälle  scheint  das  Lachen  einen  gewissen  tragischen 
Charakter  zu  haben.  Daß  für  den  Darsteller  die  phonetische  Wieder- 
gabe des  Lachens,  nicht  die  Muskelbewegung  im  Gesicht  das 
Wesentliche  war,  geht  wohl  aus  dem  analogen  Verhalten  beim 
Weinen  und  aus  dem    dort  schon    betonten  Umstand  hervor,    daß 


Lachen,  Schreien.  -[QQ 

auf  Hans  Sachsens  Bühne  das  Mienenspiel  überhaupt  eine  ver- 
schwindend kleine  Rolle  spielt.  Man  mag  auch  eine  jener  fünf 
Stellen  heranziehen,  an  der  es  heißt  (Tristant  und  Isolde,  1553, 
KG.  12,  S.  153):  Sie  setzen  Tristant  in  ein  sessel  und  salben  in;  er 
lacht  vnd  spricht:  Diß  wird  das  weibßbild  sein  fürwar,  Von  der 
kumbt  das  lang  frawen-har.  Es  ist  kaum  begreiflich,  warum 
Tristan  hier  lacht;  ganz  dem  Sinn  gemäß  heißt  es  aber  in  Hans 
Sachsens  Quelle  •)  .  .  gedacht  er  bey  dem  har,  das  er  mit  gm 
gefürt  het,  das  sy  die  fraw  wer,  die  er  suchte,  und  ward  in  ym 
selbs  schmollen.  Dieses  Lächeln  aber  kann  Hans  Sachs  nicht 
brauchen,  und  so  hat  er  an  seine  Stelle  das  —  laute  —  Lachen 
gesetzt. 

Endlich  das  Schreien 2),  bei  dem  ja  nun  an  eine  visuelle  Dar- 
stellung überhaupt  nicht  zu  denken  ist.  Ein  bloßes  lautes  Tönen- 
lassen der  Stimme,  ohne  Worte,  kommt  nur  ganz  gelegentlich  vor, 
fast  immer  handelt  es  sich  vielmehr  um  eine  Verstärkung  der 
Stimmquantität  beim  Vortrag  der  Rede.  Die  wichtigste  Verwendung 
dieses  Schreiens  liegt  —  auch  abgesehen  von  der  Neigung,  eine 
Menschenmenge,  ein  Heer  z.  B.,  schreien  zu  lassen  und  dadurch 
die  Phantasie  bereitwillig  zu  machen,  daß  sie  sich  der  Zahl  der 
Schauspieler  größer  vorstelle  als  sie  ist  —  nicht  auf  psychologischem 
Gebiete:  es  wird  durch  sehr  lautes  Sprechen  angedeutet,  daß  der 
Redende  von  dem,  dem  seine  Rede  gilt,  weit  entfernt  ist;  man 
schreit  einem  Abgegangenen  oder  Abgehenden  nach  —  lauter  als 
es  die  Bühnenmaße  an  sich  nötig  machen,  und  auch  ein  Auf- 
tretender schreit  schon  von  hinten.  Eine  besondere  Nuance  dieses 
Rufens  in  die  Ferne  ist  der  Hilferuf,  der  ziemlich  häufig  vorkommt, 
und  offenbar  aus  ihm  entwickelt  sich  dann  auch  eine  psychologische 
Verwertung  des  Schreiens:  es  ist  der  Ausdruck  von  Todesangst, 
auch  wenn  kein  Hilferuf  mit  ihm  verbunden  ist,  und  gelegentlich 
der  Verzweiflung  im  allgemeinen,  —  so  z.  B.  Judas  laufft  auß 
mit  geschrey  (Passio  Christi,  1558,  KG.  11,  S.  284):  zugleich  einer 
jener  Fälle,  in  denen  ein  Schreien  ohne  Worte  erfolgt.  Daß 
Schreckensnachrichten  nicht  selten  in  schreiendem  Ton  vorgetragen 
werden,  hängt  im  besondern  wieder  damit  zusammen,  daß  das 
Auftreten  der  Boten  immer  hinten  oder  hinten  rechts  erfolgt. 
Immer  also  einigermaßen  die  ursprüngliche  Erklärung  aus  dem 
Räumhchen;  rein  psychologisch  —  als  naturalistischer  Ausdruck 
also  besonders  des  Zorns  und  der  Wut  wird  das  Schreien  in  Hans 
Sachsens  großen  Dramen  nicht  verwendet. 

Und  nun  endlich  die  Bühnenvorschriften,  die  direkt  auf  eine 
gefühlsmäßige   Färbung  des  Vortrags   hinweisen.     Die   Gesamtzahl 


1)  Tristant  und  Isolde  her.  v.  F.  Pfaft  (Tübingen  1881)  S.  32. 

2)  Nur  zweimal  steht  rufft  statt  schreit:  KG.  1,  S.  139;  10,  S.   72. 


170      Gefühlsmäßige  Färbung  des  Vortrags  im  ernsten  Drama  und  im  Fastnachtspiel. 

solcher  Vorschriften  ist  sehr  groß  —  die  Zahl  der  vorgeschriebenen 
Vortragsnuancen  stellt  sich  als  sehr  klein  heraus:  es  sind  eigenthch 
nur  vier  oder  fünf.  Geradezu  erdrückt  werden  alle  andern  von 
der  Häufigkeit,  mit  der  das  spricht  trawrig  erscheint;  nicht  ganz 
selten  findet  sich  eine  Abart  dieser  Vortragsart  in  der  Anweisung 
spricht  cleglich:  sie  ist  immerhin  etwa  30  Male  zu  belegen.  Jenes 
Überwiegen  der  Unlust  zeigt  sich  also  auch  hier,  und  drei  ver- 
schiedene Nuancen  der  Trauer  sind  allein  schon  mit  phonetischen 
Mitteln  herbeizuführen :  spricht  trawrig,  spricht  cleglich,  weint  und 
spricht.  Redt  frölich  ist  dagegen  nur  ganz  wenige  Male  zu  finden. 
Im  Gegensatz  zu  solcher  Übereinstimmung  des  Akustisch-Phone- 
tischen mit  den  für  die  allgemeine  Betonung  des  psychischen  Aus- 
drucks ermittelten  Verhältnissen  stehen  die  Zustände  in  bezug  auf 
das  Gebiet  der  Sympathie  und  der  Antipathie  —  freundhche,  hebe- 
volle Tonfärbung  wird  überhaupt  nicht  erwähnt;  wohl  aber  kommt 
die  Vorschrift  spricht  zornig  recht  häufig  vor.  Endlich  ist  auch 
spricht  trutzig  oder  trutzlich  verschiedene  Male  zu  belegen.  Mit 
diesen  fünf  Unterscheidungen  aber:  trawrig,  cleglich,  frölich,  zornig, 
trutzig  ist  die  Reihe  der  Hans  Sachsischen  Tonvorschriften  eigent- 
lich auch  am  Ende.  Ein  paar  andere  Angaben:  spötlich,  verzagt, 
ernstlich,  verdrossen  sind  vollständig  isoliert  und  nichts  als  gelegent- 
hche  Entgleisungen  aus  dem  Theaterstil  heraus;  erst  ganz  gegen 
Ende  der  Hans  Sachsischen  Tätigkeit  häufen  sie  sich  immerhin  so 
igrawsamlich^),  stolczmutig,  hochmütig^),  verächtlich,  hart  er- 
schrocken, entsetzt,  unerschrocken),  daß  man  sich  fragen  könnte,  ob 
darin  sich  erst  recht  nur  die  zunehmende  Unsicherheit  des  greisen 
Dichters  dokumentiert  oder  ob  Hans  Sachs  tatsächlich  um  1560 
seinen  Schauspielern  eine  größere  Mannigfaltigkeit  der  Tonfärbung 
zuzumuten  beginnen  wollte. 

Überschauen  wir  nun  dieses  phonetisch-akustische  Gesamtge- 
biet noch  einmal,  um  es  mit  den  entsprechenden  Verhältnissen  in 
der  Darstellung  der  Hans  Sachsischen  Fastnachtspiele  zu  vergleichen, 
so  ergeben  sich  charakteristische  Übereinstimmungen  und  Unter- 
schiede. Auch  hier  ist  das  Weinen  weit  häufiger  vorgeschrieben 
als  das  Lachen,  und  die  Darstellungsart  ist  im  ganzen  gewiß  ähn- 
lich gewesen.  Allerdings  finden  wir  für  das  Lachen  eine  Stelle 
(Esopus  1560,  F.  85,  v.  196,  vgl.  228),  aus  der  hervorgeht,  daß  hier 
neben  dem  Phonetischen  auch  die  Gesichtsmimik  vom  Darsteller 
verwendet  wurde:  Esopus  thut  mit  aufgespertem  mund  ain  lawten 
lachen  Aber  einmal  kann  uns  das  im  Fastnachtspiel  so  sehr  nicht 
befremden,  wo,  wie  sich  noch  zeigen  wird,  die  Aktion  der  Gesichts- 
muskeln   nicht    ganz    so   undenkbar  ist,   wie    im  großen   Drama; 


1)  U,  S.  408,  fehlt  in  S. 

2)  13,  S.  572,  fehlt  in  S. 


Gefühlsmäßige  Färbung  des  Vortrags  im  ernsten  Drama  und  im  Fastnachtspiel.      \'^\ 

ferner  wird  die  Aufmerksamkeit  des  Zuschauers  durch  die  nun 
folgende  Rede  einer  andern  Person  auf  die  ganz  ungewöhnhche 
Art  dieses  absichthch  ins  Groteske  outrierten  Lachens  hingewiesen, 
indem  in  sechs  Versen  der  weit  aufgerissene  Rachen  des  Esopus 
geradezu  demonstriert  wird.  Diese  Art,  das  Lachen  darzustellen, 
ist  also  offenbar  auch  für  das  Fastnachtspiel  eine  Ausnahme. 

Während  aber  das  mehr  lyrische  Seufzen  dem  Fastnachtspiel 
fehlt,  kommen  hier  naturalistische  Laute  vor,  die  im  stilisierten 
Drama  undenkbar  sind.  F.  65,  v.  105  reispert  sich  der  Pfaff,  ehe  er 
seine  Rede  beginnt;  F.  76,  v.  138  heißt  es  von  dem  alten  Weib,  das 
den  Teufel  zu  überlisten  unternimmt:  sie  thuei  im  ain  schnelzlein 
nach,  u.  dgl.  mehr.  Das  Schreien  spielt  auch  hier  eine  wichtige 
Rolle,  auch  hier  handelt  es  sich  hauptsächlich  um  überlauten  Vor- 
trag der  Worte,  selten  um  wortloses  Erheben  der  Stimme.  Auch  hier 
ist  das  nichtpsychologische  Schreien :  das  Rufen  zur  Kennzeichnung 
des  Abstandes  von  großer  Bedeutung,  auch  hier  kommt  Hilferufen, 
Angst  und  Verzweiflungsschreien  gerade  wie  im  großen  Drama 
vor.  Ein  paar  charakteristische  Unterschiede  aber  sind:  einmal  nach 
der  Seite  der  Ausdrucksform  die  mehr  naturalistische  Verbindung 
waint  und  schreit,  die  im  Drama  völlig  fehlt,  und  ferner  nach  der 
Seite  der  psychologischen  Bedeutung  die  sehr  häufig  Benutzung 
des  Schreiens  zur  Kennzeichnung  des  Zorns,  die  wir  dort  streng 
gemieden  sahen.  Schreit  zornig,  so  heißt  es  sogar  geradezu  (F. 
82,  V.  128). 

Und  endlich  die  direkten  Gefühlstonvorschriften  im  Fast- 
nachtspiel ?  Sie  stimmen  genau  mit  denen  im  großen  Drama  überein, 
wenn  auch  natürlich  die  Zahlen  ihres  Auftretens  viel  kleiner  sind: 
zornig,  das  hier  am  häufigsten  vorkommt,  und  trutzig,  trawrig  und 
cleglich;  auf  frölich  kommt  hier  nur  eine  einzige  Stelle.  Daneben 
sind  freundtlich  und  spötlich  noch  je  einmal  und  zwar  in  den 
ältesten  Stücken  (F.  1  und  4)  vertreten.  Man  sieht  also:  zornig, 
trotzig,  traurig,  kläglich  und  fröhlich  zu  sprechen,  das  sind  die 
einzigen  Anforderungen,  die  Hans  Sachs  in  bezug  auf  den  beseelten 
Vortrag  seiner  Verse  an  sein  Personal  stellen  konnte.  Wer  aber 
noch  meint,  daß  es  sich  hier  nicht  um  spezifisch-theatralische  Vor- 
schriften, sondern  um  die  einzigen  Vortragsnuancen  handelt,  die 
Hans  Sachs  überhaupt  —  auch  in  der  Wirklichkeit  —  bekannt 
waren,  der  möge  sich  überzeugen,  daß  in  Hans  Sachsens  erzäh- 
lenden Dichtungen  das  traurige,  zornige  Sprechen  usw.  nicht  so 
sehr  im  Vordergrund  steht  und  daß  die  Leute  dort  auch  mit  sen- 
licher,  senfter,  hoffertiger  stimb,  vngstum  und  wild  usw.  reden  und 
daß  er  auch  in  seinen  Quellen  eine  stärkere  Individualisierung  des 
Redetons  vorfand  —  z.  B.  im  deutschen  Decamerone:  züchtiglich, 
erschrocken,  grawsam,  diemütiglichen,  schnelle  u.  a.  m. 

Und  nun  nach  solcher  Feststellung  die  historische  Frage :  woher 


172  Gefühlsmäßige  Färbung  des  Vortrags  im  mittelalterlichen  Schauspiel. 

kommt  diese  bemerkenswert  enge  Beschränkung  der  Vortragstöne? 
Ist  sie  erst  eine  Festsetzung  des  Regisseurs  Hans  Sachs  oder  über- 
nimmt er  sie  schon  von  seinen  mittelalterhchen  Kollegen?  Durch- 
mustern wir  die  szenischen  Bemerkungen  der  Passionsspiele  und 
der  andern   geistlichen  Dramen  aus  dem   ausgehenden  Mittelalter 

immer  in  dem  oben  begründeten  Bewußtsein,  daß  ein  Vergleich 

nur  vorsichtig  durchgeführt  werden  kann  und  daß  eine  so  völlige 
Einheithchkeit  der  Terminologie  wie  bei  Hans  Sachs  sich  weder 
für  das  Gesamtcorpus  des  geistlichen  Dramas  noch  auch  für  das 
einzelne  Werk  erwarten  läßt  — ,  so  erkennen  wir:  die  Nürnberger 
stehen  hier  im  wesenthchen  durchaus  in  der  Tradition.  Die  ent- 
sprechenden Bühnenanweisungen  des  späten  Mittelalters  lassen 
sich  im  ganzen  auch  auf  einige  wenige  Vortragstypen  zurückführen. 
Einmal  Trauer,  wobei  es  nicht  sicher  auszumachen  ist,  ob  wir  hier 
auch  schon  zwei  verschiedene  Nuancen,  entsprechend  dem  trawrig 
und  cleglich  unterscheiden  dürfen:  cum  trisütia,  tristi  animo  (dicit 
cantat),  plangit,  tristetiir  —  lamentabiliter,  lamentando,  dolenter 
(dicit,  cantat),  (spricht)  weklagemle,  cleglich,  mit  cleglicher  stim. 
Ferner  wird  der  Zorn  durch  die  Stimme  zum  Ausdruck  gebracht: 
indignanter,  furiose,  iratus  (dicet),  irascitur,  spricht  zornig  u.  dgl. 
und  die  Freude :  gaudens,  gauisus,  cum  magno  gaudio,  jubilanter, 
letabundo  animo,  mit  frölichem  hertzen  und  so  fort.  Nur  gelegentlich 
begegnet  etwas,  was  dem  Hans  Sachsischen  spricht  trutzig  ent- 
spricht: dicit  ferociter,  antwurt  fravenlich,  während  der  spöttische 
Ton  {irrisorie,  deridendo  u.  dgl.)  und  die  furchtsame  Stimme  (sub 
timore,  erschrockenlich,  mit  forchtsamlicher  stim)  wohl  ein  klein 
wenig  häufiger  als  bei  ihm  erscheinen.  Im  ganzen  aber  ist  die 
Übereinstimmung  klar:  auch  schon  den  kleinbürgerlichen  Schau- 
spielern des  späteren  Mittelalters  werden  nur  sehr  wenige  Vortrags- 
nuancen zugemutet,  und  eine  ziemlich  getreue  Tradition  hat  die 
wesentüchsten  Töne  bis  in  die  Mitte  des  sechzehnten  Jahrhunderts 
beibehalten.  So  feine  Stimmschattierungen,  wie  sie  das  wohl  dem 
Anfang  des  vierzehnten  Jahrhundert  angehörige  Benediktbeurer 
Weihnachtspiel  von  den  Darstellern  verlangt :  voce  sobria  et  discreta, 
cum  magna  sapientia  et  eloquentia  sind  später  nicht  mehr  denkbar: 
damals  sind  Geistliche  die  Träger  der  Rollen  gewesen,  und  die  waren 
denn  doch  andern  Aufgaben  gewachsen  als  die  Handwerker  des 
fünfzehnten  und  sechzehnten  Jahrhunderts. 

Wo  die  geistlichen  Regisseure  der  Spätzeit  über  jene  wenigen 
Möglichkeiten  hinaus  andere  Seelenerregungen  durch  die  Stimme 
der  Darsteller  zum  Ausdruck  kommen  lassen  wollten,  da 
brauchten  sie  anscheinend  ein  sehr  einfaches  Mittel,  angeregt  viel- 
leicht durch  einige  biblische  Andeutungen:  sie  ließen  sie  schreien. 
Das  Weinen  wird  bei  weitem  nicht  so  oft  vorgeschrieben  wie  bei 
Hans  Sachs,  kommt  eigentlich  nur  vor,  wenn  es  die  biblische  Quelle 


Stärke  der  Stimme  auf  dem  mittelalterlichen  Schauplatz.  173 

verlangt,  und  man  wird  nicht  einmal  mit  Sicherheit  behaupten 
können,  daß  es  sich  bei  der  Ausführung  um  phonetische  Mittel 
handelt  (im  Gegenteil:  Jecz  tut  der Salvator  glich  als  ob  er  weine, 
und  Luiist  die  oiigen  heißt  es  im  Donaueschinger  Passionsspiel). 
Seufzen  ist  auch  im  geistUchen  Spiel  hie  und  da  verlangt,  Lachen 
läßt  sich  nur  ein  einziges  Mal  belegen;  das  biblische  Heulen  und 
Murmeln  fehlt  nicht  ganz.  Das  Schreien  aber  spielt  eine  verhältnis- 
mäßig größere  Rolle  als  bei  Hans  Sachs.  Nicht  nur  Schreien  der 
Menge,  Ruf  in  die  Ferne,  Hilferuf,  Angst,  höchste  Trauer  kommen 
so  vor,  sondern  alle  möglichen  Seelenzustände  werden  durch 
Schreien  charakterisiert;  außer  dem  Zorn,  der  bei  Hans  Sachs 
wenigstens  im  Fastnachtspiel  der  stärksten  Stimmanstrengung  sich  be- 
dient, Neid,  Reue,  innige  Bitte,  —  ja,  starke  Seelenerregung  über- 
haupt kann  sich  durch  Schreien  äußern  i).  Ganz  wohl  begreiflich 
auf  der  Marktplatzbühne,  auf  der  durch  dieses  Mittel  psychisch 
stark  betonte  Stellen  wenigstens  allvernehmlich  wan-den,  zugleich 
vielleicht  ein  Analogon  zu  dem  Fortissimo  in  der  Musik,  in  dem 
solche  Erregungsworte,  in  den  ja  noch  immer  nicht  ganz  abge- 
storbenen Oratorienhaften  Partien  des  einstigen  Musikdramas,  vorge- 
tragen sein  mochten.  Bei  Hans  Sachs  hegt  alles  Musikalische  ganz  fern, 
hier  handelt  es  sich  um  reines  Sprechdrama;  vor  allem  aber  hätten 
die  neuen  räumlichen  Verhältnisse :  der  Vortrag  in  einem  verhältnis- 
mäßig kleinen,  geschlossenen  Raum  jenen  ausgedehnten  Gebrauch 
des  Schreiens  ganz  unsinnig  erscheinen  lassen. 

Wenn  somit  wenigstens  in  negativer  Beziehung  hinsichtlich 
der  Stimmtonstärke  den  veränderten  Lokalverhältnissen  Rechnung 
getragen  ist,  so  ist  in  positiver  Beziehung  davon  noch  ganz  und 
gar  nicht  die  Rede.  Daß  auf  der  Marktplatzbühne  leiseres  Sprechen 
vermieden  werden  muß,  ist  durchaus  verständlich:  die  Worte  des 
Darstellers  wären  sonst  ungehört  verklungen;  so  findet  sich  denn 
im  ausgehenden  Mittelalter  nur  ein  einziges  siibmissa  voce  (Als- 
felder P.)  und  noch  dazu  bei  musikalischem  Vortrag.  Hans  Sachs 
dagegen  hätte  in  seinem  kleinen  geschlossenen  Raum  sehr  wohl 
ein  Sinkenlassen  der  Stimme  vorschreiben  können,  ohne  den  Schau- 
spieler zur  Unverständlichkeit  zu  verurteilen ;  aber  er  bleibt  bei  der 
nun  sinnlos  gewordenen  Gleichmäßigkeit  des  Normalvortrags.  Ein 
einziges  Mal  in  seinen  sämtlichen  Dramen  (Hürnen  Seufrit  T  1557 
KG.  13,  S.  370)  heißt  es:  Hilteprandt .  .  spricht  gemach,  um  ein  Zu- 
flüstern zu  charakterisieren.  —  Könnte  man  aber  nicht  annehmen, 
daß  das  oft  vorgeschriebene  klägliche  Sprechen  mit  gedämpfter 
Stimme  erfolgt  sei?  Für  die  Bejahung  dieser  Frage  möchte  man 
sich  auf  eine  Stelle  in  der  Tragödie  Concretus   (1545)  berufen,  wo 

1)  Vielleicht  ist  jenes  bei  Hans  Sachs  etwas  herausfallende  Schreien  des  Judas  (s. 
o.  S.  169)  ein  Rest  schauspielerischer  Tradition,  der  sich  im  Passionsspiel  so  lange 
erhalten  hat. 


174  Körperhaltung  bei  GefüMserregiingen  auf  Hans  Sachsens  Bühne. 

es  heißt  (KG.  2,  S.  37):  Gismonda  antwort  mit  kleglich  nlderer 
stim.  Daß  „nieder"  nicht  nur  die  Stimmlage,  sondern  auch  die 
Stimmstärke  charakterisiert,  wird  zuzugeben  sein.  Erstens  aber 
hat  die  ganze  Vorschrift  eigenthch  mit  dem  Seelischen  nichts  zu 
schaffen,  sondern  bezieht  sich  aufs  Körperliche,  denn  Gismonda 
hat  vorher  Gift  getrunken,  und  in  der  Handschrift  steht  statt  der 
oben  wiedergegebenen  Stelle  des  Drucks:  mit  nider  dotlicher 
stim.  Zweitens  ist  diese  szenische  Anweisung  eine  der  wenigen, 
bei  denen  Hans  Sachs,  statt  im  Theaterjargon  zu  bleiben,  sich  an 
die  epische  Vorlage  hält  (mit  nyder  tätlicher  stim  heißt  es  auch 
dort).  Daß  das  „Niedere"  ein  Charakteristikum  des  Kläglichen  nicht  ist, 
geht  endlich  aus  einer  andern  Stelle  (Simson,  1556,  KG.  10,  S. 
213)  deutlich  hervor,  an  der  Hans  Sachs  —  wenn  auch  noch  nicht 
in  der  Handschrift,  so  doch  im  Druck  —  vorschreibt:  Derknab.... 
schreit  kläglich. 

Welches  waren  denn  nun  aber  die  Vortragsnuancen  des  Kläg- 
lichen und  Traurigen,  des  Zornigen,  Trotzigen  und  Fröhlichen  und 
wie  haben  Hans  Sachs  Darsteller  sie  gelernt  ?  Diese  Frage  wird 
nur  zu  beantworten  sein,  wenn  wir  das  lediglich  phonetisch-akustische 
Ausdrucksgebiet  verlassen  und  auf  das  visuelle  übergehen.  Und 
zwar  müssen  wir  im  besonderen  die  Vorschriften  ins  Auge  fassen, 
die  seelische  Dinge  durch  die  gesamte  Körperhaltung  zum  Aus- 
druck bringen  lassen  wollen :  wo  das  Auftreten,  Abgehen,  Sich- 
setzen, Aufstehen  u.  dgl.  durch  ein  Gefühlsadverbium  charakterisiert 
wird.  Auch  hier  sind  es  wieder  nur  einige  wenige  Typen,  auf  die 
sich  alles  zurückführen  läßt.  Weitaus  am  häufigsten  begegnet  uns 
der  Ausdruck  der  Trauer  :  gehen  ein  trawrig,  geht  trawrig  aiiß,  setzt 
sich  trawrig,  volgt  trawrig  nach;  neben  trawrig  kommt  ein  paar- 
mal auch  betrübt  vor.  Ferner  der  Zorn  :  geht  zornig  ab,  u.  dgl., 
einmal  auch  geht  unmutig  ein.  Und  der  Trotz  :  geet  drutzig  auß, 
wozu  man  vielleicht  auch  das  zweimalige  stöltzlich  und  das  eben- 
falls zweimalige  branget  hinein  rechnen  darf.  Endlich  Freude: 
gent  frölich  ab,  get  ein  frölicher  gestalt  usw.  Damit  ist  alles  erwähnt; 
isoliert  bleibt  nur  ein  spätes  geht  dueckisch  ab  (Romulus  und  Re- 
mus,  1560,  KG.  20,  S.  143),  das  in  der  Handschrift  steht,  während 
es  im  gedruckten  Texte  in  das  übliche  trotzig  verwandelt  ist.  Im 
Fastnachtspiel  steht  es  genau  ebenso  wie  im  großen  Drama.  Trawrig, 
zornig,  drutzig  und  frölich  —  genau  dieselben  Charakteristika  für 
die  Gesamtkörperhaltung  wie  für  die  Stimme  :  kein  neues  daneben, 
und  von  den  Stimmvorschriften  fehlt  nur  kleglich,  das  schließlich 
doch  nur  eine  Nuance  des  trawrig  vorstellt ;  übrigens  findet  sich 
wenigstens  einmal  (Beritola,  1559,  KG.  16,  S.  123):  stellt  sich 
kläglich. 

Nun  läßt  sich  aber  leicht  sehen,  daß  mit  solchem  Traurig-,  Zor- 
nig-, Trotziggehen  usw.  nicht  bestimmte,  gleichförmige,  äußer- 


Schauspielerische  Autosuggestion  im  Mittehilter  und  im   Kl.  .Jahrhundert.  17^ 

lieh  zu  erlernende  Gangweisen  gemeint  sein  können.    Tristant  geht 
trawrig  ab,  dergleich  schleicht  Isold  aö  heißt  es  allerdings  einmal 
(Tristant  mit  Isolden,   1553,    KG.   12,  S.  163) ;   aber  man  darf  nicht 
daraus  schließen,  daß  nun  der  langsame  Gang  ein  typisches  Zeichen 
der  Trauer  sein  müßte,  denn   ein  andermal   (Tobias,    1533,  KG.   1, 
S.   137)   wird   verlangt  Der  jung  Thobias  laiifft   eylend   hinein, 
trawrig  —   ja,   daß   überhaupt  im  Gehen   nicht   das   Spezifische 
solcher  allgemeinen  Gefühlsäußerung  durch   den  Körper  gefunden 
zu  werden  braucht,   zeigt   die  Stelle  :   die  folgen  im  mit  geneijgten 
häuptern  samb    trawrig   auß   dem    saal    (Zwölf   arge    Königinnen, 
1562,  KG.  16,  S.  21).  Es  scheint  also  nur  eine  Erklärung  zu  bleiben: 
für  solche  allen  Darstellern  zugemuteten  Gefühlsdarstellungen  gibt 
es  im  allgemeinen  keine  äußerlich  vorgeschriebenen  Ausdrucks- 
formen,  sondern  es  wird  von   dem  Schauspieler  verlangt,   daß   er 
das  betreffende  Gefühl   in  seiner  Seele  innerlich  lebendig  werden 
und  von   innen   heraus   in  Haltung  und   Stimme    zum  Aus- 
druck kommen    lasse,    wie    es    der   Moment    eingibt.     Der  könig 
w  i  rd  gar  bell  übet    heißt    es    denn    auch    geradezu    einmal:    und 
der  so  betrübt  gewordene  spricht  trawrig  und  geet  trawrig  auß, 
ohne  daß  es  im  großen  und  ganzen  besonderer  Einzelanordnungen 
bedürfte.     Ebenso    verrät    sich  das  Darstellungsprinzip   einmal  im 
Fastnachtspiel  (F.  28,  v.  75),  wo  statt  spricht  zornig  direkt  ist  zornig 
den   Worten  des  Mannes    vorangesiellt   ist.     Auch    dieses  Prinzip 
aber  scheint  Hans  Sachs  ebenso  wie  im  wesentlichen  die  Auswahl 
der  auf  solche  Art  zum  Ausdruck  kommenden  Gefühle  vom  spät- 
mittelalterlichen Theater  übernommen  zu  haben  :   daß   es  hier  be- 
standen hat,  darauf  deuten  manche  Anweisungen  direkt  hin:  leta- 
bundo  animo,  furioso  animo,    tristi  animo,  mit  frölichem    her- 
tzen    soll   der    Vortrag    erfolgen;    mit   cleglicher  stim    und   ge- 
perd    soll    Judas     sprechen :     das    Wie     bleibt     also    ihm     über- 
lassen ;    ja,    jene    ganze    oben    betonte  Unbestimmtheit    der   sze- 
nischen   Terminologie    des    Mittelalters,    die    uns    oft    schwanken 
läßt,  ob  Innenzustand  oder  schauspielerischer  Ausdruck   vorliegt, 
weist  ihrem  letzten  Sinne  nach  in  die  gleiche  Richtung.    Die  mittel- 
alterliche Theaterkunst  verlangt  in  bezug  auf  die  wenigen  Gefühls- 
zustände,  die   die  vorgeführten  Gestalten   ihren  Zuschauern  durch 
Haltung  und  Stimme  immer  wieder  deutlich  zu  machen  haben,  von 
ihren  kleinbürgerlichen  Dilettantenspielern  eine  förmliche  Autosug- 
gestion: nicht  die  moderne,  bei  der  der  Schauspieler  sich  ganz  und  gar 
in  die  darzustellende  Gestalt  seelisch  zu  verwandeln  trachtet,    wohl 
aber  eine  partielle:  eine  innere  Anfüllung  mit  dem  Gefühl,  dessen 
die  Gestalt  voll  ist.     Die  Nürnberger  Meistersinger  behalten  dieses 
System  bei;  während  es  aber  im  Mittelalter  die  eigentliche  Haupt- 
sache des  psychischen  Ausdrucks  liefert,    kommt  bei  ihnen  noch 
eine  ganze  Fülle  einzelner  körperhcher  Ausdrucksformen  hinzu. 


j^76  Die  mittelalterliche    Schauspielkunst  in  Deutschland. 

die    nicht    einem    seelischen   Gesamtzustand   entspringen,    sondern 
einzehi  gelernt  und  von  außen  angefügt  werden  müssen. 

Von  diesen  einzelnen  Ausdrucksformen  soll  nun  noch  die  Rede 
sein.  Und  zwar  werden  wir  diesmal,  statt  die  vorsachsischen, 
mittelalterlichen  Verhältnisse  wie  bisher  erst  nachträglich  zum  Ver- 
gleich heranzuziehen,  mit  ihnen  beginnen  —  schon  um  so  durch 
den  unmittelbaren  Anschluß  an  die  eben  zu  Ende  geführten  Er- 
örterungen eine  in  sich  zusammenhängende  Gesamtcharakteristik 
der  mittelalterlichen  Schauspielkunst  in  Deutschland  zu  bieten. 

Die    mittelalterliche     Schauspielkunst    in    Deutschland. 

Das  Wesen  dieser  theatralischen  Körperberedsamkeit  ist  ge- 
kennzeichnet zunächst  durch  die  große  Sparsamkeit  in  der  Anwen- 
dung von  Ausdrucksbewegungen  und  Stimmvariationen,  die  zu 
gleichmäßig  in  allen  Texten  uns  entgegentritt,  als  daß  sie  nur  auf 
die  gewiß  hie  und  da  nicht  fortzuleugnende  Dürftigkeit  der  szeni- 
schen Bemerkungen  zurückgeführt  werden  kann,  gekennzeichnet 
ferner  durch  den  einförmigen,  jeder  Veränderungs-  und  Individu- 
ahsierungsmöghchkeit  baren  Charakter  des  tatsächhch  Gebotenen. 
Dieses  Wesen  und  seinen  Grund  aber  kann  man  nur  richtig  er- 
fassen, wenn  man  einmal  von  der  Tatsache  ausgeht,  daß  alle 
ernsten  dramatischen  Aufführungen  der  vorreformatorischen  Jahr- 
hunderte ursprünglich  Teile  einer  gottesdienstlichen  Handlung 
gewesen  sind  und  einen  Rest  des  dadurch  gegebenen  Charakters 
trotz  aller  Verweltlichung  und  Entartung  bis  zuletzt  festhalten  ;  von 
der  Erwägung  ferner,  daß  bis  auf  die  sekundären  und  sehr  zurück- 
tretenden Heiligenspiele,  die  ersten  Szenen  der  Fronleichnam  spiele 
und  die  gelegentlich  auftretenden  Präfigurationsszenen  aus  dem 
alten  Testament  immer  wieder  nur  das  neue  Testament  den  Stoff 
für  die  dramatischen  Darbietungen  hergibt. 

Wenig  mannigfaltig  sind  die  optischen  und  akustischen  Aus- 
drucksformen, die  in  den  kanonischen  Berichten  über  Christi  Lebens- 
und Leidensgeschichte  angeführt  werden,  und  in  ein  irgendwie 
regelrechtes  System  lassen  sie  sich  kaum  bringen :  weder  wenn 
man  von  den  psychischen  Hergängen  noch  wenn  man  von  den 
Ausdrucksmitteln  ausgeht.  Das  Gebiet  der  stimmlichen  Charakte- 
ristik umfaßt:  Lautrufen,  Schreien;  Murmeln;  Seufzen,  Weh- 
klagen, Weinen,  Heulen.  Innerhalb  der  für  das  Auge  wahrnehm- 
baren Ausdrucksarten  tritt  das  Mienenspiel  fast  vollständig  zurück: 
höchstens  beim  Weinen  wird  der  Leser  auch  an  die  Tränen  denken, 
und  das  Anspeien  als  Zeichen  des  Absehens  könnte  man  hierher- 
rechnen und  den  blutigen  Schweiß  als  Zeichen  der  bitteren  Angst  des 
Herrn  ;  wo  den  Augen  ein  bestimmter  Blick  vorgeschrieben  wird, 
ist  damit  zugleich  eine  Bewegung  des   ganzen  Körpers  oder  doch 


Gesten  der  biblischen  Vorlage.    Das  mittelalterliche  Theater:  labile  u.  stabile  Gesten.        '["'J 

des  Kopfes  verbunden  :  Sichumsehen  nach  jemanden,  Ringsumsich- 
sehen, Emporsehen  7A\m  Himmel.  Kopfbewegung  allein  kommt 
einmal  (Matth.  27,  39;  vgl.  Marc.  15,  29)  vor:  Kopf  schütteln  als 
Zeichen  spottender  Ablehnung.  Arme  und  Hände  allein  kommen 
etwas  öfter  in  Bewegung :  Zeigen  als  Hindeutung,  Handausstrecken 
bei  der  Wundertat,  Andiebrustschlagen  zum  Zeichen  der  Reue ; 
niemals  wird  —  das  sei  hier  schon  betont  —  mit  Armen  und 
Händen  zur  Verlebendigung  von  Trauer  und  Verzweiflung  agiert. 
Am  häufigsten  aber  tritt  der  ganze  Körper  in  Aktion  —  abge- 
sehen von  dem  gelegentlich  erwähnten  Zittern  der  Geängstigten 
besonders  in  den  verschiedenartigen  Formen  der  Verehrung  und  An- 
betung :  man  fällt  zur  Erde,  aufs  Angesicht,  auf  die  Knie,  umklam- 
mert die  Füße  des  andern,  beugt  die  Knie ;  dazu  kommt  endlich 
eine  kleine  Anzahl  prägnanter  Formen :  der  Kuß  der  Liebe,  das 
Kleidzerreißen  bei  der  Lästerung,  das  Rückwärtsfallen  vor  Ent- 
setzen, das  eigenartige  Schreiben  Christi  im  Sande. 

Und  nun  vergleichen  wir  mit  diesem  Gesamtbild  das  Bild,  das 
uns  mit  Ausnahme  eines  einzigen  späten  Spiels  und  einiger  ganz 
weniger  Stellen  in  ein  paar  andern  späteren  Stücken  das  mittel- 
alterliche Theater  in  Deutschland  bis  in  den  Anfang  des  sechzehnten 
Jahrhunderts  hinein  bietet.  Im  Grunde  finden  wir  hier  völlig 
das  Gleiche  wie  dort.  Fortgelassen  sind  von  den  Ausdrucksbe- 
wegungen und  Stimmfärbungen  der  Evangelien  nur  ganz  wenige:  das 
Kopfschütteln,  das  an  jener  Stelle  mit  der  Situation  und  den  Worten 
nicht  recht  in  Einklang  zu  bringen  ist ;  das  Schlagen  der  Brust  (zu 
Luc.  23,  48),  weil  die  mittelalterlichen  Dramatiker  in  ihrer  Abneigung 
gegen  die  Juden  die  Reue  des  noch  am  Kreuz  stehenden  Volkes  über- 
haupt undargestellt  lassen;  das  Zittern,  weil  das  den  Zuschauern  der 
Marktplatzbühne  doch  entgangen  sein  wiu'de;  der  blutige  Schweiß, 
weil  er  kaum  darstellbar  ist.  Umgekehrt  finden  sich  Erweiterungen, 
Einführungen  neuer  Gesten  gegen  den  Evangelientext  beinahe  gar 
nicht ;  am  ehesten  noch  auf  akustischem  Gebiet,  wo  jene  vorher 
in  anderm  Zusammenhang  behandelten  Stimmnuancierungen  frei- 
lich auch  mehr  psychologisch  angedeutet  als  durch  die  Vorschrift 
eines  besonderen  Tons  verlangt  werden.  Im  übrigen  aber  macht 
der  mittelalterliche  Regisseur  als  Anordner  der  Gebärden-  und  Ton- 
sprache seines  Personals  von  allen  Vorschriften  der  Evangelien  Ge- 
brauch und  kommt  anderseits  mit  ihnen  aus.  Nicht  in  dem  Sinne 
jedoch,  daß  die  szenischen  Bemerkungen  eine  sklavische  Anlehnung 
an  die  epischen  Vorlagen  darstellten.  Man  muß  vielmehr  offenbar 
scheiden  zwischen  labilen  und  stabilen  Gesten.  Jene:  die  minder 
prägnanten,  minder  bezeichnenden,  auch  wohl  häufiger  erscheinen- 
den Ausdrucksformen,  wie  eben  das  Lautsprechen,  das  Weinen,  das 
Hinweisen,  das  Niederknien  usw.,  haften  nicht  fest  an  den  Stellen, 
an  denen  die  Evangelien  sie  hervortreten  lassen :  sie  können  ge- 

Herrmann,  Theater.  ^2 


j^78  Mittelalterliches  Theater:   labile  und  stabile  Gesten. 

rade  an  diesen  Stellen  fehlen,  dagegen  an  andern  erscheinen,  an 
denen  die  kanonischen  Vorlagen  keine  Angaben  machen  ;  und  in 
bezug  auf  diese  labilen  Gesten  ist  die  Übereinstimmung  zwischen 
den  einzelnen  Dramentexten  gering.  Um  so  größer  ist  sie  in  bezug 
auf  die  stabilen  Gesten  —  in  einer  kleinen  Anzahl  besonders 
eigentümlicher  oder  besonders  betonter  Körperbewegungen  in  be- 
sonders prägnanten  Szenen  stimmen  die  Dramen  nahezu  ausnahms- 
los überein.  Außer  der  wenigstens  sehr  häufig  gegebenen  Szene 
(Joh.  8,  6),  da  Christus  während  der  Darstellung  der  Ehebrecherin 
sich  neigt  und  mit  dem  Finger  auf  die  Erde  schreibt,  sind  es  be- 
sonders :  Christi  Niederknien  in  brünstigem  Gebet  auf  dem  Ölberg, 
das  Zurückfallen  der  Juden  bei  Jesu  machtvollem  Wort  Ich  bin's, 
der  Judaskuß,  des  Hohepriesters  Kleidzerreißung  bei  den  vermeint- 
lichen Lästerworten  des  Herrn,  Christi  Umsehen  nach  dem  ihn  ver- 
leugnenden Jünger  und  Petri  bittere  Reuetränen.  Hier  wird  auf 
den  mittelalterlichen  Bühnen  aus  der  theatralischen  Not  eine  drama- 
tische Tugend  gemacht :  bei  dem  Mangel  an  individuellen,  eigen- 
artigen, prägnanten  Gesten  werden  die  wenigen  vorhandenen 
bereitwillig  benutzt,  um  dem  Zuschauer,  der  bei  der  ganzen  Art 
der  mittelalterlichen  Marktplatzbühne  mehr  aufs  Sehen  als  aufs 
Hören  angewiesen  ist,  den  seelisch-dramatischen  Sinn  wenigstens 
einiger  wichtigster  Szenen,  richtiger  einer  zusammenhängenden 
Szenenfolge  :  der  eigentlichen  Peripetie  in  Christi  Leben  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen. 

Wir  fragen  nach  dem  Grunde  solcher  starren  Gleichförmigkeit, 
Unfreiheit  und  nur  in  jenem  einen  Szenenkomplex  aufgegebenen  Dürf- 
tigkeit des  seelischen  Ausdrucks.  Unmöglich  dürfen  wir  annehmen, 
daß  die  Deutschen  des  Mittelalters  keine  eigentliche  Gestikulation, 
kein  Mienenspiel,  keine  Stimmdifferenzierungen  besessen  hätten  — 
das  Gegenteil  braucht  nicht  erst  bewiesen  zu  werden.  Wohl  aber 
könnte  man  zunächst  auf  die  Vermutung  kommen,  daß  den  mittel- 
alterlichen Menschen  der  Blick  für  die  Beobachtung  solcher  Lebens- 
äußerungen gefehlt  habe  und  daß  von  hier  aus  jene  Gleichförmig- 
keit, Unfreiheit  und  Dürftigkeit  der  Schauspielkunst  zu  begreifen 
sei.  So  schlagen  wir  zum  Vergleich  die  großen  epischen  Dich- 
tungen des  deutschen  Mittelalters  auf  und  fragen  danach,  wie 
sich  ihre  Verfasser  hinsichtlich  der  Darstellung  des  Seelischen  durch 
das  Körperliche  verhalten. 

Die  Gesten  des  weltlichen  Epos  in  Deutschland  i). 

Und  da  sehen  wir  nun  :  eine  ganz  kleine  Rolle  spielen  die  Aus- 
drucksbewegungen für  Seelenvorgänge  in  der  weltlichen  Verserzählung 


1)  Die  Lösung  dieser  Aufgabt;  ist,  soweit  ich  sehen  kann,  bisher  noch  nirgends  im  Zu- 
sammenhang für  die  deutsche  Literatur  oder  einen  ihrer  Zweige  in  Angriff  genonnnen. 
Auch  für   die  französische  Dichtung   nicht,   denn    die   neue,   während   der  Vollendung  der 


Die  Gesten  des  weltlichen  Epos  in  Deutschland.  179 

des  deutschen  Mittelalters  nicht,  mag  auch  —  je  später  je  mehr  — 
ihre  Zahl  verglichen  mit  den  ungeheuren  Versmassen  nur  gering 
erscheinen.  In  der  ritterlichen  Epik  bildet  der  körperliche  Ausdruck 
seelischer  Hergänge  eine  bald  mehr  bald  weniger  reich  instrumen- 
tierte Begleitung  des  ganzen  dargestellten  Lebens.  Etwas  anders 
steht  es  offenbar  von  Haus  aus  mit  der  Epik,  die  noch  mit  alter 
Heldendichtung  zusammenhängt.  Hier  möchte  man  noch  zuweilen, 
eingedenk  der  sparsamen  und  eindrucksvollen  Verwendung,  die  die 


oben  gegebenen  Auseinandersetzungen  gedruckte  Arbeit  von  Lommatzsch  „System  der 
Gebärden,  dargestellt  auf  Grund  der  mittelalterlichen  Literatur  Frankreichs"  (bisher  ist 
nur  der  erste  Teil  als  Berliner  Disseration  1910  erschienen)  unternimmt  jenen  Versuch 
keineswegs,  sondern  stellt  sich  die  andersartige,  weit  umfassendere  Aufgabe,  die  wirk- 
liche Gebärdensprache  des  Mittelalters  zu  ermitteln.  Diese  Aufgabe  ist  vielleicht  über- 
haupt imlösbar,  und  jedenfalls  kann  das  Ziel  auf  dem  von  Lommatzsch  eingeschlagenen 
Wege  trotz  alles  aufgebotenen  Fleißes  und  Scharfsinnes  nicht  erreicht  werden.  Der  in 
den  verschiedenen  Abschnitten  unseres  Kapitels  gegebene  Versuch,  in  bezug  auf  einen 
nicht  unwichtigen  Punkt  vergleichende  Künstegeschichte  zu  treiben,  sucht,  abgesehen  von 
seiner  besonderen  theatergeschichtlichen  Aufgabe,  dies  deutlich  zu  machen:  es  geht 
nicht  an,  in  der  Art  der  L. sehen  Untersuchung  das  Material  aus  den  verschiedenen 
Jahrhunderten  zu  mischen,  Beobachtungen  aus  der  Sphäre  der  französischen  Literatur 
durch  Hinweise  auf  ähnliche  Einzelzüge  in  deutschen  und  italienischen  Dichtungen  zu 
stützen.  Geistliches  und  Weltliches  durcheinander  zu  beobachten,  Gesten  der  Lyrik,  der 
Epik,  der  bildenden  Künste,  des  Theaters  ohne  Rücksicht  auf  ihre  besonderen  künst- 
lerischen Daseinsbedingungen  nebeneinander  zu  stellen.  Die  Grundlage  für  die  Ermitt- 
lung der  wirklichen  Gesten  einer  Periode  wird  nur  eine  chronologisch  geordnete  Sammlung 
von  Gebärdenanführungen  aus  zeitgenössischen  Werken  sein  können,  die  völlig  außerhalb 
der  künstlerischen,  ja  womöglich  irgend  welcher  schriftstellerischen  Tradition  stehen.  Erst 
zur  Ergänzung  dieses  gewiß  sehr  kärglichen  Materials  dürften  dann  auch  die  Gebärden 
aus  der  Kunstsphäre  dienen,  soweit  sie  unter  Berücksichtigung  aller  durch  die  Eigenheit 
des  jeweiligen  Kunstzweiges  und  seiner  Entwicklung  gegebenen  Gebundenheit  als  Er- 
gebnisse lebendiger  Gegenwartsbeobachtungen  betrachtet  werden  können.  An  den  gleichen 
methodischen  Grundgebrechen  wie  die  L.sche  Arbeit  leidet  die  einzige  Vorgängerin,  die 
sie  gehabt  hat:  C.  Sittls  Buch  „Die  Gebärden  der  Griechen  und  Römer"  (Leipzig  1890), 
das  sich  die  Aufgabe  stellt,  die  tatsächliche  Gestik  des  Altertums  besonders  durch  eine 
auf  jede  Scheidung  verzichtende  Behandlung  des  aus  den  verschiedenartigsten  Werken 
geholten  Materials  lebendig  zu  machen.  Einem  entsprechenden  Ziel  für  das  germa- 
nische Mittelalter  streben  die  oben  gegebenen  Auseinandersetzungen  in  keiner  Weise 
zu;  sie  bleiben  durchaus  in  der  Sphäre  der  Kunst;  hier  aber  bemühen  sie  sich  um  jene 
reinliche  Scheidung,  so  daß  z.  B.  in  dem  zunächst  gebotenen  Abschnitt  über  die  Gestik 
der  weltlichen  Erzählung  des  deutschen  Mittelalters  jeder  Versuchung  aus  dem  Wege 
gegangen  ist,  auch  nur  die  Gebärden  der  mhd.  Lyrik  mit  einzubeziehen.  —  Es  darf 
hier  ferner-  wohl  betont  werden,  daß  der  Zweck  der  Darstellung  nur  der  ist,  die  Ent- 
wicklung des  Gebärdenlebens  zu  zeigen,  so  wie  es  in  der  mhd.  Epik  in  die  Er- 
scheinung tritt,  unter  Verzicht  darauf,  die  nicht  ganz  unterlassenen  Bemühungen 
um  Erkenntnis  des  Verhältnisses  einiger  Dichter  zur  Gestik  ihrer  Vorlage  bis  zu  einer 
wirklich  systematischen  Beräcksichtigung  der  Quellenfrage  auszudehnen.  Unser  Material 
ist  natürlich  nicht  absolut  vollständig,  aber  der  größte  TeU  der  leicht  zugänglichen  Texte 
ist,  zumal  für  die  ältere  Zeit,  in  bezug  auf  die  Gestik  durchgearbeitet.  Einige  Angaben 
über  die  Gesten  des  Zeremonialgebietes  bei  Alwin  Schulz:  „Das  höfische  Leben  zur 
Zeit  der  Minnesinger"  I,  S.  425,  460,  521,  578,  638;  gelegentliche  Bemerkungen  auch 
sonst  in  Einleitungen  und  andern  Einzelarbeiten. 

12* 


;[§Q  Die  Gesten  der  weltlichen  Epos  in  Deutsehland. 

Gebärde  in  Gipfelmomenten  des  alten  Heldenliedes  findet,  so  etwas 
wie  eine  Tendenz  erkennen,  die  Geste  in  großen  entscheidenden 
Situationen  eher  als  sonst  erscheinen  zu  lassen.  Aber  der  spiel- 
männisch-epische  Stil  und  späterhin  der  Einfluß  des  höfischen 
Erzählertons  verwischen  diesen  Unterschied  sehr  bald.  Es  bildet 
sich  nun  innerhalb  der  epischen  Tradition  allmählich  eine  feste 
Typik  des  Seelenausdrucks.  Diese  umfaßt  vor  allem  das  große 
Gebiet  der  zeremoniellen  Bewegung:  Gruß,  Bewillkommnung, 
Abschied,  Ehrerbietung,  Höflichkeit,  gesellschaftliche  Liebenswürdig- 
keit, Galanterie,  —  alles  was  zum  äußeren  Bilde  des  höfischen 
Lebens  gehört,  hat  seinen  bestimmten  körperlichen  Ausdruck. 
Typisch  sind  von  Anfang  an  auch  die  Gebärden  gottesdiensthchen 
Charakters  und  ebenso  die,  die  zur  Sphäre  des  Rechtslebens  ge- 
hören und  nicht  mehr  unmittelbaren  Seelenausdruck  bieten:  z.  B.  Ge- 
bärden des  Versprechens,  der  Sühne,  des  Eides ;  ähnlich  fest  ge- 
ordnet die  Gebärden  ritterlicher  Kampfsitte.  Beinahe  formelhaft 
in  diesem  Sinn  ist  auch  eine  Gebärde,  die  in  der  Darstellung  großer 
Erregung  als  Geste  der  Fürbitte  und  des  Dankes  (besonders  etwa 
für  Rettung  aus  Lebensgefahr)  immer  wiederkehrt :  das  ze  viioze 
valn,  sich  ze  viiozen  bieten^  das  freilich  auch  als  Zeichen  der  Unter- 
werfung vorhanden  ist  i). 

Aber  auch  für  eine  Reihe  von  Gesten  des  unmittelbaren  Seelen- 
ausdrucks hat  sich  in  der  epischen  Tradition  ein  Bestand  ausgebildet. 
Freude,  Schmerz,  Trauer  (eine  besondere  Rolle  spielt  hier  der  Ge- 
bärdenausdruck der  Totenklage),  Spott,  Mitleid,  Staunen,  Neugier, 
Zorn,  Angst,  Sehnsucht,  Begehren,  Liebe  u.  a.  haben  immer  wieder- 
kehrende Gesten  zu  Begleitern.  Man  kann  wohl  sagen :  die  Ge- 
bärdensprache der  Epik  als  Ganzes  genommen  hat  eine  Neigung 
zum  Typischen,  so  wenig  man  wird  behaupten  dürfen,  daß  eine 
so  vielseitig  ausgebildete,  durch  so  lange  Zeit  sich  erstreckende, 
von  so  verschiedenen  Individualitäten  und  Schulen  gehandhabte 
Kunst  in  einem  ihrer  Ausdrucksmittel  sich  völlig  im  Typischen  er- 
schöpfe ;  jedenfalls  ist  der  Zug  zum  Typisieren  in  seiner  Gesamt- 
heit stärker  als  alle  individualisierenden  Regungen.  Und  unserer 
Betrachtung  muß  es  notwendigerweise  mehr  darauf  ankommen,  das 
Bild  dieses  typischen  Bestandes  und  seiner  Entwicklung  in  den 
Hauptzügen  zu  erkennen  als  daran,  dem  Individuellen  nachzuspüren, 


1)  In  der  späteren  höfischen  Epik  knüpfen  die  Dichter  hieran  gern  ein  Motiv,  das 
die  hövescheit  des  Helden  ins  Licht  setzt :  eine  Frau  will  so  dem  Ritter  danken,  wird  aber 
von  ihm  daran  gehindert.  Wie  sehr  diese  Gebärde  eben  als  t\n)ische  Bittgeste  empfunden 
wird,  mag  eine  Stelle  aus  dem  Iwein  dartun  (beim  Wiedersehen  zwischen  Iwein  und 
Laudine,  v.   8041  ff.) : 

vnd  In   dem  ersten  f/riioze 

viel  er  ir  ze  vuoze 

und  e  n  h  e  t  e  doch  de  he  i  ne  bete. 


Der  Gebärdenstil  der  vorritterlichen  welllichen  Erzählung.  löl 

das  neben  dem  Typischen  und  zwar  besonders  in  bedeutenden  und 
selbständigen  Werken  vorhanden  ist. 

Wir  müssen  versuchen,  das  Material  in  zeitlicher  Folge  zu 
überblicken.  Die  vorhöfische  Epik  gibt  ein  anderes  Bild  als  die 
Epik  der  klassischen  Zeit  und  die  von  ihren  Werken  abhängige 
ritterliche  Epigonendichtung.  Diespielmännische  Erzählung  wiederum 
ist  auch  was  die  Gestik  anlangt  von  der  ritterlichen  in  gewisser 
Hinsicht  zu  trennen  und  bietet  auch  ihrerseits  im  12.  Jahrhundert 
ein  etwas  anderes  Bild  als  nach  ihrer  Beeinflussung  durch  das 
ritterliche  Epos.  Nach  der  Zeichnung  dieses  Bildes  sollen  das  späteste 
Nachleben  der  ritterlichen  Erzählung  in  den  Prosaauflösungen  des 
15.  Jahrhunderts  und  die  im  Äußerlichen  noch  so  vielfach  von  der 
höfischen  Motiv-  und  Formtradition  abhängige  allegorische  Epik 
hinsichtlich  ihrer  Gebärdensprache  herangezogen  werden ,  und  den 
Schluß  macht  die  neue  bürgerliche  Verserzählung,  die  sich  an  das 
städtische  Publikum  wendet  und  auf  den  tieferen  geistigen  Zu- 
sammenhang mit  der  Tradition  des  ritterlichen  Epos  im  allgemeinen 
ganz  verzichtet. 

Den  Gebärdenstil  der  vorritterlichen  weltlichen  Erzählung  als 
Einheit  zusammenzufassen,  läßt  sich  nur  rechtfertigen,  wenn  man 
ihn  gegen  den  Stil  des  ritterlichen  Epos  der  klassischen  Jahrzehnte 
halten  will.  Wohl  erscheint  auch  sonst  allerlei  den  verschiedenen 
Denkmälern  Gemeinsames,  das  die  spielmännische  Erzählweise,  die 
geistliche  Haltung  oder  die  mehr  chronistenmäßige  Tendenz  jedes- 
mal in  die  Gebärdenschilderung  hineinbringen.  Von  der  vereinheit- 
hchenden  Gewalt  des  ritterlich-höfischen  Ideals  ist  aber  nicht  die 
Rede.  Man  kann  das  Rolandslied  mit  seiner  vielfältigen  Geberdung  '), 
in  der  die  hie  und  da  noch  gesteigerte  Lebhaftigkeit  altfranzösischer 
Heldendichtung  mit  dem  stark  aufgetragenen  geistlichen  Element  der 
Bearbeitung  sich  mischt,  wohl  scheiden  von  dem  gebärdenarmen 
xVlexanderlied  ;  der  Rother  steht  in  der  Mitte,  was  die  Anzahl  der 
Gebärden  betrifft,  er  betont  einzelne  bedeutende  Szenen  durch  ein- 
prägsame   Gebärden    und    zeigt    im    übrigen    neben    einem    etwas 


1)  Viele  Beispiele  für  das  vorhandene  Streben  nach  lebhaftem,  eindringlichem,  detail- 
iertem  Ausdruck  der  Affekte  ließen  sich  anführen.  Wie  individuell  etwa  geben  sich  Rolands 
zorniger  Schmerz  um  Olivier  imd  Geneluns  Wut  und  Angst  bei  der  Entsendung ;  besonders 
gebärden  sich  die  Heidenfürsten  in  Freude  und  Angst  fast  grotesk  lebendig,  so  Blanscandiz 
in  der  Stimmung  befriedigter  Rache  (v.  1898  ff.)  und  Marsilie  (v.  2052  ff.): 

Marsilies  al  umbe  warte. 

er  erbleih  te  harte. 

er  wan  manegen  angestlichen  geihanc. 

er  gesaz  käme  üf  thie  banc. 

ime  wart  kalt  iinde  heiz, 

harte  miiote  in  ther  sweiz. 

thaz  hoiibet  wegete  er. 

er  spranc  hine  unde  here. 


^g2  t)ei'  Gebärdenstil  der  vorritterlichen  weltliclien  Erzählung. 

stärkeren  Anteil  an  der  Zeremonialgebärde  Gesten,  die  die  ein- 
fachen, in  den  Brautwerbungsgedichten  spielmännischen  Charakters 
typischen  Seelenregungen  begleiten  i).  Sieht  man  von  solchen  und 
ähnlichen  Unterschieden  aber  ab,  so  läßt  sich  behaupten :  trotz  der 
verschiedenen  Gesamthaltung  ist  ein  nicht  kleiner  Teil  des  Gesten- 
bestandes, mit  dem  später  das  klassische  Epos  schaltet,  in  der  vor- 
ritterlichen Dichtung  schon  vorhanden. 

Eine  besondere  Rolle  spielen  von  Anfang  an  die  Totenklagen, 
und  sie  sollen  deshalb  —  während  wir  sonst  von  der  Art  der  Ge- 
bärden, nicht  von  der  Gelegenheit  ihrer  Anwendung  ausgehen  — 
mit  ahen  in  ihnen  gebräuchlichen  Gesten  eine  gesonderte  Behand- 
lung finden.  In  diesen  Szenen  entwickeln  sich  die  Schmerzgebärden, 
an  sie  bleiben  sie  in  ihrer  energischen  Entfaltung  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grad  gebunden.  Gebräuchlich  sind  heftiges  Weinen  und 
lautes  Klagen  und  Schreien :  michel  imiofen  —  weinen  iinde 
niofen.  Man  windet  die  Hände,  schlägt  die  Hände  zusammen, 
schlägt  die  Brust,  rauft  das  Haar  und  den  Bart,  wirft  sich 
bei  der  Leiche  zur  Erde  oder  über  den  Toten  und  liebkost  ihn. 
Beim  Tode  des  edeln  Gefährten  geziemt  auch  den  fürstlichen 
Recken  der  laute,  heftige  Jammer,  so  wenig  wehleidig  sie  im 
ganzen  sind.  Neben  den  Totenklagen  kommen  für  die  lauten,  ent- 
schiedenen Ausbrüche  der  Trauer  in  zweiter  Reihe  die  Abschieds- 
szenen in  Betracht.  Die  Mannen  Geneluns  (um  aus  dem  Rolandslied 
nur  eine  Stelle  anzuführen,  die  alle  Register  zieht)  gebaren  sich 
beim  Abschied  ähnlich  wie  bei  der  Totenklage :  sie  vielen  zuo  there 
eithen,  thaz  här  brächen  sie  üz  there  swarte,  sie  imioften  alle  harte 
(v.  1733  ff.). 

Aber  auch  sonst  fehlt  es  nicht  an  heftigem  Ausdruck  des  Affekts. 
Mit  weinin  iinde  hantslagin  begleiten  die  Frauen  im  Rother  die 
Entführung  der  Königstochter ;  ausführlich  zählt  das  Alexanderlied 
das  Weinen  und  Klagen  der  Perser  bei  der  Nachricht  von  der 
Niederlage  auf.  Das  Gefolge  und  das  Volk  sind  im  allgemeinen 
viel  klagereicher  als  der  Fürst,  der,  wie  König  Rother,  sogar  in  der 
Sorge  um  seine  Dienstmannen  durch  stumme  Gehaltenheit  charak- 
terisiert wird  ;  aber  bei  großer  Gelegenheit,  vor  allem  eben  in  der 
Sorge  um  die  Getreuen,  darf  auch  er  fassungslos  sein,  so  wie  Ro- 
land mitten  in  der  Schlacht,  wenn  auch  die  Stärke  der  Klage  immer 
nur  die  Kraft  der  Rache  verkündet.  König  Constantin,  der  freilich 
nicht  gerade  auf  besondere  Würde  Anspruch  hat,  weint  beim  Ver- 
lust der  Tochter  und  fällt  in  lange  dauernde  Ohnmacht ;  aber  auch 
König  Karl  sitzt  in  der  Sorge,  die  dem  rfche  geziemt,  in  der  typi- 

1)  Oswald  und  Grendel,  die  bei  größerer  Neigung  zur  Formel  und  kunstloseren  Er- 
zählung dem  Rothertypus  nahestehen,  wurden  verglichen,  aber  wegen  der  schwierigen 
Überlieferungsverhältnisse  zu  Beispielen  nicht  herangezogen.  In  den  Teilen  geistlichen 
Charakters  hat  auch  in  diesen    Gedichten  die  Gebärde    den  Typus   der   geistlichen  Poesie. 


Der  Gebänlenslil  der  vorritterlichen  weltlichen  Erzählung.  |83 

sehen  Position  des  Sinnenden  und  Sorgenvollen  :  eine  üf  eineme 
marmelsteine,  er  thähte  in  manigem  ende,  zesamene  sluoc  er  thie  hende. 
Er,  der  bei  anderer  Gelegenheit  als  der  Beherrschte  charakterisiert 
wird  '),  benimmt  sich  in  der  Sorge  um  Roland  und  die  Paladine 
unbändig  (v.  6075  ff.)  und  muß  sich  von  Genelun  zurechtweisen  lassen 
(thise  ungebäre  gezimet  niht  theme  riche).  Bei  der  Kunde  von 
Rolands  Tod  weint  er  Blut.  Darius  wirft  sich  in  der  Verzweiflung 
klagend  üf  sinen  estrich :  diese  ältere  Gebärde,  die  auch  Angst  kund 
tun  kann,  ist  in  der  früheren  Dichtung  neben  dem  passiven  Hin- 
sinken in  die  Ohnmacht  häufiger  als  in  der  späteren.  Die  heftigen 
Bewegungen  des  ganzen  Körpers  begleiten  nicht  nur  Schmerz  und 
Angst,  sondern  auch  Zorn,  Freude,  Erregung :  man  springt  vom 
Sitz  auf,  dringt  lebhaft  vorwärts,  bewegt  sich  in  Unruhe.  Die  Mannen 
König  Rothers  überspringen  in  der  Wiedersehensfreude  die  Bänke 
(wohl  ein  alter  Sagenzug),  heftig  erschrocken  zuckt  die  Königs- 
tochter ihren  Fuß  von  den  Knien  des  Königs.  Das  Aufstehen 
ist  wohl  auch  schon  zeremonielle  Gebärde  (der  Redende  in  der 
Versammlung  erhebt  sich,  der  Wirt  ehrt  nicht  nur  durch  Auf- 
stehen, sondern  auch  durch  Entgegengehen  die  Gäste),  aber  stärker 
ist  doch  der  emotionelle  Charakter.  Häufig  läßt  der  Freudige  sein 
Roß  in  Sprüngen  gehen,  wobei  die  Reimformeln  wie  springen: 
singen  verstärkend  mitwirken. 

Niederknien  ist  gebräuchlich  als  Bitt-  und  Betgebärde,  wo 
nicht,  wie  sehr  häufig,  als  stärkste  Geste  des  Gebets  das  Zuboden- 
fallen  oder  im  christlichen  Ritus  das  in  criuzestal  valn  erfolgt,  — 
namentlich  im  Rolandslied  wird  in  jeder  Lebenssituation  auf  den 
Knien  und  unter  Tränen  gebetet;  aber  auch  vor  dem  Fürsten  kniet 
der  fremde  Gast,  der  ein  Anliegen  hat,  kniet  der  Bote.  Nicht  immer: 
das  nigen  ist  bereits  für  solche  Fälle,  auch  als  Dankgeste  im  Ge- 
brauch, hat  aber  die  stärkere  Gruß-  und  Ehrfurchtsgebärde  noch 
bei  weitem  nicht  so  verdrängt  wie  in  der  klassischen  Ritterdichtung, 
da  der  König  primus  inter  pares  ist.  Dasitzen  ist  und  bleibt  Pose 
des  Sinnens,  Nachdenkens  und  besonders  der  Trauer;  häufig  aber 
(noch  häufiger  als  später)  begegnet  auch  das  nidersitzen  in  Schmerz 
und  Unmut  als  heftige  momentane  Geste.  Sich-Umwenden  ist  Gebärde 
des  Unmuts,  des  Ärgers;  zum  Zeichen  der  Verachtung  wirft  man 
Dinge  auf  den  Boden  und  tritt  auf  sie.  In  der  Wut  stampft  Riese 
Asprian  die  Füße  tief  in  den  Boden,  Riese  Widolt  beißt  in  die 
Stange  —  das  sind  freilich  vereinzelte  Züge. 


1)  Getruobet  was  thaz  sin  gemuote:  iethoh  vertniocjen  iz  sine  michele  guote,  thazersih 
niht  erzeigete.  thaz  houbet  er  nither  neigete  (v.  1049  ff.).  Das  hier  und  sonst  öfter  in 
der  Dichtung  des  12.  Jahrhunderts  gezeichnete  Sitzen  mit  geneigtem  Haupt  deutet  nicht 
nur  die  Selbstbeherrschung,  sondern  auch  das  Sinnen  vor  dem  Entschluß  an;  vgl.  auch 
Lommatzsch  S.  51  ff.     Nach  gefaßtem  Entschluß  wird  dann  das  Haupt  aufgerichtet. 


;[§4  Der  Gebärdenstil  der  vorritterlichen  weltlichen  Erzählung. 

Händewinden  und  Handschlagen  erwähnten  wir  als  Schmerz- 
gebärde. Das  Umarmen,  meist  mit  dem  Kuß  zugleich  genannt, 
hat  vielfache  Bedeutung,  aber  noch  keineswegs  so  oft  die  erotische 
wie  in  der  Dichtung,  die  unter  dem  Zeichen  des  Minnedienstes 
steht,  oder  die  zeremonielle,  die  dann  die  Schilderung  der  höfischen 
Kultur  fordern  wird.  Mit  armen  umbesUezen,  umbesweifen, 
iimbevän,  ziio  sich  gevän  und  kiizzen  sind  öfter  Gesten  der  Huld 
(der  Fürst  küßt  den  Vasallen  bei  der  Belehnung),  der  Versöhnung, 
des  Bündnisses,  des  Dankes,  der  Wiedersehensfreude,  des  Abschieds- 
schmerzes. 

Neben  den  starken  und  gleichsam  weithin  sichtbaren  Gebärden 
des  ganzen  Körpers  und  seiner  Glieder  bedeuten  die  leiseren  Be- 
wegungen: das  Hauptneigen  z.  B.  und  die  stille  Handgeste  noch 
nicht  annähernd  so  viel  wie  später.  Die  Hand,  die  eine  andere 
ergreift  oder  sich  ausstreckt,  bietet  Frieden,  Schutz,  Bündnis,  Freund- 
schaft, Geleit,  wohl  auch  Verzeihung;  aber  weder  als  Mittel  des 
Verkehrs  zwischen  Liebenden  und  Freunden  noch  als  Trägerin 
rein  gesellschaftlicher  Gebärde  hat  sie  schon  die  Wichtigkeit  wie 
in  der  späteren  Zeit.  Die  Hand  hebt  sich  im  Gelöbnis,  eine  Hand 
oder  auch  beide  strecken  sich  in  der  Orantengeste  zu  Gott;  selten 
ist  das  Händefalten  oder  gar  das  klagende  Aufrecken  der  Hände. 
Das  sich  segnen  mit  dem  Kreuzeszeichen  kommt  als  religiöse  Ge- 
bärde vor,  noch  nicht  als  Geste  des  Schreckens  nnd  der  Verwun- 
derung. 

Neben  dem  starken  motorischen  steht  der  lebhafte  akustische 
Ausdruck;  nicht  allein  beim  typischen  Klagegeschrei,  auch  sonst 
spannt  sich  in  Schmerz  und  Angst  die  Stimme  mächtig  an;  der  gewal- 
tige Klang-  solcher  Klagerufe  wird  gern  durch  den  Hinweis  auf  ihre 
Kraft  in  die  Ferne  zu  dringen  und  ähnliche  stehende  Wendungen  her- 
vorgehoben. Charakteristische  Zornlaute  sind :  grimmen  als  daz  mere 
(Alexander),  bremin  alse  ein  bere  (Rother).  Die  Verwandlung  der 
Stimme  im  Affekt  wird  erwähnt:  Furcht  ist  in  der  Stimme.  Das 
Lachen  begleitet  Freude  und  Spott');  das  Seufzen  tritt  noch  ganz 
zurück. 

Bei  weitem  noch  nicht  das  Gleiche  wie  in  der  höfischen  Epik 
bedeutet  das  Mienenspiel;  es  ist  einfach  und  typisch.  Die  Mimik 
der  ganzen  deutschen  Epik  des  Mittelalters  verteilt  sich  beinahe 
vollständig  auf  die  Rubriken:  Farbewechsel,  Lächeln,  Weinen, 
Bhck.  Aber  gerade  in  der  Art,  wie  diese  Mienen  für  die  einzelnen 
psychischen  Vorgänge  verwendet  werden,  liegt  die  Kunst  der  spä- 
teren Epik,  die  es  mit  dem  Minnesang  gemein  hat,  allen  zarten  Seelen- 


1)  Ob  hörbares  oder  sichtbares  Lachen  gemeint  ist,  läßt  sicii  oft  so  wenig  fest- 
stellen, wie  ob  es  sich  bei  dem  scre,  (jrnzltclie,  heize  iveiiieit  um  Schluchzen  oder  Tränen 
handelt. 


Der  Gebärdenstil  der  vorritterlicheii  und  der  klassischen  Epik.  180 

regungen  grüblerisch  nachzuspüren.  Wie  die  zeremoniellen  Gesten 
sind  auch  die  Vorgänge  im  Gesicht  schon  vorher  gekennzeichnet, 
aber  ebenfalls  nur  keimhaft  und  in  begrenzter  Anwendung.  Man 
wird  rot  oder  auch  rot  und  blaß  in  der  Scham.  Man  erbleicht  in 
Kummer  und  Angst;  selten  ist  das  Erbleichen  und  Erröten  im  Zorn. 
Von  dem  Farbewechsel  als  Symptom  der  Liebe  ist  erst  an  der 
Grenze  der  höfischen  Epik  die  Rede.  Das  Lächeln,  smielen,  er- 
smielen,  bezeichnet  Spott,  listige  Gesinnung,  auch  gütige  Freund- 
lichkeit. Der  Blick  zum  Himmel  bedeutet  Andacht,  das  Niederblicken 
Sinnen  vor  dem  Entschluß,  Sichabschließen  von  der  Umw^elt,  auch 
Trauer.  Auf-  und  Umblick  begleiten  Entschluß,  Schreck  und  Angst, 
gegenseitiges  Ansehen  weist  auf  Verlegenheit,  Scheidenden  sieht 
man  traurig  nach.  Man  blickt  zornec,  trürec;  vreissam  sind  die 
Blicke  der  Kämpfenden.  Der  Wutblick  gleicht  dem  des  Wolfes, 
dem  Wütenden  viiiren  die  Augen.  Der  Blick  also  bedeutet  Ver- 
sonnenheit, Verwegenheit,  Trauer,  Kampfzorn,  Wut,  Entschlossen- 
heit, Furcht,  Andacht. 

Das  Weinen,  dieses  so  wichtige  Ausdrucksmittel  aller  mittel- 
alterlichen Epik,  hat  zw^ar  aus  verschiedenen  Gründen  mehr 
Spielraum  als  später  in  der  durch  gesellschaftliche  Kultur  gekenn- 
zeichneten Welt,  hat  aber  doch  sein  volles  Herrschaftsgebiet  noch 
nicht  durchmessen:  es  begleitet  Schmerz,  Trauer,  Angst,  Andacht, 
Rührung,  Mitgefühl,  aber  noch  selten  Zorn,  Freude,  Zärtlichkeit, 
Scham  und  Sehnsucht, 

Die  klassische  Epik,  von  der  wir  nun  zu  reden  haben,  schafft 
nicht  etwa  einen  völlig  neuen  Gebärdenschatz.  Es  handelt  sich, 
sieht  man  auf  das  Einzelne,  nur  um  Bereicherungen,  Modifikationen, 
neue  verfeinerte  Verwendungen  des  schon  Bekannten.  Aber  w'as 
den  großen  Unterschied  ausmacht,  lehrt  wieder  nur  ein  Blick  auf 
das  Ganze  der  Mimik  und  Gestik.  Sie  sind,  soweit  sie  nicht  als 
Einzelausdruck  erscheinen,  sondern  in  ihrer  Gesamtheit  ein  Stück 
menschlicher  Haltung  darstellen,  in  dieser  formgesinnten  Welt 
durchaus  symbohvertig:  in  ihnen  besonders  haben  wir  das  Symptom 
dafür,  daß  eine  Standesdichtung  die  Erhöhung  ihres  Wesens,  ihr 
Wunschbild  poetisch  zu  gestalten  sucht  und  die  Menschen  sich 
gebärden  läßt  als  man  sol.  Die  Grenzen  zwischen  den  Gebärden 
und  Mienen,  die  einen  momentanen  Gefühlsausdruck  bieten,  und 
denen,  die  vorschriftsmäßige  Haltung  darstellen,  verfließt  vielfach  '), 
und  die  Leichtigkeit,  mit  der  eines  ins  andere  übergeht,  ist  gerade 
der  Ausdruck  flu*  die  innere  Stilsicherheit  der  dargestellten  Welt. 
Ein  Zug  zum  Gewählten  und  Gleichmäßigen  ist  in   dieser  Gestik; 


1)  über  den  didaktischen  Wert,  den  in  solchem  Sinne  die  Gebärde  der  klassischen 
Dichtung,  besonders  auch  für  die  Epigonen  hat,  vgl.  J.  Petersen,  Das  Rittertum  in  der 
Darstelhmg  des  Johannes  Rothe.     Straßburg  1909.  S.   l-44f. 


;[gg  Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik. 

das  Prinzip  der  Exklusivität,  auf  dem  der  Stil  der  Dichtung  ruht, 
ist  auch  das  Charakteristikum  ihrer  Gebärdensprache.  In  dieselbe 
Richtung  wie  dieses  kulturell-ästhetische  wirkt  auch  ein  rein  lite- 
rarisches Element:  die  relative  Gleichmäßigkeit  der  immer  wieder 
vorkommenden  Situationen. 

Heinrich  von  Veldeke  steht,  trotz  der  großen  Symptomschilde- 
rung der  erotischen  Bewegtheit  in  seiner  Gestik  hie  und  da  noch 
der  unkomphziert-deutlichen  Art  älterer  Epik  näher,  wenngleich 
er  an  seinem  etwas  jüngeren  Zeitgenossen  Eilhart  gemessen  in  der- 
selben Hinsicht  als  ein  Moderner  erscheint.  Eilhart  bezeichnet  so 
recht  den  Übergang  gerade  in  bezug  auf  die  Hauptpunkte :  zeremoni- 
nielle  Geste,  Mienenspiel,  unwillkürlichen  Ausdruck.  Das  Alte  ist  bei 
ihm  neben  den  neuen  Tendenzen  noch  fühlbar  i).  Hartmann  ist  im 
sicheren  Besitz  der  neuen  Gebärdentypik,  nicht  gerade  um  ein 
individuelles  Sehen  bemüht.  Gottfried  aber  läßt  alles  seelisch  Be- 
sondere und  Feine  seiner  Menschen  sich  im  zart  beobachteten  Aus- 
druck einer  veredelten  Körperlichkeit  widerspiegeln,  beinahe  so 
sicher  wie  die  Gesellschaftssprache  seiner  Menschen  allen  Biegungen 
ihrer  Seelen  nachzukommen  vermag.  Wolfram  wiederum  frappiert 
an  manchen  Stellen  durch  die  mimische  Einfühlung,  mit  der  er 
eine  bekannte  Gebärde  aus  dem  lebendigsten  Körpergefühl  vor  uns 
neu  erstehen  läßf-^).  Und  es  fehlt  bei  allen  großen  Epikern  nicht 
an  einzelnen  Gesten,  die  aus  dem  Rahmen  des  Typischen  heraus- 
fallen; zu  einer  die  Personen  unterscheidenden  Charakteristik 
durch  Gebärden  kommt  es  aber  nicht.  Auch  das  Originelle  in 
den  bekannten  Situationen  bleibt  doch  innerhalb  der  Wesens- 
äußerung, die  dem  Ritterlichen  gemäß  ist. 

Und  das  gilt  nicht  nur  für  die  Dichter,  die  die  neue  Lebens- 
haltung vor  allem  als  ästhetischen  Wert,  nach  der  Schönheit  ihrer 
Form  erlebt  haben.  Auch  derjenige,  der  sie  zuerst  in  ihrer  Kraft,  dem 


1)  Eine  Angabe  wie  die  etwas  groteske  über  die  Blässe  des  Kehenis  (v.  6799  ff.)  mag 
als  Beispiel  dienen. 

2)  Die  Unruhe  des  Sehnsüchtigen  auf  dem  nächtlichen  Lager  gab  auch  schon  Vel- 
deke. Wolfram  läßt  Gahmuret  sich  in  der  Nacht  im  Begehr  nach  strit  und  miiine  um- 
herwerfen (35,  23 ff.): 

er  want  sich  dicke  als  ein  wit, 

daz  im  kmcheten  diu  lit, 

strit  und  minne  was  sin  ger; 
die  Begierde  dehnt  dem  Recken  die  Brust,  so   diu  senewe  tuot  daz  annbrust.     Ähnliches 
auch  bei  Gawan:    v.    587,  23 f.;    vgl.    auch  118,  17.     Eine    ganz  originelle  unwillkürliche 
Bewegung  hat  Gahmuret  beim  Anblick  Herzeloydes,  der  übermütig  das  Bein  auf  den  Hals 
des  Pferdes  gelegt  (s.  Lommatzsch  a.  a.  0.  S.  37)  einherreitet  (64,  4  ff) : 

vom  dem  liehten  schine, 

der  von  der  künef/in  erschein, 

zucte  inj  neben  sich  sin  bein: 

(if  rillte  sich  der  degen  wert 

als  ein  vederspil,  daz  gert. 


Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epi4\.  ^^^7 

Dasein  Form  zu  geben,  erlebt,  als  die  Macht,  das  Leben  heroisch- 
selbsttätig zu  gestalten:  gerade  Wolfram  weiß  ganz  sicher,  daß  nur 
die  angeborene  edle  „Art"  und  die  Zugehörigkeit  zu  einer  in  sich 
gebundenen  Gesamtheit  es  ermöglichen,  solche  Forderungen  an  den 
Menschen  zu  stellen.  Darauf  beruht  trotz  aller  freien  Kritik  der 
Konvention  auch  sein  Individualismus,  der  die  große  Persönlichkeit 
alles  selbständig  durchkämpfen  läßt:  ein  Individuelles  der  Erhöhung, 
nicht  des  Andersseins.  Und  auch  innerhalb  des  ritterlich-klassischen 
Gebärdenspiels  zeigt  sich  dies:  selbst  da  wo  die  Gebärde  und 
Haltung  den  besonderen  Menschen  oder  die  Kraft  seiner  Leiden- 
schaften hervorheben  sollen,  erhöhen  sie  mehr  als  daß  sie  ab- 
sondern. 

Wie  das  Streben  nach  Gleichmaß '),  Schönheit  und  Idealität 
gerade  den  leiblichen  Ausdruck  in  dieser  Dichtung  einer  Kultur 
dämpft,  die  auf  dem  leiblichen  Menschen  beruht,  ist  besonders 
an  einzelnen  Symptonen  schon  öfter  bemerkt  worden.  Man 
hat  beobachtet,  daß  lautes  Schreien  und  Weinen  den  Haupt- 
helden nicht  anständig,  bei  körperlichem  Schmerz  völlig  verpönt 
ist,  daß  Hartmann  hierin  besonders  streng  verfährt,  daß  er  (im 
Gregor)  das  Weinen  als  iinmanlich  bezeichnen  läßt.  Die  Stellen, 
die  vom  brechen  der  zuht  reden,  wenn  Mann  oder  Weib  sich  hef- 
tige Gebärden  gestatten,  sind  bekannt;  Weinen  vor  Angst  um  ein 
ohnmächtiges  Gefühl  des  Gekränktseins  wird  öfters  als  Sache  der 
Frauen  und  Kinder  bezeichnet,  die  sich  nicht  anders  zu  wehren 
verstünden.  Der  jugendliche  Held  darf  sich  gehen  lassen:  der 
Knabe  Tristan  weint  in  Angst,  der  junge  Parzival  weint,  als  ihm 
der  Vogelsang  ein  unerklärliches  Weh  erweckt,  er  w^eint  und  rauft 
das  Haar,  da  er  die  Vöglein  getötet  hat  —  der  Erwachsene  hört 
stumm  und  ohne  Klage  die  Botschaft  an,  die  ihn  von  Gott 
und  Glück  scheidet.  Die  Empfindung,  daß  der  Mensch,  der 
innere  Zucht  hat,  seinen  Schmerz  nicht  öffentlich  werden  läßt, 
ergibt  das  wirksame  Motiv,  daß  die  Tränen,  wenn  sie  dann 
doch  im  tiefsten  Schmerz  hervordringen,  nach  schamelicher  siie 
verhehlt  oder  auch  wohl  bekämpft  werden. 


1)  Wolfi-am  allerdings  überschreitet  dieses  Gleichmaß  bei  allen  möglichen  Gelegen- 
heiten, wo  eine  dichterische  Absicht  es  fordert,  ohne  Rücksicht  auf  den  Schönheitskanon 
seiner  Zeit.  Wohl  das  auffallendste  Beispiel  ist  das  Gebahren  der  schwangeren  Herze- 
loyde:  sie  umarmt  ihren  Leib,  der  Gahmurets  Kind  trägt,  kül3t  ihre  Brüste,  die  es  nähren 
sollen;  aber  auch  sonst  wird  der  leidenschaftlichen  Innerlichkeit  zuliet)e  die  Wohl- 
gefälligkeit der  Erscheinung  hintangesetzt:  die  traumgeängstigte  Herzeloyde  mufJ  zabeln 
linde  wiiofen ;  der  erzürnte  Parsival  ballt  seine  Faust : 

daz  daz  bluot  uzen  nagelen  schöz 
und  im  den  ermel  begdz; 
im  Leid  werden  einmal  die  Hände  so  gewunden: 

daz  sie  begunden  krachen 
als  die  dürren  spachen. 


jgg  Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik. 

Indessen,  starre  Regel  ist  die  Beherrschung  keineswegs ;  unbe- 
fangen wird  sie  durchbrochen,  wo  immer  andere  Motive  dem  Dichter 
wichtiger  sind :  etwa  der  Wunsch,  die  Liebe  zum  Fürsten  und 
Herrn  siclitbar  hervortreten  zu  lassen.  In  Tränen  freuen  sich 
die  Knappen  Gahmurets,  den  verloren  geglaubten  Herrn  wieder- 
zufinden, und  er  küßt  sie,  wie  Rother  und  Wolfdietrich  ihre 
Getreuen,  weinend  beklagen  die  Freunde  den  siechen  Tristan,  Marke 
und  sein  Hof  den  toten  Riwalin.  Auf  der  Gralsburg  tönt  die 
laute  Klage  von  Herren  und  Frauen ;  die  Knappen  der  Amphlise 
sind  im  Zorne  von  weinen  vil  nach  blint  und  so  fort.  Die 
Freunde,  das  Gefolge  und,  wo  es  vorkommt,  das  Volk  sind  auch 
hier  wieder  klage-  und  tränenreicher  als  der  Herr.  Typisch  sind 
die  Abschiedsszenen  mit  Weinen,  Umarmen,  Segnen  —  freilich  ist 
das  Weinen  und  Schluchzen  weitaus  am  häufigsten  bei  den  Frauen, 
aber  auch  ein  Trevizent  hat  Tränen  in  beiden  Augen  in  dem  Ge- 
danken an  Amfortas'  Leid,  Erec  weint  beim  Anblick  des  Jammers 
der  Frau,  deren  Mann  er  von  dem  Riesen  befreit,  Willehalm  weint 
um  die  gefallenen  magen  und  mannen.  So  sehr  die  Fähigkeit, 
den  Schmerz  zu  beherrschen,  zum  Begriff  der  manheit  gehört,  so 
sehr  ist  mit  dem  ritterhchen  Begriff  der  wipheit  die  bewegliche, 
dem  Ansturm  der  Gefühle  in  den  Grenzen  der  Anmut  nachgebende 
Haltung  verbunden.  Für  das  Weinen  gibt  es  zwar  überhaupt  eine 
Fülle  von  typischen  Wendungen,  und  die  Metaphern  für  die  Träne 
(ougen  regen,  herzen  saf  usw.j  beweisen  das  besondere  Interesse 
für  dies  Ausdrucksmittel,  aber  vor  allem  scheint  doch  die  leise 
weinende  Frau  ein  lieblicher  Anblick :  die  Dichter  lieben  es  be- 
sonders zu  zeigen,  wie  in  lichten  Frauenaugen  langsam  die  Tränen 
aufsteigen,  wie  sie  dann  über  die  Wangen  rollen  auf  die  Hände 
und  auf  den  Busen,  auf  das  Gewand  fallen;  ähnliche  Beschreibungen 
finden  sich,  wenn  auch  seltener,  für  das  Weinen  der  Männer,  Daß 
die  Tränen  jetzt  eine  weit  vielfältigere,  differenziertere  Bedeutung 
haben,  dafür  sorgt  die  neue  Rolle  der  Frau  in  der  Dichtung;  es 
zeigt  sich  aber  an  diesem  einen  Symptom  überhaupt  die  neue 
zarter  schattierte  Seelenverfassung  der  dargestellten  Menschen.  Das 
Weinen  begleitet  jetzt  nicht  mehr  nur  Schmerz,  Angst,  Mitleid,  An- 
dacht, sondern  häufig  auch  die  Freude.  Scham,  Zärtlichkeit,  Sehn- 
sucht, Rührung  und  jede  Art  innerer  Bewegung,  zuweilen  auch  der 
Zorn,  zumal  der  ohnmächtige,  werden  durch  Tränen  angezeigt. 

Eine  besondere  Stellung  nimmt  auch  noch  innerhalb  des  neuen 
Stils  die  Totenklage  ein.  Sie  steht  offenbar  in  einer  eigenen  Tra- 
dition. Hier  scheint  der  Mensch  sich  weit  unbefangener  als  sonst 
einem  Gefühlsausbruch  hingeben  zu  dürfen.  Nicht  nur  die  Frauen 
reißen  Haar,  Kleid  und  gebende,  schlagen  die  Brust,  schreien  und 
jammern  —  gelegentlich  wird  von  auch  Männern  die  Pflicht  der 
Totenklage    ähnlich    geübt.    Leidenschaftlich    wird    der   Tote    auf 


Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik.  ]^89 

Haupt  und  Hand  geküßt.  Aeneas  umklammert  die  Bahre  des  toten 
Pallas  und  muß  von  ihr  losgerissen  werden  ;  Pallas'  Vater  beklagt 
ihn  mit  Schreien  und  Brustschlagen.  Bei  Konrad  von  Würzburg 
und  andern  zerkratzt  sich  der  Trauernde  das  Gesicht  '). 

Auch  außerhalb  der  Totenklage  sind  Gebärden  des  ganzen 
Körpers  und  der  Glieder  als  Ausdruck  heftiger  Erregung  nicht  selten. 
So  das  Aufspringen  bei  Zorn,  Schreck  oder  Freude ;  auch  ein  Auf- 
fahren vor  Freude  und  ein  Freudensprung  kommen  vor,  aber 
ganz  vereinzelt.  Die  eigentlich  typische  Geste  überstarken 
Leidens,  Entsetzens,  ja  überhaupt  überwältigender  innerer  Be- 
wegung (vereinzelt  auch  der  Liebessehnsucht)  ist  das  Inohn- 
machtfallen.  Die  ganze  Körperhaltung  ist  oft  gefühlsbezeichnend: 
so  das  vermezzenliche  Reiten,  der  straffe  Sitz  zu  Pferde  für  Kampf- 
lust und  Jugendmut;  die  gebeugte  Haltung  für  Zagen  und  Trauer, 
ebenso  das  langsame  Gehen,  während  das  eilige  Gehen  frohe  Er- 
regung bezeichnen  kann.  Die  in  der  französischen  Epik  häufig 
erscheinende  Haltung  des  Reitens  mit  dem  eiteln  Blick  auf  die 
eigenen  Beine  kommt  im  Deutschen  nur  ganz  gelegentlich  und  spät 
vor:  im  Karlmeinet.  Das  heftige  Sichniedersetzen  ist  seltener  als  die 
ruhige  sinnende  Trauerpose,  findet  sich  aber  doch  —  das  unruhige 
Hinundherwerfen  wurde  schon  erwähnt ;  das  unruhige  Hinundher- 
gehen erscheint  als  Symptom  der  Sehnsucht.  Das  Sichumwenden  be- 
deutet Verachtung,  Verschmähen,  Unmut ;  dagegen  scheint  es  sich  in 
der  deutschen  Epik  der  klassischen  Zeit  nicht  zu  finden,  daß  jemand 
in  solcher  Stimmung  etwas  zu  Boden  wirft  und  mit  Füßen  tritt. 
Zurücktreten  erscheint  als  Zeichen  des  Überraschtseins,  Sichauf- 
recken als  Zeichen  des  Selbstgefühls.  Das  Niederknien  und 
das  Kreuzweisliegen  beim  Gebet  bleiben  durch  die  ganze 
Periode  hindurch  als  bekannte  Kultgesten,  erscheinen  aber  bei 
weitem  nicht  so  häufig  wie  in  Dichtungen  geistlichen  Charak- 
ters. Eine  Reihe  von  Gesten,  bei  denen  der  Körper,  die  Arme, 
die  Beine  in  Aktion  gesetzt  w^erden,  haben  durch  die  große 
Bedeutung  der  gesellschaftlichen  Sitte  zugenommen.  Fast  jede 
Begegnung  zwischen  Menschen  gleicher  gesellschaftlicher  Stufe 
wird  durch  ein  nigen  eröffnet  und  beschlossen ;  es  hieße  den  Rah- 
men dieser  Skizze  überschreiten,  wollten  wir  in  genauem  Nach- 
rechnen aller  Bedeutungsnuancen  dieses  nigens  aufführen,  das  üb- 
rigens auch  den  Dank  und  in  der  Wendung  nigen  üf  den  fiioz 
stärkere  Ehrerbietung  ausdrücken  kann.  Das  gesellschaftliche 
Niederknien,  durch  das  nigen  vielfach  eingeschränkt,  wird  ander- 
seits wieder  häufiger  durch  das  zeremonielle  Niederknien  beim  Tisch- 

1)  Manchmal  werden  einzelne  dieser  Gebärden  auch  außerhalb  der  eigentlichen 
Totenklagen  bei  Verzweiflung,  Zorn  und  Angst  angewendet,  aber  jedenfalls  weit  seltener 
in  der  klassischen  Epik  als  in  der  Heldendichtung  rein  spielmännischen  Charakters.  Bei 
Wolfram  zerkratzt  sich  z.  B.  Kingrimursel   in  der  Aufregung  Gesicht  und  Kopfhaut. 


^QQ  Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik. 

dienst  und  in  der  Situation  der  Unterwerfung.    Das  Aufstellen  und 
Aufspringen  vor  Höherstehenden,  besonders  zu  Ehren  der  Frauen 
und  zu  Ehren  der  Gäste  seitens  der  Wirte,  ist  bei  allen  Erzählern, 
die  vollendete  Sitte  schildern  wollen,  so  häufig,  daß  diese  Gebärde 
gegen  früher  eine  starke  Vermehrung  erfährt.     Das  Entgegengehen, 
das  umbevän,  zuo   sich   gevän,   mit  armen    umbesliezen   gehören 
ebenso   obligatorisch   zum  Begrüßungs-  und  Abschiedszeremoniell. 
Der  Kuß,   nicht  nur  seitens  des  Wirts,    sondern   auch  seitens  der 
Damen  des  Hauses  riteiiich  reht  Gleich-  und  Höherstehender,  ergibt 
ja  öfters  epische  Motive.     Die  neue  Bedeutung  von  Kuß  und  Um- 
armung ist  auch  durch  das  neue  Hauptmotiv  der  Minne  und  die  ver- 
feinernde  Behandlung  des   gefühlsmäßigen    Verhaltens  garantiert. 
Bei  der  Schilderung  der  Zärtlichkeit  wird  differenziert :   nicht  nur 
der  Mund,    auch  Wange,  Augen  und  Hände  werden  geküßt.     Der 
Huldigungskuß  auf  den  Fuß  erscheint  einige  Male  als  Zeichen  stärkster 
Dankbarkeit.     Die  Eltern  umarmen  und  küssen  die  Kinder,  Freunde 
und  Geschwister  einander  nach  langer  Trennung,  besonders  aber  bei 
schmerzlichem  Abschied,    der  Herr   küßt   zuweilen    das   ingesinde. 
Neben     solchen     meist    willkürlichen     Gebärden    des    ganzen 
Körpers  und  der  Glieder  wächst  aber  die  leise  und  mehr  unwillkür- 
liche Geste  zu   starker  Bedeutung  und  die  Gebärde,  die  nur  Kopf 
und  Hände  in  Bewegung  setzt.    Schon  bei  der  Ohnmacht  etwa  läßt 
es  sich  beobachten,  wie  der  neue  Stil  gern   stillere  Gebärden  aus- 
bildet.    Neben   dem   häufigen   in  ämaht  valn,  unversunnen   ligen, 
nidersigen  usw.,   wo  die  Bewegung  des  ganzen  Körpers  vorausge- 
setzt wird,  stehen  doch  auch  Beschreibungen  des  langsamen  Ver- 
lierens   der  Herrschaft  über   einzelne  Glieder,   des  Herunterfallens 
der  Hände,  des  Hauptes  etwa,  wo  also  mehr  die  rührende  Schwäche, 
die  innerliche  Gewalt  der  Gemütsbewegung  als  die  heftige  Emotion 
zum  Ausdruck  kommt.     Auch  das  kraftlose  Daliegen   ohne  völlige 
Bewußtlosigkeit  und  gewaltsames  Niederfallen  werden  geschildert. 
Ebenso  ein  Ruhigwerden  der  Umarmung :  neben  dem  Aneinander- 
drücken  der  Körper,  dem  an  sine  brüst  twingen  wird  auch  das  leise 
Aneinanderschmiegen  gezeigt.    Als  typisches  Symptom  des  Liebes- 
verlangens wie  der  Angst  erscheint  das  Zittern :  es  befällt  den  ganzen 
Körper,  versetzt   ihn   aber  eben  doch   nur  in   eine  ganz  leise  Be- 
wegung.    Es  paßt  zum  Ganzen,  daß  das  Erbeben  jetzt  auch  Zeichen 
der  Wut  wird.  Und  besonders  charakteristisch  für  den  inneren  Stil  der 
Gestik  ist  es,  daß  die  Bewegungslosigkeit,  das  Erstarren  im  großen 
Moment  jetzt  erst  den  vollen  Wert   erhält  als  Zeichen  der  tiefsten 
inneren  Ergriffenheit,  für  die  es  keine  Lösung  nach  außen  hin  gibt. 
Schon    Eilhart    kontrastiert    den    stummen    Schmerz    der    blonden 
Isolde   mit  dem  lauten  der  Isolde  Weißhand,  aber  erst  Gottfried  gibt 
durch    seine    beredte   Schilderung  dem   Jannner    der    regungslosen 
Blancheflur  volle  Bedeutsamkeit.     Bei  den  Epigonen  klingt  das  dann 


Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik.  191 

vielfach  nach.  Mehr  als  Redensart  wirkt  die  häufige  Angabe,  daß 
jemand  vor  Leid,  vor  Scheu,  vor  Verlegenheit  sich  nicht  zu  be- 
nehmen wisse. 

Nun  die  Gesten  des  Hauptes  und  der  Hände.  Das  bloße  Nei- 
gen des  Kopfes  steht  neben  dem  des  Körpers  als  Gruß-,  Dank-,  Ab- 
schiedsgebärde, ist  auch,  wie  schon  bemerkt,  Gebärde  des  Sinnens, 
der  Scham,  der  Trauer;  gelegentlich  bedeutet  das  Senken  des 
Kopfes  auch  Ehrfurcht  und  Scheu.  Weit  wichtiger  sind  die  Ge- 
bärden der  Hand.  Das  Aufheben  der  Hand  im  Gebet  wird  in  der 
höfischen  Dichtung  weniger  häufig,  als  Gebetgeste  ist  das  Händefalten 
da.  Das  Vorstrecken  der  gefalteten  Hände  ist  die  Geste  des  Bittens. 
Der  Lehensmann  legt  die  gefalteten  Hände  zwischen  die  des  Herrn 
(Tristan,  Willehalm,  Kudrun).  Darreichung  der  Hand  beim  Ho- 
magium  wie  bei  der  Versöhnung  ist  gleich  dem  Kuß  offizielle 
Gebärde.  Einige  Male  bedeutet  das  Aufrecken  der  Hand  den 
Willen,  nicht  weiter  zu  kämpfen,  oder  auch  ein  besiegtes  Heer  leistet 
dem  Sieger  manschaft  mit  üfgehabner  hant.  Ebenso  ständig  wie  die 
ehrende  Umarmung  ist  das  Fassen  der  Hand  beim  zeremoniellen 
Gruß;  man  führt  jemand  bei  der  Hand  zum  Platze,  Wirt  und  Gast 
gehen  Hand  in  Hand.  Nicht  minder  wichtig  ist  das  Halten  der  Hand 
als  Ausdruck  der  Freundschaft,  des  Wohlwollens,  der  Zärtlichkeit; 
vor  allem  ist  es  die  Geste  der  Liebenden.  Das  Hand  in  Hand 
Sitzen  und  das  Händespiel  der  Verliebten  oder  auch  nur  einander 
Wohlgefallenden,  das  triiiten  der  Hände  kennt  die  ritterliche  wie 
die  höfisch  beeinflußte  spielmännische  Dichtung ;  stärker  erotisch 
betonte  Gesten,  wie  das  Berühren  an  Brust  und  Hüfte  kommen 
seltener  vor,  etwas  häufiger  begreiflicherweise  in  der  mittelhoch- 
deutschen Novelle  und  noch  mehr  dann  in  der  Epigonendichtung, 
die  im  Ausmalen  erotischer  Situationen  dem  Zeitgeschmack  ent- 
gegenkommt. Doch  die  Handgeberde  hat  noch  weiteren  Bedeutungs- 
umfang. Die  Hand  wird  als  Ausdruck  sinnender  Trauer  an  die 
Wange  gelegt,  unendlich  viel  seltener  freilich  als  in  der  bildenden 
Kunst.  Ein  paarmal  kommt  das  Motiv  vor,  daß  jemand  versunken 
in  den  Anblick  der  Geliebten,  die  Hände  fallen  läßt  und  zugleich 
das,  w^as  er  in  ihnen  hält.  Faustballen  als  Zeichen  des  Zornes 
(ohne  daß  ein  Faustschlag  erfolgte)  ist  eine  seltene  Gebärde.  Sich  Seg- 
nen, sich  Bekreuzigen  erstarrt  immer  mehr  zur  Geste  des  Erschreckens, 
der     Verwunderung.       Dem     Scheidenden    wird     nachgesegnet  ')• 


1)  Als  Zeichen  freundlicher  Gesinnung  legt  man  in  späteren  Dichtungen  dem  Unter- 
redner die  Hand  auf  Arm  und  Schulter.  —  Zu  den  Gebärden,  die  ursprünglich  wohl 
einmal  Ausdruckswert  gehabt  haben,  aber  allmählich  zum  Haltungszeremoniell  erstarrt 
sind,  gehört  auch  das  für  sich  twingen  der  Hände  beim  wohlerzogenen  Ritter.  Vgl. 
Petersen  a.  a.  0.  S.  145;  dort  auch  über  das  Entblößen  des  Hauptes  vor  der  Dame  oder 
vor  den  Fürsten. 


^92  Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik. 

Am  bedeutsamsten  charakterisiert  die  Gesichtsmimik  den  neuen 
Gebärdenstil.  Vom  Weinen  war  schon  die  Rede ;  soweit  sich  über 
das  Lachen  als  Miene,  nicht  als  Laut  etwas  konstatieren  läßt,  kann 
man  sagen :  es  hat  die  neue  Funktion,  nicht  nur  als  Begleitung 
von  Spott  und  Freude  (neben  nicht  ganz  seltenem  smielen,  ersmielen), 
sondern  auch  als  Ausdruck  jener  wohlwollenden  Freundlichkeit, 
jener  gelassener  Heiterkeit  zu  dienen,  die  für  den  höfischen  Menschen 
wünschenswert  ist.  Vriuntlich  lachende  ansehen,  anlachen  mit  röt- 
süezem  munde  soll  sichtlich  öfter  gedämpfte  als  laute  Freude  aus- 
drücken. —  Die  Farbe  bedeutet  in  der  neuen  Mimik  ziemlich  viel. 
Im  Kummer  oder  in  der  zehrenden  Liebessehnsucht  verlieren  Held 
und  Heldin  auf  lange  Zeit  ihre  zum  Schönheitsideal  gehörige  Farbe : 
Wandel  an  ir  varwe  ist  zu  bemerken;  in  solchen  Fällen  wird  übrigens 
nicht  nur  von  dem  von  dem  under  ougen  bleich  und  misseuar 
berichtet,  sondern  auch  ein  Wandel  der  Gesichtszüge  ange- 
deutet. Doch  stehen  solchen  mehr  physiognomischen  Hergängen 
die  mehr  momentan-mimischen  Wandlungen  von  Farbe  und  Aus- 
druck zur  Seite.  Das  Bleich-  und  Rotwerden,  das  Farbewechseln 
ist  ein  außerordentlich  häufiges  Symptom  der  Minne.  Eine  Reihe 
von  geläufigen  Wendungen  für  diese  Erscheinungen  bildet  sich 
heraus.  Bleich-  und  Rotwerden  ist  auch  ein  Zeichen  der  Scham : 
die  Farbe  wird  gemischet.  Das  schnelle  Erröten  der  Frauen  und 
Mädchen  gehört  fast  wie  die  langen  Hände,  die  weißen  Arme,  die 
schmalen  Hüften,  der  schwebende  Gang,  zum  Kanon  der  körperlichen, 
aber  auch  der  seelischen  Schönheit :  als  Zeichen  der  Schamhaftig- 
keit.  Die  Bilder  und  Worte  für  das  Erröten  sind  mannigfach.  Doch 
auch  der  Ritter  wird  schamvar  under  ougen.  Man  errötet  auch  oder 
verfärbt  sich  vor  Freude  oder  im  Zorn;  seltener  errötet  man  im 
Schreck:  der  tiefe  Schreck  wie  der  jähe  Schmerz  läßt  erbleichen 
und  die  Farbe  wechseln.  —  Nicht  sohäufig  werden  die  Zähne  mimisch 
verwendet:  das  Zusammenbeißen,  das  Grisgramen,  das  Blecken;  das 
Klappern  mit  den  Zähnen  vor  Angst  kommt  in  der  Eneit  vor. 

Endlich  der  Blick,  hi  der  Vorliebe  für  dieses  Ausdrucksmittel 
zeigt  sich  die  ganze  seelische  Verfeinerung  der  höfischen  Kunst. 
Die  stumm  beredte  Kraft  des  Blickes,  der  nur  von  Person  zu  Person 
vermittelt,  was  andere  Gesten  Unbeteiligten  verraten  müßten, 
erhält  in  dieser  echt  gesellschaftlichen  Kultur  naturgemäß  eine 
sehr  wichtige  Rolle.  Und  wieder  ist  der  Hinweis  auf  die  Minne- 
lyrik am  Platz.  Nur  hingedeutet  sei  hier  auf  die  von  einem  Dichter 
zum  andern  weitergegebenen  Metaphern,  die  die  verwundende  oder 
bindende  Macht  des  Liebesblickes  ausdrücken,  auf  die  ausführ- 
lichen Schilderungen  des  beseelten  Blicks,  in  denen  sich  die  dialeli- 
tische  Wortkunst  eines  Gottfried  genug  tut,  auf  die  Nachachmungen 
und  Erweiterungen  solcher  Schilderung  bei  den  Epigonen.  Schon 
für  das   Wohlirefallen   ist  der  verstohlene  Blick  fast   formelhaftes 


Der  Gebärdenstil  der  klassischen  Epik.  193 

Zeichen :  es  sehen  die  ritter  dar,  die  froiiwen  her  —  so  formelhaft, 
daß  diese  typische  Mimik  ritterlichen  Flirts  im  Meier  Helmbrech 
zum  parodistischen  Zuge  wird.  Vriiintliche  oder  tougenliche  Blicke 
eröffnen  fast  immer  das  Geplänkel  des  ernsten  oder  des  mehr  ge- 
sellschaftlichen Liebesspiels.  Der  Blick  zwischen  Freunden  und 
Liebenden  hat  eine  Reihe  feststehender  Beiworte:  toiigenlichen, 
vriuntltchen,  giiotltchen,  iimeclichen,  liepltchen,  minneclichen,  mit 
seilenden  blicken  sehen  usw.  Mit  spunden  oiigen  sieht  die  Frau 
auf  den  Ritter.  Der  Blick  drückt  jetzt  überhaupt  eine  größere  Zahl 
von  Gemütsbewegungen  aus.  Der  Andachtsblick  gen  Himmel  ist 
zwar  etwas  seltener  als  in  der  Dichtung,  die  mit  der  geistlichen 
in  direktem  Zusammenhang  steht,  verschwindet  aber  nicht  ganz. 
Der  Bück  spricht  Erschrecken,  Scham,  Trauer,  Schmerz,  Wehmut, 
Sehnsucht,  Staunen,  Neugier  aus,  ferner  Furcht,  Mitleid,  Tücke,  Be- 
gierde. Der  Blick  des  Wiedererkennens  ist  als  ein  besonderer  be- 
kannt. In  der  Verlegenheit  sehen  die  Menschen  einander  an,  in 
Abscheu  und  Verachtung  wendet  man  die  Augen  weg,  in  der 
Scham  schlägt  man  sie  nieder.  Dem  Scheidenden  sieht  man  in 
Sehnsucht  nach,  man  späht  einem  Kommenden  entgegen,  wartet, 
blickt  aufmerksam  umher.  Die  Ankömmlinge  werden  neugierig 
angekapft.  Der  Sprachgebrauch  spiegelt  jene  differenzierte  Ver- 
wendung des  Blicks ;  so  findet  sich  häufig  trüreclichen,  vroelichen, 
schaldichen,  schamelichen,  bliidtchen,  vorhtltchen ,  erbarmeclichen 
sehen,    hn  Zorn  versendet  man  swinde,  im  Ärger  twerhe  blicke. 

Endlich  ein  Wort  über  den  akustischen  Ausdruck.  Auch  hier 
bleiben  ja  die  früher  gebräuchlichen  Ausdrucksformen  bestehen : 
das  laute  Schreien  im  Schmerz,  zumal  der  plötzliche  Aufschrei  bei 
jähem  Leid,  in  jäher  Freude,  im  Schreck,  das  laute  Schluchzen,  der 
Kampflärm,  der  Freudenlärm,  das  Freudenlachen,  der  Gesang  in 
der  Freude,  der  Siegesjubel.  Daneben  aber  tritt  nun  erst  als 
häufigster,  typischer  Klagelaut  des  wolgezogenen  Menschen  der 
leise  Klageton:  das  siufzen.  Es  begleitet  fast  die  ganze  Skala  der 
Seelenbewegungen  :  vom  leisen  Liebessehnen,  von  Scheu  und  Scham 
bis  zur  tiefsten  Hoffnungslosigkeit ;  und  sowohl  formelhafte  Wen- 
dungen und  Bilder  für  das  Seufzen  wie  detaihierte  und  individuellere 
Beschreibungen  kommen  vor.  Geringere  Aufmerksamkeit  wird  auf 
die  Stimmennuancierung  gelegt,  sie  kommt  aber  doch  vor;  nirgends 
charakteristischer  als  bei  Hartmann:  Erec  v.  6078 ff. 

sich  teilte  dö  besunder 
von  des  jämers  grimme 
rehte  enzwei  ir  stimme, 
höhe  unde  nidere. 

Die  Stimme  verwandelt  sich  in  Zorn  und  Schmerz,  sie  wird  heiser. 
Auch  die   Charakterisierung  des  Stimmtons  durch   psychologische 

Herr  m  a  n  n ,  Theater.  1 3 


194  Der  Gebärdenstil  lier  klassischen  Epik.     Nibelungen  und  Kudrun. 

Eigenschaftsworte  fehlt  nicht,  wobei  natürhch  von  den  selten  sicher 
deutbaren  Wendungen  wie  trüieclichen,  vroelichen,  erbarmeclichen 
sprechen,  abzusehen  ist:  trüric  was  siner  stimme  gaLm,  mit  klagender, 
manltcher^  kranker,  weinltcher,  eistltcher  stimme:  solche  Angaben 
kommen  vor,  freilich  seltener  als  die  entsprechende  Beschreibung  der 
Mienen.  Im  Tristan  wird  das  Stammeln  der  Verlegenheit  geschil- 
dert;  im  Willehalm  heißt  es: 

ir  weinliches  hischen 

sie  mit  rede  begunde  mischen. 

Etwas  anders  steht  es  mit  der  Mimik  und  Gestik  in  den 
Nibelungen  und  der  Kudrun.  Deutlich  allerdings  sind  auch  die 
Übereinstimmungen  mit  dem  ritterhchen  Epos  gerade  auf  diesem 
Gebiet :  sowohl  an  der  Steigerung  der  gesellschaftlichen  Geste  wie 
an  der  charakteristischen  Verfeinerung  der  Mimik  hat  der  höfisch 
beeinflußte  neuepische  Stil  des  Heldengedichts  seinen  Anteil.  Aber 
bei  der  Grundhaltung  dieser  Epen,  die  aller  Unterschiede  vom 
Heldenlied  ungeachtet  doch  im  Vergleich  zur  Ritteraventiure  weit 
mehr  auf  die  Fabel,  erkennbare  Tatsachen  und  große  Situationen 
als  auf  psychologisches  Detail  malender  und  abenteuerhäufender 
Schilderung  gestellt  sind,  ist  naturgemäß  die  Gestik  unkomphzierter: 
das  zeigt  sich  z,  B.  bei  den  unwillkürlichen  Gebärden,  beim  Blick 
und  der  Gesichtsfarbe.  Während  also  diese  Heldenepen  mit  heran- 
gezogen werden  dürfen,  um  den  Gebärdenstil  des  ritterhchen  Epos 
zu  illustrieren,  muß  anderseits  auf  Ausdrucksformen  hingewiesen 
werden,  die  in  ihnen  vorkommen,  aber  der  rein  höfischen  Erzählung 
im  ganzen  fremd  sind.  Das  grelle  befreite  Auflachen  der  Kudrun  — 
sicher  wohl  ein  alter  Zug  — ,  das  der  am  modernen  Empfinden  ge- 
schulte Dichter  ein  teil  uz  ir  ziihten  nennt,  das  gewaltige  Grohen  der 
Heldenstimme  (alsam  ein  Wisentes  hörn,  als  eines  lewen  stimme)  sind 
Beispiele  solcher  Art ;  dazu  kommen  die  aus  der  älteren  Epik  schon 
bekannten,  im  späteren  Volksepos  noch  häufigeren  Formeln  für 
das  Weithintönen  von  Freude-  und  Klagegeschrei.  Der  allgemeinen 
Tendenz  ritterlicher  Dichtung  zuwider  ist  auch  die  Berserkerwut 
Wates  im  Kämpfen:  mit  grisg ramenden  zanden,  mit  schinenden 
ougen;  es  ist  reckenhaft,  nicht  ritterlich,  wenn  Wate  brummt  wie 
ein  stier^).  Abgesehen  aber  auch  von  solchen  Einzelheiten  tragen 
für  unser  Gefühl  die  Gebärden  in  den  mehr  heroischen  als  ritter- 
lichen Szenen  überhaupt  etwas  andern  Charakter.  Wohl  können 
wir  z.  B.  eigentlich  fast  alle  Gebärden,  die  in  der  Szene  bei  Sieg- 
frieds Leiche  und  seiner  Bestattung  vorkommen,  bis  auf  das  spiel- 
männische  Blutbrechen  und  Blutweinen  auch  im  ritterlichen  Epos 
nachweisen.    Dem  Aufschrei    der  aus  der  Ohnmacht  erwachenden 


1)  Ahnliche  und  noch  groteskere  Ausmalungen  des  Zorn- oder  Schmerzenslautes- hat 
besonders    die    spätere    spielmännische  Heldenepik,    in    der  Heiden  und  Riesen  auftreten. 


Der  nachklassische  und  spielmännische  Gebärdenstil.  195 

Krimhilt  antwortet  nicht  mehr  dramatisch  wie  im  HeldenUed  das 
Lachen  befriedigter  Rache:  in  langem  epischem  Echo  hallt  ihm 
vielmehr  die  ungefüge  Klage  der  Getreuen  nach  bis  in  die  Münster- 
szene hinein.  Es  ist  gewiß  nur  dem  neu-epischen  Stile  eigen,  wie 
in  reicher  Szenenentfaltung  die  Steigerung  der  Verzweiflung  beim 
letzten  Abschied  von  der  Leiche  eine  neue  Skala  der  Gesten  er- 
möglicht, wie  der  letzte  Kuß  und  das  kraftlose  Hinstürzen  und 
Weggetragenw^erden  noch  nach  diesem  Abschied  für  ewig  zu  der 
früheren  Gebärde  des  jähen  Entsetzens  die  der  überwältigenden 
Verzweiflung  fügt.  Aber  es  wirkt  das  alles  doch  ganz  anders  wie 
in  ähnlichen  Szenen  des  ritterlichen  Epos,  Diese  Verschiedenheit 
beruht  jedoch  mehr  auf  der  Art  der  Anordnung  und  Akzentuierung 
der  an  sich  übereinstimmenden  Gebärden  und  letzten  Endes  auf 
der  funktionellen  Bedeutung  solcher  Szenen  im  Ganzen  des 
Epos,  also  auf  Elementen  der  inneren  Form;  diese  aber  für 
jeden  Fall  näher  zu  untersuchen,  kann  hier  nicht  unsere  Auf- 
gabe sein. 

Wenn  die  vom  ritterlichen  Epos  her  überkommenen  Gebärden 
schon  hier  vereinfacht  und  zum  Teil  formelhaft  erscheinen,  so  tritt 
das  nun  in  den  nachklassischen  Heldendichtungen  und  vor  allem  in 
den  spielmännischen  Neuerfindungen  aus  diesem  Stoffkreise  erst 
recht  zutage.  In  solchem  Sinne  wird  die  Gesichtsmimik  redu- 
ziert ;  die  Gebärde  neigt  wieder  zum  Deutlichen  und  sofort  Ein- 
leuchtenden. Häufiger  springt  man  im  Zorn  und  in  der  Freude 
auf;  im  Zorn,  und  nicht  nur  in  der  Totenklage,  wird  Haar  und 
Bart  gerauft,  im  Schmerz  wird  auch  sonst  öfter  die  Brust  ge- 
schlagen, das  Haar  gerissen  usw\  Zu  den  üblichen  Gesten  der 
Totenklage  wird  Steigerndes  und  Übertreibendes  gefügt:  man 
bricht  beim  Händewinden  die  Finger,  schlägt  sich  die  Fäuste  in 
Auge  und  Mund,  beißt  sich  in  Arme  und  Hände.  Im  großen 
Wolf dietrich ,  der  überhaupt  schon  dem  bürgerlichen  Stil  nahe 
kommt,  heißt  es  bei  solcher  Gelegenheit  einmal  höchst  unhöfisch: 
sie  schlecht  von  sich  all  viere. 

Neue  groteske  Züge  bringt  auch  die  Gesichtsmimik:  man  wird 
nicht  nur  rot  und  bleich  oder  missevar,  sondern  auch  gel,  grien 
und  darzLio  rot  (Wolfdietrich,  Rosengarten;  dieselbe  Schilderung 
allerdings  auch  einmal  in  Konrads  Trojanerkrieg),  man  sieht  sure 
im  Ärger;    dem -Zornigen  und  Kampflustigen  viuren  die  Augen. 

Die  Gebärde  in  der  höfischen  Epik  des  späteren  13.  Jahrhunderts, 
ja  auch  noch  des  beginnenden  14.,  wie  der  Wilhelm  von  Österreich 
zeigt,  in  der  ritterlichen  Epigonenpoesie  also  steht  im  ganzen  völlig 
in  der  Tradition  des  klassischen  Bestandes:  von  einigen  Einzel- 
heiten abgesehen  ohne  Verarmung  und  ohne  Bereicherung  und  auch 
ohne  neues  Erleben  und  Ausdeuten  des  so  Bew^ahrten.  Angesichts 
solcher  Feststellung  ist  es  für  unsere  Zwecke  ohne  Belang  hervor- 

13* 


196  Dsr  epische  Gebärdenstil  im  ausgehenden  Mittelalter. 

zuheben,  wie  sich  einzelne  bedeutende  Epiker  der  späteren  Periode 
wie  Rudolf  von  Ems  und  Konrad  von  Würzburg  verhalten.  Einige 
Dichtungen  sind  mit  der  Geste  überhaupt  sehr  sparsam;  innerhalb 
der  gebärdereichen,  in  denen  die  vom  Leser  im  voraus  erwarteten 
Gesten  mit  formelhafter  Sicherheit  sich  einstellen,  können  wir  viel- 
leicht zwei  Typen  scheiden:  einen,  der  hypertrophische  Wieder- 
holung von  allgemein  gebrauchten,  besonders  zeremoniellen  Gesten 
zeigt  (so  z.  B.  das  fast  komisch  stereotype  bt  der  hant  nemen  im 
Garel  von  dem  blühenden  Tal),  und  einen  andern,  der  eine  bestimmte 
Reihe  von  Gebärden  eines  Vorbildes  nachahmend  sie  immer  wieder 
anbringt.  Das  Wesentliche  aber  bleibt  der  starr-konservative  Grund- 
zug des  Ganzen. 

Sehr  zäh  ist  diese  Tradition;  sie  fließt  durch  allerhand  Kanäle 
bis  in  die  so  sehr  dem  Innern  Stil  der  ritterlichen  Zeit  entfrem- 
deten Dichtungsgattungen  des  14.  und  15.  Jahrhunderts.  Am  deut- 
lichsten ist  der  Zusammenhang  da,  wo  auch  sonst  die  Tradition 
wenigstens  äußerlich  nicht  abgerissen  ist:  in  den  vielen  Prosa- 
auflösungen ritterlicher  Dichtung,  die  auf  das  Interesse  der  höheren 
Stände  rechnete;  ja  hier,  wo  auf  Neubildung  verzichtet  und 
relativ  mechanisch  die  alte  Vorlage  in  die  Sprache  der  Gegenwart 
übersetzt  wurde,  ist  der  klassische  Gebärdenschatz  zum  Teil  voll- 
ständiger erhalten  als  in  mancher  Originaldichtung  des  späteren 
13.  Jahrhunderts ;  freilich  geht  dabei  naturgemäß  bei  aller  äußerlich 
treuen  Wiedergabe  oft  gerade  der  Geist  einer  Gebärde  verloren. 
Die  Sprache  dieses  Literaturzweiges,  der  freilich  so  wenig  durch- 
forscht ist,  daß  man  sich  mit  Eindrücken  und  Stichproben  begnügen 
muß,  hat  mit  ihrer  Umständlichkeit,  ihrer  kanzleihaften  Gravität  ja 
überhaupt  keine  dichterischen  Ausdruckskräfte :  so  entstellt  sie  auch 
naturgemäß  den  Charakter  der  Gesten,  die  in  der  Vorlage  einfach 
selbstverständlich  wirken,  durch  die  Doppelformeln  des  Kanzleistils 
bald  ins  Aufdringlich-Grelle  bald  ins  Schwerfällig-Gefühlsberedte. 
Der  Prosaroman  von  Tristan  und  Isolde  verwischt  den  Sinn  der 
knappen  eilhartischen  Schilderung  von  Isoldes  stummem  Schmerz 
durch  ein  mißverständlich  erläuterndes  und  weße  vor  großem  leide 
nii  zu  gebaren.  Die  mechanische  Häufung  gewisser  Gebärden 
möchte  man  dahin  deuten,  daß  der  Verfasser  sich  anstrengt,  sich  auf 
der  Höhe  der  Kenntnisse  zu  zeigen.  Das  Weinen  und  das  Inohnmacht- 
f allen  nimmt  noch  weiter  zu :  der  sentimentale  Zug  der  Zeit  verrät 
sich,  ganz  auffällig  in  des  Bühelers  Königstochter  von  Frankreich, 
allerdings  dem  Werk  eines  geistlichen  Dichters.  Je  nachdem  die  Vor- 
lage mehr  höfisch  oder  mehr  spielmännisch  stilisiert  war,  ist  auch 
die  Gestik  der  prosaischen  Nacherzählung  beschaffen.  Es  ist  auch 
noch  nicht  neue  bürgerliche  Derbheit,  sondern  gehört  zu  den 
derben  Motiven  älterer  Heldenepik,  wenn  im  deutschen  Reinolt 
von  Montelban    einer    der   Recken    die    Faust    so   ballt,    daß    das 


Der  Gebäriienstil  der  allefforischen  und  der  bürfierlichen  Epik.  J[97 

blut  kam  gelauffen  auf  seine  faß,  oder  wenn  die  Mutter  nach 
langer  Trennung  den  Sohn  so  küßt,  daß  er  aus  Mund  und  Nase 
blutet. 

Die  erzählende  allegorische  Poesie  des  ausgehenden  Mittel- 
alters steht  ja  auch  noch  in  der  höfischen  Tradition,  und  was  in 
diesen  Gedichten,  soweit  sie  nicht  satirisch-didaktisch  auf  gegen- 
wärtiges Leben  deuten,  als  erzählende  Einkleidung  des  lehrhaften 
Gehalts  da  ist,  führt  mit  seinen  schematischen  Figuren  und 
Situationen  einen  begrenzten,  dem  Höfischen  entnommenen  Ge- 
bärdenschatz mit  sich.  Die  Gedichte  Hermanns  von  Sachsenheim 
z.  B.  zeigen  bei  entsprechenden  Gelegenheiten  die  Gesten  des 
höfischen  Zeremoniells:  allerhand  typische  Begrüßungs-,  Ehr- 
furchts-,  Freundlichkeitsgebärden;  daneben  aber  taucht  etwa  in  der 
„Möhrin"  auch  der  biu'gerliche  Gruß  auf:  das  Hutrücken.  Dieser 
greisenhaften  Art,  die  Erstorbenem  ohne  rechte  Liebe  nacheifert, 
haftet  leicht  eine  Neigung  an,  durch  Unterstreichen  genau  sein  zu 
wollen.  So  heißt  es  hier  wohl:  Ich  bog  mich  fast  als  billich  was, 
aus  dem  einfachen  nigen  der  klassischen  Zeit  wird  bei  nicht  ge- 
eigneter Gelegenheit  ein  Neigen  aiiff  den  fuß.  Neben  den  nicht 
allzu  mannigfaltigen  Gesten  und  Mienen  rein  höfischen  Charakters 
begegnen  nun  aber  auch  ganz  neue,  z.  T.  offenbar  realistische  Be- 
wegungen: vor  Wut  beißt  sich  jemand  in  die  Lippen,  daß  das 
blut  hernaucher  ran,  die  Stirn  wird  im  Unwillen  gerimpft,  dem 
Angstvollen  kruselt  die  hat,  die  Haare  stehen  dem  Angstvollen  zu 
Berge,  so  wie  auch  gelegentlich  schon  in  Konrads  Partenopier. 
Im  Zusammenhang  mit  dieser  allegorischen  Erzählung  halten  auch 
die  Spaziergangsgedichte  bürgerlichen  Ursprungs  in  schematischer 
Angleichung  an  das  höfische  Ideal  ebenso  wie  die  typischen 
Schönheitsschilderungen  so  auch  die  Gesten  der  Frauengestalten,  ihr 
schamhaftes  Augenniederschlagen  und  Erröten,  ihre  Klagerufe, 
Tränen  und  Schmerzgebärden,  die  Begrüßungsformen,  das  An- 
lächeln, die  Umarmungen  fest.  Aber  schon  an  der  Wende  des 
15.  Jahrhunderts  schleicht  sich  in  diese  traditionellen  Erzählungs- 
formen eine  neue,  für  die  Bewegung  nicht  gleichgültige  Tendenz 
ein :  man  will  gerade  im  Gegensatz  zu  der  idealistischen  Dichtung, 
deren  Formen  man  weiter  benutzt,  das  rauhe  Leben  der  Gegenwart 
in  verzerrendem  Naturalismus  zeigen  und  sucht  darin  groteske 
Wirkung.  Neben  den  hochgespannten  Wendungen  des  ritterlichen 
Stils  stehen  die  gröblichen  Reden  und  Taten  der  Bauern,  und  auf 
ihre  Verhöhnung  kommt  es  mehr  noch  an  als  auf  die  Verspottung 
des  ritterlichen  Ideals.  Und  diese  Doppelheit  zeigt  sich  auch  in 
jener  originellsten  Leistung  des  beginnenden  15.  Jahrhunderts,  dem 
einzigen  Werke  einer  wirklich  im  Leben  dieser  literarisch  unseligen 
Periode  wurzelnden  Begabung:  in  Wittenweilers  „Ring".  In  dieser 
Groteske,   die  alles  zeigt,  was  eine  Zeit  ohne  feinere   Seelenkultur 


198  Der  Gebärdenstil  der  bürgerlichen  Epik. 

geben  konnte,  indem  sie  sich  selbst  begrinste,  stehen  nicht  nur 
Tun  und  Reden  der  beiden  sich  gegenseitig  verhöhnenden  Spliären 
schroff  nebeneinander,  sondern  auch  die  Gebärdung  der  frülieren 
Welt  und  die  im  Hohlspiegel  erscheinende  neue  Gestik  der  Wirk- 
lichkeit, Ritterhches  und  Heldengedichtmäßiges  neben  dem  Tölpel- 
haften der  Bauernwelt.  Da  sind  zunächst  die  vielen  parodistischen 
Verwendungen  höfischer  und  heldischer  Geberdung.  Nabelreiber 
schreibt  dem  Minner  Pertschi  Triefnas  sein  Verhalten  gegenüber 
der  Erwählten  vor: 

das  ist:  du  scholt  nach  meinem  sin 
oft  und  dik  sey  smieren  an 
mit  spilnden  äugen  hin  und  dan  .  .  . 
und  näyg  dich  ir,  du  grüss  sey  so  .  .  . 
greyff  ir  leysleich  an  daz  chläid! 
mit  seufczen  sprich  .  .  . 

Mäzli  fällt  wie  eine  ritterliche  Jungfrau  vor  Freude  in  Ohnmacht, 
als  sie  Pertschis  offizielle  Werbung  hört,  dieser  selbst  beim  Turnier 
in  eine  Verwundungsohnmacht,  aus  der  er  dann  freilich  recht  un- 
ritterlich erweckt  wird.  Vor  Zorn  springt  er  dreimal  auf;  ein 
andrer  sieht  anklagend  gen  Himmel.  Das  Schreien  hört  man,  wie 
im  Heldenepos,  über  drei  rast.  Vor  Kummer  darüber,  daß  ihn  die 
Hochzeitsgäste  schier  arm  fressen,  läßt  der  Bräutigam  das  haubet 
sinken.  Aber  neben  derartigen  parodistisch  angewendeten  Finessen 
dann  die  echten  Grobianismen  neuen  Stils,  wie  sie  auch  schon  etwa 
in  der  „Hetzen  Hochzeit"  erscheinen.  Wenn  die  Fresser  vor  Gier 
darein  sehen  recht  als  ein  stier  oder  sam  der  wolff  gein  derkuo^),  die 
Diener  mit  den  ougen  gienen  in  die  fresser,  wenn  bei  jeder  Gelegen- 
heit geschrien,  gebrüllt  wird,  so  ist  das  noch  gar  nichts.  Aber  Mezzlis 
nächtliche  Verachtungsgeberde  zum  Fenster  hinaus,  die  ehelichen  Zärt- 
lichkeiten, die  mit  der  minniglichen  Zartheit  der  Liebesbriefe  gründ- 
lich kontrastiert,  ihr  schamhaftes  Sichwehren  bei  der  Eheschließung, 
wo  sie  mit  Händen  und  Füßen  um  sich  schlagend  gleich  vier 
Brautjungfern  umwirft,  die  Zärtlichkeit,  mit  der  einer  der  Bauern 
die  Erwählte  so  in  die  Hand  kratzelt,  daß  sie  blutet,  die  Art,  in 
der  einer  der  nicht  gesättigten  Gäste  den  Bräutigam  seine  Miß- 
achtung erkennen  läßt  2),  das  Lachen,  das  so  stark  ist,  daß  man 
farzet,  —  das  ist  die  neue  Gestik  im  Spiegel  dieses  satirischen 
Naturalismus  gesehen.  Mitunter  gehen  auch  die  parodierte  alte 
und    die   satirisch  geschilderte  neue  Gestik  in  einander,    so  in  der 


1)  Oder  liegt  auch  hier  eine  Parodie  bekannter  Motive  ritterlicher  Epen  vor? 

2)  Des  sneiiczt  her  Clinocz  sein  nasen  f/ros 
durch  sein  hende  also  bloss 

Und  ivarfs  dem  /)reiit(/oni   unter  daugen. 


Der  Gebärdenstil  der  biirgerliclien  Epik.  "[99 

obszönen  Travestie  des  Haarrauf ens  in  der  Verzweiflung  oder  in  der 
Darstellung  des  Zornes: 

die  tmsen  ward  er  rimphen, 
daz  feiir  im  aus  den  äugen  glast, 
aus  seinem  maul  der  gäifer  prast. 
jo,  wie  zittert  er  von  zorn! 
Neu   aber   ist    es  vor   allem,    daß   man  vor  Wut  stottert,  und 
besonders   daß  das   nicht  nur  erwähnt,  sondern  wie  das  trunkene 
Gröhlen  beim  Tanze  auch  sprachlich  wiedergegeben  wird: 
Do  huob  er  an  ze  lurggen  do: 
So,  du  du  du  hürrensun,  so, 
Des  ha  ha  hab  du  dich  verwegen, 
Du  ma  ma  macht  nit  mer  geleben. 
Mit  solcher  Drastik  aber  steht  der  „Ring",  wie  auch  in  bezug 
auf  literarischen  Wert,    in  seiner  Zeit  doch  allein.     Was  sonst  die 
neue  bürgerliche  Erzählung  betrifft,   die  von  ganz  äußerlichen  Be- 
ziehungen   abgesehen    gar   keinen    Zusammenhang  mehr   mit  der 
alten    Epik   hat,    so  ist    das   gegenwärtig  zugängliche  Material    so 
geringfügig  und  zufällig,  daß  die  Einordnung  in  die  hier  versuchte 
Entwicklungsdarstellung    nicht    ohne  Bedenken   ist.    Diese  bürger- 
liche   Kultur    oder    richtiger    Nochnichtkultur    vermag    aus     sich 
dichterisch   noch  kein    ihr  gemäßes  Lebensbild    aufzustellen;    wie 
sie    ohne  Idealität    ist,    so    ist    sie    im   Grunde    auch    lieblos    der 
eigenen  Realität  gegenüber.    Ihre  erzählende  Dichtung  entstammt 
rohen  Instinkten  und  dient  roher  Stof f f reude ;  witzlos,  unanständig, 
übel    mit  Frömmigkeit  und  Moral  bemäntelt,  entbehrt  sie   der  be- 
scheidensten Fähigkeit,    das    nächste  Leben  zw    schauen   —  nur 
seine    groben  Tatsächlichkeiten  greift  sie  auf.     So  bietet  sie  denn 
auch   keinen  in   sich  zusammenhängenden   Gebärdenstil,   der  eine 
neue  Menschlichkeit  illustrieren  hülfe.     Alles   in  der  Gestik  bleibt 
farblos.     Zusammenhänge    mit    der    ritterlichen    Tradition    fehlen 
auch  hier  nicht,  namentlich  erscheinen  gewisse  Zeremonialgeberden, 
wo   von  Leuten    aus    dem  Ritterstande  die  Rede   ist:    das  Neigen, 
Grüßen,    Niederknien,   Aufstehen;    die    überlieferten    Reimformeln 
gienc :   empfienc  helfen    natürlich   auch    dergleichen  bewahren  in 
Erzählungen,    die    die    alte    Reimpaarmühle    klappern    lassen,    wie 
schon  im  Kalenberger: 

vil  schnei  er  ken  der  frawen  gieng, 
gar  hoffelich  er  sie  entpfieng. 
Auch  sonst  werden  wohl  höfische  Herren  und  Frauen  mit  der 
schattenhaft  gewordenen  Mimik  der  alten  DichtTuig  charakterisiert: 
der  frawen  roter  munt  do  lacht  er  usw.  Eher  wie  ein  mißglückter 
Versuch,  Neubeobachtetes  neu  auszudrücken,  mutet  z.  B.  die 
Schilderung  einer  Spottgebärde  im  Kalenberger  an: 


200  Der  Gebärdenstil  der  bürgerlichen  Epik. 

die  fraw  die  warff  manegen  plick 
so  lacherlichen  her  und  dar, 

oder,    besser   beobachtet,    die  Schamgebärde    der  nackten  Bauern 
am  Fürstenhof: 

sie  schmückten  sich  so  jemerlich 

in  einander  recht  wie  die  schaf. 

Das  Lachen  als  Ausdruck  des  Spottes  ist  in  diesen  Schwank- 
geschichten häufig,  in  denen  es  so  oft  auf  Verhöhnung  oder  Betrug 
eines  Tölpels  ankommt.  Ob  nun  diese  mehr  als  einförmige  Gestik 
und  Mimik  jedesmal  neu  aus  dem  Leben  aufgenommen  ist  oder 
noch  aus  der  Tradition  stammt,  läßt  sich  oft  kaum  sagen.  Nieder- 
knieen  im  Gebet,  Schreien  und  Weinen  vor  Angst,  Wut  und 
Schmerz,  Lachen  in  der  Freude,  das  sind  die  üblichsten  Aus- 
drucksmittel. Manches  wie  z.  B.  ein  groteskes  Hinundherspringen 
in  der  Angst,  ein  Sichducken  und  Schmiegen  in  die  Winkel  mutet 
wohl  wie  neubeobachtet  an.  Statt  der  Vergleiche  des  Mut-  und 
Zornblickes  mit  dem  Blick  des  Wolfes  oder  des  Löwen  wird  jetzt 
charakteristischerweise  der  Blick  eines  Feiglings  so  charakterisiert: 
er  gutzet  herfiir  wie  ein  has.  Dagegen  ist  es  wohl  der  Einfluß  alter 
Tradition,  wenn  hier  in  den  schmutzigsten  Buhlgeschichten  von 
lieplich  anplicken,  lieplich  umfangen  die  Rede  ist.  Daneben  steht 
dann  wie  schon  in  den  realistisch  orientierten  Teilen  der  alten  ge- 
zierten Allegorien  die  Erwähnung  der  derbsten  geschlechtlichen 
Liebkosungen  als  Zeichen  der  naturalistischen  Tendenz.  Im  ganzen 
läßt  sich  sagen:  am  Ausgang  des  15.  Jahrhunderts  lebt  in  der  er- 
zählenden Dichtung  die  gänzlich  erstarrte  Tradition  der  höfischen 
Geberde  und  Mimik  noch  fort;  daneben  zeigen  sich  einige  Ansätze 
zu  einer  neuen,  realistischen  Beobachtung  und  auf  satirischer 
Tendenz  beruhenden  Darstellung  der  Geberde. 

Vielleicht  wird  man  finden :  die  voranstehende  Betrachtung  sei 
bei  aller  Gedrängtheit  der  Einzelangaben  zu  umfangreich  geraten 
und  unterbreche  unsern  theatergeschichtlichen  Zusammenhang  gar 
zu  lange.  Und  doch  wird  diese  Ausführlichkeit  sich  rechtfertigen 
lassen.  Der  bei  aller  Gebundenheit  vorhandenen  Reichtum  der 
epischen  Geste  hätte  der  theatralischen  Armut  gegenüber  durch 
eine  bloße  Aufreihung  des  dem  Erzähler  zur  Verfügung  stehenden 
Materials  gekennzeichnet  werden  können;  aber  das  Vorhandensein 
eines  wirklichen  organischen  Sonderlebens  der  Geste  innerhalb 
der  epischen  Kunst  ließ  sich  doch  nur  durch  den  Nachweis  einer 
kulturell  und  ästhetisch  bedingten  Entwicklung  erbringen  und  der 
theatralischen  Entwicklungslosigkeit  gegenüberstellen.  Für  die  Er- 
klärung der  theatralischen  Gleichförmigkeit,  Unfreiheit  und  Dürftig- 
keit maü[  man  nun  vielleicht  auch  die  Besonderheit  der  mittelalter- 


Schauspielkunst  und  Theologie.  201 

liehen  Aufführung  mit  heranziehen,  so  etwa  den  folgenden  Um- 
stand :  der  Zuschauer  steht  den  Darstellern  im  allgemeinen  so  fern, 
daß  er  ihre  Gesichtszüge  kaum  erkennen  kann,  von  den  modernen 
Hilfsmitteln:  Rampenlicht  und  Opernglas  ist  natürlich  keine  Rede, 
und  so  ist  ein  Verzicht  der  Theaterkunst  auf  alle  Gesichtsmimik 
eigentlich  von  vornherein  geboten.  Die  Hauptsache  ist  das  nicht 
—  es  kann  sich  vielmehr  nur  um  eine  bewußt  vollzogene  scharfe 
Scheidung  von  jener  weltlichen  Art  seitens  der  geistlichen  Regisseure 
handeln,  die  in  dem  geistlichen  Charakter  ihrer  Veranstaltung  be- 
gründet liegt. 

Schauspielkunst  und  Liturgie. 
Nur  wer  sich  an  die  ungeheure  Wucht  erinnert,  mit  der  im 
Mittelalter  das  Kanonische  auf  aller  freien  Entwicklung  lastet,  wird 
das  ganz  begreifen.  Wahrheit  ist  nur  w  as  diu  biinch  berichten,  und 
zumal  in  bezug  auf  heilige  Dinge  gelten  im  Grunde  genommen  nur 
die  Berichte,  die  die  offiziell  von  der  Kirche  anerkannten  Bücher 
geben,  während  man  sich  dessen  bewußt  ist,  daß  man  sich  mit 
der  Benutzung  der  Apokryphen  auf  ein  etwas  unsicheres  Gebiet 
hinüberwagt.  Innerhalb  der  kanonischen  Schriften  aber  hat  jedes 
Wort  seinen  tiefen  und  unantastbaren  Wert,  und  die  mitunter  schwer 
vereinbaren  Mitteilungen  der  Evangelisten  über  die  heiligen  Vor- 
gänge zu  einer  Harmonie  zu  bringen,  ist  eine  der  vornehmsten  Auf- 
gaben der  theologischen  Wissenschaft  des  Mittelalters.  Zu  den 
heiligen  Vorgängen  aber  gehören  auch  die  körperlichen  Ausdrucks- 
formen, von  denen  wir  hier  zu  handeln  haben  —  die  Kommenta- 
toren von  der  Zeit  der  Kirchenväter  an  bis  zu  den  spätmittelalter- 
lichen Scholastikern  haben  den  Sinn  der  von  den  Evangelien  er- 
w^ähnten  Gebärden  und  Stimmfärbungen  zumal  in  dogmatischer 
Beziehung  wieder  und  wieder  erläutert  —  also  etwa  zu  der  Stelle, 
w^o  Christus  nach  dem  ungetreuen  Petrus  sich  umsieht  und  vor 
Petrus  dann  in  bitteres  Weinen  ausbricht,  die  allgemeine  Bemerkung 
gemacht:  Deniqiie  quos  Jesus  respicit  plorenf,  oder  genaue  Erörte- 
rungen über  den  Umstand  angestellt,  daß  Jesus  selbst  zweimal  ge- 
weint hat.  So  ist  es  begreiflich,  daß  die  geistlichen  Dichterregisseure 
an  den  bedeutungschweren  Gesten  der  Evangelien  nichts  verändern 
und  höchstens  die  minder  prägnanten  in  jener  labilen  Weise  ver- 
wenden, über  die  oben  gesprochen  wurde,  daß  sie  vor  allem  auch 
nicht  andere  moderne  Gesten  einführen,  die  jenen  heiligen  Gehalt 
nicht  besitzen  und  nur  dazu  dienen  würden,  das  Bild  der  kanonischen 
Ausdrucksformen  zu  verwischen.  Die  gelegentliche  Benutzung  apo- 
krypher Evangelien  durch  die  Dramatiker  i)  ändert  an  solchem  Ge- 
samtverhalten um  so  weniger,  als  im  Grunde  die  Gebärdensprache 


1)  Vgl.  Greiz enach,  I,  2.  Aufl.  S.  195. 


202  Schauspielkunst  und  Gottesdienst. 

dieser  Bücher,  so  auch  die  des  behebtesten:  des  Nicodemusevange- 
liums,  von  der  der  kanonischen  Texte  sich  nur  in  einzehien  kleinen 
Zügen  unterscheidet  —  aber  auch  von  diesen  ist  in  unsern  szenischen 
Bemerkungen  keine  Spur  zu  finden.  Die  Dürftigkeit  und  der  ur- 
konservative Charakter  der  theatrahschen  Ausdrucksformen,  der  in 
den  jüngsten  Denkmälern  mit  der  stellenweise  sehr  modern-realisti- 
schen Darstellung  der  eigentlichen  Aktion  zu  einem  echt  spätmittel- 
alterlich widerspruchsvollen  Gesamtbilde  verschmilzt,  ist  auf  solche 
Art  schon  rein  dogmatisch  fast  zur  Genüge  begründet. 

Zu  diesem  dogmatischen  Element  aber  kommt  ein  Zweites  hinzu. 
Wieder  muß  man  den  geistlichen  Grundcharakter  der  ganzen  Vor- 
stellung vor  Augen  haben,  der  ja  neben  aller  Verweltlichung  der 
Spätzeit  auch  darin  zum  Ausdruck  kommt,  daß  sich  in  vielen  Texten 
bis  zuletzt  neben  den  gesprochenen  deutschen  Worten  Reste  der 
alten  lateinischen  Gesänge  erhalten  haben.  Für  alles  Gottesdienst- 
liche aber  ist  es  eine  alte  christhche  Regel:  in  bezug  auf  die  Be- 
wegungen des  Körpers  sich  einer  großen  Gleichförmigkeit  und  einer 
Vermeidung  alles  Überflüssigen  zu  befleißigen.  Nicht  wenige  Stellen 
aus  den  Kirchenvätern  ließen  sich  zur  Bekräftigung  ihrer  Abneigung 
gegen  starkes  Agieren  beim  Gefühlsausdruck,  zumal  der  Trauer 
beibringen;  nur  die  Träne  ist  —  als  Ausdruck  des  religiösen  Schmerzes 
—  gottwohlgefällig,  weil  auch  Christus  geweint  hat,  und  das  reli- 
giöse Weinen  spielt  denn  auch  im  ganzen  Mittelalter  eine  uns  un- 
faßbare Rolle  1).  Wenn  in  der  Spätzeit  dann  auch  Schlagen  von 
Gesicht  und  Brust  dazu  kommt 2),  so  führt  das  aus  dem  Gebiet  des 
Gefühlsausdrucks  in  das  der  Selbstkasteiung  hinüber:  besser  noch 
als  der  Hände  bedient  man  sich  wuchtiger  Steine. 

Die  so  gebotene  Sparsamkeit  der  Gesten :  die  Verwendung  von 
nur  wenigen  Formen  und  im  Zusammenhang  damit  ein  äußerst 
konservatives  Verharren  bei  dem  einmal  Eingeführten  zeigt  denn 
in  allererster  Reihe  die  Geschichte  der  mittelalterlichen  Liturgie 3). 
Diese  Geschichte  ist  allerdings  von  der  modernen  Wissenschaft  erst 


1)  Vgl.  das  reiche  Material  bei  G.  Zappe rt:  Denkschriften  der  Kaiserl.  Akademie 
der  Wiss.  Phil.  Hist.  Kl.  5  (Wien  1854)  S.  79  ff. 

2)  Ebenda  S.  87. 

3)  Immerhin  scheint  sich  der  Grundsatz  auch  auf  den  Teil  der  mittelalterlichen 
Kirchenleistung  übertragen  zu  haben,  auf  dem  gewiß  wie  heute  dem  Geistlichen  völlige 
Freiheit  gelassen  war:  auf  die  Predigt.  Freilich  wissen  wir  kaum  etwas  über  die  Vortragsart 
mittelalterlicher  Prediger;  doch  scheint  mir  bezeichnend  zu  sein,  was  Thomas  a  Kempis 
in  bezug  auf  den  großen  Kanzelredner  Gerhard  Groote  hervorhebt  (vgl.  Landmann,  Das 
Predigtwesen  in  Westfalen  in  der  letzten  Zeit  des  Mittelalters,  1900,  S.  113):  Solebat  inter- 
(liini  ociilos  siios  dirigere  ad  astantes  et  pro  audientium  qualitate  ac  utilitate  sermoiiem 
sinim  formare  in  altum  vel  loiu/iim  per  fervoris  excessum.  Also  sclion  der  scharfe  Blick 
und  das  Feuer  des  Tons  sind  Ungewöhnliches  —  nichts  von  ausgeprägten  Arm-  oder 
Körperbewegungen.  Das  Weinen  der  Prediger  dagegen  ist  öfter  bezeugt;  vgl.  Zappert. 
S.  91. 


Schauspielkunst  und  Liturgie.  203 

in  neuester  Zeit  wieder  eifriger  erforscht,  und  zumal  die  Entwicklung 
des  liturgischen  Vortrags  ist  noch  kaum  als  Ganzes  vorgeführt 
worden  1).  Soviel  aber  wird  sich  doch  sagen  lassen,  indem  wir  die 
wichtigsten  Ritualbücher  des  Mittelalters  durchmustern  und  einzelne 
Äußerungen  und  ganze  Abhandlungen  der  kirchlichen  Autoren  über 
den  Gegenstand  dazunehmen:  bei  aller  lokalen  Zersplitterung  der 
liturgischen  Formen,  die  das  Mittelalter  aufzuweisen  hatte,  nachdem 
die  einmal  zur  Zeit  Karls  des  Großen  erzielte  Einheit  des  Gregoriani- 
schen Ritus  sich  wieder  verflüchtigt  hatte,  ist  doch  die  Reihe  der  Aus- 
drucksbewegungen, die  dem  Geistlichen  für  Messe  und  Benediktio- 
nen vorgeschrieben  sind,  von  alten  Zeiten  her  ziemlich  die  gleiche 
bis  auf  den  heutigen  Tag:  Kreuzeszeichen,  Inklination,  Genuflexion, 
Erhebung  der  Augen,  Händevereinigung,  Ausstrecken  der  Hände, 
Brustschlagen  und  Kuß;  dazu  noch  einige  Formen,  die  heute  im 
wesentlichen  abgekommen  sind:  Sichniederwerfen,  Ausstrecken 
der  Arme  in  der  Weise,  daß  der  Körper  ein  Kreuz  bildet,  Kreuzen 
der  Unterarme  auf  der  Brust,  Umarmen  (des  Altars).  Alle  diese 
Gebärden  können  sich  auf  die  Bibel:  das  Neue  Testament  ein- 
schließlich der  Briefe,  aber  auch  das  Alte  Testament  berufen  und 
hängen  zum  Teil  auch  mit  den  Adorationsgebärden  des  griechischen 
und  römischen  Altertums  zusammen  2),  —  schon  diese  Anknüpfung 
zeigt  ihre  Ursprünglichkeit,  und  die  Geschichte  der  liturgischen 
Ausdrucksformen  vollzieht  sich  nun  in  der  Weise,  daß  sie  labil 
sind :  daß  die  Stellen  wechseln,  an  denen  sie  verwendet  werden. 
In  dieser  freien  Verwendbarkeit  eines  kleinen,  kaum  erweiterbaren 
Kreises  uralter  Bewegungen  liegt  das  Vorbild,  das  die  Liturgie  dem 
geistlichen  Theater  gab;  der  von  halbtheatralischen  Zügen  durch- 
setzte Charakter  der  Liturgie,  aus  der  sich  ja  das  mittelalterliche 
Drama  einmal  losgelöst  hatte,  und  die  peinlich  genaue  Inszenierung 
der  liturgischen  Bewegungen  3)  legen  dem  geistlichen  Regisseur  des 
Mittelalters  die  Durchführung  eines  strengen  theatralischen  Ritus 
ziemlich  nahe.  In  solchem  Parallelismus  besteht  der  Zusammenhang; 

1)  Von  älteren  Werken  ist  besonders  zu  nennen  das  ungeheuer  gelehrte  Werk  von 
Claude  de  Vert,  Explication  simple,  litteraire  et  historique  des  Ceremonies  de  l'eglise, 
n.  Ed.  (Paris  1709 — ^13),  4  Bände,  das  aber  mehr  erläutert  als  zusammenhängend  darstellt 
und  ferner  die  französischen  Verhältnisse  und  zumal  die  Zeit  seit  dem  16.  Jahrhundert 
sehr  bevorzugt;  ferner  Gerbertus,  Vetus  Liturgia  alemannica  (St.  Blasien  1776)  2  Bände, 
bei  dem  aber  die  Beobachtung  der  Ausdrucksformen  zurücktritt.  Das  riesige  achtbändige 
Werk  von  Ch.  Rohault  de  Fleury,  La  Messe.  Etudes  archeologiques  sur  ses  monu- 
ments  (Paris  1883—89  )streift  die  körperliche  Beredsamkeit  leider  nur  gelegentlich,  während 
es  die  liturgischen  Gebrauchsgegenstände  bis  ins  einzelne  in  ihrer  historischen  Entwicklung 
vorführt. 

2)  Vgl.  den  Artikel  gestiis  in  F.  X.  Kraus'  Realenzyklopädie  des  christlichen  Alter- 
tums I  (1884)  und  einzelne  Hinweise  bei  Sittl,  Die  Gebärden  der  Griechen  imd  Römer 
(Leipzig  1890). 

3)  Man  ese  nur  etwa  die  unsäglich  genauen  Vorschriften,  die  in  dem  vielbenutzten 
„Repertorium  Rituuni"  von  Ph.  Hart  mann  (9.  Aufl.  Paderborn  1901,    es  gibt  aber  auch 


204  Schauspielkunst  imd  Liturgie. 

weniger  in  einer  direkten  Einwirkung  des  liturgischen  Gestus  auf 
die  theatralische  Bewegung,  hnmerhin  ist  ein  Moment  bemerkens- 
wert. In  den  Evangelien  besteht  die  Anbetung  oder  Ehrerbietigkeits- 
bezeigung  gewöhnlich  darin,  daß  man  zu  Boden  oder  geradezu  auf 
das  Angesicht  fällt;  daneben  kommt,  wenn  auch  seltener,  das 
Kniebeugen  vor.  Auf  dem  deutschen  Theater  des  Mittelalters  ist 
das  Verhältnis  gerade  umgekehrt :  nur  in  einigender  älteren  Denk- 
mäler ist  noch  ein  paarmal  von  procumbere,  procidere  ad  pedes 
Ihefu  die  Rede,  im  übrigen  spielen  neben  gelegentlichen  se  inclinare 
durchaus  die  flexa  geniia  die  entscheidende  Rolle.  Diese  Änderung 
der  geistlichen  Regisseure  mag  vielleicht  mit  auf  rein  theatralische 
Bedürfnisse  zurückzuführen  sein:  es  wird  sich  für  die  Darsteller 
nicht  empfohlen  haben,  auf  den  staubigen  Marktplatz  sich  hinzu- 
werfen und  so  das  ganze  Kostüm  zu  beschmutzen;  in  der  Haupt- 
sache aber  handelt  es  sich  gewiß  um  eine  Anpassung  an  die  lit- 
urgischen Formen  der  Anbetung,  die  wie  heute  wesentlich  nur  in 
genuflexio  und  inclinatio  bestanden  haben  werden  i).  Dagegen 
werden  die  Hand-  und  Armbewegungen,  die  bei  der  liturgischen 
Adoration  nach  dazu  kommen,  von  der  theatralischen  Darstellung 
verschmäht:  hier  steht  doch  das  dogmatisch-historische  Prinzip  dem 
Speziell-Liturgischen  voran,  um  so  mehr  als  man  mit  solcher  Zu- 
lassung von  Arm-  und  Handgesten  eine  Stelle  geschaffen  hätte,  an 
der  die  Neigung  zu  einer  Verweltlichung  der  Darstellung  weiter 
hätte  einsetzen  können. 

Unsere  Auffassung  nun,  daß  es  sich  in  dieser  Behandlung  der 
körperlichen  Beredsamkeit  um  die  besondere  theatralische  Aus- 
schon eine  11.  Aufl.)  S.  198  ff.  dem  Priester,  der  das  Officium  divinum  vollzieht,  in  bezug  auf 
die  körperliche  Beredsamkeit  gemacht  werden.  Die  Strenge  des  Zeremoniells  wird  im  13. 
bis  15.  Jahrhundert  kaum  anders  gewesen  sein. 

1)  Was  heute  im  kirchlichen  Gebrauch  prostratio  heißt,  ist  Genuflexion  beider  Knie 
verbunden  mit  tiefer  Verbeugung,  vgl.  Hartmann,  Repertorium  Rituum  S.  202;  doch 
scheint  wirkliche  Prostration  bei  einigen  Orden  noch  vorzukommen.  Wie  weit  sie  im  Mittel- 
alter im  Gebrauch  war  oder  wie  weit  wir  in  den  Vorschriften  der  Ritualbücher  bei  dem 
prosfernere  und  daher  auch  bei  dem  procumbere  der  älteren  Thealertexte  an  Kniebeugen 
denken  müssen,  wird  sich  vorläufig  nicht  entscheiden  lassen,  um  so  weniger  als  eigentlich 
technische  Illustrationen  zu  den  Ritualbüchern  fehlen:  ich  kenne  nur  die  paar  Bilder,  die 
Gerbertus  (Monumenta  veteris  liturgiae  alemannicae,  1777,  I,  S.  234ff.)  aus  einem  Codex 
St.  Blasiensis  des  10.  oder  11.  Jahrhunderts  wiedergibt,  und  einige  liturgisch-technische 
Illustrationen,  die  ein  wenig  späteres  Fuldaer  Sakramentar  enthält  (Handschrift  in  Göttingen: 
s.  Beissel:  Zeitschrift  für  christliche  Kunst  I,  S.  65 f.);  die  Ritualbücher  des  späteren 
Mittelalters  jedenfalls  sind,  wie  mir  ein  ausgezeichneter  Kenner :  Herr  Pfarrer  Dr.  A.  Schön- 
felder in  Mühlbock  auf  meine  Frage  mitteilt,  nicht  illustriert  gewesen.  Liturgische  Gesten 
aber  den  bildlichen  Darstellungen  heiliger  Vorgänge  zu  entnehmen  und  für  naturalistische 
zu  erklären,  halte  ich  für  bedenklich.  —  Ebenso  wird  es  sich  kaum  ausmachen  lassen, 
ob  es  sich  bei  der  Genuflexio  etwa  nur  um  ein  bloßes  Knixen,  nicht  um  ein  wirkliches 
Niederknien  gehandelt  hat.  Die  vielen  Bilder,  auf  denen  der  bloße  Knix  dargestellt  wird, 
sind  kein  Beweis  für  das  nicht  völlige  Niederknien:  es  kann  sich  da  um  den  transitorischen 
Moment  vor  dem  Knien  handeln  oder  um  den  sog.  Knielauf. 


Die  Gesten  der  neutestainetitlichen  Erzählung  in  Deutscliland.  205 

prägung  einer  allgemein  mittelalterlichen  Bedingtheit  handelt,  findet 
eine  neue  und  lehrreiche  Bestätigung,  wenn  wir  zum  Vergleich  die 
beiden  andern  Gebiete  heranziehen,  auf  denen  die  mit  Jesu  Ge- 
schichte zusammenhängenden  Seelenvorgänge  ihren  körperlichen 
Ausdruck  finden:   das  geistUche  Epos  und  die  bildende  Kunst. 


Die  Gesten  der  neutestamentlichen  Erzählung  in  Deutschland. 

Ein  vollständig  vergleichbares  Material  haben  wir  ja  nun  freilich 
nicht,  wenn  wir  zunächst  die  in  den  erzählenden  Dichtungen  von 
Christi  Leben  und  Sterben  enthaltenen  Angaben  über  körperlichen 
Ausdruck  des  Seelischen  neben  die  szenischen  Bemerkungen  der 
Dramen  legen.  Der  Epiker  steht  im  Bann  der  Alliterationsnot  oder  des 
Reimzwanges  und  wird  leicht  der  Versuchung  unterliegen,  sich  durch 
den  Zusatz  einer  Geste  aus  einer  formalen  Verlegenheit  zu  helfen ; 
dem  erzählenden  Dichter,  der  die  heiligen  Vorgänge  behandelt,  pflegt, 
auch  wenn  er  Geistlicher  ist,  die  welthche  Epik  nicht  ganz  fremd 
zu  sein,  und  so  hat  er  es  zumal  bei  dem  so  oft  formelhaften 
Charakter  der  mittelhochdeutschen  Poesie  mitunter  schwer,  der 
Suggestion  zu  widerstehen  und  keine  modern  weltlichen  Gesten  ins 
heilige  Land  zu  übertragen.  Zunächst  aber  ist  treuer  Anschluß 
Grundsatz  der  geistlichen  Poeten,  und  von  dem  Bilde,  das  die  spä- 
tere geistliche  Schauspielkunst  bietet,  sind  wir  in  den  Evangelien- 
harmonien des  zehnten  Jahrhunderts  nicht  sehr  weit  entfernt,  zu- 
mal auch  hier  neben  den  kanonischen  Texten  die  Apokryphen  als 
Grundlage  kaum  in  Betracht  kommen  i).  Als  Grunderscheinung 
auch  hier  die  auffallende  Spärlichkeit  der  Gesten  und  Stimmfarben, 
das  ängstliche  Meiden  aller  individuell  gesehenen,  modernen  Formen, 
das  getreue  Herübernehmen  der  Angaben  der  Quelle  und  zwar 
auch  hier  wie  auf  dem  Theater  in  dem  Sinne,  daß  die  bezeichnenden 
Gesten  der  Peripetiestellen  erhalten  sind,  die  minder  eigenartigen 
dagegen  den  Platz  wechseln :  gelegentlich  fortgelassen  und  dagegen 
anderwärts  öfter  angewendet  werden  können;  der  späteren  Haltung 
des  Theaters  entsprechend  ferner  der  Umstand,  daß  bis  auf  den 
Blick  der  Augen  der  Gesichtsausdruck  nicht  verwendet  wird  und 
daß  die  Bewegung  der  Arme  zurücktritt:  auch  das  hier  wie  dort 
durch  den  genauen  Anschluß  an  die  Vorlage.  Leise,  nur  dem 
Epischen  eigene  Nuancierungen  stellen  sich  freilich  gelegentlich 
schon  ein :  ein  Bleichwerden  etwa,  das  auf  dem  Theater  undenkbar 
ist;  Christus  sieht  bei  Otfried,  der  hier  Bedas  Kommentar  benutzt, 
den  verleugnenden  Jünger  mit  gnädigem  Augenausdruck  an;  das 
Schlagen  der  Klagenden    an    die  Brust,    das    im  Evangelium  zwar 


1)  Von   dem   Verliältnis   Otfridischer  Gebärdensprache    zu   der   der    bildenden   Kunst 
wird  noch  die  Rede  sein. 


206  Diß  Gesten  der  neutestamentlichen  Erzählung  in  Deutschland. 

vorkommt,    vom  Theater   aber  aus  dogmatischen  und  liturgischen 
Gründen    verschmäht   wird,    wird    mehrfach    erwähnt,    und  einmal 
schließt  sich  sogar  Haarraufen  an,   ja  eine  ganz  individuelle  Fort- 
bildung ist  möglich:    Kaiphas  springt   zornig   vom  Stuhl   auf;    die 
liturgiegemäße  Ersetzung  des  prosternere  durch  das  genuflectere  ist 
nur  im  Heiland  öfter  zu  beobachten;   die  Verwendung  der  Stimm- 
töne ist  sehr  eingeschränkt  —  das  Weinen  überwiegt  durchaus  um 
so  mehr,  als  im  Heiland  wie  bei  Otfrid  zugunsten  einer  seltsamen 
Freude   an  der  Träne    die    peinliche  Wiedergabe   der  kanonischen 
Erzählung  nicht  ganz  selten  unterlassen  ist.    Ein  ähnliches  Gesamt- 
bild:   im  allgemeinen    quellentreu,    hie  und  da    aber  einmal,    zum 
Teil   durch    den  Reim    befördert,    ein    kleiner  Zusatzzug,    der  vom 
Historischen  und  Strengliturgischen  sich  entfernt,   findet  sich  noch 
im  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts,  im  Leben  Jesu  der  Vorauer 
Handschrift.    Wenn  dann  aber  in   der  dichterischen  Erzählung  der 
heiligen  Hergänge  ein  Umschwung  sich  ankündigt,  soweit  die  Dar- 
stellung der  körperlichen  Beredsamkeit  in  Frage  kommt,  und  somit 
eine  schärfere  Scheidung  des  Geistlich-Epischen  und  des  Geistlich- 
Theatralischen   sich  ergibt,    so  ist  das  nicht   sowohl  auf  eine  selb- 
ständige Fortbildung  jener  geringen  Ansätze   zu  größerer  Freiheit, 
auch  nicht  auf    die  Umgestaltung   der  weltlichen  Kultur   und   der 
weltlichen  Dichtung,    als  vielmehr  darauf  zurückzuführen,    daß  die 
geistlichen  Poeten  sich  meist  nicht  mehr  damit  begnügen,  die  ka- 
nonischen Texte  zu  bearbeiten,    sondern  daß  die  neue  erzählungs- 
frohe Zeit  nun  mit  Vorliebe  zu  den  Apokryphen  greift,  die,  wie  wir 
sahen,    das  Theater  doch    immer  nur  nebenher  heranzieht.    Noch 
sind  die  Folgen  nicht  allzu  groß:  eine  deutliche  Vorstellung  von  der 
Sparsamkeit  der  kanonischen  Gesten  bleibt  bestehen,   zumal  wenn 
die  Bearbeiter  an  die  Hergänge  in  Christi  Leben  kommen,   für  die 
die  vier  Evangelien  die  beste  Quelle  bleiben.    Aber  diese  Sparsam- 
keit wird  angesichts  der  einreißenden  Buntscheckigkeit  des  Grund- 
materials nun   mitunter   so    groß,    daß,    wie  in  der  „Erlösung"  des 
ausgehenden  13.  und  dem  Passional  des  beginnenden  M.Jahrhunderts, 
auch  jene  stabile  Gestenreihe  der  Peripetiestelle  auf  wenige  Szenen 
zusammenschrumpft,    während    das    Theater   gerade    sie    durchaus 
festhält.     Ferner:    die   apokryphen  Texte   selbst  geben,   wie  schon 
erwähnt,   positiv    genommen   nicht  so  viel   den  Evangelien  fremde 
Gesten  her,    und   es    mag  sogar  auffallen,    daß  diese  etwa  in  dem 
deutschen  Nicodemusevangelium  des  14.  Jahrhunderts  wie  absichtlich 
ausgemerzt    erscheinen.    Aber   diese   Gesten    der    neuen  Vorlagen 
sind  nicht  wie  die  der  heiligen  Texte  durch  ausdeutende  Kommen- 
tare  gedeckt,    und    so    kann    hier    gelegentlich    ein    moderner  Zug 
leichter  sich  einschleichen  als  vorher,  die  Hand  eine  etwas  größere 
Rolle  spielen  imd  so  fort.     Und  wenn  einmal   ein  nicht  geistlicher 
Dichter  über  eine  solche  apokryphe  Quelle  kommt  wie  Konrad  von 


Umschwung  durch   die  Marienepik.  207 

Fussesbrunnen,  der  im  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  nach  einem  Teil 
des  Pseudo-Matthäusevangehums  die  Kindheit  Jesu  bearbeitete,  so 
bekommen  wir  zu  lesen,  daß  Maria  bei  der  Erscheinung  des  Engels 
Gabriel  die  Hände  in  den  Schoß  fielen,  daß  Joseph,  als  er  Maria 
schwanger  findet,  vor  Leid  sein  Gewand  zerrte  und  in  der  Über- 
zeugung, der  Engel  sei  ein  Betrüger  gewesen,  mit  den  Fäusten 
gegen  sein  Herz  schlägt.  Solche  Züge  fallen  völlig  aus  dem  Stil 
des  Evangeliums,  des  Theaters,  des  geistlichen  Epos  heraus  und 
weisen  auf  die  weltliche  erzählende  Dichtung  hin. 

Auch  von  hier  aber  kommt  die  endgültige  Fortbildung  nicht, 
sondern  von  dem  Umstand,  daß  sich  noch  eine  neue  letzte  Quelle 
für  heilige  Erzählung  findet,  die  eine  noch  größere  Freiheit  vom 
Kirchlichen  ermöglicht.  Die  apokryphen  Evangelien  waren  doch 
immerhin  auch  ehrwürdige  Berichte  aus  alter  Zeit  gewesen;  nun 
aber  handelt  es  sich  um  schriftstellerische  Erzeugnisse  der  unmittel- 
baren Gegenwart.  Über  die  Vorgeschichte,  die  Ehegeschichte  und 
den  Tod  der  Jungfrau  Maria,  die  mit  so  überwältigender  Macht  in 
den  christlichen  Kult  und  die  christliche  Kunst  eingetreten  war, 
gaben  jene  Apokryphen  Auskunft;  in  Christi  Leidensgeschichte  aber, 
die  nun  auf  der  Höhe  des  Mittelalters  das  wesentliche  Interesse  in 
Anspruch  nahm,  gaben  die  Evangelien  ihr  nur  einen  kleinen  Platz. 
Man  begnügte  sich  zunächst  damit,  ihre  Klagen  um  Christi  Leiden 
und  Tod  lyrisch  in  lateinischen  und  deutschen  Dichtungen  zum 
Ausdruck  kommen  zu  lassen;  aber  das  epische  Zeitalter  verlangte 
auch  eine  gewisse  erzählende  Form.  Hilfe  kam  von  dem  Lande, 
das  überhaupt  das  Zentrum  der  epischen  Kunst  seit  dem  zwölften 
Jahrhundert  darstellt;  wenigstens  geht  der  in  zahlreichen  Hand- 
schriften und  Frühdrucken  verbreitete  Tractatus  de  planctu  beatae 
Mariae,  der  den  Übergang  von  der  Lyrik  zur  Epik  darstellt,  unter 
dem  Namen  des  heiligen  Bernhard  von  Clairvauxi).  Hier  sind  nun 
die  Schmerzensergüsse  der  Maria  auf  die  fünf  Situationen:  Kreuz- 
tragung,  Kreuzigung,  Tod,  Kreuzabnahme  und  Grablegung  verteilt, 
und  die  fünf  Abschnitte  des  lyrischen  Monologs  sind  durch  epische 
Bindeglieder  zusammengehalten,  die  besonders  durch  den  Hinweis 
auf  körperliche  Ausdrucksformen  des  Schmerzes  gebildet  werden. 
Zunächst  bis  zu  Christi  Hinweis  auf  Johannes  berichtet  die  ver- 
klärte Maria  dem  Verfasser  den  Hergang,  dann  nimmt  dieser 
selbst  das  Worts);  und  wenn  in  den  ersten  Teilen  die  rehgiöse 
Sentimentalität  der  Zeit  nur  in  einer  besonders  starken  Ausnutzung 


1)  Janauscheck,  Bibliotheca  Bernhardina  (Wien  1891),  weiß  auch  nichts  Positives 
über  den  Vf.  anzugeben ;  ebensowenig  Wechsler,  Die  roman.  Marlenklagen  (Halle  1893)  S.17. 

2)  Diese  plötzliche  übergangslose  Veränderung  scheint  mir  darauf  hinzuweisen,  daß 
hier  zwei  Arbeiten  kontaminiert  sind,  daß  also  die  erste  Einführung  heftiger  Gestikulation 
in  die  Darstellung  heiliger  Hergänge  noch  etwas  weiter  zurück  verfolgt  werden  könnte  — 
aber  dem  darf  hier  natürlich  nicht  weiter  nachgegangen  werden. 


208  Umschwung  durch  die  Marienepik. 

der  biblisch-liturgisch  zulässigen  Klagetöne  und  Tränenströme  sich 
genug  tut,  setzt  dann  mit  Christi  Tod  eine  wahrhaft  Bernhardische 
Pathetik  auch  in  der  Auswertung  der  Gesten  Maria  ein:  nicht  nur 
fließen  die  Tränen  ins  Ungemessene  i),    sondern   der  ganze  Körper 
tritt  in  Aktion:  ohnmächtig  sinkt  Maria  nieder,  sie  steht  wieder  auf, 
geht  ruhelos  einher,  sie  umarmt  und  küßt  die  Leiche  des  Sohnes, 
und   vor   allem:    nun    werden    auch    die  Arme  gebraucht,    um  der 
schmerzenden  Sehnsucht  einen  Ausdruck  zu  leihen;  wiederholt  heißt 
es:  manus  in  altiim  levabat  —   dem  Kreuz  entgegen,    an  dem  der 
Geliebte  unerreichbar  hangt,  und  mit  dem  se  ad  cervicem  manibiis 
percutiebat  tritt  eine  neue  eigenartige  Klagegebärde  ein.    Mit  dieser 
ersten  Emanzipation  aber  ist  das  Signal  gegeben  für  eine  Lockerung 
der  Gesamtbeschränkung  auf  dem  Gebiete  der  neutestamentlichen 
Erzählung  auch  für  Deutschland.    Die  vielverbreitete  „Klage  unser 
Frauen",  die  eine  erweiternde  Bearbeitung  des  Planctus  ist-),  über- 
nimmt jene  Lebhaftigkeit  der  Gebärdensprache  und  setzt  gar  für  das 
übliche  lacrimas  fiindere  der  Vorlage  das  dort  noch  nicht  gewagte 
fie  wunden  ir  hende  ein.    Noch  weiter  ist  die  Freiheit  getrieben  bei 
dem   wohl   mit    Hugo    von    Trimberg   identischen   Verfasser   einer 
bis  ins  16.  Jahrhundert   vielbenutzten  Vita    beatae  virginis    et  sal- 
vatoris  rhythmica^),    die     auf    apokryphe  Evangelien    und   Legen- 
den   viel  mehr    sich   stützt    als   auf  die  kanonischen  Berichte  und 
für   die    Schmerzen    der    Maria    den    eben    behandelten    Planctus 
zugrunde  legt.    Die    Schranken    sind   gefallen,    und  so  tobt  Maria 
ihren  Jammer   in   einer   noch    weiter  gehenden  Gestikulation  aus, 
die  hier  sogar  schon  vor  der  Kreuztragung  einsetzt  (v.  5078  ff.): 
Complodit  manus,  tundens  pectus,  stridat,  clamat,  plorat, 
Evulsit  crines,  peplum  scidit,  caput  verberavit, 
Genas  sulcans  unguibus  vestes  laceravit, 
Modo  cadit,  modo  surgit,  nunc  stabat,  nunc  sedebat, 
Sepe  versus  filium  manus  extendebat. 
Solche  Schilderungen  kommen  immer  wieder,    und   nun  wird  auch 
das  Gesicht  der  Verzweifelnden  genauer  beschrieben  (v.  5495  ff.) : 
Tantum  ploraverat  lacrimas  fundendo, 
Quod  ipsius  oculi  iam  sanguine  rubebant 
Et  ipsius  palpebre  corrose  iam  tumebant, 
Atque  sue  rosee  gene  iam  pallebant, 
Et  fuscata  lacrimis  facies  marcebat  .  .  . 

1)  Gesichtsmimik  bleibt  wieder  auf  pallere  und  riilUis  beiiiijiiiis  beschränkt. 

2|  Her.  von  Milchsack,  Beiträge  z.  Gesch.  der  deutschen  Spraclie  und  Literatur  5, 
S.  193{f.,  noch  ohne  den  richtigen  Quellennachweis.  S.  dann  Piper,  Die  geistliche  Dichtung 
des  Mittelahers  1,  S.  307.  Vgl.  ferner  die  mnd.  Bearbeitung,  die  F.  Rohde  herausge- 
gel)en  hat  (Königsb.  Diss.  1911).  Bei  Walther  von  der  Vogelweide  (37,  9.  18.  21)  neben 
dem  jämetiichen  we/ne/j  wenigstens  auch:  f'i  verlos  ir  varwe  .  .  .  .  fie  feie  iinmehtig  nider 

3)  Her.  von  Vögtlin:  Slullg.  Lif.  Ver.  180  (1888);  vgl.  Ja  ekle  i  n  :  Frogr.  Bamberg  1901. 


Die  Gebärden  der  Marienepik.  209 

Himmelweit  sind  wir  hier  von  der  dogmatisch  begründeten  Art 
der  älteren  Evangelienharmonie  und  gar  von  der  noch  dazu  hturgisch 
geforderten  Kargheit  der  theatralischen  Vorführung  entfernt. 

Und  doch  —  es  finden  sich  deutliche  Zeichen,  daß  das  aus- 
gehende Mittelalter  neben  solcher  Entartung  der  alten  strengen 
Darstellung  doch  auch  in  der  Erzählung  ein  Gefühl  dafür  hat,  daß 
jene  neuen  Elemente  eigentlich  nicht  zulässig  sind.  Wohl  tritt 
hier,  wo  die  Kunst  mit  dem  gottesdienstlichen  Betrieb  keinerlei  offi- 
ziellen Zusammenhang  hat,  die  eigentliche  Evangeliendichtung  auf 
kanonischer  Grundlage  mit  Ausnahme  der  ganz  kurzen  „Tagzeiten" 
zugunsten  der  Legendenpoesie  ganz  zurück,  —  der  „Kreuzträger" 
des  Johannes  von  Frankenstein  aus  dem  14.  Jahrhundert  ist  halb 
und  halb  gereimte  Abhandlung,  immerhin  in  bezug  auf  die  Be- 
handlung der  labilen  und  stabilen  Gesten,  welch  letztere  hier  auch 
in  umständlicher  Dogmatik  erläutert  sind,  durchaus  archaischen 
Charakters;  die  „Passio"  des  Johannes  Rothe  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert bietet,  so  weit  wir  sie  besitzen,  nur  Pilatuslegende.  Be- 
zeichnend aber  ist  es,  daß  jener  Gestikulationsreichtum  der  Vita 
Mariae  auf  die  Schmerzkapitel  beschränkt  bleibt,  während  im  übrigen 
vielfach  eine  besonders  altertümliche  Dürftigkeit  herrscht.  Be- 
zeichnend ferner,  daß  zwar  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  Walter 
von  Rheinaus  deutsche  Wiedergabe  der  Vita  wie  alles  andere  so 
auch  die  barocke  Gebärdensprache  der  lüageabschnitte  unverändert 
herübernimmt,  daß  aber  im  nächsten  Jahrhundert  der  Bruder 
Philipp,  dessen  Marienleben  sich  an  das  gleiche  Original  hält,  die 
lebhaften  Klänge  ganz  beseitigt  oder  doch  so  stark  gedämpft  hat, 
daß  sie  kaum  noch  aus  dem  Gesamtstil  herausfallen.  Das  am 
meisten  Charakteristische  aber  findet  sich  in  einer  der  prosaischen 
Passionsdarstellungen  in  deutscher  Sprache,  die  im  15.  Jahrhundert 
neben  ledighch  mit  Bibelworten  arbeitenden  Evangelienharmonien 
weit  verbreitet  ist^).  Hier  ist  zwar  die  Schilderung  körperlichen 
Schmerzensausdrucks  ins  Barocke  gesteigert,  die  Vorführung  der 
jüdischen  Grausamkeit  und  der  Leiden  Christi  so  detailUert  ausgemalt, 
daß  man  (vgl.  o.  S.  148)  geneigt  wird,  die  Ausgestaltung  der  Marter- 
szene im  Passionsspiel  nicht  nur  auf  städtischen  Naturalismus  zu- 
rückzuführen —  die  Ausmalung  des  seelischen  Leides  dagegen  hält 
sich  in  gemessenen  Grenzen,  und  bei  der  Schilderung  des  furcht- 
baren Schmerzes  der  Gottesmutter  wird  ausdrücklich  hervorgehoben, 
daz  die  Jiinckfraw  dennoch  ir  jiinckfrewlichen  zucht  nye  vergaß, 
daz  fie  het  ir  arm  aiizgeworffen  oder  ir  fti/mm  erhoben  oder  zu  der 
erden  gefallen,  wann  ftill  haymlich  und  verporgen  was  ir  fmeriz  in 
irem  hertzen^).    Das  ist  doch  wohl  ein  bewußter  Protest  des  Ver- 

1)  überliefert  ist  siez.  B.  in  den  Berliner  Mss.  germ.  4^  127,  167;  fol.  1222  (wo  aber 
die  oben  zitierte  Marienstelle  ausgelassen  scheint). 

2)  Ähnlich,    wenn   auch  nicht   so   deutlich,    heißt  es  in   einer  Erörterung   De  iiostra 
H  e  r  r  m  a  n  u ,  Tlieater.  1  -1 


210     Die  Gesten  in  der  geistlichen  Bildlvunst.    Liturgisclie  und  dogmatische  Bindung. 

fassers    gegen    die  Auswüchse    der   Marienepik.     Und    ein  Protest 
vielleicht  auch  gegen  die  Darstellung  der  bildenden  Kunst. 

Die  Gesten  in  der  geistlichen  Bildkunst  des  deutschen  Mittelalters. 

Zunächst  scheint  es  freilich,  wenn  wir  es  nun  wagen i),  die 
Verhältnisse  in  der  bildenden  Kunst  ins  Auge  zu  fassen,  um 
auch  von  dorther  die  Gestaltung  der  theatralischen  Gebärde  zu  be- 
leuchten, als  ob  zu  einer  solchen  Klage  über  künstlerische  Zügel- 
losigkeit  dort  gar  nicht  die  Möglichkeit  gegeben  sein  kann.  Denn 
im  Gegensatz  zu  der  epischen  Behandlung  des  Heilandslebens,  die 
von  vornherein  auf  Außerkirchlichkeit  gestellt  ist,  und  in  weit 
höherem  Grade  als  die  Vorführung  der  heiligen  Vorgänge  in  der 
Theaterkunst,  die  rasch  aus  dem  Banne  des  Gottesdienstes  entlassen, 
doch  nur  den  Stempel  der  Nebenkirchlichkeit,  die  geisthche  Auf- 
sicht behält,  bleibt  die  Darstellung  Christi  und  seines  Lebenskreises 
durch  die  bildende  Kunst  in  allem  Wesentlichen  unmittelbare  Ver- 
anstaltung der  Kirche.  Sie  ist  geradezu  ein  Teil  des  Gottesdienstes: 
bestimmt  zur  Ausschmückung  des  Gotteshauses  und  der  dem  Gottes- 
dienst gewidmeten  Handschriften,  vielfach  in  der  Absicht  dargeboten, 
dem  Laien  die  Bekanntschaft  mit  den  heiligen  Hergängen  durch  die 
Anschauung  zu  vermitteln,  weil  ihm  die  Darstellung  durch  das 
Wort  bei  der  Fremdheit  der  Sprache  unverständhch  bleiben  muß. 
So  ist  es  von  vornherein  wahrscheinlich,  daß  die  Auswahl  und  die 
Ausführung  der  darzubietenden  Szenen  sehr  stark  von  gottesdienst- 
lichen und  dogmatischen  Standpunkten  aus  getroffen  sein  muß 
und  daß,  nachdem  in  der  frühchristlichen  Zeit  vor  der  strengen 
Durchführung  der  Kanonbeobachtung  und  der  liturgischen  Gesetz- 
mäßigkeit auch  die  nicht  kanonischen  Evangelienerzählungen  einen 
gewissen  Einfluß  auf  die  Kunst  geübt  hatten,  neues  Eindringen 
apokrypher  und  legendärer  Elemente  im  allgemeinen  immer  erst 
dann  möglich  wurde,  wenn  der  Gottesdienst  derartigen  Dingen  sich 


doinina  de  pietate,  die  Grässe  im  Anhang  zur  Legenda  aurea  des  Jacobus  a  Voragine 
abdruckt  (Dresden  1843  S.  937):  ,  .  .  non  capillos  vel  viiltiim  fcindebat,  quia  vidua  et  sine 
filin  consolatore  reinanebat,  sed  stabat  verecunda,  modesta,  laciyinis  plena.  doloribiis 
irnmersa.     Vgl.  auch  Zappert,  Note  2ß(i. 

1)  Angesichts  des  kunstgeschichtlichen  Betriebes  der  Gegenwart,  der  in  seiner  we- 
sentlich formgeschichtlichen  Betrachtungsweise  so  glänzende  Erfolge  erzielt,  dafj  er  die  zur 
Ergänzung  des  Gesamtverständnisses  auf  dem  Gebiete  des  Mittelalters  unentbehrliche  ikono- 
graphische  Betrachtungsweise  allzu  sehr  vernachlässigt,  ist  es  nicht  ganz  leicht,  sich  hier 
zu  orientieren.  Ein  tüchtiger  Führer  ist  F.  X.  Kraus,  Geschichte  der  christlichen  Kunst, 
Bd.  11,  1  (Freiburg  1897);  danetien  und  im  besondern  für  Deutschland  etwa  noch  K.  Bergner, 
Handbuch  der  kirchlichen  Kunslallertümer  in  Deutschland  (Leipzig  1905).  Wir  haben  uns 
aber  nicht  damit  begnügt,  diese  Werke  und  die  Sonderuntersuchungen,  von  denen  einige 
weiterhin  genannt  sind,  auszunutzen,  sondern  das  künstlerische  Material  selbst,  soweit 
es  in  Druckwerken  oder  Photographien  zugänglich  war,  zum  großen  Teil  selbst  durch,- 
gearbeitet. 


Auswahl  der  Szenen.     Älteste  Reihe:  Perikopenkiinst.  211 

nicht  mehr  verschloß.  Solche  Erfüllung  der  Kunst  mit  liturgischen 
und  dogmatischen  Geheimbeziehungen  aber  ist  dadurch  ermöglicht, 
daß  die  Kunst  zunächst  viele  Jahrhunderte  lang  allein  durch  Geist- 
liche ausgeübt  zu  sein  scheint  (man  denke  vor  allem  an  die  Bene- 
diktiner) und  daß  dann  in  der  letzten  mittelalterlichen  Epoche,  als 
auch  weltliche  Meister  und  sie  in  erster  Reihe  die  Kunst  be- 
treiben, die  geistliche  Kontrolle,  unter  der  der  Maler  zu  arbeiten  hat, 
einen  gewissen  Ersatz  bietet.  Dienste  in  dieser  Richtung  leisteten 
im  späteren  Mittelalter  wohl  auch  die  sogenannten  Bibliae  pauperiim, 
unter  denen  man  sich  durchaus  keine  biblischen  Bilderhandschriften 
und  Bilderbücher  für  den  zahlungsunfähigen  Mann  vorstellen  soll ; 
darf  man  in  ihnen  auch  nicht  etwa,  wie  es  neuerdings  geschehen  ist, 
geradezu  Malerbücher  sehen,  wie  es  für  die  byzantinische,  noch 
weit  strenger  gebundene  Kunst  durch  das  berühmte  Buch  vom 
Berge  Athos  dargestellt  wird,  so  konnten  sie  doch  wohl  dazu  dienen, 
dem  nicht  dogmatisch  gebildeten  Maler  die  Einstellung  in  die  kirch- 
lichen Ideen  ermöglichen  zu  helfen. 

Man  wird  sagen  können,  daß  sich  die  Auswahl  der  uns  hier 
interessierenden  neutestamentlichen  Szenen  für  die  bildliche  Dar- 
stellung in  drei  Entwicklungsreihen  vollzieht,  nachdem  die  früh- 
christliche, wesentlich  auf  die  Ausbildung  von  Symbolen  bedachte 
Kunst  nur  ganz  wenige  Historienbilder  vorgeführt  hatte;  diese  drei 
Stufen  sind  aber  nicht  scharf  voneinander  geschieden,  sondern  die 
auf  jeder  wirksamen  Mächte  zeigen  diese  Wirkungskraft  auch  noch 
hie  und  da,  nachdem  sie  im  ganzen  von  neuen  Prinzipien  abgelöst 
sind.  Die  erste  Periode,  die  in  Deutschland  besonders  durch  die 
karohngische  und  ottonische  Kunst i)  vertreten  ist,  ist  im  allerengsteh 
Sinne  als  liturgisch  zu  charakterisieren.  Hier  schließen  sich  die 
bildhchen  Darstellungen  aufs  strengste  an  die  Evangehenabschnitte 
der  kirchlichen  Perikopen  des  sog.  Comes  an :  an  die  den  Evange- 
lien entnommenen  Vorlesungen  des  Gottesdienstes  zumal  der  Sonn- 
und  Festtage,  wie  sie  seit  dem  Anfang  des  achten  Jahrhunderts 
durch  die  römische  Kirche  festgesetzt  sind  und  ohne  grundsätzhch 
allzuwichtige  Veränderungen  das  ganze  Mittelalter  hindurch  bestanden 
haben.  Die  davon  irgendwie  zu  bildnerischer  Darstellung  ver- 
wendbaren Situationen  werden  zum  Miniaturschmuck  der  liturgischen 
Bücher,  in  erster  Reihe  eben  der  Evangeharien,  herangezogen,  ebenso 
aber  auch  (leider  ist  davon  nur  wenig  erhalten)  an  den  Wänden 
des  Gotteshauses  den  Laien  zur  Schau  gestellt.    Die  weitaus  größte 


1)  Wichtigste  Arbeiten:  F.  F.  Leitschuh,  Geschichte  der  karolingischen  Malerei;  ihr 
Bilderkreis  und  seine  Quellen  (Berlin  1894)  und  W.  Vöge,  Eine  deutsche  Malerschule  um 
die  Wende  des  ersten  Jahrtausends  (Trier  1891).  Ikonographische  Übersichten  über 
größere  Materialteile  ferner  bei  St.  Reis  sei,  Die  Bilder  der  Handschrift  des  Kaisers  Otto  zu 
Aachen  (Aachen  1886),  bes.  S.  52 ff.  und  Des  hlg.  Bernward  Evangelienbuch  im  Dom  zu 
HUdesheim  (ffildesheim  1891),  bes.  S.  42  ff. 

14* 


2;[2  Zweite  Reihe:  Typologie. 

Zahl  der  Bilder  gehört  der  Darstellung  der  Lehr-  und  Wunderwirk- 
samkeit Christi  an:  die  sonntäglichen  Lesestücke  sind  wesentlich 
unter  dem  Gesichtspunkt  eines  moralisch-dogmatischen  Zusammen- 
hanges mit  dem  Sinn  des  betreffenden  Tages  gewählt  i),  und  dafür 
kommen  wenigstens  in  der  ottonischen  Kunst  vor  allem  neben 
Christi  Jugend  die  Abschnitte  der  Evangelien  in  Betracht,  die  von 
der  aktiven  Tätigkeit  des  Herrn  handeln;  die  Leidenszeit  steht  sehr 
zurück.  Befördert  mag  diese  Auswahl  der  Bilder  im  ersten  Jahr- 
tausend nebenher  auch  dadurch  sein,  daß  immer  noch  eine  Tradi- 
tion von  den  frühchristhchen  Zeiten  her  bestand,  in  denen  die 
schwer  leidenden  christlichen  Gemeinden  mehr  an  Christi  Glorie 
sich  zu  erfreuen  als  durch  Christi  Martern  noch  stärker  sich  be- 
drücken zu  lassen  gesonnen  waren. 

Schon  unter  der  Herrschaft  dieses  Prinzips  findet  sich  vielfach 
eine  künstlerisch  mitgeteilte  Concordantia  veteris  et  novi  testamenti: 
zu  den  Perikopen  gehören  auch  Abschnitte  aus  dem  alten  Testament, 
und  diese  gehen  mit  den  Stellen  aus  dem  neuen  in  die  bildlichen 
Darstellungen  über.  In  einem  neuen  Sinn  aber  werden  in  der 
nächstfolgenden  Periode  alt-  und  neutestamentliche  Szenen  mit- 
einander vereint:  während  bisher  die  alttestamentlichen  Bilder  auch 
fehlen  konnten,  nichts  direkt  mit  den  neutestamentlichen  zu  tun 
hatten,  ist  jetzt  die  Auswahl  der  letzteren  geradezu  durch  die 
Möglichkeit  bedingt,  die  Bilder  aus  der  altjüdischen  Geschichte  bei- 
geben zu  können,  und  sie  bleibt  im  geheimen  maßgebend  auch 
da,  wo  schließlich  die  alttestamentarischen  Bilder  fortgelassen  und 
nur  die  neutestamentarischen  geboten  werden.  Es  handelt  sich  um 
eine  Ausdehnung  des  von  der  dogmatischen  Schriftstellerei  längst 
ausgebeuteten  Verfahrens,  Stellen  des  alten  Testaments  als  Vor- 
deutungen auf  die  Geschichte  Christi  zu  benutzen,  auf  das  Gebiet 
der  Kunst  2).  In  älteren  Zeiten  finden  sich  hier  Spuren  solcher 
„typologischen"  Malerei  nur  ganz  gelegentlich;  nun  aber  wird  sie 
für  die  späteren  Teile  des  Mittelalters  viel  verwendet  und  besitzt 
eine  Zeitlang  beinahe  die  Alleinherrschaft:  in  Deutschland  seit  dem 
ausgehenden  zwölften  Jahrhundert.  Auf  Wandgemälden  und  Altar- 
bildern, auf  Schnitzaltären  und  Portalskulpturen,  in  Glasgemälden 
und  Stickereien  zeigt  dieses  System  seine  Macht ;  besonders  aber 
beherrscht  es  die  Bilderhandschriften:  jene  schon  oben  erwähnten 
Bibliae  pauperum,    die  dann   noch  in   der  xylographischen  Periode 


1)  Vgl.  etwa  E.  Ranke,  Das  kirchliche  Perikopensystem  aus  den  ältesten  Urkunden 
der  römischen  Liturgie  (Berlin  1847)  S.  2()4ff.  Beissel,  Des  hlg.  Bernward  Evangelien- 
buch S.  51  ff. 

2)  Wichtigste  Arbeiten:  G.  Heider,  Beiträge  zur  christlichen  Typologie  aus  Bilder- 
handschriften des  Mittelalters :  Jahrbuch  der  k.  k.  Zentral-Kommission  zur  Erforschung  und 
Erhaltung  der  Baudenkmale  5  ^Wien  18ßl)  S.  1  —  128;  W.  L.  Schreiber  in  Biblia  pau- 
perum, her.  V.  P.  Heitz  (Straßburg  1903)  S.   1—45. 


Dritte  Reihe:  Vorwiegen  des  Historischen.  213 

eine  wichtige  Rolle  spielen,  und  ihre  Verwandten :  die  Specula  hii- 
manae  salvationis,  Concordantiae  caritatis  und  Bibliae  picturatae.  Für 
die  Auswahl  des  neutestamentlichen  Darstellungsstoffes,  zumal  für 
die  Bevorzugung  oder  Zurückstellung  ganzer  Abschnitte  aus  dem 
Leben  des  Herrn,  gibt  dieses  Konkordanzprinzip  kaum  ganz  ent- 
scheidende Gesichtspunkte  her:  denn  bei  der  scholastisch  ver- 
zwickten Denkweise,  die  solche  Parallelen  ausfindig  macht  und  be- 
greift, wären  zur  Not  wohl  für  die  meisten  neutestamentlichen  Szenen 
alttestamentliche  Entsprechungen  ausfindig  zu  machen  gewesen. 
So  wirkt  wohl  im  einzelnen  die  schlagende  Übereinstimmung  mit 
altjüdischen  Hergängen  hie  und  da  auswahlbestimmend,  im  ganzen 
aber  beginnen  auch  die  Leistungen  der  Bibliae  paiiperum  und  ihrer 
Verwandten,  den  Tendenzen  sich  unterzuordnen,  die  das  ausgehende 
Mittelalter,  wie  wir  alsbald  sehen  werden,  in  bezug  auf  die  Aus- 
wahl des  künstlerischen  Materials  überhaupt  beherrschen. 

Die  dritte,  noch  nicht  behandelte  Reihe  mittelalterlicher  Dar- 
stellung nämlich  ist  so  wenig  sicher  von  dem  eben  behandelten 
Kreise,  ja  auch  von  der  Perikopenkunst  abzugrenzen,  daß  vielmehr 
nicht  nur  ein  zeitliches  Verschwimmen  der  Grenzen,  sondern  auch 
manche  innerliche  Wechselbeziehung  sich  nicht  verkennen  läßt. 
Immerhin  wird  sich  sagen  lassen,  daß  diese  letzte  Richtung  in  ihren 
deutlichen  Ausprägungen  auch  zeitlich  am  letzten  hervortritt.  Daß 
es  sich  nur  um  eine  Richtung  handelt  und  nicht  um  mehrere 
verschiedenartige,  ist  freilich  gegenwärtig  noch  nicht  völlig  sicher; 
doch  scheint  es,  daß  der  spezifisch  historische  Gesichts- 
punkt nun  in  der  Hauptsache  maßgebend  wird^),  wie  denn  jetzt 
auch  die  Hergänge  des  alten  Testaments  denen  des  neuen  nur  in 
ihrer  zeitlichen  Abfolge  vorangestellt  werden  können,  so  daß  auf 
solche  Art  eine  gesamte  historia  sacra  zustande  kommt,  und  wie 
denn  auch  kleinere  in  sich  geschlossene  Ereignisfolgen  in  Bildern 
behandelt  werden.  Nur  muß  man  bedenken,  daß  wir  uns  eben  im 
Mittelalter  befinden  und  daß  neben  der  rein  empirischen  Freude, 
die  die  neuen  Lebenskreise  der  allerletzten  Jahrhunderte  an  dem 
einfachen  Nacheinander  der  Ereignisse  unter  Hervorhebung  mar- 
kanter Situationen  empfinden,  auch  die  rein  dogmatische  Geschichts- 
auffassung der  älteren  Zeit  noch  sehr  lebendig  ist,  die  nicht  sowohl 
auf  Entwicklung  der  Ereignisse  als  auf  die  Entwicklung  der  gött- 
lichen Idee  acht  gibt  und  die  Auswahl  der  darzustellenden  Szenen 
von  solchen  Gedanken  aus  zu  treffen  liebt.  Ein  wirkliches  Ver- 
ständnis für  die  im  späten  Mittelalter  gebräuchlichen  Bilderfolgen 
und  für  die  aus  dem  Zusammenhang  herausgelösten,  aber  doch 
durch    ihn  bedingten    Einzeldarstellungen    wird    sich   erst  erzielen 


1)  So  schon  in  den  Psalterminiaturen  des  13.  Jahrhunderts,  die  Haseloff  untersucht 
hat:  Eine  thüringisch-sächsische  Malerschule  des  13.  Jahrhunderts  (Straßburg  1897),  bes. 
S.  35  ff. 

/ 


214  Auswahl  der  Szenen  im  Ausgang  des  Mittelalters. 

lassen,  wenn  sich  eine  genaue  Kenntnis  der  historiographisch-theo- 
logischen  Ideenwelt  des  Mittelalters  an  eine  genaue  Durchmusterung 
des  ungeheuren  Materials  wagt;  vorläufig  tritt  uns  noch  so  manches 
Rätsel  entgegen,  das  sich  nicht  durch  den  Hinweis  auf  die  in  diesem 
Zeitalter  fortschreitender  Losbindung  der  Geister  allerdings  immer 
mehr  mitbestimmende  individuelle  Vorliebe  der  Künstler  und  des 
Publikums  für  bestimmte  Situationen  wird  lösen  lassen.  Reicher 
als  bisher  wird  Christi  Jugendgeschichte  ausgestaltet  und  nament- 
lich die  Vorgeschichte  seiner  menschlichen  Existenz  in  verschiedenen 
Bildern  behandelt;  die  Zeit  seiner  Lehr-  und  Wundertätigkeit  gibt 
nun  nur  noch  ganz  wenige  Darstellungen  her  oder  fällt  gar  voll- 
ständig aus;  umgekehrt  wird  dagegen  jetzt  der  Passionshergang  in 
eine  ganze  Anzahl  einzelner  Szenen  zerlegt:  beinahe  mehr  noch  als 
der  Auferstehung  und  der  Verklärung  zufallen,  die  das  Ganze  ab- 
schließen. Entscheidend  ist  die  Einschrumpfung  der  Lehr-  und 
Wunderdarstellung  und  die  Ausdehnung  der  Passion  —  bedingt  ist 
solcher  Wandel  wohl  in  erster  Reihe  durch  die  historisch-dogmatische 
Auffassung,  die  in  Christi  Menschwerdung  und  Opfertod  die  eigent- 
lich umwälzenden  Geschichtsmomente  erblickt.  Anderes  wirkt  gewiß 
mit:  so  der  ungeheuere  Eindruck,  den  dieser  lebensbejahenden 
Periode  des  ausgehenden  Mittelalters  gerade  die  von  Stufe  zu  Stufe 
sich  steigernde  Lebensverneinung  des  Leidens  und  Sterbens  Christi 
machen  mußte;  weiter  die  im  12.  und  13.  Jahrhundert  auf  die  Höhe 
geführte  Marienverehrung  i):  man  brauchte  nun  auch  ganze  Dar- 
stellungsreihen des  Lebens  der  Jungfrau,  und  wie  in  ihnen  die  Zeit 
der  aktiven  Lebenswirksamkeit  Christi  beinahe  ganz  zurücktreten 
mußte,  ihre  Teilnahme  an  Christi  Leidensweg  dagegen  ausgestaltet 
werden  konnte,  so  zeigt  sich  nun  auch  in  der  gesamten  neutesta- 
mentlichen  Bildkunst  die  Neigung,  solche  Szenen  vorzuführen,  bei 
denen  Maria  mit  erscheint,  und  führt  den  ikonographischen  Gesamt- 
verlauf ebenfalls  in  die  vorher  gekennzeichnete  Richtung.  Lit- 
urgische Bedürfnisse  im  engeren  Sinn  wirken  auch  in  dieser  Periode 
noch  bestimmend  mit  auf  die  Auswahl  oder  auf  jenes  Herausnehmen 
einzelner  Teile  aus  dem  Gesamthergang  des  Erlöserlebens:  der 
Sonderzweck  einzelner  Gotteshäuser  oder  bestimmter  Teile  des 
Gotteshauses  ist  da  vielfach  maßgebend.  Und  endlich  darf  man 
nicht  vergessen,  daß  wie  in  allen  Perioden  der  hier  in  ihren  Grund- 
zügen geschilderten  Entwicklung  so  namentlich  in  der  letzten  Aus- 
wahl und  Anordnung  der  Darstellungen  auch  von  den  formalen 
Bedingungen  mitbestimmt  sind,  unter  denen  sie  geschaffen  werden, 
—  im  ausgehenden  Mittelalter  am  meisten,  weil  hier  die  Raum- 
verhältnisse: der  Altaranlagen,  der  Portale  etwa,  am  kompliziertesten 


1)  Vgl,  bes.  St.    Bei.ssel,    Die  Verehrung  U.  L.  Frau    in    Deutsehland   während  des 
Mittelalters  (Freiburg   IflOi))  S.    195  ff.      S.  aiicli  o.  S.   207. 


Die  Frage  der  „stabilen  Gesten".  215 

sind.  Die  Geschichte  jedes  einzehien  solcher  Gebilde  scheint  daher 
immer  noch  besondere  ikonographische  Eigentümlichkeiten  in  der 
Behandlung  des  Heilandslebens  erkennen  zai  lassen  i). 

Und  so  vorbereitet  gehen  wir  nun  an  die  Beantwortung  der 
Frage,  die  wir  im  Auge  haben:  wie  verhalten  sich  die  Ausdrucks- 
bewegungen dieser  bildenden  Kunst  zu  denen,  die  wir  für  das 
Theater  festgestellt  haben?  Wir  achten  zunächst  auf  jene  Reihe 
„stabiler  Gesten"  beim  Beginn  der  eigentlichen  Passion,  die  in  der 
Aufführung  regelmäßig  wiederkehren:  Ölberggebet,  Judaskuß,  Um- 
fallen der  Krieger,  Kleidzerreißen  des  Hohenpriesters,  Christi  Blick 
auf  Petrus,  Petri  bitterliches  Weinen  —  wie  stehts  mit  ihnen  in  der 
deutschen  Bildkunst? 

Die  karolingisch-ottonische  Zeit,  die  Perikopenbilderperiode 
stellt  von  den  in  Betracht  kommenden  Szenen  außer  dem  äußerst 
seltenen  Ölberggebet  nur  die  Gefangennahme  und  die  Vorführung 
Christi  vor  den  Hohenpriester  dar;  letztere  bringt  als  Geste  die 
Kleidzerreißung,  jene  nie  das  Zurückfallen  der  Häscher,  sondern 
nur  den  Judaskuß,  der  freilich  mehr  durch  ein  Anlehnen,  gelegentlich 
geradezu  durch  eine  Umarmung  ersetzt  ist:  aus  formalen  Gründen 
jedenfalls.  In  der  typologischen  Darstellungsweise,  zumal  in  ihrer 
schärfsten  Ausprägung,  der  Biblia  pauperiim,  finden  wir  besonders 
gern  den  Judaskuß,  daneben  auch  das  Zurückfallen  der  Häscher 
vorgeführt;  schließlich  geht  auch  in  diesen  Kreis  das  Ölberggebet 
Christi  ein.  Seit  dem  14.  Jahrhundert  nämlich  wird  dieser  spezifisch 
psychologische  Hergang  und  sein  Gestus  ein  Lieblingsgegenstand 
der  Kunst  und  erscheint  auch  beinahe  regelmäßig  in  den  mehr 
historischen  Bilderfolgen,  die  ihn  vor  dieser  Zeit  noch  nicht  auf- 
weisen —  auch  in  ihnen  steht  im  übrigen  der  Judaskuß  obenan: 
kein  Wunder,  da  es  sich  hier  um  etwas  handelt,  was  Gestus  und 
Aktionsmoment  zugleich  ist;  das  Kleidzerreißen  des  Hohepriesters 
und  auch  das  Zurückfallen  der  Juden  sind  gelegentlich  zu  finden 
—  aber  doch  eben  nur  gelegentlich.  Christi  Mahnungsblick  und 
Petri  bittere  Reue  scheinen  in  der  deutschen  Kunst  in  keiner  der 
drei  Entwicklungsreihen  dargestellt  worden  zu  sein. 

„Scheinen"  —  denn  natürlich  läßt  es  sich  nicht  ganz  sicher 
sagen,  ob  nicht  doch  irgend  wo  eine  Vorführung  der  ganz  ver- 
nachlässigten Szenen  auftaucht  oder  ob  die  Zahlen  für  die  ganz 
selten  gebrachten  Momente  nicht  noch  ein  wenig  steigen.  Für 
unsere  Betrachtung  wäre   das  gleichgültig:    wichtig  kann   nur  ein 


1)  Ich  weiß  nur  eine  solche  Sonderdarstellung  zu  nennen:  G.  Sanoner,  La  vie  de 
Jesus-Christ  racontee  par  les  imagiers  du  inoyen  äge  sur  les  portes  d'eglises :  Revue  de 
l'art  chretien  48—51  (1905—1908).  Viel  Material  bei  Müntzenberger  und  Beissel, 
Zur  Kenntnis  und  Würdigung  der  mittelalterlichen  Altäre  Deutschlands  (Frankhirt  a.  M. 
1885— 1905). 


216  Keine  „stabilen  Gesten"  in  der  Bildkunst. 

sehr  häufiges  Vorkommen  dergleichen  Szene  sein,  und  die  Sicherheit 
geben  uns  die  oben  gebotenen  allgemeinen  Auseinandersetzungen, 
daß  von  einer  wesentlichen  Verschiebung  der  eben  gekennzeichneten 
Verhältnisse  kaum  die  Rede  sein  kann.  Da  die  Auswahl  der  Dar- 
stellungen von  den  Perikopen  abhängt,  in  ihnen  aber  die  Passions- 
erzählung des  Lukas  überhaupt  keine  Rolle  spielt,  kann  der  nur 
hier  berichtete  ausdrucksbetonte  Hergang  zwischen  Christus  und 
Petrus  in  der  Kunst  nicht  erscheinen;  da  die  Passionskapitel  aus 
Matthäus  und  Johannes  nicht  wie  so  viele  andere  Evangelienkapitel 
in  kleinen  Abschnitten  an  den  einzelnen  Sonntagen,  sondern  nur 
in  ihrer  Gesamtheit  in  der  Karwoche  verlesen  werden,  so  hat  eine 
Episode  wie  die  des  Zurückfallens  der  Häscher  keine  Aussicht  auf 
Behandlung  in  der  Kunst,  und  auch  die  Ölbergszene  tritt  um  so 
eher  zurück,  als  der  äußerlich  anregendste  Bericht :  der  des  Lukas 
fortbleibt.  Die  typologische  Darstellungsart  wird  wesentlich  auf  die 
Vorführung  der  oben  herausgehobenen  Szenen  beschränkt  geblieben 
sein,  weil  sich  zu  den  übrigen  zwei  Gegenstücke  aus  dem  alten 
Testament  nicht  haben  finden  lassen.  Am  größten  ist  die 
Freiheit  des  Künstlers  in  der  letzten,  der  historischen  Darstellungs- 
reihe, obschon  es  uns  ja  vielleicht  nur  an  der  Erkenntnis  noch 
latenter  Gebundenheiten  gebricht.  Aber  auch  hier  werden  wir 
sagen:  das  völlige  Fehlen  des  mahnenden  Christusblickes  und  der 
Reuetränen  Petri  wie  das  seltene  Vorkommen  namentlich  des  Um- 
fallens der  jüdischen  Häscher  ist  begreiflich.  Die  historische  Be- 
handlung strebt  der  Vorführung  der  Leiden  Christi  zu  und  läßt 
daher  alle  episodisch-retardierenden  Momente  beiseite.  Und  so 
zeigt  es  sich  deutlich:  nirgendwo  bietet  die  bildende  Kunst  jene 
eben  in  ihrer  Aneinanderreihung  imponierende  Folge  der  stabilen 
Gesten,  die  auf  dem  Theater  den  Umschwung  in  Christi  Leben,  den 
Beginn  der  Leidenszeit  sinnfällig  machen. 

Und  noch  in  einem  weiteren  Sinn  können  wir  uns  nun  die  oben 
versuchte  allgemeine  Charakteristik  der  ikonographischen  Ent- 
wicklung für  den  Vergleich  des  Theaters  mit  der  bildenden  Kunst 
zunutze  machen:  der  theatralische  Sinn  der  Hervorhebung  jener, 
durch  das  Original  schon  fast  dramatisch  gebotenen,  Ausdrucks- 
bewegungen an  der  Peripetiestelle  hat  zur  Voraussetzung,  daß  die 
vorhergehenden  wie  die  folgenden  Ereignisse  in  einer  gewissen 
gleichmäßigen  Ausführlichkeit  dem  Publikum  vorgeführt  werden. 
Das  aber  pflegt  in  den  Bilderfolgen  des  Mittelalters  im  allgemeinen 
nicht  der  Fall  zu  sein,  zumal  wenn  wir  diejenigen  ausschließen, 
die  zunächst  zu  einer  fortlaufenden  Betrachtung  nicht  bestimmt 
sind:  die  Handschriftenillustrationen,  Die  im  letzten  Sinne  durch 
die  Perikopen  bedingte  Kunst  der  älteren  Zeit  hat  im  ganzen  über- 


Keine  „stabilen  Gesten".     Die  ,,lal)ilen  Gesten",  217 

haupt  keine  streng  chronologische  Anordnung ').  Im  späteren  Mittel- 
alter ist  die  historische  Anordnung  prinzipiell  wohl  die  übliche; 
eine  Peripetiestelle  durch  Festhaltung  einer  Reihe  bedeutsamer 
Ansdrucksbewegungen  herauszuheben,  kann  aber  darum  hier  nicht 
in  Betracht  kommen,  weil  nun  die  Darstellung  der  Lebenswirksam- 
keit auf  ein  Minimum  zusammengeschmolzen  ist,  so  daß  oft  sogar 
die  Leidensdarstellung  unmittelbar  an  die  Jugendgeschichte  sich 
anschließt.  Ferner  aber  wird  die  strenge  Folge  der  Szenen  oft 
genug  durch  die  Darstellung  einzelner  heiliger  Gestalten,  durch 
Erbärmde-,  Gnadenbilder  und  dgl.  unterbrochen,  oder  jene  formalen 
Rücksichten,  auf  die  Form  des  Altars  z.  B.,  geben  Veranlassung, 
plötzlich  Szenen  aus  ganz  andern  Ereigniskreisen  einzuschalten. 
Endlich  ist  auch  die  erwähnte  Loslösung  bestimmter  Sonderthemata 
nicht  außer  acht  zu  lassen  und  besonders  der  Umstand,  daß  seit  dem 
15.  Jahrhundert  die  Passion  ein  eigener  Gegenstand  für  zahlreiche 
besonders  beliebte  Bilderfolgen  wird  (Dürers  Passionen  sind  ihre 
berühmten  Ausläufer):  hier,  wo  unmittelbar  oder  so  gut  wie  un- 
mittelbar mit  Christi  Leidensgeschichte  eingesetzt  wird,  hätte  es 
gar  keinen  Zweck  gehabt,  die  Eingangsbilder  besonders  herauszu- 
heben. Das  Passionsspiel  dagegen  führt  im  allgemeinen  immer 
Christi  ganzes  Leben  vor,  und  wenn  auch,  jenem  christologischen 
Gesamtzuge  des  ausgehenden  Mittelalters  entsprechend,  auch  hier 
öfters  die  Vorführung  der  Lebenswirksamkeit  auf  ein  paar  Haupt- 
szenen zusammengeschrumpft  ist,  so  nehmen  sie  doch  in  der  Aus- 
gestaltung durch  das  Wort  einen  beträchtlichen  Teil  des  Gesamt- 
umfanges  in  Anspruch  und  ermöglichen  es,  in  dem  Zuschauer 
durch  jene  stabilen  Gebärden  die  Peripetiegefühle  wachzurufen. 
Hier  liegt  ein  wichtiger  Unterschied,  den  die  Passionsdarstellung  auf 
künstlerischem  und  auf  theatralischem  Gebiet,  den  die  Passion 
und  der  Passion  aufweisen. 

Indessen  wenn  wir  so  für  die  „stabilen  Gesten"  die  völlige  Ver- 
schiedenheit der  beiden  Kunstgebiete  nachgewiesen  haben,  so 
könnte  es  doch  um  die  „labilen"  anders  stehen.  Spielt  denn  aber 
überhaupt  die  neutestamentliche  Geste  auf  den  mittelalterlichen 
Bildern  eine  wichtige  Rolle,  fühlt  sich  der  Künstler  durch  die  im 
heiligen  Original  gemachten  Andeutungen  bestimmt  und  gebunden? 
Hat  er  denn  überhaupt  beim  künstlerischen  Schaffen  die  für  seine 
besondere  Darstellung  in  Betracht  kommende  Stelle  vor  sich,  die 
ganze  Bibel  im  Kopfe  und  von  den  Kommentaren  die  gebührende 
Kenntnis?  Man  wird  diese  Fragen  schwerlich  allzuenergisch  be- 
jahen dürfen.     Gewiß   waren    bis  tief   ins  Mittelalter   hinein  wohl 


1)  Man  braucht  also  kaum  noch  besonders  darauf  hinzuweisen,  daß  hier  außerdem 
durch  die  geringere  Differenzierung  der  Passion  nicht  zwei  einander  ebenbürtige  Dar- 
stellungsreihen  einander  gegenüberstehen  würden. 


218  Bibel  und  Bildkunst. 

allein  Geistliche  künstlerisch  tätig;  daß  jedoch  der  Bruder  Maler  auch 
durch  besondere  Gelehrsamkeit  ausgezeichnet  gewesen  sei,  wird 
man  im  allgemeinen  kaum  annehmen  dürfen;  in  den  letzten  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  aber  treten  mehr  und  mehr  weltliche 
Meister,  die  einen  direkten  Zugang  zu  den  heiligen  Schriften  kaum 
besaßen,  an  die  Stelle  der  geistlichen  Künstler.  Immerhin  scheint 
auch  in  diesem  Falle  ein  von  der  Kirche  bestellter  Geistlicher  das 
Programm  aufgestellt  und  die  Ausführung  überwacht  zu  haben  i); 
eine  starke  Berücksichtigung  der  biblischen  Gesten  wäre  wohl  auch 
in  dieser  Kunst  zunächst  anzunehmen.  Maßgebend  können  sie 
aber,  wie  man  leicht  sieht,  jedenfalls  nicht  gewesen  sein:  sonst 
wären  gewiß  alle  d  i  e  biblischen  Situationen  dargestellt  worden,  bei 
denen  die  Evangelien  ausnahmsweise  körperlichen  Seelenausdruck 
erwähnen.  Daß  das  nicht  der  Fall  ist,  hat  schon  der  eben  zu 
Ende  geführte  Abschnitt  unserer  Darstellung  gezeigt;  die  Zahl  der 
trotz  des  zugehörigen  Bibelgestus  nicht  vorgeführten  Szenen  (z.  B. 
Matth.  17,4;  Marc.  8,33;  Luc.  10,39)  ist  auch  sonst  nicht  klein, 
und  zumal  als  dann  die  Vorführung  der  Hergänge  aus  Christi  Lehr- 
und  Wundertätigkeit  sehr  zurücktritt,  bleibt  so  manche  Bibel- 
andeutung ungenutzt.  Umgekehrt  werden  von  früher  Zeit  an  nicht 
wenige  Szenen  im  Bilde  gezeigt,  in  denen  die  Evangelien  nicht 
den  kleinsten  Gestus  erwähnen,  in  denen  aber  seelische  Vorgänge 
für  das  Verständnis  des  Ganzen  mit  berücksichtigt  werden  müssen. 
Die  Bibel  und  die  sich  ihr  anschließende  epische  Erzählung  haben 
hier  den  unmittelbaren  Bericht  oder  das  gesprochene  Wort,  und 
mit  diesem  kommt  auch  das  Theater  schließlich  ganz  gut  aus,  zumal 
ihr  auch  noch  das  akustische  Ausdrucksmittel:  der  Stimmton  und 
dgl.  zur  Verfügung  steht.  Die  bildende  Kunst  kann  in  diesem  Falle 
der  Darstellung  einer  körperlichen,  dem  Auge  zugänglichen  Aus- 
drucksform unmöglich  entraten;  das  nicht  selten  zur  Hilfe  ver- 
wendete Spruchband  ist  doch  nur  ein  kümmerliches  Surrogat  und 
erleichtert  ferner  den  ungelehrten,  des  Lesens  nicht  kundigen 
Kreisen,  für  die  doch  die  Kunstwerke  mit  in  erster  Reihe  bestimmt 
sind,  das  Verständnis  in  keiner  Weise.  Von  vornherein  sehen 
wir  also,  daß  in  der  bildenden  Kunst  die  Ausdrucksgebärde  eine 
viel  größere  Rolle  spielen  muß  als  im  Epos  und  auf  dem  Theater. 
Hier  liegt  nun  der  Gedanke  nahe,  daß  ebenso  wie  bei  der 
theatralischen  Aufführung  wenn  auch  in  weit  häufigerer  Ausnutzung 
das  Prinzip  der  „labilen  Gesten"  in  Anwendung  gekommen  sei, 
daß  die  Künstler  also  die  in  der  heiligen  Schrift  vorkommenden 
Ausdrucksbewegungen,  aber  nur  diese,  überall  zu  ihrer  Verfügung 
gehabt  hätten.  Tatsächlich  aber  konnte  von  einer  solchen  Beschrän- 
kung nicht  die  Rede  sein.   Schon  darum  nicht,  weil  für  den  so  wich- 


1)  Vgl.  Seil  reiber,  Biblia  pauperuin,  S.  7  f. 


Die  größere  Freiheit  der  bildnerischen  Ausdnicksbewegungen.  219 

tigen  Ausdruck  der  Trauer  nicht  genügend  Ausdrucksmittel  zur  Ver- 
fügung standen:  um  so  weniger  als  die  Darstellung  des  Weinens 
lediglich  auf  dem  Gesicht  des  Trauernden  primitiver  Kunst  nicht 
gelingen  konnte.  Das  Zurücktreten  der  Gesichtsmimik  in  der  geist- 
lichen Kunst  während  der  meisten  mittelalterlichen  Jahrhunderte 
brachte  eine  stärkere  Verwendung  der  Arme  und  Hände  mit  sich, 
die  in  der  Bibel  und  so  auch  auf  dem  Theater  nicht  so  sehr  in 
Aktion  treten.  Diese  starke  Betonung  der  Armbewegungen  aber 
ist  auch  aus  spezifisch  bildkünstlerischen,  aus  formalen  Gründen 
vollständig  unentbehrlich:  z.  B.  sind  in  der  Malerei  für  die  Ver- 
bindung der  Personen  miteinander  und  mit  den  leblosen  Gegen- 
ständen, die  das  Bild  enthält,  für  die  Herstellung  der  Richtungs- 
linien, die  der  künstlerischen  Darstellung  erst  ihren  tiefsten  Sinn 
geben,  gerade  die  Arme  eines  der  wichtigsten  Ausdrucksmittel. 

Die  Erkenntnis  solcher  Notwendigkeit  und  ihre  Umsetzung  in 
die  Praxis  braucht  sich  aber  nicht  erst  mühsam  zu  entwickeln, 
sondern  ist  sofort  durch  die  Wirklichkeit,  durch  die  historischen 
Bedingungen  realisiert,  unter  denen  die  christliche  Kunst  sich  ent- 
faltet. Diese  knüpft  wie  in  allen  stilistischen  Dingen  so  auch  in 
bezug  auf  die  Gebärdensprache  naturgemäß  an  die  antike,  speziell 
die  römische  Tradition  an,  neben  der  sie  sich  ja  zunächst  als 
Parallelerscheinung  zu  entwickeln  hat;  jeder  Kimstler  steht  also  in 
einer  zweifachen  Gebundenheit:  einer  biblisch-theologischen  und 
einer  künstlerisch-antiken.  So  kommt  die  antike  Gebärdensprache 
in  einer  gewissen  christlichen  Modifikation  in  die  mittelalterliche 
Kunst:  es  ist  natürlich,  daß  die  Ausdrucksformen  besonders  will- 
kommen sind,  die  der  Bibel  sowohl  wie  der  römisch-griechischen 
Tradition  entsprechen  —  aber  auch  im  Gegensatz  zum  Christlich- 
Liturgischen  dringt  hier  Antikes  in  die  Darstellung  des  Mittelalters. 
Dringt  ein  und  hält  sich  nun  im  Anschluß  an  die  frühchristliche 
Kunst  den  größten  Teil  des  Mittelalters  hindurch,  ohne  daß  dem 
neuen  Leben]  dieser  Zeit  eigentlich  naturalistische  Zugeständ- 
nisse gemacht  wurden  —  eine  auffallende  Erscheinung  doch  nur 
für  den,  der  nicht  bedenkt,  daß  dem  Mittelalter  der  Begriff  der 
Wirklichkeitsdarstellung  als  Selbstzweck  in  der  Kunst  im  allgemeinen 
ganz  und  gar  fremd  gewesen  ist. 

Unsere  nun  folgende  Betrachtung  der  bildnerischen  Ausdruck- 
bewegungen kann  über  eine  Skizze  nicht  hinausführen,  und  nur  nach 
dem,  was  uns  unmittelbar  angeht,  darf  hier  gefragt  werden;  der 
Standpunkt  des  Kunsthistorikers  vor  diesem  Problem  wäre  ein  durch- 
aus anderer  1). 


1)  Seine  Aufgabe  würde  sein,  das  was  hier  nur  mehr  impressionistisch  nebenher 
versucht  worden  ist,  zum  systematisch  behandelten  Hauptgegenstand  der  Betrachtung  zu 
machen:  eine  Geschichte  der  Gebärde  als  eines  wichtigen  Stilsymbols  zu  liefern.  Die 
Lösung   dieser  Aufgabe   aber  könnte   nur  gelingen,    wenn  die  Entwicklung   der  Gebärden 


220  Die  Gebärde  in  der  karolingisclien  und  ottonischen  Kunst. 

Wir  fragen,  ob  ein  auf  Überlieferung  beruhender  Zusammen- 
hang in  der  Gestik  und  Mimik  der  mittelalterHchen  deutschen 
Kunst  sich  aufzeigen  läßt  und  ob  dieser  Zusammenhang  sich  im 
wesentlichen  aus  den  besonderen  L-ebensbedingungen  der  bildenden 
Kunst  erklärt.  Wenn  wir  so  das  Bild  der  Gebärdung  und  seine 
Wandlung  von  der  karolingischen  Kunst  bis  zur  Renaissance  zu 
entwerfen  suchen,  kommt  es  uns  nie  auf  Vollständigkeit  an,  immer 
nur  auf  ein  Erkennen  des  allgemein  typischen  Charakters. 

Die  kirchliche  Aufgabe  der  Kunst,   die  Konsequenz,  in  der  sie 
sich  mit  dogmatisch  festgelegten  Zügen  bis  in  die  letzten  sinnlichen 
Darstellungsmittel  durchsetzt,  haben   auch  hier   erhaltend  gewirkt; 
Bildschema  und  Schulüberlieferung  sind,  wie  jede  ikonographische 
Betrachtung  lehren  kann,  als  bewahrende  Kräfte  ven  großer  Wichtig- 
keit.   Die  erste  Epoche  geschlossenen  Stilcharakters,  die  karolin- 
gische  und  ottonische  Zeit  2),  dürfen,    so  verschieden    sie   in 
vieler  Hinsicht  sind,  für  unsere  Frage  als  Einheit  betrachtet  werden. 
Beide  sind  für  uns,  bei  der  Spärlichkeit,  in  welcher  Großplastik  und 
Wandmalerei  jener  Zeit  sich  erhalten  haben,  durch  das  Vorwiegen 
von    Schmuckkunst   und    Illustration   charakterisiert,    und   für  den 
Stil  der  Gebärde  ist  es  entscheidend,  daß  diese  Kunst  sie  entweder 
ornamental  einbezieht  oder  einem  illustrativen  Zweck  anpaßt.    Das 
bedeutet  einmal  ein  Vorwiegen   aller   ornamental  leicht  verwend- 
baren, feierlich  sakralen  Gesten  (man  denke  an  die  typische  Über- 
reichungsszene    der  Widmungsbilder,    an  die   in    der  Stellung  des 
amtierenden    Klerikers    dargestellten    Evangelisten    und    Heiligen- 
figuren),   anderseits   den  Zug  zu  deutlichen,    deutenden   Gebärden. 

zunächst     konsequent    ikonographisch     und     im    weitesten    Sinne     stilkritisch     innerhalb 
der     einzelnen    Darstellungsthemata    verfolgt  würden,    und    ferner,    wenn    man    die    Zu- 
sammenhänge     mit      der    antiken,      byzantinischen,     französischen,      italienischen    Kunst 
bis  ins   Letzte  untersuchte;    man  würde  auch    nur    auf    diesem  Weg     dazu    kommen, 
das    spezifisch      Deutsche      in     den     Äußerungen     der     künstlerischen     Gebärdensprache 
deutscher    Bildwerke     zu    ermitteln.     Für    unsere    besonderen   Zwecke    genügte    es    aber 
festzustellen,  wie  das  deutsche  Bildwerk  in   die   Erscheinung  tritt:    es   gilt  hier  also 
durchaus  das  Gleiche,  was  früher  (S.  179,   Anm.  unten)  über  unsere  Betrachtung  der  Ge- 
bärde im  mittelalterlichen  Epos  gesagt  wurde.     Es  gilt  aber  auch  noch  ein  Anderes,  was 
wir  dort  hervorgehoben  haben.    Wie  die  epische,  so  ist  auch  die  bildkünstlerische  Gestik 
in  ihrer  Entwicklung    so   wesentlich    von    den   Stilgesetzen    der  Kunst   bedingt,    dal3    man 
ihre  einzelnen  Äußerungen  nicht  aus  dem  Zusammenhang  reißen  und  mit  anderswo  beob- 
achteten Gebärden  zu    einem    bunten   Bilde   zusammensetzen  darf,    das    die   tatsächlichen- 
Gesten  repräsentieren  soll.  Daß  eine  spezifisch  kunst  geschichtliche  Untersuchung  den  Anteil, 
den  Bildabsicht,  Komposition,  Licht,  Farbe,  Bildmaterial  und  Technik  an  der  Bilderscheinung 
der  Gesten  und  Mienen  haben,  in  ganz  anderm  Maße  zu  berücksichtigen  hätte,  als  wir  es 
hier  in  gelegentlichen  Andeutungen  getan  haben,   dessen   sind  wir   uns   durchaus  bewußt. 
2)  Wichtige  Hilfslitferatur:    die  Werke   von  Leitschuh,    Vöge    (s.  o.  S.  211)  und 
Haseloff  (o.  S.  213);  ferner  Swarzenski,  Die  Regensburger  Buchmalerei  d.  10  u.  11  Jh. 
(Leipzig  1901).  —Die  Skizze    von  I.  I.Tikkanen,    Ultrycken  för  smärta  och  sorg  i  kon- 
sten  :  Ord  och  Bild  14  (1905),  S.  -117  IT.,  WML  konnte  teilweise  zur  Bestätigung  der  folgenden 
Darlegungen  herangezogen  werden. 


Die  Gebärde  in  der  karolingischcMi  und  ottonisohcn  Kunst.  221 

Wo  die  Bilder  niclit  von  dem  liohen  ornamentalen  Geist  dieser  Stile 
ganz  durchdrungen  sind,  wollen  sie  mehr  erläutern  und  einprägen 
als  darstellen. 

In  der  gleichen  Richtung  wie    der  Zweck  wirkt    vielfach  der 
Bildgegenstand.    Die  bevorzugten  Themata  des  ersten  Jahrtausends : 
Christus  als  Rex  Gloriae,   als  Lehrer  und  Wundertäter  entwickeln 
sowohl    die    sakrale   als    die   erläuternde    Gestik.     Der    thronende 
Weltenkönig    bedarf   der  klaren,    symbolischen   Stellung:    mit   ge- 
hobener Rechten  erteilt  er  den  Segen,  er  zeigt  die  gehobene  Hand 
mit  dem  erlösenden  Wundmal  der  Welt,  die  Handfläche  nach  außen 
gekehrt,  er  kommt  stehend  aus  den  Wolken  herab,  den  einen  Arm 
pathetisch  ausgestreckt,    oder  hat  als  Weltenrichter  die  Hände  er- 
hoben.   Der  Wundertäter  soll  als  der  um  Gnade  Angeflehte  gezeigt 
werden,    mit  deutlich  beschwörerischer  Geste   zum  Bittsteller  oder 
Siechen  in  Beziehung  gesetzt;    einer  streckt  ihm  bittend  die  Hand 
zu;    immer  aber  bedarf   es  auch  der  Devotions-  und  Dankgebärde 
der  Begnadeten,   des  Staunens   der  miterlebenden  Jünger.     Wie  in 
dieser  auf  Deutlichkeit,  auf  Belehrung  ausgehenden  Illustration  der 
große    Abstand    der    Figuren    oft    den    Würdenabstand    sinnfällig 
macht,    so  lenkt  auch   eine  enorme  Vergrößerung  der  Hände  und 
Finger  das  Interesse   auf  deren  Ausdrucksgebärden.     Sie  sind  das 
wichtigste  Ausdrucksmittel  dieser  Kunst,  wichtiger  als  der  physio- 
gnomische  Habitus    und    das  Mienenspiel;    das    Weisen    mit   Arm, 
Hand  und  Finger,  das  Gestikulieren  ist  sehr  vieldeutig,  obwohl  die 
Hände  selbst  in  ihrer  gleichförmigen  Bildung  noch  nicht  „sprechen" 
wie  in  späteren  Zeiten,  wo  schon  ihre  individuelle  Bildung  an  sich 
Ausdruck   ist.      Der    Gesamtcharakter    dieser    Gebärdung    also    ist 
Deutlichkeit.     Darum  bewahrt  sie  vielfältig,  wenn  auch  bildnerisch 
ganz   verkümmert,    die    große    weithin    deutende   Gebärde    antiker 
Tradition.     Mit   einfachen,    klar  abstufenden  Mitteln  wird   die  An- 
ordnung innerhalb   bewegter  Gruppen  vielfach  versucht.     Auf  den 
Weltgerichtsbildern  in  Reichenau  und  Burgfelden  etwa  ist  in  keiner 
Weise  das  Problem   der  Massenbewegung   in  der  Gruppe  der  Ver- 
dammten aufgegriffen;  dagegen  wird  durch  ein  paar  einfache,  ver- 
schiedenartig   abgestufte    Angst-    und    Verzweiflungsgebärden    die 
Skala   der  psychischen   Erregung   primitiv  symbolisch  angedeutet. 
Wenn    die    ganze    frühmittelalterliche    Geste    zum     Symbolisieren 
neigt,     so    gilt    das    ganz    besonders    für    die   karolingische    und 
Ottonische  Kunst.  Dabei  fehlt  es  oft  nicht  an  einer  sinnlichen  Über- 
zeugungskraft dieser  einfachen  deiktischen  Geste.     So  ist  es  z.B. 
zwingend,    wie    bei    dem    Bilde    des   Überfalls    in    Burgfelden    die 
drei    Lauernden     einander    über    die    Schulter    sehen,     alle    drei 
nach  einem  Punkt  visierend,    und   wie  die   parallel  vor  die  Brust 
gehobenen  Arme  der  gleich  gerichteten  Figuren  mit  dem  Hinweis- 
finger in  einfacher  Richtungs-  und  Liniensymbolik  die  Bedeutung 


222  Die  Gebärde  in  der  karolingischen  und  ottonischen  Kunst. 

von  Geste  und  Miene  unterstützen  oder  wie  die  Zickzacklinien 
am  bewegten  Körper  eines  Erschreckten  den  Eindruck  der  Auf- 
regung suggerieren.  Das  Aneinanderdrängen  von  Personen  einer 
Gruppe  verdeutlichen  Angst  und  Neugier.  Im  allgemeinen  aber 
ist  die  einzelne  Figur  von  größerer  Bedeutung  und  dazu  noch 
etwa  die  zwischen  ihr  und  einer  zweiten  durch  Geste  hergestellte 
Beziehung;  wie  summarisch  verfährt  etwa  der  Codex  Egberti  mit 
der  Haltung  der  sämtlichen  Jünger  bei  den  Wundern:  immer  die 
gleichen  Gesten  von  Andacht  und  Staunen.  Tief  gebückt  kauern 
die  Andächtigen  am  Boden,  die  Arme  parallel  vorgestreckt,  die 
Hände  geöffnet  oder  verhüllt  oder  auch  wohl  die  Hände  vors  Ge- 
sicht gedrückt;  solche  zum  Teil  morgenländischer  Kunst  ent- 
stammende Haltung  macht  noch  dem  einfachen  Knien,  bei  dem  der 
Körper  aufrecht  bleibt,  Konkurrenz;  oder  wir  sehen  ein  Schreiten, 
bei  dem  der  Körper  sich  vorneigt,  die  Knie,  besonders  das  hintere, 
tief  gebeugt  sind  (den  sog.  Knielauf),  und  jene  eben  gekennzeichnete 
Haltung  der  Hände  wiederkehrt.  Das  Sitzen  ist  die  Haltung  des 
Traurigen  oder  Nachdenkenden;  zuweilen  erscheint  dabei  ein  Arm 
aufs  Knie  gestützt,  die  Hand  an  der  Wange:  die  viel  berufene 
Attitüde  gotischer  Miniatur.  Die  Stellung  der  Beine  und  Füße 
ist  bedeutungsvoll;  so  kreuzt  der  Nachdenkende  beim  Stehen  und 
Sitzen  die  Füße.  Das  Heben  oder  Zurücklegen,  Senken,  Schräg- 
halten, Vorstrecken  des  Kopfes  bezeugen  Staunen,  Neugier,  Demut, 
Schmerz,  Anteil  am  Vorgang.  Der  Fußkuß  kommt  vor  als  Zeichen 
der  Anbetung  und  Demut;  dabei  werden  auch  die  Füße  umfaßt. 

Am  wichtigsten,  wie  gesagt,  sind  Arm-  und  Handbewegungen, 
auch  abgesehen  von  jenen  symbolischen  Gesten  des  triumphierenden 
Christus.  Die  Umarmung  geschieht  meist  andeutend,  durch  ein 
gegenseitiges  Auflegen  der  Hände  auf  Schultern,  Arme,  Seiten, 
noch  kaum  durch  reales  Umfassen  und  Andrücken.  Jenes  parallele 
Vorheben  der  geöffneten  Hände,  ursprünglich  Geste  der  Ehr- 
erbietung vor  dem  Höherstehenden,  der  Unterwerfung  usw.  wird 
später  zum  Gestus  des  Gebets  und  daneben  gleichzeitig  schon  in 
verblaßter  Bedeutung  als  Redegestus  gebraucht,  ebenso  wie  die 
schräg  abwärts  gehaltene,  geöffnete,  die  steil  empor  gehaltene 
Hand;  das  Ausstrecken  der  Hand  ist  bei  der  Maria  besonders 
gütige  Entgegennahme  einer  Gabe  oder  Huldigung;  späterhin  be- 
deutet diese  Gebärde  auch  Abwehr;  doch  ist  die  Handfläche  dann 
meist  dem  Gegenüber  zugekehrt.  Die  für  diese  Kunst  besonders 
wichtigen  Redegesten  sind  aber  noch  vielfältiger;  besonders  ge- 
bräuchhch  als  Zeichen  der  Anrede,  der  Verkündigung  ist  der 
lateinische  und  griechische  Segensgestus:  hier  kann  nicht  aus- 
geführt werden,  wie  bedeutungsvoll  dabei  die  Hand-  und  Finger- 
stellungen abgestuft  sind.  Die  Hände  zerreißen  das  Kleid  als 
Zeichen    der  Verzweiflung   oder   in  dem  aus  der  Bibel  bekannten 


Die  Gebärde  in  der  karolingischen  und  oüonisclien   Kunst.  223 

Sinn  der  Verwerf imtr;  die  Haare  werden  gerauft,  eine  Hand  greift 
ins  Haar.  Man  verhüllt  im  tiefen  Schmerz  das  Gesicht  mit  den 
Händen  unter  dem  Mantel  oder  preßt  die  verhüllten,  zusammen- 
gelegten Hände  an  die  Wange.  Zuweilen  erstreckt  sich  das  Ver- 
hüllen auch  nur  auf  die  eine  Gesichtshälfte  oder  auf  die  untere 
Partie  des  Gesichtes.  Das  Verhüllen  der  Augen  mit  dem  Gewand 
ist  aber  auch  jetzt  wie  später,  besonders  in  der  Verklärungs- 
szene, Geste  der  Blendung,  ebenso  wie  das  Heben  des  Armes  über 
die  Augen. 

Die  bekannteste  Trauergeste  aus  antiker  Erbschaft  ist  das 
Legen  des  Kinnes  oder  der  Wange  in  die  Hand,  wobei  gern  der 
Kopf  etwas  schräg  gehalten  wird.  Später  wird  diese  Geste  variiert, 
etwa  so,  daß  der  Handrücken  mit  abwärts  gesenkten  Fingern  an 
das  Kinn  gehalten  wird,  daß  zwei  Finger  sich  über  Mund  oder 
Kind  legen,  die  Hand  die  Stirn  berührt  oder  die  Finger  die 
Wange  stützen  usw.  Auf  Kreuzigungsdarstellungen  erscheint 
gern  die  halbe  Figur  von  Sonne  und  Mond,  in  symmetrisch 
dekorativer  Bewegung  einen  Mantelzipfel  ans  Auge  führend.  Sehr 
alt  ist  auch  die,  das  Weinen  andeutende,  Bewegung,  daß  eine  im 
Mantel  verhüllte  Hand  dem  Gesicht  genähert  wird.  Der  antike 
Schmerzgestus  des  Greifens  ins  Kopftuch  oder,  als  Gestus  der 
stillen  Trauer,  das  Umfassen  des  linken  Handgelenks  mit  der 
rechten  Hand  ist  gegen  Ende  der  Periode  des  ottonischen  Stils 
auch  schon  zu  belegen.  Johannes  breitet  einmal  im  Schmerz  die 
Arme  aus.  In  der  Verehrung  und  Andacht  wird  gern  eine  Hand 
in  der  Richtung  auf  den  Verehrten  zu  ausgestreckt,  die  Handfläche 
nach  oben.  Viel  häufiger  noch  als  jene  Gebetsgeste  der  vor- 
gestreckten Hände  ist  die  Orantengeste :  eine  oder  beide  Hände 
vor  die  Brust  gehoben  oder  bis  zur  Schulterhöhe,  auch  mit  den 
Handflächen  nach  außen;  die  Daumen  oft  abgespreizt;  gerade 
diese  Geste  wird  allmählich  mehrdeutig.  Sie  ist  das  Zeichen  der 
schmerzhaften  Ergebung,  der  Andacht,  ist  dann  aber  auch  Geste 
des  Staunens,  der  Verwunderung,  der  Scheu  (als  solche  stehende 
Geste  der  Maria  in  der  Verkündigungsszene),  und  wenn  sie  durch 
Heben  bis  zur  Schulter  oder  Kopfhöhe  gesteigert  wird,  bedeutet 
sie  Schreck,  ja  Entsetzen;  ruhig  ausgeführt  ist  sie  aber  auch  die 
Geste  feierUcher  Rede,  Lehre  oder  Predigt.  Das  Zuhalten  der  Nase 
als  Zeichen  physischen  Ekels  findet  sich  zuweilen  auf  der  DarsteUung 
der  Lazaruserweckung.  Ein  plötzliches  Erschrecken  wird  fein  durch 
ein  Erheben  der  Finger  zum  Mund  und  Kinn  dargestellt  (die 
Frauen  am  Grabe).  Beim  Nachdenken  werden  die  Finger  an  die 
Lippen  gelegt,   eine  Hand  deckt  den  Mund. 

Gegenüber  der  verdeutlichenden  Gestik  erscheint  das  Mienen- 
spiel ärmlich.  Ausdruckswirkungen  versteht  die  karolingische  Ma- 
lerei durch  verschiedenartige  Augapfelstellungen  zu  erreichen;   so 


224  Die  Gebärde  in  der  romanischen  Kunst 

ist  z.  B.  das  Schielen  ein  Symbol  visionärer  Verzückung.  Späterhin 
geben  oft  die  übergroßen  Augen  —  eine  Wirkung  byzantinischer 
Malerei  —  den  Gesichtern  ein  starres  Gepräge;  aber  auch  in  dieser 
Ottonischen  Zeit  bleibt  die  Blickrichtung  das  wirksamste  mimische 
Mittel.  Daneben  ist  das  Offenstehen  des  Mundes  ein  Zeichen  von 
Angst  oder  Wut. ') 

Schon  weniger  einfach  liegen   die  Verhältnisse  in  der  roma- 
nischen Kunst.2)    In  relativ  kurzem  Zeitraum  drängt  sich  hier  auf 
verschiedenen    Kunstgebieten    eine    lebhafte    Tätigkeit   zusammen: 
Großplastik,    Rehef,   Wandmalerei.     Die   starken   Wandlungen,    die 
vom  früh-   zum  spätromanischen  Stil  führen,    sind  bedeutsam  auch 
für  die  Gebärdung.     Gemeinsames  Merkmal   für  die  ganze  Periode 
ist   es,    daß    sie    im    Dienst   der   Baukunst    steht.     Die  Plastik  ist 
wichtiger  und  selbständiger  als  die  Malerei,  aber  noch  keineswegs 
wie  in  der  folgenden  Blütezeit  ganz  unabhängig;    die  Freifigur  ist 
vielmehr    als  Bauglied    fest    an   die   Architektur   geschlossen,    das 
Relief    ist    vor    allem     dekorative    Belebung    tektonisch    wichtiger 
Flächen.    Überall  wird  die  geometrisch  umgrenzte  Form  respektiert, 
Wand-  und  Deckenmalerei  usurpieren  nicht  den  ihnen  gebotenen 
Raum  als  ein  Feld  malerischer  Illusion,  sie  gliedern,  klären,  betonen 
vielmehr  die  Raumform.    Dieses   Stilprinzip   nun    erfiUlt  die  früh- 
romanische Bildkunst  mühelos;    die   spätromanische  dagegen  trägt 
ihren  Charakter  von  dem  Kampf  einer  neuen  inneren  Lebendigkeit 
mit  dieser  noch  immer  respektierten,    von  einer  andern  Kunst  her- 
stammenden  Beschränkung.     Der   Wille    zur   Gestaltung    des    Or- 
ganischen kämpft  mit  dem  Prinzip  tektonisch-geometrischer  Form- 
vorschrift,  und   dieser  Kampf  eben  zeitigt  die  geballte  Kraft,    die 
immer  wieder  erstarrende  Lebendigkeit  des  Spätromanischen.    Ein 
neues  Temperament  von  Lust  am  Ausdruck,  an  jäher  Kraftentladung 
bleibt  im  Bann  der  begrenzten  Form,  bleibt  durch  mehr  als  bloße 
Überlieferung  in  den  Block,  in  die  Fläche  gebunden.    Eben  diese 
Vorherrschaft  einer  so  gebundenen  Plastik,  deren  Wesen  über  die 
Grenzen  der  bildhauerischen  Tätigkeit   in   die  Malerei  hineinwirkt, 
verursacht  die  nur  geringe  numerische  Bereicherung  des  Gebärden- 
schatzes.    Ist  schon    an   sich  eine  vorwiegend   in   plastischen  Lei- 
stungen sich  erfüllende  Epoche  weniger  erfinderisch  in  Gestik  und 
Mimik  als  ein  mehr  malerisch  gestimmtes  Zeitalter,    so   muß  diese 
Zurückhaltung  hier  besonders  groß   sein,    wo  der   ruhige  Körper, 


1)  In  der  bildenden  Kunst  des  11.  Jli.,  speziell  der  Erzbildnerei  der  Zeit,  trägt  zwar 
im  allgemeinen  die  Gestik  einen  andern  Charakter,  für  die  einzelnen  Gesten  aber  bietet 
si(!  nicht  so  viel,  daß  eine  eingehende  Betrachtung  in  dieser  Zusammenstellung  lohnte.  — 

2)  Wichtige  Arbeiten  für  die  romanische  Periode:  Weese,  Die  Bamberger  Domskulptu- 
ren (Straßburg  1897);  H.  Schmitz,  Die  ma,  Malerei  in  Soest  (Münster  1900;  R.  Hamann 
und  F.  Rosenfeld,  Der  Magdeburger  Dom  (Berlin  1910);  A.  Goldschmidt:  Jb.  d. 
preuss.  Kunstsammlungen  21  (1900),  S.  225  ff. 


Die  Gebärde  der  romanischen  Kunst.  225 

der  sich  leichter  als  Baiiglied  einfügt  als  der  bewegte,  besonders 
bevorzugt  wird. 

Aus  dem  bereits  vorhandenen  Gebärdenschatz  bildet  der  früh- 
romanische Stil  besonders  die  ruhige  Gebärde  aus:  Andachts-, 
Staunens-,  Gebets-,  Segens-Geste,  die  Handbewegungen  des  Re- 
denden und  Lehrenden.  Die  liegenden  oder  besser  stehend  hin- 
gelegten Grabfiguren  bedürfen  ja  nur  der  friedlich  übereinander 
gelegten  oder  fromm  zusammengelegten  Hände.  Diese  neue  Gebets- 
geste kommt  jetzt  erst  zur  Geltung.  Die  stehenden  Propheten, 
Heiligen,  Apostel,  Könige  und  Sybillen  werden  gern  mit  Spruchband 
und  Symbol  beschäftigt.  Die  ausdrucksvolle  Gebärde  des  feierlichen 
Vortrags,  der  andächtigen  Rede  und  Predigt  entfalten  die  sitzenden 
Apostelgestalten  etwa  an  den  Chorschranken  der  Liebfrauenkirche 
in  Halberstadt,  der  Michaelskirche  in  Hildesheim  und  sonst ;  zeremo- 
nielle Andachtshaltungen  kommen  in  frühromanischen  Reliefs  und 
Gemälden  zur  Geltung.  Die  Rednergebärde  ist  vielfältig:  bald  wie 
schon  früher  der  lateinische  und  griechische  Segensgestus;  dann 
die  nach  außen  gekehrten  Hände  reliefmäßig  ganz  eng  vor  der 
Brust  liegend,  den  Daumen  abgespreizt  oder  seitlich  neben  der 
Schulter;  vorwärts  gestreckte  oder  abwärts  gesenkte  geöffnete 
Hand,  die  den  Vortrag  demonstrierend  unterstützt;  Hinweisgebärden: 
den  Zeigefinger  gehoben  argumentierend,  den  Zeigefinger  energisch 
vorwärts  gerichtet  und  so  den  Argumenten  Nachdruck  gebend  usw. 
Die  symmetrische  Ordnung,  die  der  strenge  Stil  verlangt,  fördert 
die  Gleichmäßigkeit  aller  Gebärden.  Die  Gestik  ist  bildmäßig  ver- 
arbeitet und  stilvoll  und  eben  darum  hier  ruhig  und  nicht  sehr 
vielfältig.  Die  Gesichter  sind  in  den  Plastiken  frühromanischer 
Zeit  noch  wenig  ausdrucksvoll.  In  der  frühromanischen  Decken- 
und  Wandmalerei  lebt  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  von  den 
alten  Elementen  der  byzantinischen  Kunst  noch  die  feierlich  sakrale 
Gebärde.  Wo  daneben  lebhaftere  Gestik  vorhanden  ist,  da  scheint 
sie  eher  eine  Wirkung  des  illustrierenden  Erzählerstils  als  schon 
ein  Vorbote  spätromanischer  Ausdruckskunst  zu  sein. 

Das  Spätromanische  vollzieht  jene  stilgemäße  Wandlung  zu 
einer  Doppelheit  von  Lebendigkeit  und  Starrheit  auch  in  der  Ge- 
bärdung. Der  psychische  Ausdruck  drängt  und  pocht  geradezu 
gegen  die  Schranken,  in  denen  der  Körper  noch  gehalten  wird. 
In  starren  Gebilden  will  ein  wildes  Temperament  ausbrechen.  Das 
Brechen  und  Renken  der  Körper  nach  dem  Willen  der  baulichen 
Form  wirkt  in  der  Plastik  oft  wie  ein  gewaltsames  Sichwinden. 
Unnatürliche  Stellungen  und  Körperformen  sind  häufig.  Wo  das 
Ornament  spätromanischen  Geistes  szenische  Darstellungen  bringt, 
greift  es  freudig  das  theologisch-symbolische  Thema  vom  Kampf  der 
Seelen  mit  dem  Bösen  auf,  Menschen  mit  Tierleibern  und  Dämonen 
verschlingend,  es  motiviert  so  ein  wildes  Zupacken  in  Schrecken  und 

Herrinann,  Theater.  15 


226  Spätromanische  Kunst  und  gotische  Plastik. 

Wut.  Die  Unterhaltung  zwischen  den  Aposteln  auf  den  Chor- 
sehranken in  Bamberg  wird  zum  „Streitgespräch",  aus  der  Vortrags- 
und Lehrgebärde  wird  die  eifernde,  disputierende  Gestikulation  — 
und  doch  bannt  ein  streng  dekorativer  Geist  Gestalt  und  Gheder 
in  symmetrischer  Anordnung  fest  in  die  Fläche.  Überall  derselbe 
Geist  strenger  Einordnung,  der  bis  zur  Unrealistik  der  Körper- 
bewegung führen  kann,  gepaart  mit  einer  wunderbaren  Überraschung 
der  Natur:  überall  da,  wo  die  lebendig  erhaschte  Bewegung  oder 
Miene  jenem  Geist  der  Einordnung  nicht  widerspricht.  Bis  zur 
Überlebendigkeit  sind  —  etwa  in  den  Szenen  des  Hildesheimer 
Taufbeckens  —  die  Affekte  dargestellt.  In  der  Verkündigungs- 
szene erhält  der  Ausdruck  des  Engels  etwas  von  drängender  Ein- 
rede, Marias  Zurückhaltung  etwas  von  starrer  Abwehr.  Die  Ge- 
stalten auf  den  Deckengemälden  und  mehr  noch  auf  byzantini- 
sierenden  Tafelbildern  um  1200  schwingen  ihre  Spruchbänder  mit 
derselben  eckigen  Wildheit,  die  in  die  Säume  der  Gewänder  so 
viel  Unruhe  hineinbringt,  die  den  Engelsflügeln  so  pathetisch  großen 
Schwung  leiht.  Die  Miniaturmalerei  der  Zeit,  die  sich  nicht  zu 
gleicher  Höhe  hebt  wie  Plastik  und  Wandmalerei,  sagt  vielfach  in 
unbeholfener  Sprache  und  auf  byzantinisch  das  Gleiche,  was  die 
sonstige  Kunst  in  mehr  eigener  Ausdrucksform  ausspricht.  Das 
energisch  plastische  Wesen  spätromanischer  Skulpturen  bringt  so 
charaktervolle  Bildungen  hervor,  daß  auch  da,  wo  man  den  Aus- 
druck nicht  sogleich  mimisch  deuten  kann,  sie  von  innerlichem 
Leben  bewegt  erscheinen.  Die  Freude  am  plastischen  Heraus- 
arbeiten der  Form  in  Stein  wird  in  dieser  Zeit  „innerer  Spannung" 
zum  Ausbuchten  und  Einziehen  der  ausdruckgebenden  Teile.  Die 
vorgewölbten  Augäpfel  scheinen  wild  zu  glotzen,  die  vorgeschobenen 
oder  straff  eingezogenen  Lippen  geben  den  Eindruck  erregter  oder 
bezwungener  Leidenschaftlichkeit  und  Willensanspannung;  auch 
die  tiefen  Furchen  von  der  Nase  zum  Mund  ist  man  seelisch  zu 
deuten  geneigt.  Neben  solchen  Bildungen  stehen  freilich  auch  in  der 
spätromanischen  Zeit  solche,  in  denen  der  frühromanische  ruhige 
Stil  zu  klassischer  Reife  gediehen  scheint,  die  schön  und  ausgeghchen 
sind,  weniger  charaktervoll  und  zu  seelischer  Deutung  einladend. 
Eine  besondere  Entwicklung  dieser  Richtung  bedeuten  gewisse 
Werke  von  beinahe  klassizistischer  Haltung  (Wechselburg).  Sie 
stehen  bei  anderer  Körper-,  Gesichts-  und  Gewandbildung  in  bezug 
auf  die  Geste  näher  zu  den  Werken  des  Übergangsstils  frühgotischer 
Schöpfungen. 

Die  gotische  Plastik i)  beherrscht  im  13.  Jahrhundert  alle 
bildnerische  Übung.    Sie  empfängt  ihre  Gesetze  nur  noch  von  ihrer 

1)  Wichtige  Arbeiten  besonders:  M.  Hasak,  Geschichte  der  deutschen  Bildhauerkunst 
im  13.  Jahrh.  (Berlin  1899);  W.  Vöge,  Die  Anfänge  des  monumentalen  Stiles  im  MA. 
(SlnißburglSnt);    M.  Sauerlandt,  Deutsche  Plastik  des  MA.  (Düsseldorf  u.  Leiir/.ig  1909). 


Die  Gebärde  der  j^otischen  Plastik.  227 

unmittelbaren  Darstellungsaufgabe :  dem  menschlichen  Körper.  Diese 
Aufgabe  erweitert  sich  im  späteren  13.  Jahrhundert  ungeheuer,  so- 
wohl durch  die  kirchliche  Lust  an  der  Gloria  Dei,  die  zu  großen 
zyklischen  Darstellungen  aufruft,  in  denen  der  baumeisterliche  Zug 
der  Scholastik  sichtbares  Leben  erhält,  wie  auch  durch  das  neue 
weltliche  Bedürfnis  nach  Gloria,  das  den  inneren  Raum  der  plasti- 
schen Übung  mit  Fürstenbildnis,  Reiterdenkmal,  Stifterfigur  er- 
weitert, indes  der  neue  Baustil  mit  den  vielen  krönungverlangenden 
Formen  den  äußeren  Raum  für  das  Statuengeschlecht  hergibt. 
Der  Menschenkörper  aber,  den  zu  gestalten  diese  Plastik  als  ihr 
vornehmstes  Ziel  erkannt  hat,  ist  der  freibewegte,  durchgebildete 
Leib.  Als  Bildideal  wie  als  Bildgegenstand  herrscht  der  Körper, 
den  ritterliche  GeseUigkeit,  den  soldatische  Zucht  geformt  und  Be- 
wegung gelehrt  haben,  mit  vornehm  gebauten  Gliedern,  mit  straffer 
Haltung.  Die  Darstellung  der  Sicherheit  dieses  Leibes  im  Stehen, 
Sitzen,  Reiten,  Lehnen,  seiner  Vollkommenheit  im  Greifen  und 
Halten,  im  Tragen  von  Gewand  und  Mantel  ist  Aufgabe  und  bald 
Besitz.  Das  Relief  erfüllt  jetzt  die  Sehnsucht  spätromanischer 
Kunst,  es  läßt  die  Figur  auf  der  Fläche  heraustreten,  und  die  großen 
Gestalten  im  Raum  haben  eine  stärkere  Ausdruckswucht.  Der  monu- 
mentale Zug  hat  ein  mehr  unkörperliches  Echo  in  der  Malerei,  in 
ihrer  farbenzarten  dekorativen  Umriß-  und  Linienkunst. 

All  das  ist  natürlich  bedeutungsvoll  für  den  Stil  der  Ausdrucks- 
bewegung. Die  Plastik  dieser  Zeit  besitzt  mit  der  Anschauung  der 
neuen  Körperlichkeit  das  große  seelische  Dasein.  Das  fördert  auf 
der  einen  Seite  die  freiere  Entwicklung  der  Geste,  auf  der  andern 
Seite  setzt  die  Art  dieses  ganzen  Erlebnisses  ihrer  Entfaltung 
Schranken.  Ein  Kunstgebiet  übernimmt  jetzt  die  Führung,  dessen 
höchste  Aufgabe  die  isoliert  gesehene  vollendete  Körperlichkeit  des 
Menschen  ist,  und  damit  rücken  Gebärden,  die  vielleicht  schon  vor- 
her in  der  Tradition  vorhanden  waren,  zum  erstenmal  in  den  Kreis 
dessen,  was  bildmäßig  spricht.  Denn  nun  erst  werden  sie  nach 
ihrer  plastischen  Ausdruckskraft  erlebt  und  gewertet.  So  verwischt 
sich  denn  jetzt  der  bekannte  zeichenhafte  Charakter  der  frühmittel- 
alterlichen Kunst.  Es  setzt  ein  Gebärdenstil  ein,  der  jedesmal 
aus  dem  besonderen  Ethos  des  dargestellten  Körpers  und  der  Situa- 
tion sich  erzeugt  und  nicht  ein  für  allemal  typische  Zeichen  bereit- 
hält. Auf  der  andern  Seite  läßt  gerade  der  neue  Stil  keine  völlige 
Entfesselung  des  Ausdrucks  zu.  Denn  es  ist  eine  strenge,  wähle- 
rische Kunst,  die  zunächst  nur  mit  dem  beherrschten  Leib  zu 
tun  hat  und  der  ein  fassungsloses  Sichgehenlassen  in  Geste  und 
Miene  wider  den  Geschmack  ginge.  Wo  das  Darstellungsthema 
ihr  solches  aufzwingt,  bestreitet  sie  es  oft  mit  den  überlieferten 
symbolischen  Mitteln,  deren  sie  anderwärts  schon  enträt.  Im  Über- 
gangsstil   und    in  der  reinen  Frühgotik  hat  die  herbe  und  jugend- 

15* 


228  ß'^  Gebärde  der  gotischen  Plastik. 

liehe  Zurückhaltung  oft  noch  den  Charakter  betonten  Formwillens. 
Sie  ist  ein  Sichhalten,  Stilsymptom  so  gut  wie  die  bis  zur  Trocken- 
heit schlanke  Gestalt,  wie  das  Stehen  mit  hinten  übergelehntem 
Körper,  wie  das  anliegende,  formbezeichnend  hüftenabgestraffte 
Hemd.  In  der  rheinischen  Plastik,  die  den  französischen  Einfluß 
unbedingter  verrät  als  die  sächsische  und  fränkische,  hat  das  jetzt 
alles  einen  besonderen  Wohllaut.  Die  Verhaltenheit  des  Gefühls 
spricht  hier  mehr  durch  vornehme  Eleganz,  zeigt  sich  minder  herb 
und  mehr  sensibel  in  den  nervösen  Gebärden  schlanker  Hände, 
der  bescheidenen  Schmerzneigung  graziöser  Körper  und  schmaler, 
länghcher  Köpfe.  Die  schmelzende  Melodik  dieser  rheinischen  Früh- 
gotik hat  noch  Raum  für  alle  Vollkommenheiten  des  Stils,  während 
späterhin  in  der  Hochgotik  die  gleiche  Zartheit,  mit  dem  Verlust 
jener  Vorzüge  erkauft,  die  Gebärdung  sentimental  und  charakter- 
los macht. 

Je  reifer  die  monumentale  Kunst  wird,  desto  freier  erscheint 
die  Gebärde.  Nie  freilich  tritt  sie  völlig  losgebunden  auf.  Denn 
mehr  als  es  die  einzelne  Geste  und  Miene  könnte,  spricht  auch 
jetzt  der  gesamte  plastische  Gehalt  der  Figuren  von  ihrem  inneren 
Sein.  Einige  haben  so  sehr  den  Punkt  der  Sättigung  mit  plastischem 
Leben  erreicht,  daß,  verglichen  mit  dieser  unentrinnbaren  Gegen- 
wärtigkeit, auch  wo  sie  sich  ganz  ruhig  verhält,  die  stärkere  Aus- 
druckslebendigkeit minder  klassischer  Gebilde  wie  eine  vergebliche 
Mühe  wirkt,  den  Mangel  an  Wirklichkeit  laut  zu  überschreien. 
Diese  Werke  brauchen  den  Ausdruck  nicht  zu  suchen,  weil  sie 
ganz  Ausdruck  sind.  Wir  können  hier  nur  andeuten,  wieviel  an 
Seelischem  in  dieser  Kunst  der  Umriß  der  Gestalt,  der  Reichtum 
und  die  Bewegung  des  Gewandes  (Ehsabeth  in  Bamberg!)  auch 
ohne  Gebärdensprache  vermitteln.  Immerhin  wirkt  in  der  reifen 
Gotik  auch  die  befreite  Mimik  und  Gestik  mit  diesen  Mitteln  zu- 
sammen. Die  Schmerzgebärden  der  Passion,  in  den  von  neuer 
religiöser  Inbrunst  geschaffenen  Vesperbildern,  anderseits  die  neue 
Haltung  der  höfischen  Zeremonialkultur  entwickeln  den  Schatz  der 
Ausdrucksformen.  In  den  Naumburger  Lettnerreliefs  und  -statuen, 
und  trotz  leiser  Erweichung  des  Stiles  auch  im  Freiburger  Tympanon, 
ist  eine  Spannung  in  den  Bewegungen  und  Mienen,  die  an  den 
dramatischen  Stil  der  Hochrenaissance  gemahnen.  Der  reifste 
Gebärdenstil  gotischer  Plastik  nach  1250  zeigt  nicht  mehr  das 
„Sichhalten",  er  ist  ausdruckvollste  Haltung  und  in  Gebärde  und 
Miene:  beherrschtes  Pathos. 

Der  Versuch,  den  neuen  Gebärdenschatz  romanischer  und 
gotischer  Kunst  zu  skizzieren,  ergibt  etwa  folgendes:  das  Pros- 
kynein  wird  allmählich  immer  seltener,  fehlt  besonders  in  der 
gotischen  Zeit,  wo  es  nicht  etwa  die  Bibel  aus(h'ücklich  vorschreibt, 
also  z.  B.  in  der  Szene,   wo  Magdalena  Christi  Füße  wäscht,   oder 


Der  Gebärdenschatz  der  romanischen  und  der  gotischen  Kunst.  229 

in  der  Verklärun^sszene.  Ein  aufrechtes  Knien  auf  einem  oder 
beiden  Knien  (Huldigung  und  Anbetung),  inclinatio  und  genuflectio 
in  verschiedenen  Graden  verdrängen  die  morgenländische  Gebärde. 
Das  Sichnähern  mit  tiefgebeugtem  Oberkörper  und  vorgehobenen 
Armen,  den  romanischen  Wandgemälden,  der  Metallplastik  und  der 
Illustration  noch  recht  geläufig,  wird  im  Laufe  des  13.  Jahrhunderts 
ebenfalls  immer  seltener.  Die  lebhaften  Schreck-,  Wut-  und  Angst- 
gebärden des  Oberkörpers,  das  Herumreißen,  Strecken,  Zurückwerfen 
wird  mit  wechselndem  Sinn  und  Erfolg  dargestellt,  in  der  romanischen 
Kunst  entweder  ornamental  bedingte  oder  lyrische  Ausdrucks- 
bewegung, im  monumentalen  Stil  mehr  plastisch  dramatisches 
Motiv.  Zum  Teil  sind  hier  rein  künstlerische  Probleme  der  Be- 
wegung im  Spiel.  Die  Kopfhaltungen  haben  ungefähr  die  gleiche 
Bedeutung  wie  früher.  Die  Gebärden  der  Arme  und  Hände  werden 
namentlich  durch  den  plastischen  Sinn  der  Zeit  neu  gestaltet.  Die 
Umarmung  stellt  nun  das  Problem  der  Gruppe,  und  so  kommt  man 
nicht  mehr  mit  dem  symbolischen  Handauflegen  aus,  es  heißt  vielmehr 
die  Körper  wirklich  zur  Einheit  zusammenbinden.  Die  Schmerz- 
bewegungen der  Arme  und  Hände  offenbaren  neuen  plastischen 
Gehalt  in  dem,  was  aus  morgenländischem  und  antikem  Schatz 
vorhanden,  aber  immer  gedankenlos  wiederholt  worden  war.  So 
gibt  jetzt  das  Schlagen  einer  oder  beider  Hände  vors  Gesicht 
Gelegenheit,  das  Sichabschließen,  das  in  dieser  Gebärde  liegt,  in 
seiner  plastischen  Realität  auszuwerten,  besonders  wenn  etwa  noch 
der  mitgeführte  Mantel  wie  eine  Schwinge  den  Block  der  Gestalt 
schließen  hilft.  Das  wird  jetzt  also  nicht  mehr  psychologisch  addiert 
zu  einer  unbeweglichen  Figur,  es  ergreift  vielmehr  den  ganzen 
Körper,  und  Reflexbewegungen  antworten  darauf;  die  Bewegung 
der  mitgerissenen  Faltenzüge  verdichtet  die  Realität  der  Geste,  die 
Art,  wie  die  Bewegung  einer  Körperseite  auf  der  andern  kontra- 
postisch  ausgewogen  wird,  lehrt  ihre  plastische  Wahrhaftigkeit. 
Von  der  romanischen  Zeit  an  wird  das  Zusammenpressen  und 
Ineinanderschlagen  der  Hände  ^),  das  Falten  der  Finger  häufig.  Die 
letztere  Gebärde  —  in  der  Antike  die  Bittgeste  des  Unterworfenen  — 
ist  zunächst  Schmerzgebärde,  daneben  allmählich  auch  reine  Gebets- 
geste; im  Anfang  überwiegt  noch  die  erste  Bedeutung.  Neues 
kommt  zu  den  weiter  gebrauchten,  nur  vielfach  nuancierten  Trauer- 
gesten hinzu,  so  z.  B.,  daß  der  Sitzende  das  aufgestützte  Knie  mit 
den  Ai-men  umfaßt,  daß  eine  Hand  von  außen  um  den  Handrücken 
der  andern  greift  und  gleichsam  die  Finger  vor  Schmerz  zusammen- 
preßt, daß  die  Finger  der  einen  Hand  den  herabhängenden  andern 
Arm  berühren,  daß  man  klagend  die  äußere  Handfläche  neben  den 


1)  So  daß  die  Handteller  ineinander  liegen,  die  Daumen  sich  kreuzen  und  die  Finger 
der  einen  Hand  über  den  Handrücken  der  andern  greifen. 


230  Der  Gebärdenschatz  der  romanischen  und  der  gotischen  Kunst. 

Kopf  legt,  daß  man  in  den  Halsausschnitt  greift,  während  der  Kopf 
sich  auf  die  Brust  senkt,  daß  man  die  vor  der  Brust  mit  auswärts 
gewendetem  Handrücken  abwärts  gesenkte  Hand  frei  spielen  läßt. 
Die  gleiche  Gebärde,  den  Handteller  nach  außen,  wird  als  Zweifels- 
geste gedeutet.  Das  Falten  der  Hände  im  Nacken,  hin  und  wieder 
auch  ein  Greifen  in  den  Bart  sind  Gebärden  gesteigerten  Schmerzes. 
Sehr  häufig  ist  sowohl  einzeln  wie  als  Begleitgeste  das  andächtige 
Vordiebrustlegen  der  Hand;  auch  als  Zeichen  des  Schmerzes  er- 
scheint es.  Das  Andiebrustgreifen  bedeutet  gelegentlich  Zorn. 
Rede-,  Abwehr-,  Hinweisgebärde  werden  feiner  bestimmt.  Selten 
erscheint  noch  die  Devotionsgeste  der  über  der  Brust  gekreuzten 
Arme,  sehr  viel  häufiger  aber  als  früher  finden  sich  die  andächtig 
zusammengelegten  Hände.  Pathetische  Gesten,  wie  das  Heben 
der  Arme  in  Schmerz  und  Staunen,  unterscheiden  sich  von  den 
früheren  Gebärden  gleicher  Art  durch  eine  stärkere  Akzentuierung 
und  den  Charakter  des  Unwillkürlichen.  Noch  greift  man  ins 
Haar  und  hebt  die  Arme,  daneben  aber  ist  das  Falten  der  Hände 
über  dem  Kopf  (besonders  in  den  Weltgerichtsbildern)  als  Ver- 
zweiflungsgeste zu  belegen.  Feiner  als  früher  entwickeln  sich  die 
Zärtlichkeitsgesten ;  so  umfaßt  Johannes  am  Kreuz  Maria,  die  sich  an 
seine  Brust  lehnt;  bei  der  Ki*euzabnahme  umschlingt  Maria  den 
Kopf  Christi  und  berührt  seinen  Arm.  Besonders  aber  scheint 
vom  12.  Jahrhundert  ab  die  Idee  der  thronenden  Gottesmutter  ver- 
einbar mit  mütterlicher  und  kindlicher  Zärtlichkeit.  Nicht  nur 
dringt  aus  der  byzantinischen  Kunst  das  Motiv,  daß  Maria  das 
Kind  an  sich  drückt,  in  die  Geburtsszene:  auch  die  thronende, 
feierlich  dekorativ  gegebene  Madonna  umfaßt  das  Kinn  des  Kindes 
mit  zwei  Fingern,  das  Kind  greift  ebenso  nach  dem  Kinn  der  Mutter, 
die  Gesichter  schmiegen  sich  aneinander.  Auch  ist  in  der  geist- 
lichen Bildkunst  die  Neigung  zur  höfisch  feinen  Geste  in  den 
Szenen  mit  zeremoniellem  Gehalt  bemerkbar.  Auf  dem  Bamberger 
und  Mainzer  Jüngsten  Gericht  finden  wir  originelle  Angst-  und 
Schreckgebärden,  die,  obwohl  in  der  Antike  bekannt,  kaum  von 
dort  her  in  die  mittelalterliche  Kunst  gekommen  sind:  hier  preßt 
einer  das  Gesicht  in  beide  Hände  und  starrt  dazu  gerade  aus,  dort 
bedeckt  ein  Schreitender,  der  den  Kopf  in  eine  andere  Richtung 
dreht,  wie  in  plötzlichem  Entsetzen  das  Untergesicht  mit  der  Hand 
—  eine  wundervoll  belebte  Gebärde. 

Das  Mienenspiel  der  Gotik  ist  von  dem  der  romanischen  Kunst 
so  verschieden  wie  die  Gesichtstypen  in  beiden  Stilen.  Der  früh- 
romanischen gegenüber  ist  die  gotische  Mimik  zarter  beseelt,  der 
spätromanischen  gegenüber  geklärt  und  beruhigt.  Die  gotische 
Physiognomie  mit  ihrem  schönheitlichen  Wesen  bedingt,  daß  der 
allgemein  seelenhafte  Charakter,  den  für  viele  Beschauer  schon  die 
den  Statuen  immanente,   irdisch  nicht  völlig  motivierte,   aufschwe- 


Die  Gebärde  der  hochgotischen  Kunst.  231 

bende  Bewegung  hat,  sich  in  der  Stimmung  des  Gesichtes  auch  ohne 
besonderes  Mienenspiel  vollendet.  Die  Augen  blicken  erst  jetzt 
wieder,  sie  glotzen  nicht  mehr  wie  auf  den  romanischen  Bildwerken. 
Manche  gotische  Köpfe  haben,  ehe  das  traditionelle  Lächeln  der 
Hochgotik  einsetzt,  jene  seelische  Heiterkeit,  jene  gelassene  Anmut, 
die  wir  in  der  Dichtung  der  höfischen  Kunst  als  Zeitideal  gefunden 
haben  (vgl.  oben  S.  192).  Das  Lächeln  kommt  jedoch  für  unser  Gefühl, 
plastisch  dargestellt,  fast  immer  fratzenhaft  heraus.  Der  Schmerz- 
ausdruck des  Gesichtes  dagegen  ist  oft  plastisch  sehr  vollkommen. 
Die  typischen  Züge  dabei  sind:  geöffneter  Mund,  leicht  herab- 
gesenkte Mundwinkel,  gefurchte  Stirn,  Schrägstellung  der  Brauen, 
Modellierung  der  Wange  und  der  Partie  über  dem  Auge  bei  den 
Statuen.  Wo  heftiges  Weinen  oder  Schreien  gefordert  wird,  kommt 
leicht  ein  masken-  oder  fratzenhafter  Ausdruck  zustande.  Die 
reife  monumentale  Kunst  beherrscht  das  Mimische  außerordentlich, 
sie  weiß  Spannung,  festen  Willen,  Anteil  aller  Art,  Schmerz,  Staunen, 
Zorn,  Gelassenheit,  Verlegenheit  vollkommen  auszudrücken.  Da- 
gegen steht  alle  Malerei  der  Zeit  im  Mimischen  weit  hinter  der 
Plastik  zurück. 

Die  Vorherrschaft  der  Plastik  ist  um  die  Wende  des  13.  Jahr- 
hunderts gebrochen.  Mit  dem  14.  Jahrhundert  wird  die  gotische 
Plastik  starr;  der  Umstand,  daß  die  Statuen  aufs  Neue  von  der 
formalen  Bewegung  der  hochgotischen  Bauform  eingeschluckt 
werden,  ist  der  Weiterentwicklung  nicht  günstig.  Immer  mehr 
tritt  der  Steinmetz  für  den  Künstler  ein.  Die  Manier  herrscht  in 
Haltung  und  Miene.  Die  Verweichlichung  des  erst  so  herben  Stils, 
angekündigt  schon  in  dem  schwingenden  Gewandsaum,  dem  Locken- 
gefälle, der  allzu  zierlichen  Gestik  der  Straßburger  und  Freiburger 
Allegorien  wird  dauernd  in  der  typischen  hochgotischen  Freifigur, 
wenn  nicht  einmal,  wie  in  der  mittelrheinischen  Plastik i)  durch 
einen  Zusammenhang  mit  großen  Vorbildern  oder  wie  anderwärts, 
durch  derbe  Steinmetzentreue  verbürgerlicht,  die  alte  Überliefe- 
rung bewahrt  ist.  Die  Großplastik  des  14.  Jahrhunderts  ist  im 
allgemeinen  für  die  Gebärde  wenig  produktiv,  noch  weniger  für 
die  Mimik.  Nicht  so  sehr  aus  ihr  und  aus  der  absterbenden  Wand- 
malerei liest  man  den  neuen  Bewegungsstil  ab,  als  aus  der  sich 
nun  erst  entwickelnden  Kunst  der  Schnitzaltäre  und  Tafelbilder. 
Neuer  Gehalt  kommt  in  die  formalistische  Bewegung  um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts:  eine  sehr  allgemein  gehaltene  und  bis  in  die 
Gewandlinien  hinein  ausgeprägte  Erregtheit,  ein  expressives  Wesen 
führt  in  die  Gestalten  eine  absolute  Lebendigkeit  der  Linie.  Als 
diese  Erregungswelle  abgelaufen  ist,  die  man  gern  mit  spätmystischen 
Stimmungen  in  Zusammenhang  bringt,    siegt,    etwa  in  den  beiden 


1)  Vgl.  F.  Back,  Mittelrheinische  Kunst  (Frankfurt  a.  M.  1910). 


232  D^r  Gebärdenschatz  des  14.  und  des  beginnenden  15.  Jahrhunderts. 

bedeutendsten  Malerschulen,  der  kölnischen  und  der  böhmischen, 
ein  klareres  Wesen:  hier  mehr  eine  Festigung  des  Stiles  durch 
Charakter,  dort  eine  Reinigung  durch  ein  neues  Gefühl  von  dekora- 
tiver Schönheit  und  Harmonie  der  Bildfläche.  So  kommen  erst 
jetzt  im  Gebärdenstil  die  eigentlichen  psychischen  Erwerbungen 
der  gotischen  Nachblüte  zum  Ausdruck:  vertiefte  Empfindung  für 
das  Leidensvolle,  mystischer  Ernst  in  den  religiösen  Präsentations- 
bildern und  anderseits  eine  Empfänglichkeit  für  alle  echt  idyllischen 
Gemütszustände  bis  zum  Genrehaften.  Soweit  der  antiillusionisti- 
sche Charakter  der  Goldgrundmalerei  es  gestattet,  dringen  um  die 
Wende  des  Jahrhunderts  auf  dem  Wege  über  Frankreich  und 
Burgund  trezentistische  Einflüsse  ein,  die  eine  größere  Lebensnähe 
im  Einzelnen  bedeuten.  Das  macht  sich  auch  in  der  Gebärde  geltend. 
Der  Gebärdenschatz  des  14.  und  noch  des  beginnenden  15.  Jahr- 
hunderts läßt  von  dem  alten  Bestand  einiges  ganz  verkümmern, 
wie  die  morgenländische  Devotionsgebärde  und  die  Orantengeste, 
die  ja  nur  noch  in  verblaßter  Bedeutung  und  als  ein  mehr  an- 
dächtig staunendes  Heben  der  Hände  fortlebt,  das  aber  auch  noch 
später  zuweilen  mißverstanden  wieder  auftaucht.  Sehr  häufig  ist 
jetzt  das  demütige  Kreuzen  der  Arme  über  der  Brust  und  ein  beten- 
des Händefalten.  Ebenso  wird  jetzt  erst  die  Ohnmacht  der  Maria 
am  Kreuz  ausführlich  dargestellt.  Im  13.  Jahrhundert  stand  sie 
meist  noch,  wenn  auch  schon  leise  schwankend  und  gestützt  mit 
sinkendem  Kopfe  und  dem  typischen  Zeichen  der  Ohnmacht,  dem 
herabsinkenden  Arm.  Jetzt  stürzt  sie  in  den  Arm  der  sie  Halten- 
den vornüber  und  läßt  beide  Arme  kraftlos  fallen.  Oder  sie  ist 
in  die  Knie  gesunken  und  legt  sich  schmerzhaft  zurück  oder  end- 
lich: sie  sitzt,  von  den  heiligen  Frauen  emporgehalten,  die  Hände 
mit  der  typischen  Geste  der  Sterbenden  im  Schoß  gekreuzt.  Auch 
die  Beziehung  der  Frauen  zu  ihr  trägt  den  neuen  Empfindungs- 
charakter. Wo  sie  Maria  früher  nur  stützten  wie  der  Hofstaat  eine 
Fürstin  und  ihr  klagen  halfen,  aber  sich  nicht  in  ihren  Schmerz 
einzudrängen  wagten,  darf  sich  nun  das  Mitgefühl  zutraulicher 
geben.  Was  früher  nur  dem  Lieblingsjünger  zustand :  ein  trösten- 
des Streicheln,  ein  Herandrängen  des  Gesichts,  ist  nun  gelegent- 
lich auch  ihnen  erlaubt.  Es  finden  sich  im  14.  Jahrhundert  fast 
alle  uns  bekannten  Klagegebärden  der  Hände  und  Arme.  Sie  sind 
jetzt  reichlicher  angewendet,  da  nun  erst  wieder  die  im  13.  Jahr- 
iiundert  zurücktretenden  Personenreihen  historischer  Kreuzigungs- 
bilder neben  die  symbolischen  treten.  Auch  umschweben  jetzt 
klagende  Engel  das  Kreuz,  die  die  Hände  ringen,  das  Gesicht  an 
die  zusammengelegten  verhüllten  Hände  pressen,  die  Arme  mit 
steilgehobenen  Ellbogen  vor  der  Brust  verschlingen.  Die  Andachts- 
und Devotionsgebärden  haben  häufig  auch  die  Bedeutung  der  Klage- 
gesten und  umgekehrt.   So  das  Heben  gefalteter  Hände,  das  Kreuzen 


Der  Gebärdenschatz  des   14.  und  des  beginnenden   15.  Jahrhunderts.  233 

der  Arme,  das  Legen  der  Hand  auf  die  Brust.  Noch  nicht  allzu 
häufig  ist  das  Händeringen.  Auffallen  mag  es,  daß  gewisse  pathe- 
tische Gesten  wie  das  Kreuzen  der  gefalteten  Hände  im  Nacken, 
das  klagende  und  entsetzte  Heben  eines  Armes  bis  zur  Kopfhöhe 
und  gar  das  Falten  der  Hände  über  dem  Kopf,  das  Emporwerfen 
der  Arme,  die  Handteller  nach  außen:  alles  Dinge,  die  dem  mehr 
gefühlvollen  als  pathetischen  Gebärdenspiel  der  Zeit  gar  nicht  sehr 
gemäß  sind,  durch  die  Überlieferung  erhalten  doch  fortleben.  Aber 
solche  Gebärden  sind  sehr  selten  bild wirksame  Gesten,  wie 
etwa  die  Gebärde  des  Johannes  auf  der  Kreuzigung  in  Wildungen 
oder  die  einer  klagenden  Frau  auf  einer  Kreuzigung  in  Trier 
um  1380:  sie  werden  meist  schematisch  fortgeführt,  bestenfalls 
rein  dekorativ  verwendet.  Das  Umfassen  des  Kreuzstammes 
durch  Magdalena  begegnet  um  die  Wende  des  Jahrhunderts,  ver- 
einzelt auch  das  später  unter  niederländischem  Einfluß  so  häufige 
Falten  der  Hände  mit  eckig  gebogenen  Ellbogen.  Charakteristisch 
für  den  Gebärdenstil  der  Zeit  aber  sind  gewisse  preziöse  und 
idealisierte  Schmerzgesten,  wie  das  Berühren  eines  geschlossenen 
Augenlides  mit  der  Fingerspitze  der  länglichen  Hände.  Schmerz- 
gesten und  Zärtlichkeitsgebärden  verschmelzen  in  den  Marientod- 
und  Vesperbildern,  so  wenn  man  sich  mit  gefalteten  Händen  über 
die  Füße  beugt,  die  Füße  umfaßt  und  das  Gesicht  daran  schmiegt, 
wenn  die  eine  Hand  das  Haupt  oder  den  Arm  des  Betrauerten  er- 
faßt oder  berührt,  seine  Hand  aufnimmt,  während  die  andere  eine 
Schmerzbewegung  ausführt.  Auch  verstärkt  man  Schmerzgesten 
durch  Kombination:  eine  Trauernde  kniet  etwa  auf  einem  Knie, 
stützt  den  Arm  auf  das  andere  aufgestellte  Knie  und  schmiegt  den 
Kopf  in  die  Hand  des  aufgestützten  Armes;  dabei  umfaßt  dann 
noch  die  andere  Hand  diesen  Arm  mit  einer  trauersymbolisieren- 
den Bewegung.  Wie  schon  immer  das  Kopfsenken,  so  bedeutet 
jetzt  das  Zurückwerfen  des  Hauptes,  das  auch  als  Staunensgeste 
erhalten  bleibt,  Schmerz,  nur  einen  heftigeren;  meist  aber  nimmt 
der  Oberkörper  nicht  mehr  wie  im  monumental-plastischen  Stil  an 
der  Bewegung  teil.  Reichlich  und  differenzierter  sind  auch  die  Lieb- 
kosungen von  Mutter  und  Kind.  Jetzt  wird  in  der  deutschen  Kunst 
das  Motiv  des  Fußkusses  in  die  Anbetung  der  Könige  aufgenommen, 
das  in  Italien  schon  lange  bekannt  war.  Das  süße  und  huldvolle 
Neigen  des  Kopfes  wird  typisch  wie  das  Anlächeln.  Der  Schmerzens- 
ausdruck ist  auf  Gemälden  nun  auch  durch  bleiche  Farbe  und  ge- 
rötete Augenlider  sinnlich  unterstützt;  der  Blick:  Auge  in  Auge 
bedeutet  viel,  etwa  bei  dem  neuen  Typus  der  Marienki'önung,  wo 
Christus  neben  seiner  Mutter  sitzt  und  sich  ihr  segnend  zuwendet, 
hn  Gegensatz  zu  dieser  steten  Melodie  von  Huld  und  stiller  Freude 
verrät  das  Mienenspiel  zuweilen  auch  gerade  das  Bemühen,  den 
Gegensatz    zwischen    der  Welt    der  Seligkeit   und    dem  Bösen  der 


234  l^ie  Gebärdung  der  Realistengeneration  der  Vorrenaisance. 

Erde  zu  zeigen.  Die  Schergen  und  die  Verspotter  Christi  haben 
zwar  noch  keine  böse  Physiognomie;  wohl  aber  wird  ein  bösartiges 
Mienenspiel  versucht  mit  grausam  emporgezogenen  Mundwinkeln, 
grinsendem  Ausdruck,  herausgestreckter  Zunge,  auf  die  sie  zum 
Überfluß  hindeuten.  Auch  in  der  Gruppe  rechts  vom  Kreuz  machen 
sich  jetzt  neben  dem  traditionellen  Hinweis  und  den  Staunens- 
gebärden des  Zenturio  und  der  Juden  grimmige  und  höhnische 
Gesten  bemerkbar.  All  das  aber  bleibt  noch  schattenhaft.  Er- 
wähnt sei  noch  eine  demonstrierende  Redegebärde,  die  gerade  im 
14,  Jahrhundert  häufiger  wird:  daß  Zeigefinger  und  Mittelfinger 
der  einen  Hand  in  den  Handteller  der  andern  schlagen. 

Die  Gebärdung  der  Realistengeneration  der  Vorrenais- 
sance im  zweiten  Viertel  des  15,  Jahrhunderts i)  ist  völlig  neu,  aber 
mehr  dem  Charakter  als  dem  Inhalt  nach.  Viele  Wirklichkeits- 
elemente verbraucht  diese  Generation,  um  ihr  eigenstes  Erlebnis  zu 
gestalten :  die  neue,  wenn  auch  noch  in  vollgedrängter  Fläche  ent- 
wickelte Wahrhaftigkeit  und  Schwere  des  leiblichen  Daseins,  ja  in 
einzelnen  Fällen  auch  schon  den  vom  Leben  durchatmeten,  von 
kubisch  empfundenen  Körpern  in  seiner  realen  Tiefe  bewährten, 
selbst  schon  vom  Licht  durchspielten  Raum.  Zu  diesen  Elementen 
gehört  auch,  genau  wie  die  Standfestigkeit  der  Gestalten,  die 
Schwere  der  Bewegungen,  das  Wort  in  sinnlicher  wie  in  geistiger 
Bedeutung  genommen.  Die  Gesten  dieser  Menschen  haben  weniger 
über  ihr  Inneres  auszusagen  als  von  ihrer  körperlichen  Lebendig- 
keit zu  überzeugen,  und  es  ist  nicht  gleichgültig,  daß  im  all- 
gemeinen Gesten  alltäglicher  körperlicher  Hantierung  origineller 
und  überzeugender  gelingen  als  irgendwelche  Ausdrucksgebärden. 
Die  Gemütsbewegung  ist  befangen  wie  die  von  Menschen,  die, 
vom  Kreis  täglicher  Bedürfnisse  umschlossen.  Mühe  haben,  sich 
zu  äußern.  Gerade  diese  Schwere  aber  gibt  in  den  besten 
Werken  der  Zeit  den  Gesten  dieser  Menschen  von  so  unbezweifel- 
barer  Realität  trotz  aller  Reizlosigkeit  etwas  sehr  Eindrucksvolles. 
Man  fühlt  die  Körpersprache  einer  neuen  heraufkommenden 
Menschlichkeit,  die  noch  keine  Muße  gehabt  hat,  schön  zu 
werden,  aber  doch  auch  nichts  Gemeines  mehr  an  sich  trägt. 
Es  überrascht  nicht,  wenn  diese  Generation  auf  ihrer  Höhe  dann 
Werke  hervorbringt,  die  neben  Befangenem  und  Unbeholfenem  schon 
einen  gewissen  Adel  der  Bewegung  zeigen,  wie  die  schonenden 
Zärtlichkeiten,  mit  der  in  Sterzing  und  bei  dem  Marientod  des 
Meisters  Bertram   sich  die   Hand   des  Johannes   auf  den  Arm   der 


1)  Wir  sprechen  hier  vor  allem  von  der  Malerei :  in  ihr  tritt  das  Neue  zuerst  und 
zwar  gleichzeitig  an  verschiedenen  Orten  hervor.  Wie  luigleichmäßig  die  Verhältnisse  in 
der  Schnitzplastik  liegen  und  wie  hier  erst  eine  voUkointru-ne  Durchforschung  des  Materials 
zur  rechten  Kinsicht  führen  kann,  zeigt  ein  Vergleich  der  nieder-  und  der  oberdeutschen 
Bildschnitzerei. 


Die  Gebärdunir  der  Realistengeneiation  der  Vorrenaisance.  235 

Maria  legt;  zuWeilen  freilich  unter  erneuter  Mitwirkung  gotischer 
Rhythmik.  Anderseits  liegt  in  dem  starken,  noch  ungeklärten 
Raum-  und  Körperempfinden  der  Generation  auch  schon  die  Vor- 
bedingung für  jene  barocken  Steigerungen,  die  dann  später  bei 
Fächer  unter  dem  Einfluß  Mantegnas  der  Gebärde  und  Miene  eine 
gewaltsame  und  metallene  Härte  mitteilen. 

So  wenig  das  Allgemeine  jener  ersten  Generation  mit  dem 
Schlagwort  Naturalismus  erledigt  ist,  so  wenig  fehlt  in  ihr  die 
naturalistische  Opposition  gegen  die  Idealität  der  früheren  Zeit. 
Es  genügt  hier,  auf  den  Meister  der  Berliner  Passionstafeln  von 
1437  hinzuweisen.  Sein  Gegenpol  unter  den  Zeitgenossen,  der 
einzige,  der  direkt  aus  dem  Stil  seiner  Vorgänger  innerhalb  der  köl- 
nischen Schule  heraus  eine  flächenhafte  Monumentalität  entfaltete, 
Stephan  Lochner,  verläßt  auch  in  der  Gebärde  nie  den  Kreis  vor- 
nehmer zarter  Menschlichkeit  und  steigert  nur  das  gefühlvolle  Wesen 
der  Schule  zur  Einfachheit,  die  mit  neuen  und  lebensnäheren 
Mitteln  redet.  So  adelt  er  auch  die  realistische  Gebärde,  wo  er  sie 
anwendet,  wie  etwa  die  Art,  in  der  seine  drei  Könige  den  Hut  vor 
die  Brust  halten,  nichts  bürgerlich  Befangenes  hat,  sondern  einen 
unbefangenen,  bescheidenen  Anstand  ausdrückt. 

Im  allgemeinen  empfangen  die  Gesten  ihren  Charakter  noch 
nicht  davon,  daß  sie  alle  individuell  wären,  sondern  davon,  daß 
lauter  Individuen  sie  ausführen.  Das  Persönliche  der  Physiognomie 
reflektiert  auch  auf  die  traditionelle  Geste.  Wenn  jetzt  sich  die 
schweren  Hände  zum  Gebet  einander  nähern  oder  wie  in  unsicherer 
Erinnerung  an  die  Orantengeste  mit  den  gespreizten,  in  ihrer  Form 
scharf  bezeichneten  Fingern  sich  gegen  die  Erde  ausbreiten,  so 
wirkt  das  völlig  neu,  ebenso  das  körperliche  Ineinanderpressen  der 
Finger  im  Schmerz,  das  von  dem  leisen  Ineinanderlegen  des  Beten- 
den geschieden  wird.  Wenn  die  alte  symbolische  Geste  des  Mund- 
verhüllens  so  gegeben  wird,  daß  ein  heftig  vor  den  Mund  gepreßtes 
Tuch  gleichsam  den  Schrei  zurückhält,  so  haben  wir  wieder  das 
Gleiche:  realistisches  Neuerleben  der  allmählich  zeichenhaft  ge- 
wordenen, überkommenen  Geste.  Die  stärksten  Neuerwerbungen 
macht  die  Mimik.  Hier  spielt  freilich  auch  die  neue  individuelle 
Physiognomie  mit.  So  würden  etwa  die  Grimassen  der  Schergen  auf 
den  Berliner  Tafeln,  ihr  Fletschen,  ihr  Grinsen,  das  Verschieben  des 
Untergesichts  nicht  so  graß-bestialisch  wirken  ohne  die  karikierende 
Verstärkung  durch  physiognomische  Anomalien  wie  die  entstellenden 
Hauer  und  ohne  die  Tatsache,  daß  sich  alles  auf  besonders  gemeinen 
und  stumpfen  Zügen  abspielt.  Aber  es  wird  doch  überhaupt  bei 
der  Darstellung  der  Affekte,  des  Staunens,  der  Angst,  der  Wut,  der 
Schadenfreude,  beim  Weinen  und  Lachen  weit  über  das  hinaus- 
gegangen, was  lange  an  traditionellen  Zeichen  dafür  genügen 
mußte.     Ganz  besonders  jedoch  hat  der  Blick  eine  völlig  neue  Be- 


236  Die  Gebärde  der  S}3ätgotik. 

deutung  bekommen :  nach  der  Seite  der  Energie  ifiid  der  Wildheit. 
Die  neue  körperhafte  Modellierung  des  Gesichts  wirkte  auch  in  dieser 
Richtung. 

Mit  einem  letzten  großen  Aufschwung  mittelalterlichen  Empfin- 
dens überschwemmt  ja  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  die  Spät- 
gotik') den  Erwerb  der  vorangegangenen  Generation:  mit  ihrer 
reichen  dekorativen  Empfindung,  der  krausen  Flächenfüllung,  der 
verwirrenden,  linearen  Unruhe,  dem  knitternden,  rieselnden  Falten- 
wurf und  dem  blitzenden  Materialreichtum.  Sie  läßt  auch  in  der 
Gebärdung  alle  die  Stilnuancen  und  Wandlungen  erkennen,  die  ihr 
dekorativ  orientierter  Sinn  erlebt  hat,  bis  zum  preziösen,  gar  nicht 
mehr  an  der  Wirklichkeit  orientierten  Manierismus.  Dabei  aber 
weiß  sie  doch  immer  neue  Individualismen  in  ihren  Stil  einzu- 
beziehen.  Eine  wirklich  genaue  Analyse  der  Gebärde  in  diesem 
Zeitraum  wird  —  besonders  bei  der  Begrenzung  dieser  skizzen- 
haften Betrachtung  —  fast  unmöglich  durch  die  unabsehbare,  wider- 
spruchsvolle Fülle  der  Produktion.  Die  charakteristisch  hervor- 
stechenden, typischen  Züge  und  wenige  repräsentative  Beispiele 
müssen  genügen.  Die  besondere  Artung,  die  die  Gebärde  inner- 
halb der  verschiedenen  Lokalschulen  hat  —  sie  ist  anders  im 
nüchternen,  aktiven  Franken,  anders  bei  den  beschaulichen,  das 
Seelenvolle  suchenden  Schwaben,  anders  bei  der  harten  Brixener 
Schule,  anders  in  dem  so  stark  niederländisch  beeinflußten  Köln  — 
erschwert  weiterhin  die  zusammenfassende  Besprechung.  Dazu 
kommen  die  starken  Abstufungen  künstlerischer  Selbständigkeit, 
die  jetzt  aller  Orten  der  Drang  zur  Verbreitung  und  Vervielfältigung 
der  Werke  zeitigt.  Reifes  und  Selbständiges  wird  überall  von  dem 
Schematisch-Handwerklichen  überwuchert.  Schnitzaltäre,  Holzschnitt- 
folgen und  Illustrationen  zeigen  dies  Durcheinander  besonders.  Das 
gilt  wie  für  alles  andere  auch  für  die  Gebärdung.  Dennoch  läßt 
sich  wohl  einiges  ganz  Allgemeine  andeuten  2). 

Charakterisiert  wird  die  Geste  des  späten  15.  Jahrhunderts 
durch  eine  vom  spätgotischen  Stil  bedingte  verwirrende  Häufung 
des  Ausdrucks  überhaupt;  weiter  durch  das  Anwachsen  eines  klein- 


1)  Vgl.  besonder.s  H   Wölfflin,  Die  Kunst  Albrecht  Dürers  (München   1905). 

2)  In  diesem  Abschnitt  wird  es  besonders  fühlbar,  wie  mißlich  es  ist,  die  Ausdrucks- 
goste  aus  dem  künstlerischen  Zusammenhang  der  Werke  isolieren  zu  müssen.  Denn  gerade 
in  der  Spätgotik  wirkt  soviel  ausdrucksmäßig,  was  nicht  direkt  Ausdrucksbewegung  ist^ 
daß  erst  durch  den  Zusammenhang  damit  die  Gesten  sprechen.  Die  seelische  Sprache  des 
spätgotischen  lebendigen  Gefältels,  des  bewegten  Lineaments  ist  bekannt;  oft  sind  es  aber 
auch  unwillkürliche  Stellungen,  Lagerungen  der  Glieder,  die  als  Ausdruck  wirken.  Solche 
Betrachtung,  wie  sie  z.  ß.  Wölfflin  bei  Gelegenheit  einer  Dürerschen  Beweinung  über  die 
Lage  der  toten  Hand  Christi  anstellt ,  müßte  in  großem  Maßstab  bei  der  gesamten  Kunst 
der  Spätgotik  und  der  Renaissance  angestellt  werden,  ehe  eine  Betrachtung  wie  die  unsere 
auch  im  rein  ästhetischen  Sinne  ausreichend  sein  könnte. 


Die  Gebärde  der  Spätgotik.  237 

bürgerlichen,  gefühlvollen  Wesens,  besonders  in  der  Jugend-  und 
Leidensgeschichte  Christi  und  in  den  Szenen  des  Marienlebens; 
ferner  durch  die  starke  Zunahme  bald  mehr  natürlicher,  bald  mehr 
verfeinernd-preziöser  Details;  endlich  durch  die  größere  Bedeutung 
des  Momentan-Unwillkürlichen. 

Bekannt  ist  ja  das  Interesse  der  Zeit  fih-  Marter-  und  Sterbe- 
szenen: dem  entspricht  das  ungeheure  Anwachsen  der  Klage-  und 
Mitleidsgebärde.  Zum  Teil  hängt  das  auch  mit  der  Vorliebe  der 
Zeit  für  die  volkreiche,  gefüllte  Szenerie  zusammen :  man  muß  alle 
diese  Menschen  beschäftigen.  Das  bedeutet  aber  auch  jetzt  noch 
keineswegs  lauter  neue  Gesten,  vielmehr  nur  ein  absolutes  Ver- 
fügen über  die  ganze  mittelalterliche  Instrumentation  der  Klage- 
szenen. Nun  werden  auch  wiederum,  wie  schon  früher  in  geringerem 
Maße  zu  konstatieren  war,  die  Gesten  aus  Szenen,  in  denen  sie 
sonst  stabil  erschienen,  in  andere,  die  man  nun  gefühlvoller  ge- 
staltet (so  etwa  Maria  und  Johannes  in  der  Kreuztragungsszene), 
oder  in  andere,  die  man  jetzt  erst  entwickelt  (die  neuen  Szenen 
der  Passionsfolge),  übernommen.  In  der  gleichen  Richtung  wirkt 
auch  jetzt  das  gebräuchliche  Zusammenschieben  mehrerer  Szenen 
auf  ein  Bild.  Dasselbe,  was  von  den  Schmerzgebärden  gilt,  ist  auch 
von  den  früher  nur  auf  eine  Szene  beschränkten  Hohn-  und  Grau- 
samkeitsgesten und  -mienen  zu  sagen. 

Charakteristisch  für  das  larmoyante  Wesen  der  Zeit  ist  etwa 
die  neue  Gestaltung  der  Ohnmacht  Marias  am  Kreuz.  Neben  das 
bisher  Gebräuchliche  tritt  nämlich  jetzt  ein  klägliches  Dastehen  mit 
einknickenden  Knien  und  schiefer  Haltung  des  Oberkörpers  oder 
Kopfes  1),  während  die  Hände  in  einer  der  typischen  Klagegesten  be- 
schäftigt sind.  Was  über  die  geringe  Distanz  der  tröstenden  Frauen 
von  der  Gottesmutter  für  das  14.  Jahrhundert  gesagt  wurde,  gilt 
jetzt  erst  recht;  sie  sind  oft  nicht  mehr  als  gute  Nachbarinnen,  zu- 
weilen verflechten  sie  ihre  Hände  mit  den  herabsinkenden  Händen 
Marias.  Dieses  betuliche  Wesen  macht  auch  die  andern  Passions- 
szenen der  Zeit  oft  kleinbürgerlich,  während  es  den  Jugend szenen 
einen  intim  traulichen  Zug  gibt.  Für  Johannes  und  Magdalena 
werden  auch  jetzt  noch  die  leidenschaftlicheren  und  interessanteren 
Haltungen  reserviert ;  aber  selbst  ein  so  fein  empfindender  Quattro- 
centist,  wie  J.  Syrlin  d.  J.  findet  ein  Ausreiben  des  Auges  mit  dem 
Handrücken  für  Johannes  nicht  zu  niedrig  gegriffen.  Die  Mani- 
risten  der  Spätgotik  lösen  dies  kleinbürgerliche  Wesen  übrigens 
meist  durch  ein  krampfiges,  den  Schmerz  zur  Schau  stellendes 
Winden  und  Renken  der  Glieder  ab  oder  durch  nervöse  detaillierte 
Feinheit,  während  die  Stimmung  des  letzten  Jahrzehnts  bei  einigen 


1)  Diese    schräge  Kopfhaltung    ist    ein    beliebtes  Ausdrucksmittel   der  Zeit   auch  als 
Zeichen  der  Huld  und  des  Anteils. 


238  Die  Gebärde  der  Spätgotik. 

Meistern,  noch  im  Rahmen  der  bürgerhchen  Empfindung,  wieder 
auf  eine  schhchtere  und  würdevollere  Äußerung  hinzielt,  bei  andern 
(schon  vor  dem  italienischen  Einfluß)  auf  die  neue,  für  die  Re- 
naissance charakteristische  leidenschafthche  Haltung.  Wie  fein  ein 
Spätgotiker  zuweilen  durch  die  Komposition  traditionelle  Gebärden 
lyrisch  neu  betont,  dafür  ist  etwa  Riemenschneiders  Himmelfahrt 
Maria  ein  Beispiel,  wo  die  betend  gehobene  überfeine  Hand  des 
Johannes  der  enteilenden  Maria  unwillkürlich  nachzutasten  scheint. 
Der  seelenvolle  Blick:  Auge  in  Auge  zwischen  dem  Tod  und  dem 
Jüngling  beim  Meister  des  Amsterdamer  Kabinetts  hat  seinesgleichen 
kaum  in  der  früheren  deutschen  Kunst  i). 

In  dieser  Zeit  vielfiguriger  Bilder  muß  sich  naturgemäß  auch 
die  soziale  Gebärde,  die  früher  auf  wenige  Zeichen  beschränkt  war, 
ausgestalten. 

Bei  den  Gesten  und  Mienen  der  Grausamkeit  und  des  Hohnes, 
in  denen  sich  der  Stoff-  und  Reizhunger  der  Generation  nach  der 
dem  Sentimentalen  entgegengesetzten  Richtung  genug  tut,  geht  man 
oft  bis  zur  Unflätigkeit,  und  es  ist  nicht  immer  nur  ein  naturalistischer 
Hang,  sondern  oft  gerade  eine  dekorative  Steigerungslust,  die  das 
bewirkt.  Die  sakrale  Geste  früherer  Epoche  wandelt  sich  ins  Bürger- 
lich-Gemütliche; die  Kindheitsszenen  bieten  hierzu  genug  Beispiele: 
so  das  Rücken  und  Lüften  des  Hutes  bei  den  drei  Königen  statt 
der  abgelegten  Krone,  das  Handgeben  und  Handküssen  statt  der 
Umarmung  bei  der  Heimsuchung,  die  vielen  anmutigen  kleinen  Züge 
elterhcher  Zärtlichkeit  bei  den  Sippenbildern.  Vielfach  sind  auch 
jetzt  noch  die  neu  wirkenden  Gesten  nur  in  neuem  Sinne  em- 
pfundene Überlieferung.  Daneben  sind  aber  doch  auch  viele  neu 
gefundene  Gebärden  da.  Wie  vielfältig  und  neu  sind  etwa  jetzt 
die  Gesten  des  Diskutierens  und  Redens  und  die  der  Überraschung, 
des  Schrecks  und  der  Scheu :  wenn  die  geöffneten  Hände  ruckartig 
emporfahren  als  wollten  sie  sich  zusammenschlagen,  oder  wenn  eine 
aufgestützte  Hand  mit  nervöser  Fingerbewegung  emporzuckt,  wenn 
die  scharf  modellierte  Hand  mit  kräftiger  Gebärde  zornig  oder  nach- 
denklich in  den  Bart  greift  usf.  Wie  stimmt  vor  allem  die  ganze 
Haltung  des  Körpers  zu  der  einzelnen  Geste!  Jetzt  erst  beginnt 
recht  eigentlich  die  Kunst,  der  Gebärde  physiognomische  Individuali- 
sation  zu  geben:  die  Geste  von  Mann  und  Weib,  Greis  und  Kind 
anders  herauskommen  zu  lassen.  Neu  sind  in  den  Klagegebärden 
die  verschiedene  Form  des  Händefaltens  mit  umgebrochenem  Hand- 
gelenk, das  Dastehen  mit  herabgesenkten  gefalteten  Händen,  die 
Handrücken    nach    außen,    als  Zeichen    der  Andacht,   das  Hände- 


1)  Das  überfeinert  Seelenzarte  ist  ja  am  vollkommensten  in  der  Formensprache 
Schongauers  lebendig,  von  dem  man  gesagt  hat,  der  Beschauer  glaube,  die  Nasenflügel 
seiner  Gestallen  vibrieren  zu  sehen. 


Die  (Jebärde  der  Spätgotik.  239 

winden,  wobei  die  Handteller  nach  außen  kommen  usw.  Das  Um- 
armen des  Kreuzstammes  oder  auch  das  Emporfalten  der  Hände 
am  Kreuz  ist  ja  geradezu  bezeichnend  für  den  Kreuzigungstypus 
mancher  Schulen.  Sehr  wechselvoll  sind  in  den  Vesperbildern  die 
Zärtlichkeits-  und  Schmerzgesten  der  um  den  Leichnam  Bemühten 
verteilt  und  variiert :  das  Küssen  des  Gesichts,  das  Aufnehmen  der 
Hand,  das  Empfangen  des  herabsinkenden  Armes  bei  der  Kreuz- 
abnahme, das  Umschlingen  der  Füße,  das  Sichherabbeugen  über 
den  Körper;  selten  wohl  so  groß  und  ergreifend  wie  auf  dem 
Kraftschen  Relief  des  Nürnberger  Johanneskirchhofs  in  der  Art,  wie 
die  knieende  Frau  mit  zurückgelegtem  Kopf  an  den  eben  ins  Grab 
Gesenkten  herandrängt,  um  den  letzten  Kuß  zu  nehmen,  oder  auf 
dem  Altar  in  Calcar,  wo  die  knieende  Magdalena  sich  vorwärtsreißt. 
Dem  Charakter  der  Zeit  entsprechen  die  großen  Klagegesten,  die 
den  ganzen  Körper  ergreifen:  das  Ringen  der  Hände  über  dem 
Kopf,  das  Sichzubodenwerfen,  das  Emporschleudern  und  Ausstrecken 
der  Arme  ganz  gewiß  nicht.  Jedenfalls  sind  sie  kaum  je  bildwirk- 
sam; völlig  verschwunden  sind  sie  anderseits  keineswegs.  Ganz 
realistisch  neu  ist  die  Mienensprache.  Die  neue  Mimik  des  Mundes, 
ein  ausdrucksvolles  Spiel  der  Wangenmuskeln  ergänzen  die  gebräuch- 
licheren Mienen.  Das  Weinen  wird  oft  sehr  realistisch  dargestellt; 
die  glitzernden  Tränen  sind  aber  nicht  nur  Genauigkeitsangabe, 
sondern  auch  dekoratives  Mittel,  ebenso  wie  der  Materialreichtum 
der  Kleidung  (beim  Bartholomäus-Meister).  Das  Öffnen  und  Schließen 
der  Augenlider  wird  als  neues  Ausdrucksmittel  gehandhabt;  so  paßt 
sich  etwa  das  etwas  klhiimerliche  Lidersenken  und  Zusammen- 
drücken des  Mundes,  das  jetzt  der  Maria  auch  außerhalb  der  Ohn- 
macht eignet,  ihrer  nonnenhaften  Haltung  und  Physiognomie  an. 
Blick  und  Gesamtausdruck  umspannen  eine  sehr  reiche  Skala  von 
Empfindungen,  die  hier  aufzuzählen  zwecklos  wäre.  Wie  der  Weg 
vom  allgemein  gehaltenen  Ausdruckskopf  zum  belebten  Charakter- 
kopf geht,  hat  die  Forschung  an  einzelnen  Meistern  bereits  auf- 
gezeigt. Am  Ende  dieses  Zeitabschnittes  erhält  auch  der  geringere 
Künstler  eine  überreiche  Fülle  mimischer  Ausdrucksmöglichkeiten 
als  erlernbaren  Besitz.  Wenn  das  individuelle,  kräftig  Natürliche 
in  Geste  und  Mienenspiel,  das  intim  Zierliche,  das  verfeinert  Seelen- 
volle der  Erwerb  dieser  Zeit  ist,  bürgerliche  Rührseligkeit,  plebe- 
jische Natürlichkeit  auf  der  einen  Seite,  preziöser  Manierismus  auf 
der  andern,  ihre  Gefahr,  so  fehlt  es  ihr  fast  völlig  an  dem  Aus- 
druck der  großen  Leidenschaft.  Die  stille  Hoheit  der  Erscheinung 
wie  die  volle  pathetische  Kraft  des  Ausdrucks  sind  ihr  bis  zum 
letzten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts  im  allgemeinen  fremd.  Hier 
muß  erst  eine  neue  Empfindungsweise  den  Umschwung  bringen, 
die  in  dem  von  Italien  beeinflußten  Dürer  ihren  stärksten  Aus- 
druck hat. 


240  Völlige  Verschiedenheit  der  Gestik  in  den  drei  Künsten. 

Wir  stehen  am  Ende  unserer  vergleichenden  Betrachtung  der 
Gestik,  wie  sie  auf  dem  geistlichen  Theater,  im  geistlichen  Epos 
und  in  der  geistlichen  Bildkunst  des  deutschen  Mittelalters  sich 
gestaltete,  und  als  Ergebnis  bleibt  die  Feststellung:  die  Entwicklung 
vollzieht  sich  jedesmal  unter  völlig  andern  Bedingungen,  sie  geht 
auf  grundverschiedenen  Wegen  und  gelangt  im  ganzen  zu  durch- 
aus verschiedenen  Zielen.  Wohl  ist  ihnen  allen  gemeinsam  die 
mittelalterliche  Gebundenheit  durch  die  Überlieferung  und  die  Ab- 
neigung dagegen,  sich  durch  stete  Wirklichkeitsbeobachtung  zu  er- 
neuern; die  bildende  Kunst  aber  bleibt,  trotz  ihrer  Verarbeitung 
altüberlieferten  Gutes  und  der  inneren  Stetigkeit  ihrer  Geberden- 
tradition, auch  in  dieser  Beziehung  für  sich  allein:  sie  steht  auf 
einer  wirklichen  Kunsthöhe,  wie  sie  weder  das  christliche  Epos 
noch  das  Theater  auch  nur  annähernd  erreicht  haben,  und  ent- 
wickelt daher  entsprechend  ihrem  inneren  Verhältnis  zur  Sicht- 
barkeit in  ihren  grossen  Augenblicken  gerade  die  Erscheinungs- 
form der  Geberde  zu  einer  Kunstwahrheit,  von  der  naturgemäß 
in  die  andern  Gattungen  nichts  eingehen  kann.  Die  Folge 
davon  aber  ist  die,  daß,  während  sonst  zwischen  den  drei  Kunst- 
gebieten mancherlei  Austausch  stattfinden  kann,  während  nament- 
lich die  gegenseitige  Anregung  von  Theater  und  bildender  Kunst 
mannigfach  ins  Auge  fällt  i),  eine  solche  Einwirkung  der  Künste  auf- 
einander hinsichtlich  der  Gebärdensprache  im  allgemeinen  ziemlich 
ausgeschlossen  ist.  Die  paar  ganz  seltenen  Ausnahmefälle  bestätigen 
nur  die  Regel:  so  wenn  Otfrid,  der  sich  ja  öfter  durch  die  bildende 
Kunst  beeinflussen  läßt,  gelegentlich  auch  einmal  eine  nicht  litera- 
rische Geste  von  dorther  übernimmt,  und  so  gibt  es  auch  einige 
Fälle,  in  denen  gegen  die  Bibel  oder  wenigstens  ohne  daß  die 
Bibel  eine  direkte  Anregung  böte,  das  Theater  dieselbe  Geste  wie 
die  bildende  Kunst  hat.  Zwei  solcher  Übereinstimmungen  seien 
hier  angeführt  —  mag  sein,  daß  eine  vergleichende  Betrachtung, 
die  statt,  wie  es  hier  geschehen,  den  Blick  auf  das  Ganze  zu  richten, 
die  einzelnen  Szenen  gesondert  behandelte,  noch  einige  weitere 
Fälle  ermitteln  würde.  Bei  der  Verehrung  des  Christkindes  durch 
die  Magier  pflegt   einer  der  drei,  sowohl   auf  dem  Theater  wie  in 

1)  Wichtige  Arbeiten  :  C.  M  e  y  e  r  ,  Geistliches  Schauspiel  und  kirchliche  Kunst  : 
Vierteljahrschr.  f.  Kultur  und  Litt.  d.  Renaissance  1  (1886),  S.  183  ff.  ;  P.  Weber, 
Geistl.  Schauspiel  u.  bild.  Kunst  (Stuttgart  1894);  K.  T  s  c  h  e  u  s  c  h  n  e  r  ,  Die  deutsche 
Passionsbiihne  u.  d.  dtsche  Malerei  des  15.  u.  16.  Jh.  in  ihren  Wechselbeziehungen  : 
Repertoriuin  f.  Kunstwiss.  27  (1905)  und  28  (1906);  E.  Male,  L'art  religieux  de  la  fin 
du  moyen  age  en  France  (Paris  1908);  Greiz  enach  Bd.  1,  2.  Aufl.  (1911),  S.  2U  ff. 
Auf  das  Problem  der  Gebärdensprac^he  geht  keine  dieser  Arbeiten  ein.  —  Einen  trefflichen 
ersten  Orientierungsversuch  für  das  Verhältnis  von  Poesie  und  Bildkunst  (ohne  Be- 
schränkung auf  das  geistliche  Gebiet)  bietet  F.  Panzer,  Dichtung  u.  bild.  Kunst  des 
dtschen  MA  in  ihren  Wechselbeziehungen  :  Neue  Jahrbücher  f.  d.  klass.  Altert.,  Gesch 
und  dtsche.  Litt.  13  (1904),  S.   135—61. 


Die  Scliauspieikunst  des  ausgehenden  Mittelalters.  241 

den  bildlichen  Darstellungen,  mit  erhobener  Hand  nach  dem  Sterne 
zu  weisen,  und  mit  der  gleichen  Geste  zeigt  häufig  hier  wie  dort 
der  Zenturio  nach  Christi  Tode  empor  nach  dem  Manne  am  Kreuz, 
in  dem  er  Gottes  Sohn  erkennt.  Da  aber  diese  Hinweisgebärde 
zu  den  sowohl  theatralisch  wie  bildlich  zulässigen  Gesten  gehört 
und  der  Wortlaut  der  Bibel  {ecce  Stella  und  namentlich  hie  .  .)  die 
Anwendung  der  Gebärde  sehr  nahelegt,  braucht  es  sich  hier  nicht 
um  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  zu  handeln  i),  sondern  beide 
Künste  können  hier  unabhängig  voneinander  zu  dem  gleichen  Er- 
gebnis gekommen  sein.  Im  übrigen  bleibt  die  biblisch-liturgische  Aus- 
druckskunst des  Theaters  in  ihrer  Spärlichkeit  und  Strenge  bewahrt. 

Die  Schauspielkunst  des  ausgehenden  Mittelalters. 

Bleibt  —  bis  schließlich  in  der  zweiten  Hälfte  des  fünfzehnten 
Jahrhunderts  das  neue  Blut  dieser  Zeit   zu  stürmisch  pulsiert,    als 

1)  H.  Kehr  er  (Die  heiligen  drei  Könige  in  Literatur  und  Kunst.  Leipzig  1908).  2, 
S.  159 ff.)  will  allerdings  einen  direkten  Zusammenhang  beweisen:  eine  Abhängigkeit 
der  jüngeren  Darstellungen  der  Dreikönigsszene  in  der  Bildkunst  von  der  Aufführung  des 
Dreikönigsspiels,  und  zwar  eben  auf  Grund  von  Übereinstimmungen  in  der  Gestik; 
die  Darlegungen  des  sonst  offenbar  ausgezeichneten  Buches  vermögen  aber  schwerlich  von 
der  Notwendigkeit  einer  solchen  Annahme  zu  überzeugen.  Die  Darstellungen  der  Szene 
in  der  französischen  Bildkunst  zeigen  seit  etwa  1170  einen  neuen  Grundtypus,  dem  man 
sich  dann  später  auch  anderwärts  anschließt :  der  erste  König  kniet  jetzt,  während  er 
frülier  das  Knie  nur  neigte,  der  zweite  deutet  mit  erhobener  Hand  nach  dem  Stern;  in 
Frankreich  haben  die  Dreikönigspiele  ihren  Ursprung,  und  ihnen,  so  meint  K.,  hat  die 
bildende  Kunst  damals  sowohl  das  Knien  wie  das  Hindeuten  entnommen.  Dem  ist 
dreierlei  entgegenzuhalten.  1)  Daß  die  in  der  szenischen  Bemerkung  übrigens  nur  eines 
Spieltextes  erwähnte  genuflexio  auf  dem  Theater  wirkliches  Niederknien  und  nicht  bloße 
inclinatio  bedeutet,  ist  durch  nichts  zu  erweisen  (vgl.  o.  S.  204;  noch  weniger  das  von  K. 
ebenfalls  behauptete  Hochheben  des  Geschenks  durch  den  König);  umgekehrt  mußte  auch 
erst  gezeigt  werden,  daß  die  Wandlung  der  inclinatio  in  das  Knien  nicht  einer  allge- 
meinen bildkünstlerischen  Neigung  jener  Perlode  entstammt.  2)  Die  Deutgebärde  läßt 
sich  auch  schon  vor  jenem  von  K.  für  entscheidend  gehaltenen  Zeitpunkt  und  an 
anderm  Orte  nachweisen:  in  dem  englischen  Albanipsalter  v,  i.  1114  {vgl.  K.s. 
Abbildung  137)  und  auf  der  von  K.  nicht  erwähnten  deutschen  Elfenbeintafel  des  Berliner 
Museums  (Voeges  Kat.  Nr.  40),  die  jedenfalls  aus  dem  11.  Jh.  stammt.  Und  3)  nach  jener 
Theorie,  daß  das  Mutterland  des  Spiels  um  1170  die  heimische  Bildkimst  beeinflußt  habe, 
sollte  man  annehmen,  daß  das  Spiel  eben  damals  sich  entwickelt  habe  ;  tatsächlich  aber 
existiert  es  damals,  wie  auch  K.  selbst  (1,  S.  55  ff.)  auseinandersetzt,  schon  seit  mehr  als 
100  Jahren  und  nicht  nur  in  Frankreich,  sondern  auch  anderwärts.  Es  ist  demnach  sehr 
wohl  möglich,  daß  wir  nicht  erst  eine  so  komplizierte  Übertragung  des  Einfachen  anzu- 
nehmen brauchen,  daß  vielmehr  ein  bildender  Künstler  aus  erneuter  Ausnutzung  der 
Matthäusstelle  und  aus  rein  bildkünstlerischer  Gestaltungskraft  heraus  auf  die  Verwendung 
jener  emporzeigenden  Gebärde  gekommen  ist.  —  Aber  auch  wenn  K.s  Hypothese  zu 
Recht  bestehen  sollte,  handelt  es  sich  nur  um  Einwirkung  des  Theaters  auf  die  bildende 
Kunst,  nicht  um  das  in  imserer  Darstellung  für  die  Gebärdensprache  besonders  geleugnete 
umgekehrte  Verhältnis.  Und  ferner:  selbst  wenn  wir  auf  Grund  der  K.schen  Anschauung 
die  jüngeren  Dreikönigsskulpturen  und  -bilder  als  Spiegelbilder  der  Theateraufführung  be- 
nutzen könnten,  würden  sie  uns  nichts  anderes  lehren  als  was  wir  schon  wissen :  die 
Verwendung  der  „labilen  Gesten"  an  allen  geeigneten  Stellen. 

H  e  r  r  m  a  n  n ,  Theater.  16 


242  Umschwung  durch  die  Gestik  der  dramatischen  Marienklagen. 

daß  ihm  gegenüber  die  strenge  und  stille  Art  des  Theaters  sich 
noch  vollständig  die  alte  Ruhe  bewahren  konnte.  Es  wird  eine 
Bresche  gelegt,  und  bezeichnenderweise  ist  die  Stelle,  an  der  der 
erste  siegreiche  Angriff  erfolgt,  dieselbe,  an  der  einst  Jahrhunderte 
vorher  eine  Umwälzung  in  der  Gebärdensprache  der  geistlichen 
Epik  erfolgt  war,  dieselbe,  an  der  auch  in  der  bildenden  Kunst 
des  ausgehenden  Mittelalters  in  jenem  Zusammentreffen  von  Alt 
und  Neu  die  stärkste  Pathetik  zum  Ausdruck  kam.  Diese  Stelle 
ist  die  Marienklage.  Daß  hier  am  leichtesten  auch  in  der  theatra- 
lischen Darstellung  Konzessionen  ans  Moderne  gemacht  werden 
konnten,  ist  durchaus  begreiflich:  hier  fehlt  jene  kanonische  Grund- 
lage, die  sonst  immer  wieder  die  Einhaltung  der  strengen  Art  sich 
erzwang  —  diese  Marienklagen  führen  ja  nicht  auf  die  Bibel, 
sondern  auf  jene  späte  lateinische  Literatur  des  zwölften  Jahr- 
hunderts ihren  Ursprung  zurück  und  sind  nicht  immer  dem  Ganzen 
des  Passionsspiels  eingefügt,  sondern  haben  zunächst  auch  ein 
selbständiges  Dasein  als  eigene  kurze  Spiele.  Zunächst  freilich 
hält  auch  hier  die  Gebärdensprache  den  strengen  Stil  der  mittel- 
alterlichen Theaterkunst  gegenüber  der  Pathetik  der  erzählenden 
Grundlage  fest,  während  offenbar  in  der  Gesamtanlage  der  Vor- 
führung ein  starker  Einfluß  der  erzählenden  Kunst  und  der  bil- 
denden Kunst  und  ihrer  in  den  Beweinungsbildern  gipfelnden  Dar- 
stellungen der  Schmerzen  Maria  in  einer  Wechselwirkung  vorliegt, 
die  noch  der  zusammenfassenden  Betrachtung  harrt i).  In  der 
zweiten  Hälfte  des  fünfzehnten  Jahrhunderts  aber  wird  auch  der 
darstellerische  Gefühlsausdruck  vom  Geist  des  Pathos  ergriffen, 
und  die  ausgeprägteste  Form  der  neuen  Darstellungsmethode  liegt 
in  der  niederdeutschen  Bordesholmer  Marienklage  vor  uns  2),  die 
aus  dem  Jahre  1475  oder  1476  stammt.  Hier  finden  wir  neben  dem 
theatralisch  auch  sonst  Gebräuchlichen,  neben  dem  gemibus  flexis, 
dem  elevat  [oculos,  der  vox  lacnmabüis  usw.,  in  den  szenischen 
Bemerkungen  auch  völlig  Neues:  nicht  nur  taucht  das  lange  be- 
seitigte prosternere  se  ad  teiram  hier  wieder  auf  und  zwar  diesmal 
nicht  als  Zeichen  der  Anbetung,  sondern  als  Ausdruck  für  den 
furchtbarsten  Schmerz  der  Maria,  es  erscheinen  vielmehr  zur  Kenn- 
zeichnung des  Schmerzes  immer  wieder  die  bisher  völlig  verpönten 
Vorschriften  elevat  brachia  und  plangit  cum  manibiis.  Hier  sind 
die  Scheidewände  zwischen  der    theatralischen   Gestikulation    und 


1)  Die  Abhängigkeit  der  dramatischen  Gedichte  Deutschlands  von  jener  epischen 
Darstellung  des  13.  Jh.  „Unser  Frauen  Klage"  ist  nachgewiesen  von  Schönbach,  Über 
Marienklagen  (Graz  1875);  vgl.  ferner  W.  Meyer,  Carmina  Burana  (I5erlin  1901),  S.  68ff. 
VÄn  gelegentlicher  Hinweis  auf  den  Zusammenhang  der  dramatischen  Aufführung  mit  der 
bildenden  Kunst  in  Italien  bei  Creizenach  1  (1.  Aufl.),  S.  310,  Anm.  1. 

2)  Sie  ist  neu  herausgegeben  von  G.  Kühl:  JbVNiederdSpraclif.  24  (1898),  S.  1  ff.,  — 
leider  kommt  in  der  Einleitung  das  Theatergeschichtliche  sehr  zu  kurz. 


Umschwung  (iurcli  die  Gestik  der  dramatischen  Marienkiasen.  24B 

den  auf  den  Bildern  und  in  der  geistlichen  Erzählung  herrschenden 
Ausdrucksart  wenigstens  an  einer  Stelle  niedergelegt;  wie  sehr 
man  sich  dessen  bewußt  ist,  damit  gefährliches  Neuland  betreten 
zu  haben,  zeigt  die  umfangreiche  lateinische,  auch  sonst  theater- 
geschichtlich sehr  interessante  Vorrede  der  Bordesholmer  Klage, 
in  der  es  heißt:  Aliquando  beata  uirgo  expandit  brachia  sua,  ali- 
qiiando  leuat  manus  suas  ad  filiiim  cum  oculis;  omnia  cum 
moderamine.  Keineswegs  aber  darf  man  glauben,  daß  diese 
Bordesholmer  Klage  nur  eine  vereinzelte  Erscheinung  sei:  Spuren 
einer  Beeinflussung  des  Schmerzensausdrucks  finden  sich  auch  in 
der  Marienklage  von  Wolfenbüttel,  und  die  lebhafte  Trauersprache 
der  Hände  ist  auch  in  der  Trierer  Marienklage  hervorgehoben. 
Indem  nun  das  Alsfelder  Passionsspiel,  das  dem  Ende  des  15.  Jahr- 
hunderts angehört,  sich  diese  Trierer  Marienklage  verarbeitet  ein- 
verleibte, hält  das  entscheidende  plangendo  cum  manibus  ebenso 
wie  das  se  ad  ferram  residendo  der  Maria  und  ähnlichen  dem  Epos 
und  den  Gemälden  nahestehenden  Vorschriften  auch  in  die  szenischen 
Vorschriften  des  großen  geistlichen  Dramas  seinen  Einzug  —  aller- 
dings auch  hier  eben  nur  in  dem  Bezirk  der  Passionsklagen, 
während  der  allgemeine  Charakter  der  Gestikulation  der  alte  bleibt. 
Daß  es  sich  dabei  um  einen  symptomatischen  Hergang  handelt, 
zeigt  der  Sterzing-Pfarrkircher-Passion  oder  sein  Urbild  aus  dem 
i\usgang  des  15.  Jahrhunderts,  wo  ebenfalls  an  Christi  Kreuz  Maria 
ihren  Kummer  expansis  manibus  austönen  läßt;  hier  allerdings 
ohne  daß  wir  die  der  Einschmuggelung  zugrunde  liegende  Marien- 
klage schon  nachzuweisen  vermöchten. 

Nachdem  nun  aber  jetzt  einmal  an  einer  Stelle  der  Bann 
der  biblisch-liturgischen  Gebärdenstrenge  gebrochen  ist,  kann  nun 
endlich  der  Versuch  gewagt  werden,  jenem  Geist  beginnender 
Individualisierung,  Wirklichkeitsberücksichtigung  und  Pathetik,  der 
uns  in  der  bildenden  Kunst  des  ausgehenden  Mittelalters  entgegen- 
trat, auch  auf  dem  Theater  Eingang  zu  verschaffen.  Freilich  haben 
wir  dafür  nur  ein  einziges  Beispiel:  das  Donaueschinger  Passions- 
spiel, in  bezug  auf  dessen  Entstehung  man  nur  sagen  kann,  daß 
es  der  Schrift  nach  noch  ins  15.  Jahrhundert  gesetzt  wirdi).  Hier 
sind  nun  freilich  auch  noch  keineswegs  alle  Bande  frommer  Scheu 
gelöst;  so  gut  wie  auf  den  spätmittelalterlichen  Bildern  jene  alte 
Gebärdensprache  sich  neben  den  modernen  Elementen  erhält,  so 
gut  bleiben  auch  hier  auf  dem  Theater  die  gewohnten  Seelenzeichen: 
Seufzer  und  Murmeln;  Knien,  Sichbücken,  Fußkuß,  Winken,  mit 
dem  Finger  hinzeigen  (sehr  häufig!)  und  dergleichen  mehr.  Da- 
neben aber  tritt  nun  das  Neue  ganz  deutlich  z-itage.    Das  Agieren 


1)     Auch    die    neue    Arbeit     von    Dinges     (Breslau    1910)     gibt     keine     weiteren 

Aufschlüsse. 

16* 


244  Pathetik,  Individualisierung,  Naturalismus  im  Donaueschinger  Spiel. 

mit  Armen  und  Händen  zum  Zeichen  der  Trauer  findet  sich  freilich 
nur  einmal  angedeutet,  aber  das  Ausstrecken  der  Arme  im  brünstigen 
Gebet  ist  hier  nun  in  Übereinstimmung  mit  der  Liturgie  und  der 
bildenden  Kunst  häufig  verwandt,  das  früher  vermiedene  Zuboden- 
stürzen  wird  hier  neubelebt,  und  etwa  in  der  Ölbergszene  zeigt 
sich  in  voller  Übereinstimmung  mit  der  Darstellung  des  geistlichen 
Erzählers  unter  Benutzung  aller  sonst  als  ungeeignet  verschmähten 
Quellenandeutungen  die  stärkste  Pathetik:  denn  gat  der  Salvator 
zum  dritten  mal  von  inen  an  den  Ölberg  und  falt  nider  vff  das 
antut  criitzwiss  eins  guten  paternosters  lang,  denn  rieht  er  sich 
zitternde  mit  vff  gehepten  handen,  und  sol  im  der  blutig  schweiß 
vss  gan,  vnd  mit  forchtsamlicher  stim  facht  er  also  zitternde  an. 
So  sinkt  auch  Maria  am  Ki'euz  mit  großem  Ächzen  und  Jammern 
nieder.  Zu  solcher  erweiterten  Pathetik  kommt  endlich  Naturahstisch- 
Individuahstisches  der  neuen  Zeit,  zum  Teil  dem  Leben,  zum  Teil 
aber  auch  den  Bildern  abgesehen :  so  wenn  die  Wächter  bei  Christi 
Auferstehung  —  ohne  Anregung  der  Quelle  und  eher  beinahe  im 
Gegensatz  zu  ihr  —  erschreckt  emporfahren.  Schreck  wird  auch 
dadurch  ausgedrückt,  daß  der  Betreffende  etwas  fallen  läßt ;  Jesus 
wischt  die  Augen  bei  seiner  Trauer  um  Lazarus;  Petrus  zuckt  mit 
dem  Fuß,  den  der  Herr  ihm  waschen  will;  Maria  Magdalene  stost 
das  spil  frävenlich  von  ir  vnd  wüst  vff  .  .  .  Man  droht  mit  der 
Hand,  man  stößt  jemand  mit  der  Hand  von  sich,  man  inacht  mit 
der  Hand  ein  Kreuz,  man  nimmt  einen  teuren  Menschen  freundlich 
bei  der  Hand  und  so  fort.  All  das  ist  hier  durchaus  neu ;  und  wie 
auf  den  Gemälden  kann  nun  Alt  und  Neu  auch  miteinander  un- 
mittelbar verbunden  sein:  Caijphas  wüst  vff  sölliche  des  Salvators 
wort  zornklich  vnd  facht  an  seine  kleider  zerrissen. 

Mit  dieser  Entschiedenheit  der  Modernisierung  steht  das  Donau- 
eschinger Spiel  allerdings  allein;  auch  die  Tiroler  Passionsspiel- 
bearbeitungen des  16.  Jahrhunderts  (z.  B.  Hall  1511?,  Brixen  1521) 
weisen  wohl  den  älteren  Vorgängen  gegenüber  einige  der  neuen 
Züge  auf,  halten  im  Ganzen  aber  doch  mehr  die  konservative  Ai't 
des  alten  Spieles  fest. 

Und  nun  dürfen  wir  wieder  einlenken  in  den  Hauptweg  unserer 
Untersuchung  und  uns  fragen:  wie  steht  die  Gebärdensprache  des 
Hans  Sachsischen  Theaters  zu  der  des  mittelalterhchen  Theaters: 
zu  ihrer  gewöhnlichen,  sparsamen,  biblisch-liturgischen  Art  und 
zu  jener  nicht  ganz  unwesentlich  modernisierenden  Form,  die  wir 
soeben  ganz  am  Ausgang  des  Mittelalters  beobachten  konnten? 

Die  Gebärdensprache  der  Meistersingerbühne. 
Versuchen  wir  demgemäß  zunächst  die  Gebärdensprache  der 
Hans  Sachsischen  Meistersingerbühne   in   sich  zu  überschauen,   so 
fällt   zu    allererst   der   gelegentlich    schon    einmal  hervorgehobene 


Die  Gebärdensprache  der  Meistersingerbühne.    Mimik,  Gesammtkürper.  245 

Mangel  an  Gesichtsmimik  auf.  Nur  in  bezug  auf  den  Blick  finden 
sich  einige  szenische  Vorschriften.  Auch  sie  sind  aber  nur  recht 
spärlich.  Ferner:  es  ist  eigentlich  nur  in  einem  einzigen  Drama 
an  zwei  Stellen  direkte  seelische  Charakteristik  des  Blicks  gegeben: 
KG.  15,  S.  41  (1557):  Saul  .  .  .  sieht  düsterlich  und  S.  55  Saul  sieht 
düekiseh^).  Sonst  handelt  es  sich  um  Kennzeichnung  der  Blick- 
richtung —  in  manchen  Fällen  dabei  um  reine  Aktion :  das  schaiffe, 
starcke,  fleissige  Ansehen  zum  Zweck  des  Erkennens,  das,  mit  einer 
Bewegung  des  ganzen  Körpers  verbundene  Vmb  sieh  -  Sehen  beim 
Suchen  usw. ;  gelegentlich,  wenn  jemand  (KG.  11,  S.  408)  sieht  vmb 
verzagt,  handelt  es  sich  um  ein  Verhalten,  das  in  der  Mitte  steht 
zwischen  Kennzeichnung  der  Situation  und  psychischer  Charakte- 
ristik. So  bleibt  für  den  eigentlich  seelischen  Ausdruck  nicht  viel 
übrig,  und  auch  dann  ist  das  Mimische  kaum  ganz  isoliert:  wenn 
hier  und  da  die  Scham  durch  vndter  sich  sehen,  die  Andacht  und 
Verwandtes  nicht  ganz  selten  durch  über  sieh  sehen  angedeutet 
wird,  so  kommt  jedenfalls  die  Haltung  des  Kopfes  dem  Blick  zu 
Hilfe,  ebenso  wenn  gelegentlich  (KG.  11,  S.  263)  Verlegene  einander 
ansehen.  Im  ganzen  also  eine  ganz  auffallend  geringe  Rolle  des 
Gesichtsausdrucks;  die  Haltung  des  Kopfßs  für  sich  allein  kommt, 
wenn  wir  von  hier  und  da  einmal  vorgeschriebenem  Kopfschütteln 
und  Kopfnicken  absehen,  ebenfalls  nicht  in  Betracht.  Ganz  isoliert 
ist  es,  daß  zum  Zeichen  der  Wut  im  Jüngsten  Gericht  1558  (KG.  11, 
S.  415)  Satanas  ausspeit  2). 

Etwas  häufiger  ist  die  Verwertung  des  ganzen  Körpers  und  im 
besonderen  der  Beine  —  aber  eine  irgendwie  entscheidende  Rolle 
spielen  auch  die  Ausdrucksbewegungen  dieser  Art  nicht.  Von  der 
aus  einer  vorgeschriebenen  Stimmung  heraus  zu  leistenden  Nuan- 
zierung  des  Ganzen  ist  in  anderm  Zusammenhang  schon  oben 
(S.  147  ff.)  die  Rede  gewesen,  und  ganz  außerhalb  der  Betrachtung  der 
Schauspielkunst  ist  (S.  47)  bereits  davon  gesprochen,  daß  der  Nürn- 
berger Darsteller  die  traurige  Gemütslage  der  von  ihm  verkörperten 
Person  auf  die  einfachste  Weise  zur  Anschauung  bringt:  indem 
er  auf  dem  Chorstuhl  Platz  nimmt.  Das  sehr  oft  geforderte  Sich- 
neigen ist  die  bei  Hans  Sachs  gewöhnhche  Form  der  Begrüßung, 
ohne  eigentlich  seelischen  Nebeninhalt.  In  den  biblischen  Dramen 
wird  hin  und  wieder  bei  einer  göttlichen  Erscheinung,  die  ja  vom 
bibhschen  Text  gelehrte,    völhge  Niederwerfung    des  Körpers    ge- 


1)  Das  Sicht  ernstlich,  des  1559  (KG.  15,  S.  110)  in  der  erweiterten  Esther  gebraucht 
wird,  ist  nur  ein  Rest  des  sieht  sie  ernstlich  an  aus  der  ersten  Esther  von  1536  (KG.  1, 
S.  122),  kommt  also  für  die  klassische  Zeit  nicht  voll  in  Betracht;  damals,  in  der  Frühzeit, 
auch  (1546,  KG.  2,  S.  53)  einmal:  sieht  im  sehnlich  nach. 

2)  Mit  dem  zweiten  Fall,  dem  Ausspeien  Hamans  in  der  erweiterten  Esther  (KG.  1 5. 
S.  106)  steht  es  wie  mit  dem  ernstlichen  Blick  (vgl.  oben  Anm.  1):  es  ist  ein  Überbleibsel 
der  alten  Esther  von  1536  (KG.  1,  S.  119). 


246  Gesammtspiel.     Arme  und  Hände. 

fordert:  man  feit  auff  sein  angesicht,  und  ein  paarmal  (KG.  10, 
S.  277,  337),  im  Anschluß  an  die  biblische  Vorlage  des  Dichters, 
fällt  man  auch  vor  Kummer  oder  Angst  auf  die  Erde.  Auf  seine 
weltlichen  Dramen  hat  Hans  Sachs  derartiges  nur  ganz  ausnahms- 
weise übertragen:  Fortunat  (1553,  KG.  12,  S.  199)  küßt  vor  dem 
Sultan,  den  er  begrüßt,  die  Erde;  trauernde  Frauen  stürzen  auf 
einen  geliebten  Toten  nieder  (Isald,  Hekuba,  Polixena,  auch  Krim- 
hild) ;  ohne  dieses  Sehnen,  mit  dem  teuren  Körper  sich  zu  berühren, 
sinkt  nur  Melusine  (KG.  12,  S.  550)  vor  Kummer  nider  zu  der  erden. 
Auf  der  Grenze  zwischen  Aktion  und  Zeichen  der  Gemütsbewegung 
steht  das  hier  und  da  vorkommende  Sichumsehen:  es  bedeutet 
sowohl  das  Suchen  nach  einer  Person  oder  einem  Gegenstand  wie 
auch  die  damit  verbundene  Verzagtheit.  Ganz  isoliert  aber  ist  es, 
daß  Belsazar  (KG.  11,  S.  50)  vor  Schreck  vom  Tisch  auffährt i);  ein 
Aufspringen  vor  Freude  (KG.  2,  S.  14)  gehört  ins  Jahr  1530,  also 
in  Hans  Sachsens  Frühzeit.  Im  übrigen  spielt  nur  das  Knien  (auf 
beiden  Knien)  eine  nicht  ganz  unbeträchtliche  Rolle;  manchmal 
in  Verbindung  mit  dem  Aufheben  der  Hände,  manchmal  aber  auch 
allein  verwendet.  So  gut  wie  ausnahmslos  bedeutet  es  eine  starke 
Bitte  und  zwar  fast  immer  Bitte  um  Begnadigung'^);  die  Bitte  richtet 
sich  nicht  so  häufig  an  Gott  wie  an  Menschen:  Könige  oder  an- 
dere Fürsten.  Allzuhäufig  aber  ist  auch  der  Kniefall  nicht  ver- 
wendet —  ein  charakteristisches  Gepräge  wird  der  Nürnberger 
Schauspielkunst  durch  die  Aktion  des  ganzen  Körpers  oder  im  be- 
sondern der  Beine  auch  nicht  gegeben,  wenn  auch  jenes  fast 
völlige  Ausfallen  das  Mimischen  hier  doch  kein  Seitenstück  findet. 
Das  charakteristische,  entscheidende  Gepräge  gibt  vielmehr 
durchaus  die  starke  Bewegung  der  Arme  und  der  Hände.  Auch 
hier  freilich  ist  der  Reichtum  an  Gesten  und  die  Differenzierungs- 
möglichkeit nicht  groß,  im  Gegenteil:  die  sehr  geringe  Zahl  (es 
handelt  sich  um  wenig  mehr  als  ein  Dutzend)  und  die  Gleichförmig- 
keit der  Anwendung  weisen  auf  eine  streng  stilisierende  Kunst  und 
auf  die  Berücksichtigung  eines  Schauspielerpersonals,  dessen  Lei- 
stungen, wie  wir  schon  in  anderm  Zusammenhang  hervorhoben, 
wesentlich  erlernbar  sein  mußten.  Von  diesen  wenigen,  in  steter 
Sicherheit  zur  Verfügung  stehenden  Mitteln  macht  der  Dichter- 
regisseur aber  verhältnismäßig  lebhaften  Gebrauch.  Und  weiter:  dafür 
daß  über  die  bloße  Rücksichtnahme  auf  leichte  Erlernbarkeit  hinaus 
eine  strenge  Stilisierung  hier  Selbstzweck  ist,  spricht  der  Umstand, 
daß  unter  den  Hand-  und  Armbewegungen  qualitativ  und  quanti- 
tativ diejenigen  die  wichtigsten  sind,  die  ohne  Beteihgung  anderer 
Körperteile  lediglich  Arme  und  Hände  und  zwar  in  ganz  gleich- 

1)  Das  LendenschiUtorn  und  IJeinezillcrn,   von  dem  die  IJibel  spricht,  war  theatralisch 
unverwendljar. 

2)  Einmal  Dank  an  Gott,  einmal   Knien  vor  einem  Mönch  bei  der  Beichte. 


Bewegungen  der  Arme  und  Hände.  247 

mäßiger  Funktion  beide  Hände  und  beide  Arme  angehen.  So 
stehen  im  Zentrum  der  Hans  Sachsischen  Schauspielkunst  sechs 
Gesten,  die  sich  zu  einer  Art  Bewegungsskala  zusammenreihen 
lassen:  Händezusammenlegen,  Händeaufheben,  Händewinden,  Hände- 
zusammenschlagen,  Armeaufheben,  Händeüberdemkopfzusammen- 
schlagen.  Und  wenn  wir  zunächst  zusammenfassend  den  seelischen 
Inhalt  feststellen  wollen,  der  mit  solchen  Mitteln  zum  Ausdruck 
gebracht  wird,  so  können  wir  sagen:  es  sind  die  beiden  drama- 
tischen Haupttrümpfe,  die  das  Hans  Sachsische  Drama  —  wie  jedes 
Drama  des  16.  Jahrhunderts  im  letzten  Sinne  stark  rhetorisches 
Passivitätsdrama  —  auszuspielen  hat,  die  auch  durch  jene  zentrale 
Gestenreihe  schauspielerisch  urgiert  werden  sollen:  rasch  eintretendes 
furchtbares  Leid  auf  der  einen,  flehentliche  Bitte  [auf  der  andern 
Seite. 

Es  mag  charakteristisch  sein  für  die  innere  Zusammengehörig- 
keit dieser  beiden  bedeutsamsten  seelischen  Akzentuierungen  des 
Hans  Sachsischen  Dialogs:  Jammern  und  Bitten,  daß  zwei  jener 
Hauptgesten:  das  Händezusammenlegen  und  das  Händeaufheben  für 
Klage  und  für  Bitte  verwendet  werden  können;  allerdings  sind  sie 
auch  darüber  hinaus  noch  mehrdeutig:  können  gelegentlich  auch 
Ehrfurcht,  Dank,  Freude,  auch  wohl  Reue  zum  Ausdruck  bringen. 
Die  Bitte  des  Händezusammenlegens  (das  öfters  mit  dem  himmel- 
wärts gerichteten  Blick  verbunden  erscheint)  ist  nur  Gebet,  richtet 
sich  also  nur  an  Gott  (oder  an  Götter) ;  das  Händeaufheben  dagegen 
(zuweilen  ebenfalls  durch  den  Aufbhck,  zuweilen  auch  durch  den 
Kniefall  verstärkt)  wendet  sich  sowohl  an  Gott  wie  an  Könige,  hie 
und  da  auch  auch  an  minder  hochstehende  Fürsten.  Außerdem 
unterscheidet  sich  das  Zusammenlegen  von  dem  Emporheben  der 
Hände  dadurch,  daß  die  Gemütsbewegung  des  Bittenden  oder 
Klagenden  beim  Händezusammenlegen  ruhiger  zu  sein  pflegt.  Und 
in  der  gleichen  Richtung  bewegt  sich  nun  auch  die  Tendenz,  in  der 
Hans  Sachs  die  noch  übrigen  Hand-  und  Armbewegungen  unter- 
scheidend anwendet,  die  zunächst  sämthch  für  die  Bezeichnung  des 
großen  Jammers  da  sind.  Je  heftiger  der  Kummer  des  Redenden, 
je  näher  den  Affekten  der  Verzweiflung  und  des  Schreckens, 
um  so  heftiger  ist  die  Bewegung,  um  so  weiter  die  Pose  von 
der  normalen  Haltung  entfernt;  so  ist  es  beinahe  die  Regel, 
daß  der  Überbringer  einer  grauenvollen  Nachricht  gleich  bei  dem 
Auftreten  die  Hände  überm  Kopf  zusammenschlägt.  „Beinahe 
die  Regel"  —  denn  zu  einer  maschinenmäßigen  Anwendung  der 
Vorschriften  bringt  Hans  Sachs  es  überhaupt  nicht.  Die  Tendenz 
aber  scheint  durchaus  vorhanden.  Besonders  deutlich  tritt  das 
Bestreben,  in  solchem  Sinne  zu  steigern,  etwa  in  dem  Trauerspiel 
Jokaste  v.  J.  1550  (KG.  8,  S.  29  ff.)  hervor.  Als  die  Heldin  erfährt,  daß  ihr 
Gatte  Layos  gefallen  ist  und  daß  sie  den  Oedipus  zum  Manne  nehmen 


248  Bewegungen  der  Arme  und  Hände, 

soll,  da  heißt  es  von  ihr:  sie  wint  ir  hend^  ebenso  auch,   als  dann 
später  Merkur  kommt  und   ihr  kündet,  daß  Oedipus   ihr  Sohn  sei; 
als  der  König  darauf  selbst  erscheint  und  die  Entdeckung  des  Klein- 
ods, das   er  am  Halse   trägt,  die  Richtigkeit  der  Angabe  Merkurs 
bestätigt,  da  wird  die  Bewegung  stärker:  sie  schlecht  ir  hend  zamen 
und  schlecht  an  ir  brüst  (es  kommt  also  noch  eine  Klagebewegung 
dazu,  von  der  gleich  die  Rede  sein  wird) ;  Oedipus  aber,  auf  den  nun 
mit  einem  Mal  das  ganze  Entsetzen  hereinbricht,  schlecht  seine  hend 
ob  dem  kopjf  zusamen,  und  als  er  sich  dann  die  Augen  ausgestochen 
und  das  Land  verlassen  hat,  da  geht  nun   auch  Jokaste   zu  dieser 
heftigsten  Bewegung  über  und  schlecht  ir  hend  ob  dem  haupt  zu- 
samen.   In  der  Handschrift  des  Dichters  allerdings  fehlen  die  Worte 
ob  dem    haupt  —  gewiß  soll  hiermit  der  nun  gemäßigteren  Geste 
des  bloßen  Händezusammenlegens  schon  wieder  ein  gewisser  Rück- 
gang  der  .Entsetzensstimmung    angedeutet  werden,    da  der    dann 
folgende  Monolog  wieder  mehr  in  die  ruhige  Klage  übergeht,  mit 
dem  Entschluß  zur  Übernahme  der  Regierung  endet  und  durch  die 
szenische  Bemerkung  beschlossen  wird :  Jocasta  geht  trawrig   ab ; 
eine   ähnliche  Abdämpfung  der  Heftigkeit  findet  sich   auch  sonst. 
Alle     andern    Bewegungen     der    Hände    und     der    Arme    haben 
neben  den  eben  charakterisierten  wieder  nur  sekundäre  Bedeutung; 
nicht  selten  erwähnt  wird   allerdings  noch,   daß    der  dauernd  Be- 
kümmerte sein  Haupt  in  der  Hand  hält :  eine  Pose,  die  wohl,  auch 
wo   sie  nicht  besonders   angeführt    wird,   stets  mit  dem  öfter   er- 
wähnten sitzt  trawrig  verbunden  ist.     Das  Kleiderzerreißen,   das 
Angesichtverhüllen,  das  eben  schon  einmal  erwähnte  Schlagen  der 
Brust  —  alle  diese  Gesten  Zeichen  der  großen  Trauer,  das  Brust- 
schlagen  auch  Ausdruck  der  Reue,  der  Ergebung  —  kommen  im 
ganzen  nicht  eben  häufig  und  zwar  wesentlich  nur  in  den  biblischen 
Dramen  vor  im  Anschluß  an  den  heiligen  Text  oder  doch  unter  Be- 
nutzung dieser  von  der  Bibel  überlieferten  Trauerzeichen  für  andere 
Klagesituationen   des    biblischen    Stoffkreises.     Nehmen   wir   dazu 
noch  das  Fingerrecken   beim  Gelöbnis,   das  Sichgesegnen,  das  be- 
sonders bei  großer  Enttäuschung  und  bei  Staunen  und  Angst,  nament- 
lich gelegentlich  wirklicher  oder  vermeintlicher  Geistererscheinungen 
hie   und  da   angewendet  wird,  und  das   nicht   seltene  Handgeben, 
das    aber  nie  an  die  Stelle  des  gewöhnlichen  Grußes,  des  Neigens 
tritt,  sondern    stets  einen  eigenen  Gefühlsanteil  an  der  Begrüßung 
oder  am  Abschied,  ihre  besondere  Bedeutung  bekundet,  außerdem 
Glückwunsch,  Anteilnahme,  Beileid,  großen  Dank  bedeutet  und  beim 
Gelöbnis,  bei  Verabredungen  und  Bundesschlüssen  zur  Anwendung 
kommt  —  dann  sind  wir  auch  schon   am  Ende,  dann  ist  der  enge 
Kreis    der  einigermaßen  stereotypen  Gesten  der  Hans  Sachsbühne 
durchaus  geschlossen.     Ein  paar  andersartige  Bewegungen,  die  noch 
vorkommen,  bleiben   völlig  isoliert;  als   das    einzige  mehrfach   er- 


Venvandtscluift  mit  der  Gestik  des  mittelalterlichen  Theaters.  249 

scheinende  Herausfallen  aus  der  feierlichen,  dem  Alltag  abgewandten 
Art  dieser  Kunst  mag  hervorgehoben  werden,  daß  dreimal  (KG.  1, 
S.  1481);  10,  S.  46;  15,  S.  116)  Verlegenheit  und  Ärger  dadurch  be- 
zeichnet wird,  daß  der  Betreffende  sich  im  kopff  kratzt. 

Wie  verhält  sich  diese  Gebärdensprache  der  Hans  Sachsbühne 
nun  zu  der  des  mittelalterlichen  Theaters?  Wir  erinnern  uns  zu- 
nächst jener  eigentümlichen  Festigkeit,  mit  der  das  alte  Passions- 
spiel eine  Anzahl  charakteristischer  Mienen  und  Gesten  der  bi- 
bhschen  Vorlage  in  prägnanten  Situationen  der  Peripetie  in  Christi 
Leben  immer  wieder  heraushob.  Sind  diese  „stabilen  Gesten"  auch  bei 
Hans  Sachs  zu  finden  ?  Diese  Frage  ist  mit  Ja  zu  beantworten,  sobald 
wir  zur  Entscheidung  sein  eigenes  Passionsspiel  vom  Jahre  1558 
(KG.  11,  S.  256 ff.)  heranziehen.  Christi  Niederknien  im  Ölberggebet, 
das  Zurückfallen  der  Juden,  der  Judaskuß,  des  Hohepriesters  Kleider- 
zerreißen,  Christi  Umblicken  nach  Petrus,  der  ihn  verleugnet,  und 
des  Jüngers  reuige  Tränen  sind  hier  wie  im  mittelalterlichen  Passions- 
spiele als  die  entscheidenden  Gesten  in  der  Peripetie  des  Heilands- 
schicksals deutlich  herausgearbeitet.  Ebenso  deutlich  aber  ist  es, 
daß  das  nur  die  Konsequenz  der  Abstammung  auch  des  Hans 
Sachsischen  Passionsdramas  vom  mittelalterlichen  Passionsspiel  ist, 
die  auch  in  manchen  andern  Zügen  entschieden  hervortritt;  es  ist 
nicht  etwa  allgemeines  Kunstprinzip  Hans  Sachsens  geworden,  den 
Höhepunkt  eines  Dramas  durch  eine  Geste  oder  eine  Gestenfolge 
zu  charakterisieren,  wenn  schon  derartiges  gelegenthch  vorkommen 
kann,  wie  in  der  Kindheit  Mosis,  1553  (KG.  10,  S.  92),  wo  die  szenische 
Bemerkung  in  bezug  auf  den  kleinen  Moses  vorschreibt:  Mose  reist 
die  krön  vom  kopff  herab,  tritt  mit  fassen  clrauff.  Ein  Prinzip  kann 
Hans  Sachs  schon  darum  nicht  daraus  machen,  weil  ihm  nicht  ge- 
nügend individualisierende  Bewegungen  zur  Verfügung  stehen. 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  aber  der  meistersingerischen 
Schauspielkunst  mit  der  mittelalterlichen  ist  auch  sonst  nicht  zu 
verkennen.  Zunächst  mag  das  fast  völhge  Ausfallen  der  Gesichts- 
mimik auf  einen,  wenig  sinnvollen,  Anschluß  an  das  alte  Dar- 
stellungsideal hinweisen;  wenig  sinnvoll:  denn  was  auf  der  Markt- 
platzbühne des  Mittelalters  tatsächhch  zwecklos  gewesen  wäre, 
würde  im  engen  Raum  der  Marthakirche  den  nahe  sitzenden  Zu- 
schauern gewiß  etwas  geboten  haben.  Hier  wie  dort  ferner  eine 
entschiedene  Sparsamkeit  der  Bewegungen  im  ganzen,  wenngleich 
von  der  auffallenden  Dürftigkeit  der  alten  Kunst  nicht  mehr  die 
Rede  ist;  hier  wie  dort  das  Prinzip  der  Stilisierung  der  Bewegungen 
unter  fast  völligem  Ausschluß  aller  Individualisierung  —  nur  frei- 


1)  Tobias  v.  J.  1530,  aber  späterer  Überarbeitung  der  szenischen  Bemerkungen  stark 
verdächtig. 


250  Unterschiede  von  der  Gestik  des  mittelalterlichen  Theaters. 

lieh,  daß  die  Art  der  Stilisierung  eine  im  wesentlichen  ganz  andere 
geworden  ist.  Erkennbar,  wenigstens  noch  in  Rudimenten,  ist  aber 
noch  jenes  zweite  Hauptprinzip  der  alten  Spielkunst,  das  wir  als 
das  Prinzip  der  „labilen  Gesten"  bezeichnet  hatten:  jene  Neigung  der 
älteren  Bühne,  eine  Anzahl  von  Gestus-  und  Tonangaben  der  er- 
zählenden Quelle  nicht  nur  an  die  Stellen  zu  übernehmen,  an  denen 
sie  sich  dort  finden,  sondern  mit  eben  diesem  Kapital  auch  sonst 
zu  arbeiten,  findet  sich  auch  bei  Hans  Sachs.  Sie  findet  sich  aber 
bezeichnenderweise  —  und  eben  darum  haben  wir  das  Recht,  hier 
von  einem  direkten  Zusammenhang  mit  dem  früheren  Theater  bei 
ihm  zu  reden  —  nicht  in  seinen  weltlichen,  sondern  nur  in  seinen 
biblischen  Dramen:  einige  charakteristische  Bewegungen  der  heiligen 
Quelle,  das  Aufsangesichtfallen,  das  Kleidzerreißen,  das  Andibrust- 
schlagen  kommen  nicht  nur  an  den  Stellen,  an  denen  die  Bibel  es 
anführt,  sondern  auch  sonst  in  den  geistlichen  Dramen  Hans 
Sachsens  vor,  von  wo  sie  sich  dann  ganz  ausnahmsweise  wohl  auch 
einmal  in  ein  weltliches  Stück  verirren.  Den  nicht  biblischen 
Quellen  gegenüber  scheint  dagegen  ein  entsprechendes  Verfahren 
nicht  vorzuliegen. 

An  der  Möglichkeit,  Hans  Sachsens  Schauspielkunst  noch 
an  die  mittelalterliche  Tradition  anzuknüpfen,  fehlt  es  somit  nicht. 
Anderseits  aber  treten  uns  die  Unterschiede  mit  entscheidender 
Deutlichkeit  entgegen.  Jener  kanonisch-hturgische  Grundcharakter 
der  alten  Kunst  ist  fast  verloren  gegangen  —  begreiflich :  wir  stehen 
in  der  Reformationszeit;  ein  Neues  ist  an  seine  Stelle  getreten. 
Woher  stammt  es?  Wir  sahen  um  die  Wende  des  15.  Jahrliunderts 
zum  16.  im  Donaueschinger  Passionsspiel  den  Versuch,  neben  dem 
starren  alten  Stil,  der  sich  ohne  Zweifel  im  katholischen  Deutsch- 
land auch  während  des  16.  Jahrhunderts  noch  erhalten  hat,  eine 
vielfach  neue  Art  der  Darstellung  auf  dem  geistlichen  Stadttheater 
einzuführen.  Knüpft  die  Nürnberger  Kunst  an  den  hier  wenigstens 
symptomatisch  erhaltenen  Wandel  an  ?  Unbedingt  spüren  wir  aller- 
dings eine  gewisse  Verwandtschaft  der  beiden  Stile:  die  Zunahme 
der  Zahl  der  Gesten,  die  gesteigerte  Lebhaftigkeit,  das  pathetische 
Element,  die  stärkere  Freiheit  gegenüber  jenem  Kirchlichen  sind 
schon  in  jenem  Passionspiel  zu  finden.  Aber  um  eine  geradlinige 
Fortentwickelung  vom  ältesten  Stil  über  die  Art  des  Donaueschinger 
Spiels  zur  Nürnberger  Bühne  kann  es  sich  doch  nicht  handeln. 
Von  einer  gewissen  zuckenden  Unruhe  des  Donaueschinger  Spiels 
ist  auf  Hans  Sachsens  Bühne  kaum  etwas  zu  spüren,  der  Naturalis- 
mus spielt  bei  ihm  eine  wesentlich  geringere  Rolle;  anderseits 
treten  die  bei  Hans  Sachs  entscheidenden  Bewegungen  in  jenem 
Passionsspiel  noch  sehr  zurück.  Woher  also  der  neue  Charakter 
der  Nürnberger  Kunst?  Handelt  es  sich  vielleicht  um  eine HerübiM-- 
nahme  des  Gestenapparates,  mit  dem  Hans  Sachs  als  Dichter  außer- 


Die  Gestik  in  Hans  Sachsens  erzählender  Dichtung.  251 

halb  der  dramatischen  Poesie  arbeitet,  in  seine  theatraUsche  Sphäre? 
So  wird  es  nötig  sein,  den  BUck  auf  die  Ausdrucksbewegungen  in 
Hans  Sachsens  epischer  Dichtung  zu  richten. 

Und  indem  wir  dies  unternehmen  i),  belohnt  es  sich  nochmals, 
daß  wir  früher  in  anderm  Zusammenhange  (S.  178  ff.)  die  Art  und  die 
Entwicklung  der  Gestik,  der  Mimik  und  des  stimmlichen  Vortrags  in 
der  erzählenden  Dichtung  des  deutschen  Mittelalters  zu  erfassen 
versucht  haben :  denn  Hans  Sachs  ist  als  Epiker  ein  Ausläufer  der 
dort  festgestellten  Tradition.  Wie  die  bürgerlichen  Dichter  des  15. 
Jahrhunderts  arbeitet  er  in  der  Hauptsache  mit  einer  beschränkten 
Zahl  von  Ausdrucksmitteln  aus  dem  Schatz  der  ritterlichen  und 
spielmännnischen  Epik,  ohne  daß  dabei  noch  ein  Zusammenhang 
mit  dem  alten  inneren  Leben  dieser  Gebärdensprache  bestände; 
daneben,  aber  ganz  in  zweiter  Reihe  zeigen  sich  auch  einige  Züge 
neuer  Beobachtung  des  wirklich  geschauten  Gegenwartslebens. 
Ein  paar  ganz  fremde  Elemente  kommen  wohl  auch  gelegentlich 
zum  Vorschein  —  kein  Wunder:  Hans  Sachs  beutet  für  Historien 
und  Schwanke  die  ganze  Weltliteratur  aus,  und  die  Versifikation  geht 
oft  so  schnell  vor  sich,  daß  manchmal  auch  Gebärden  einer  andern 
Welt:  antike,  italienische  mit  herübergenommen  werden.  Doch 
bleibt  das  Ausnahme:  abgesehen  von  den  biblischen  Erzählungen, 
in  denen  ein  Rest  jener  mittelalterlichen  Pietät  auch  die  Gebärde 
konservativer  behandeln  ließ,  wird  im  allgemeinen  die  Gestik  der 
Vorlage  gemäß  der  deutschen  Tradition  verändert,  getilgt,  auch 
wohl  ergänzt ;  letzteres  freilich  nicht  allzu  häufig,  denn  von  einem 
besonders  großen  Interesse  an  der  epischen  Gestik  ist  bei  Hans 
Sachs,  zumal  in  den  großzügigen  Historien,  nicht  die  Rede. 

So  ist  denn,  wenn  wir  zunächst  einmal  die  eigentlich  tradi- 
tionellen Elemente  verfolgen,  auf  dem  akustischen  Gebiet,  abgesehen 
von  dem  Lachen  und  Weinen,  das  doch  mitunter  visuell  gemeint 
ist  (so  beim  Freundlich-Anlachen  und  wenn  die  roten  Augen,  die 
fallenden  Tränen  erwähnt  werden)  und  von  den  schon  einmal  (S.169ff.) 
herangezogenen  Stimmnuancierungen  wesentlich  nur  das  hier  wie 
in  der  Epik  des  Mittelalters  nicht  seltene  Seufzen  zu  bemerken; 
ferner  das  Schreien  in  Jammer  und  Schreck;  daneben  allenfalls 
noch  das  Schluchzen,  das  aber  hier  wie  in  der  alten  Dichtung  nicht 
eben  häufig  begegnet.  Im  Mimischen  spielt  der  Farbenwechsel  die 
alte  Rolle  :  man  wird  bleich  in  Furcht,  Zorn  oder  Trauer,  umgekehrt 
rot  in  Zorn  oder  Scham,  auch  wohl  vor  Furcht  oder  als  Zeichen 
der  Liebe;  vielfältig  ist  der  Bück:  man  sieht  heblich,  freundlich, 
inniglich,  sehnend,  lechzend,  strenge,  zornig,  tückisch,  so  wie  es 
die    Helden     der    alten    Epen    auch    tun,     und   besonders    häufig 


1)  Hineingezogen    ist   mit  Rücksicht  auf  die   oben  S.  38  gebotene  Begründung  auch 
das  im  dramatischen  Dialog  enthaltene  Material. 


252  Diß  Gestik  in  Hans  Sachsens  erzählender  Dichtung. 

„sauer",  was  im  Mittelalter  auf  die  spielmännische  Dichtung  be- 
schränkt ist,  man  schlägt  die  Augen  nieder,  man  richtet  sie  gen 
Himmel,  man  wendet  sie  ab  im  Zorn  und  weiß  vor  Scham 
nicht,  wohin  man  sehen  soll.  Endhch  stehen  in  Übereinstimmung 
mit  der  Epik  des  späteren  Mittelalters  dem  Entsetzten  die  Haare  zu 
Berge;  man  bleckt  beim  Lachen  die  Zähne  und  knarzt  und  gries- 
gramt  mit  ihnen  beim  Gefühl  des  Neides  wie  in  der  mittelalter- 
lichen Heldendichtung. 

Unter  den  Bewegungen  der  Arme  und  Hände  steht  das  Hände- 
winden und  Haarraufen,  meist  zu  einer  formelhaften  Wendung  zu- 
sammengekoppelt, so  obenan,  daß  sie  in  der  Hans  Sachsischen 
Erzählung  als  der  typische  Ausdruck  des  großen  Jammers,  der 
Verzweiflung  gelten  können ;  in  der  ruhigeren  Trauer  legt  man,  und 
zwar  entschieden  häufiger  als  in  der  mittelalterlichen  Epik,  die 
Wange  in  die  eine  Hand;  in  der  Angst  und  im  Schreck  segnet  man 
sich.  Seltener  ist  das  Zerreißen  der  Kleider,  das  schmerzliche 
Schlagen  des  Hauptes  und  der  Brust,  das  Aufrecken  der  Finger 
beim  Schwur.  Ganz  gelegentlich  kommen  schließlich  auch  noch 
andere  Arm-  und  Handbewegungen  der  mittelalterlichen  Erzählung 
vor:  das  Zusammenlegen  der  Hände  bei  der  Bitte,  das  Zusammen- 
schlagen der  Hände  im  Schreck,  im  Zorn  oder  auch  in  der  Freude; 
wenn  einmal  ein  Wütender  den  Kopf  mit  beiden  Händen  kratzt, 
so  ist  auch  das  bei  Wolfram  schon  zu  finden. 

Endlich  Bewegungen  des  ganzen  Körpers.  Man  umarmt  sich 
und  küßt  sich,  man  bückt  sich  in  Ehrerbietung,  man  fällt,  wenn 
auch  nicht  so  häufig,  auf  die  Knie:  wenn  man  Gott  verehren,  ihm 
danken,  wenn  man  von  Menschen  etwas  inständigst  erbitten  will. 
Alles  andere  ist  selten:  das  Auffahren  vor  Schreck,  das  Springen 
vor  Freude;  etwas  häufiger  kommt  es  nur  vor,  daß  jemand  im 
Jammer  auf  die  Erde  fällt,  daß  dem  Ängstlichen  der  Schweiß  aus- 
bricht, und  ganz  typisch  ist  es  endlich,  daß  man  in  der  Angst 
zittert. 

Gegenüber  der  steten  Anwendung  der  wenigen  Stücke  dieses 
kleinen,  ererbten  Schatzes  tritt,  wie  erwähnt,  das  Neue,  Bürgerhche 
stark  zurück;  von  dem  bösen  Blick  des  alten  Wittenweiler  ist  bei 
Hans  Sachs  doch  nichts  zu  splu-en,  und  vor  allem :  von  diesem  Neuen 
ist  fast  nichts  so  typisch  verwendet  wie  jene  Reste  mittelalterlicher 
Tradition.  Einiges  ist  wohl  auch  schon  aus  der  Überlieferung  des 
15.  Jahrhunderts  genommen,  anderes  individuell  beobachtet  oder 
doch  sprachlich  individuell  nuanciert  —  hier,  wo  Andeutungen  ge- 
nügen müssen,  soll  kein  Versuch  gemacht  werden,  diese  Kategorien 
im  einzelnen  zu  scheiden.  Die  stärkste  Freude  an  der  Neugestaltung 
zeigt  sich  auf  phonetischem  Gebiet:  da  ist  das  hart  anschnauffen 
im  Zorn  nicht  selten  und  ist  ebenso  wie  das  schnupfen  vnd  plasen 
der  Klage,  das  murren  vnd  marren  des  Unmuts  modernen  Gepräges; 


Epische  u.  theatralische  Gestik  h.  Hans  Sachs.    Gebärdensprache  d.  Fastnachtsplels.       253 

aber  auch  das  alte  Seufzen  erhält  neue  bürgerliche  Wendung  als 
swfzzen,  achizen,  kreißen  und  gemern,  als  seufzen  und  schmatzen, 
und  für  das  bloße  Weinen  wird  etwa  rullen,  weinen  und  schupffen 
gesetzt.  In  der  Mimik  ist  es  wohl  neu,  daß  man  in  der  Wut  die 
Zähne  zusammenbeißt  oder  ausspeit,  daß  man  im  Lachen  den  Mund 
aufreißt;  das  bürgerliche  Rümpfen  der  Nase  fehlt  nicht,  und  es 
kommt  vor,  daß  ein  Klagender  nicht  Tränen  vergießt,  sondern  rocz 
vnd  Wasser  weint.  Die  Hände  bekommen  neu  zu  tun:  das  Kratzen 
des  Kopfes  in  Verlegenheit,  Angst  und  Scham,  das  auch  in  der 
bürgerlichen  Kunst  des  vorangehenden  Jahrhunderts  noch  selten 
vorzukommen  scheint,  wird  in  Hans  Sachsens  Epik  sogar  verhältnis- 
mäßig häufig  angewendet;  das  meiste  Andere  tritt  ganz  gelegent- 
lich auf,  beweist  aber  um  so  mehr  wirklich  beobachtenden  Blick: 
man  klopft  dem  andern  vertraulich  die  Achsel,  drückt  ihm  innig 
die  Hand;  man  droht  mit  dem  Finger;  man  wischt  sich  schaden- 
froh das  Maul,  man  zeigt  den  Esel  oder  die  Feige;  man  reibt  die 
Augen  vor  Scham;  der  Zornige  dreht  den  Bart  oder  legt  auch  den 
Kopf  in  beide  Hände.  Endhch  der  ganze  Körper:  wie  schon  in  der 
bürgerlichen  Kunst  des  ausgehenden  Mittelalters  kehrt  man  wohl 
dem  Verachteten  das  Hinterteil,  den  ars  zu;  neu  aber  scheint  es, 
daß  ein  Zorniger  hin-  und  herläuft,  daß  einer  in  Angst  und  Schreck 
sich  dreimal  umdreht;  besonders  originell  gesehen  ist  es,  daß 
ein  jäh  Erschreckender  wie  ein  Sackpfeifer  steht,  das  heißt  also: 
die  beiden  Hände  sind  mit  gekrümmten  Fingern  übereinander  vor 
der  Brust  erhoben.  An  Bildern,  die  ein  gelegentliches  mimisches 
Interesse  des  Dichters  verraten,  fehlt  es  auch  sonst  nicht  ganz,  und 
eigenartigerweise  sind  sie  mit  Vorliebe  dem  Tierleben  entnommen : 
jemand  sieht  auf  ein  Weib,  das  er  begehrt,  gleich  wie  ein  geyer 
auff  ein  aß,  die  Blicke  eines  andern  Verliebten  erinnern  an  ein  dod 
saw  auf  eim  misthawffen,  der  Lachende  reißt  das  Maul  spannen- 
weit auf  wie  ein  ackergawl,  und  ein  Verdrossener  sieht  sauer  wie 
ein  dawße  maus. 

Es  bestätigt  sich  hier  also,  was  wir  früher  (S.  138)  ganz  all- 
gemein ausgesprochen  hatten,  nun  im  einzelnen:  die  epische  und 
die  theatralische  Gestik  Hans  Sachsens  sind  im  ganzen  getrennte 
Welten.  Wenigstens  was  die  Darstellung  des  großen  Dramas  be- 
trifft, die  ja  hier  hinsichtlich  der  Ausdrucksbewegungen  bisher 
allein  behandelt  worden  ist.  Viel  näher  steht  der  epischen  Gestik 
das  theatrahsche  Grundelement  des  Fastnachtspiels;  richtiger  ge- 
sagt: nicht  der  gesamten  epischen  Gestik  des  Dichters,  sondern 
jenen  neubürgerlichen  Elementen,  die  sie  enthält.  Dieses  Grund- 
element der  Fastnachtspielgestik  ist  im  Gegensatz  zu  der  stilisierten 
Art  des  großen  Theaters  der  Naturalismus.  Wir  haben  diesen 
Gegensatz  im  allgemeinen  schon  hervorgehoben  (S.  137  ff.),  wir 
haben   ihn   gelegenthch   der  Gestaltung  des  körperlichen  Erlebens 


254  Gebärdensprache  des  Fastnachtspiels.     Epos  und  Theater. 

(S.  152  ff.),  der  Verwendung  der  Stimme  (S.  171)  bemerkt  und  hätten 
ihn  in  bezug  auf  die  Vorführung  der  eigenthchen  Aktion  noch  stärker 
betonen  können,  als  es  vorher  (S.  184)  geschehen  ist:  dieses  Ohrfeigen, 
dieses  Fäusten  der  Hand,  dieses  Stoßen,  dieses  Laufen  und  Schleichen, 
dieses  Maulwischen  nach  der  Mahlzeit  usw.  wäre  im  großen  Drama 
unmöglich.  Jetzt  aber  finden  wir  den  nämlichen  Gegensatz  auch 
in  bezug  auf  die  visuellen  Ausdrucksmittel  der  Seelenbewegung 
wieder.  Der  schärferen  Beobachtung  der  Wirklichkeit  entspricht 
eine  stärkere  Verwendung  der  Gesichtsmimik  in  den  theatralischen 
Anweisungen  des  Fastnachtspiels:  der  Unlustige  blickt  schiechlich, 
der  sich  Ekelnde  sieht  sawr;  die  Wütende  krumbts  maul,  der 
Höhnende  lacht  lawt  mit  aufgespertem  maul;  voll  Abscheu  speit 
jemand  aus.  Auch  die  Hände  werden  anders  beschäftigt  als  auf 
dem  stihsierenden  Theater:  das  Kopf  kratzen  ist  hier  gang  und 
gäbe,  spottend  zeigt  man  Esel  oder  Feige,  vertraulich  klopft  man 
jemand  auf  die  Schulter,  bescheiden  bittend  zupft  man  einen  andern 
am  Rock,  wütend  schlägt  man  die  Tür  zu.  Zum  Teil  also  Mienen 
und  Gesten,  die  wir  direkt  unter  jenen  nicht  altüberkommenen 
Ausdrucksformen  der  Hans  Sachsischen  Epik  getroffen  haben,  im 
übrigen  solche,  die  dort  zu  treffen  uns  nicht  Wunder  nehmen 
würde.  Trotzdem  aber  wird  man  nicht  sagen  dürfen,  daß  Hans 
Sachs  solche  Anweisungen  aus  seiner  Epik  in  seine  Theatralik 
übernommen  habe,  obschon  die  im  Gegensatz  zu  den  stereotypen 
Wendungen  des  großen  Theaters  zuweilen  frisch  volkstümliche 
Ausdrucksweise  in  den  szenischen  Bemerkungen  des  Fastnacht- 
spiels (vgl.  oben  S.  138)  einigermaßen  an  jene  lebendigere  Formu- 
herung  erinnert,  die  wir  hie  und  da  auch  in  der  Epik  fanden:  in 
der  Hauptsache  wird  es  sich  um  Wirkhchkeit  handeln,  die  in  die 
erzählende  Dichtung  und  in  die  theatrahsche  Darstellung  des  Fast- 
nachtspiels hineingelassen  wurde.  Auf  dem  Umwege  über  das 
Fastnachtspiel  aber  kommt  der  Naturalismus  auch  ausnahmsweise 
einmal  in  das  stilisierende  Drama  hinein:  so  wie  umgekehrt  von 
den  eigentlich  dem  großen  Spiel  zukommenden  Gesten,  zumal 
denen  der  Arme  und  Hände,  manches  auf  die  Fastnachtspielbühne 
übernommen  ist,  so  sind  etwa  das  gelegentliche  Kopfkratzen  oder 
Ausspeien,  das  für  Personen  der  großen  Dramen  vorgeschrieben 
ist,  als  fastnachtspielmäßig-naturalistische  Entgleisungen  anzu- 
sprechen, nicht  aber  als  Anleihen  beim  Gestenstil  des  Epos. 

An  eine  völlig  reinliche  Scheidung  zwischen  dem  Epos  und 
dem  Theater  dürfen  wir  hier  natürlich  nicht  denken.  Hans  Sachs 
schreibt  szenische  Bemerkungen  und  epische  Angaben  über  Aus- 
drucksbewegung —  offenbar  der  erste  deutsche  Schriftsteller,  bei 
dem  das  der  Fall  ist  — ,  und  da  ist  es  begreiflich,  daß  ganz  gelegent- 
lich einmal  etwas  aus  dem  einen  sich  ins  andere  Revier  verirrt. 
Daß  das  Stützen  des  Kopfes  auf  die  Hand  als  Klagegebärde  in  der 


Epos  und  Tlieater.     Das  Zusammenschlagen  der  Hände  über  dem  Kopf.  255 

Hans  Sachsischen  Erzählung  so  viel  häufiger  ist,  als  es  sich  bei 
der  geringen  Rolle,  die  diese  Geste  in  der  epischen  Tradition  spielt, 
eigentlich  erwarten  läßt,  ist  gewiß  auch  auf  die  große  Bedeutung 
zurückzuführen,  die  sie  auf  Hans  Sachsens  Theater  hat.  Eine 
andere  Geste,  die  wenigstens  hin  und  wieder  in  Hans  Sachsens 
Erzählung  erscheint,  ist  bei  der  Behandlung  seiner  epischen  Gebärden- 
sprache noch  nicht  erwähnt  worden :  das  Aufrecken  der  Arme  bei 
der  Bitte.  Weder  stammt  sie  aus  der  epischen  Überlieferung  des 
Mittelalters,  noch  ist  es  wahrscheinlich,  daß  sie  der  wirklichen 
bürgerlichen  Welt  entnommen  ist.  Ein  paarmal  läßt  ihr  Ursprung 
sich  nachweisen :  Hans  Sachs  hat  sie  aus  seinen  antiken  Vorlagen 
einfach  übernommen;  in  einigen  andern  Fällen  aber  ist  sie  erst 
durch  ihn  eingeführt,  und  da  sie  ihm  durch  jene  gelegentliche 
Begegnung  in  der  Antike  unmöglich  eine  feste  Formel  werden 
konnte,  bleibt  nur  übrig  anzunehmen,  daß  hier  die  Hans  Sachs  so 
sehr  geläufige  theatralische  Verw^ertung  der  Geste  dem  Dichter  den 
Rückhalt  für  eine  gelegentliche  epische  Verwendung  geboten  hat; 
das  umgekehrte  Verhältnis  ist  bei  der  Seltenheit  der  epischen  und 
der  Häufigkeit  der  theatralischen  Gebärde  undenkbar.  Und  so 
würde  das  Ergebnis  dieser  Betrachtung  insofern  rein  negativ  sein, 
als  wir  sagen  müßten,  daß  Hans  Sachs  aus  seiner  Epik  nichts 
Wesentliches  für  die  Schauspielkunst  genommen  haben  kann,  wenn 
nicht  eine  besonders  eigenartige  Gebärde  noch  zu  behandeln  wäre. 
Wir  erinnern  uns  des  Höhepunktes  jener  Reihe  von  Klagegebärden 
des  Hans  Sachsischen  Theaters:  der  Verzweifelnde  schlägt  die 
Hände  über  dem  Kopf  zusammen.  Diese  eigentümhche,  in  der 
vorangehenden  deutschen  Erzählung  nirgends  nachzuweisende  Geste 
kommt  auch  in  Hans  Sachsens  Epik  wiederholt  vor,  und  in  diesem 
Falle  ist  es  unmöglich,  das  Theatralische  für  das  Ursprünghche 
und  das  Epische  für  das  Abgeleitete  anzusehen:  denn  Hans  Sachsens 
Erzählung  verwendet  diese  Gebärde  bereits  zu  einer  Zeit,  in  der 
das  Abfassen  von  Dramen  ihm  noch  fern  lag,  und  ohne  daß  er 
einfach  die  Angabe  seiner  Quelle  herübergenommen  hätte.  In  dem 
Meistergesang  von  Andreola  und  Gabriolo,  den  Hans  Sachs  im 
Jahre  1516  nach  Boccaccio  gedichtet  hat,  heißt  es  (FSchw.  3, 
S.  33,  ZI.  107)  von  der  Heldin,  die  ihren  Gehebten  plötzhch  sterben 
sieht:  Ir  hent  vor  leit  ob  dem  haüpt  sie  zam  schlüge.  Woher 
stammt  denn  diese  große  Geste  ?  Ist  es  eine  realistische  Geste  des 
neuen  bürgerlichen  Lebens,  eine  von  den  wenigen,  denen  die  spät- 
mittelalterliche Dichtung  Eingang  in  die  Gebärdentradition  der 
Ritterdichtung  gewährt  hat,  und  ist  sie  in  solchem  Sinne  auch  bei 
Hans  Sachs  und  in  seiner  Zeit  lebendig?  Das  Gegenteil  läßt  sich 
beweisen.  In  einer  Abhandlung,  die  uns  weiterhin  noch  Dienste 
leisten  wird,  in  der  Schrift  De  promintiatione  rheiorica,  die  der 
Frankfurter  Professor  Jodocus  Willich    im  Jahre  1540  hat  drucken 


256  Epos  und  Theater.     Die  Schauspielkunst  des  Schultheaters. 

lassen,  findet  sich  auch  ein  Abschnitt  De  aetate  gestuum  und  hier 
heißt  es  u.  a.:  Olim  ad  extremum  moesti  manus  supra  caput  colli- 
debant.  Auch  diese  Stelle  gibt  freilich  keinen  eigenthchen  Anhalt 
für  die  Beantwortung  der  Frage,  wo  diese  nun  ausgestorbene  Geste 
denn  einstmals  in  Gebrauch  gewesen  sei.  Auch  der  Verfasser  der 
Ars  dicendi  sive  perorandi,  die  1484  in  Cöln  erschienen  ist  und  ihre 
Erörterungen  im  wesentlichen  an  die  damals  für  ein  Werk  Ciceros 
geltende  Herenniusrhetorik  anknüpft,  scheint  diese  Geste  im  Auge 
zu  haben,  wenn  er  neben  andern  für  den  Vortragenden  verpönten 
Klagegebärden  auch  das  tendere  manus  iiinctas  ad  celiim  nennt. 
Ob  es  sich  um  volkstümliche  Rednergebärden  handelt,  die  die  beiden 
humanistischen  Rhetoriker  für  unschicklich  oder  für  veraltet  er- 
klären, die  aber  Hans  Sachs  sowohl  episch  wie  theatralisch  ver- 
wertet hätte?  Sicheres  wird  darüber  kaum  zu  ermitteln  sein  und 
ebensowenig  wird  sich  bestimmt  entscheiden  lassen,  ob  Hans  Sachs 
diese  Gebärde  auf  dem  Umwege  über  das  Epische  auf  sein  Theater 
übernommen  hat  oder  ob  es  sich  um  doppelte  Verwendung  ohne 
Abhängigkeitsverhältnis  handelt;  der  Umstand,  daß  das  Auftreten 
der  Geste  in  der  Erzählung  nicht  eben  häufig  ist  und  daß  sie  dort 
nichts  von  der  Prägnanz  ihrer  theatralischen  Ausbeutung  hat, 
macht  es  nicht  eben  wahrscheinlich,  daß  das  Epische  hier  einmal 
mit  suggestiver  Kraft  auf  das  Theater  gewirkt  habe.  Aber  selbst 
wenn  es  der  Fall  sein  würde,  könnte  es  sich  nur  um  eine  doch 
nicht  belangreiche  Ausnahme  von  dem  Grundtatbestand  handeln,  daß 
die  epische  Gestik  Hans  Sachsens  nicht  die  Grundlage  für  die 
Ausdrucksbewegungen  seines  Theaters  hergegeben  hat. 

Aber  wo  haben  wir  sonst  den  neuen  Urgrund  der  Nürnberger 
Schauspielkunst  des  großen  Dramas  zu  suchen?  Wenn  es  sich 
wirklich  um  eine  Nachbildung  und  nicht  um  eine  selbständige  Neu- 
bildung handelt,  so  bliebe  eigenthch  nur  eine  Möglichkeit:  Hans 
Sachs  könnte  versucht  haben,  die  Schauspielkunst  der  gelehrten 
Aufführungen  nachzubilden.  Daß  das  Schultheater  Leonhard  Cul- 
mans  für  seine  Entwicklung  von  Bedeutung  gewesen  ist,  wurde 
schon  in  ganz  anderm  Zusammenhang  (S.  15)  hervorgehoben ; 
ohne  jeden  Zweifel  aber  haben  auch  in  Nürnberg  wie  anderwärts 
schon  vorher  lateinische  Aufführungen  der  römischen  Komiker 
stattgefunden,  und  es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  Bürgersleute  wie 
Hans  Sachs  sich  Zutritt  zu  ihnen  verschaffen  konnten.  So  erhebt 
sich  die  Frage,  in  welcher  Weise  ist  hier  gespielt  worden? 

Die  Schauspielkunst  des  Schultheaters. 
Fast  scheint  es  zunächst,  als  sei  das  Problem,  die  Schauspiel- 
kunst des   Schultheaters   näher  zu  bestimmen,   ziemlich  unlösbar. 
Denn  hier  fehlt  das  Grundmaterial,  durch  dessen  kritische  Behand- 
lung wir  an   den    übrigen  Stellen  unserer  Untersuchungen  zu  be- 


Unmöglichkeit  einer  Wieiierl)elebunK  der  römischen  Schauspielkunst.  257 

stimmten  Ermittlungen  gekommen  sind,  vollständig:  die  szenischen 
Bemerkungen  in  den  Dramentexten,  deren  Verfasser  in  naher  Be- 
ziehung zu  den  Aufführungen  gestanden  haben.  Die  gelehrten 
Autoren  der  lateinischen  Dramen  und  später  auch  der  im  Anschluß 
an  sie  entstandenen  deutschen  legen  bei  ihrer  Arbeit  in  erster 
Reihe  Wert  darauf,  Gebilde  zu  liefern,  die  mindestens  in  bezug  auf 
die  äußere  Anlage  den  klassischen  Werken  der  Römer,  den  Komödien 
des  Plautus  und  des  Terenz,  so  ähnlich  wie  möglich  sehen,  und  da 
die  lateinischen  Dramatiker  szenische  Bemerkungen  nicht  bieten,  so 
begnügen  sich  auch  ihre  Nachahmer  im  16.  Jahrhundert  damit,  die 
Namen  der  redenden  Personen  anzugeben. 

Versuchen  wir  demgemäß  zunächst  rein  hypothetisch  den  wahr- 
scheinlichen Tatbestand  zu  ermitteln,  so  ist  im  Voraus  eines 
klar:  das  Ziel,  dem  das  Zeitalter  der  Wiederbelebung  des  klassischen 
Altertums  hier  am  ehesten  hätte  zustreben  mögen,  die  Wieder- 
belebung der  römischen  Schauspielkunst,  w^äre  selbst  für  die  Ge- 
lehrtesten der  Renaissanceperiode  nicht  zu  erreichen  gewesen. 
Beginnt  doch  unsere  eigene  Zeit  eben  erst  in  mühsamer  Einzel- 
arbeit dem  Problem  einer  theoretischen  Rekonstruktion  dieser  Kunst 
näher  zu  treten i),  indem  man  die  nicht  eben  zahlreichen  Stellen, 
an  denen  der  plautinische  Dialog  Stimme  oder  Ausdrucksbewegungen 
erwähnt,  mit  den  verstreuten  Notizen  in  dem  unter  Donats  Namen 
gehenden  Kommentar  und  den  gelegentlichen  Angaben  in  Ciceros 
und  Quintilians  rhetorischen  Schriften  in  Zusammenhang  bringt. 
Auf  die  Donatstellen  mußte  allerdings  die  starke  Berücksichtigung, 
die  dieser  Kommentar  bei  den  Humanisten  fand,  frühzeitig  die 
Aufmerksamkeit  lenken,  und  in  den  deutschen  Anmerkungen 
zu  den  Terenzübersetzungen:  dem  Nithartschen  Eunuchus  vom 
Jahre  1486  und  dem  Straßburger  Gesamtwerk  vom  Jahre  1499  sind 
solche  Vortragsbearbeitung  auch  zum  großen  Teil  mehr  oder  w^eniger 
w^örtlich  wiedergegeben-),  ja  es  kommt  sogar  gelegentlich  (so  zu  Eun. 
317)  ein  auf  den  Vortrag  bezüglicher  selbständiger  Zusatz  vor. 
Keinesfalls  aber  entspringen  solche  Bemerkungen  der  gelehrten 
Übersetzer  der  festen  Vorstellung  einer  auf  Donats  Angaben  ge- 
gründeten antikisierenden  Schauspielkunst:  dazu  sind  die  Angaben 
doch  gar  zu  verstreut  und  auch  meist  gar  zu  allgemein,  so  daß 
mehr  der  psychische  Inhalt  der  für  den  Vortrag  notwendigen  Stimm- 
nuance, Miene  und,  viel  seltener,  Gebärde  als  der  äußere  Ausdruck 
gekennzeichnet  erscheint;  und  vor  allem:  die  eigentümliche,  durch 
die  berühmte  Mißdeutung  des  Ego  Calliopius  recensiii  verschuldete 
Vorstellung,  daß  es  sich  bei  diesen  terenzischen  Dramen  nicht  so- 

1)  B.  W  am  ecke,  Gebärdenspiel  und  Mimik  der  römischen  Schauspieler:  Neue 
Jahrbl.  f.  d.  klass.  Altert.  25  (1910),  S.  580—94. 

2)  Einige  Beispiele  bei  J.  B.  Hartmann,  Die  Terenzübersetzung  des  Valentin  Boltz 
und  ihre  Beziehungen  zu  den  älteren  Terenzübersetzungen.     Münch.  Diss.  1911,  S.  6. 

He  rrmann,  Theater.  1^ 


258  Schauspielkunst  und  Rhetorik. 

wohl  um  theatralische  Aufführung  wie  um  Vorlesung  durch  einen 
Rezitator  handele  i),  nahm  noch  eine  ganze  Anzahl  dieser  verstreuten 
Bemerkungen  aus  der  eigentlichen  Sphäre  der  Schauspielkunst 
heraus  und  stempelte  sie  zu  sonst  nicht  erhörten  Vorschriften  für 
eine  mimische  Vorstellungskunst,  die  durch  einen  einzelnen  Künstler 
geübt  wird. 

Und  wenn  sich  somit  herausgestellt  hat,  daß  es  nicht  in  der 
Macht  der  gelehrten  Regisseure  gelegen  hätte,  die  antike  Schau- 
spielkunst neu  zu  beleben,  so  mag  man  zum  Überfluß  noch  hervor- 
heben: eine  solche  Wiederbelebung  konnte  auch  gar  nicht  so  ihr 
Ideal  sein,  wie  es  auf  den  ersten  Blick  den  Anschein  hat.  Der 
Zweck  der  Schulaufführungen,  die  ihren  Ausgangspunkt  in  Dar- 
stellungen der  antiken  Komödien  haben,  ist  nicht  etwa  der,  daß 
man  die  Theaterkunst  fördern  und  junge  Schauspieler  heranbilden 
will,  man  spielt  vielmehr,  wie  z.  B.  Jörg  Binder  im  Vorwort  zu 
seinem  „Acolastus"  hervorhebt,  Theater,  damit  „die  Jugend  fleißig  im 
Reden  geübt,  auch  das  Gedächtnis  gestärkt  und  etliche  gute  Sprüche 
behalten  würden"  2);  es  handelt  sich  also  um  eine  Unterstützung 
des  Unterrichts  in  der  Rhetorik,  in  der  ja  auch  die  Lehre  vom  Ge- 
dächtnis eine  wichtige  Rolle  spielt.  Sobald  man  dieses  Ideal  für 
den  dramatischen  Vortrag  der  Schüler  aber  einmal  aufgestellt  hatte, 
mußte  man  sich  jedem  Bestreben,  eine  eigentlich  schauspielerische 
Vorstellung  zu  bieten,  gerade  vom  Standpunkt  der  humanistischen 
Pädagogik  aus  mit  Entschiedenheit  entgegenstellen:  denn  die  großen 
antiken  Theoretiker  der  Rhetorik:  der  Autor  der  Herenniusrhetorik, 
Cicero  und  Quintilian,  betonen,  obschon  sie  eine  gewisse  Verwandt- 
schaft der  Redekunst  und  der  Schauspielkunst  anerkennen,  doch 
viel  deutlicher  die  Notwendigkeit  einer  Unterscheidung  der  beiden 
Vortragsarten  und  verwerfen  manchen  gestiis  deswegen,  weil  er 
scaeniciis  sei;  von  den  auf  ihre  Lehre  sich  stützenden  Rhetorikern 
der  Renaissancezeit  wird  solche  Meinung  gern  aufgenommen,  und  so 
konnte  es  für  die  Theaterpraktiker  des  Schuldramas  kein  Interesse 
haben,  nach  einer  Wiederbelebung  der  eigentlichen  Schauspielkunst 
des  Altertums  zu  streben.  Wohl  aber  mußte  umgekehrt  jene  ständige 
Erklärung  der  Theoretiker  der  Rhetorik,  daß  Redekunst  und  Schau- 
spielkunst auch  allerlei  Zusammenhänge  hätten,  zu  der  Überzeugung 
führen,  daß  man  auch  dem  theoretisch  Wirksamen  besondere  nahe 
käme,  wenn  man  die  an  der  Aufführung  des  Dramas  beteiligten 
Schüler  ihre  Rollen  nach  den  von   der  Rhetorik  gebotenen  Regeln 


1)  Diese  Vorstellung  wurde  vielleicht  auch  durch  die  irrtümliche  AuIIassung  des 
Wortes  lectio  Adelphi  321  unterstützt.  Vgl.  ferner  die  Erörterungen  über  das  Titelbild 
der  Senecaillustration  und  der  Pariser  Terenze  des   15.  Jh.  unten  S.  280,  282  f.,  284,  28(i  f. 

2)  Vgl.  P.  Expeditus  Schmidt,  Die  Bühnenverhältnisse  des  deutschen  Schuldramas 
im  16.  Jahrh.  (Berlin  1903)  S.  20  f.,  wo  der  pädagogische  Shin  der  Auffülirungen  noch  ge- 
nauer behandelt  ist. 


I'ronunciatio  und  actio.  '  259 

der  Vortragskunst  durchführen  Keße ;  ihre  Gewalt  könne  man,  wie 
der  schon  genannte  Jodocus  WiUich  hervorhebt,  nicht  nur  in  templis 
aiii  in  sacris  concionibus  erproben,  sondern  auch  in  theatro  auf  in 
theatralihus  ludis.  Und  so  liegt  die  Vermutung  nahe,  daß  wir  uns 
von  der  theatralischen  Vortragsart  der  Schulbühne  ein  deutliches 
Bild  machen  können,  wenn  wir  uns  an  jene  von  den  Rhetorikern 
gegeben  Vortragsregeln  halten. 

Immerhin :  das  ist  nur  Vermutung;  sie  läßt  sich  aber  zur  ur- 
kundlich gestützten  Gewißheit  erheben.  Im  Jahre  1594  wurde  für 
das  reichsstädtische  Gymnasium  in  Speyer  eine  in  vieler  Hinsicht 
bedeutsame  Schulordnung  erlassen,  die  vermutlich  den  Rektor  David 
Weltz  zum  Verfasser  hat^).  Hier  heißt  es  in  den  Bestimmungen  für  die 
erste  Klasse,  da  wo  von  der  Behandlung  der  antiken  Komiker  und  dann 
namentüch  des  ihnen  fast  ebenbürtig  erscheinende  N.Frischlin  die  Rede 
ist 2) : . . .  Diesen  Authorem  sollen  die  knaben  auswendig  lernen,  vnnd 
sunderliche  Mores,  vnnd  hoff lichkeit  daraus  zufassen,  wie  auch  sich 
Jn  pronuntiatione  vnnd  geberden  zu  üben,  jn  massen  es  die 
ratio  einer  Jeden  person  erfordert,  und  die  Rhetores,  de  Actione 
jn  jren  praeceptis  viel  Iheren,  vffs  fleissig  st  jnformiret  vnd  ab- 
gerichtet werden.  Und  im  Zusammenhange  damit  gewinnt  nun  auch 
eine  Stelle  der  Breslauer  Schulordnung  vom  Jahre  1570  entscheidende 
Bedeutung,  an  der  es  heißt 3) :  Wir  sehen  auch  vor  gut  an,  das  die 
Knaben  dieses  ordinis  den  Tereniium  als  ihren  für  nomen  vnd  gantz 
eigenen  Authorem  außwendig  lernen,  also  daß  man  die  Personas  der 
Jugend  deren  Comödien  so  sie  zum  ende  gehöret  haben,  außteile  vnd 
sie  wöchentlich  nach  Tische  eine  stunde  oder  zwo  recitiren  lasse 
vnd  sie  also  in  der  Pronunciation  vnd  Adlon  vbe.  Pro- 
nunciatio  und  actio  hier  wie  dort;  das  aber  sind  nicht  irgendwelche 
Ausdrücke,  die  die  dramatische  Aufführung  direkt  bezeichnen,  son- 
dern es  sind  die  stehenden  Ausdrücke  der  antiken  und  antikisieren- 
den Lehrbücher  der  Rhetorik  für  den  rednerischen  Vortrag. 
Und  man  soll  nicht  sagen,  daß  es  sich  hier  um  eine  Neuerung  der 
humanistischen  Spätzeit  handele  und  daß  wir  solche  streng  rhe- 
torische Schauspielkiuist  für  die  erste  Blütezeit  des  deutschen  Schul- 
theaters noch  nicht  annehmen  dürften:  die  Speyerische  Schulordnung 
atmet  im  ganzen  den  pädagogischen  Geist  Johannes  Sturms,  und 
Sturms  Theorie  und  Praxis  bedeuten  zwar  in  gewissem  Sinne  schon 
eine  gewisse  Wegentwickelung  von  dem  strengen  Melanchthonismus  ; 
aber  sie   steht  ja  nicht   allein,   sondern   hat  ein  schon  wesentlich 

1)  Sie  ist  zum  ersten  Mal  gedruckt  von  Reißinge  r,  Dokumente  zur  Geschichte  der 
humanistischen  Schulen  im  Gebiete  der  bayerischen  Pfalz.  Bd.  2  =  Monumenta  Germaniae 
Paedagogica  49  (Berlin  1911),  S.  372 ff. 

2)  a.  a.  0.  S.  385f. 

3)  Vorm  bäum.  Die  evangelischen  Schulordnungen  des  16.  .lahrhundert  (Gütersloh 
1860)  I,  S,  198f. 

17* 


260  '  Jodocus  Willich. 

älteres  Seitenstück  in  der  Breslauer  Ordnung,  und  deren  Verfasser 
Petrus  Vincentius  war  ein  unmittelbarer  Schüler  und  orthodoxer  An- 
hänger Melanchthons. 

Es  zeigt  sich  also:  wir  werden  die  Rhetores  zu  befragen  haben, 
wenn  wir  uns  von  der  Schauspielkunst  der  älteren  Schulbühne  ein 
Bild  machen  wollen.  Freilich,  die  Autoren,  die  die  Speyerer  Ordnung 
unmittelbar  im  Auge  haben  mag,  wenn  sie  auf  diese  Rhetores  hin- 
weist, bleiben  für  uns  wesentlich  außer  Betracht;  denn  das  Ideal 
des  rednerischen  Vortrags  mag  sich  ja  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
etwas  gewendet  haben,  für  unsern  Zusammenhang  aber  kommt 
im  ganzen  doch  nur  die  Darstellungsart  der  ersten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts in  Betracht.  Sehr  eingehend  pflegte  in  den  Lehrbüchern 
der  Rhetorik  die  Proniinciatio  und  Actio  nicht  behandelt  zu  werden, 
meist  geben  sie  nur  kurze  Anweisungen,  die  sich  ganz  und  gar  an 
die  antiken  Meister  anlehnen,  ja,  es  hat  den  Anschein  i),  als  ob  die 
humanistischen  Rhetoriken  deutschen  Ursprungs  in  der  älteren  Zeit 
die  Vortragskunst  vielfach  ganz  fortlassen  (zu  den  wenigen  Früheren, 
die  sie  mitaufnehmen,  gehört,  vielleicht  bezeichnenderweise,  der 
Dramatiker  Jacob  Locher)  und  daß  sie  erst  seit  den  dreißiger 
Jahren  eine  bedeutende  Rolle  spielt:  also  seit  der  Zeit,  in  der  die 
eigentliche  Wichtigkeit  des  Schultheaters  aufzufallen  beginnt.  Und 
charakteristisch  genug  erscheint  eben  um  diese  Zeit  ein  Büchlein 
von  40  Oktavseiten,  das  die  Vortragskunst  für  sich  allein  verhält- 
nismäßig ausführlich  darstellt,  der  schon  öfter  hier  herangezogene 
Liber  de  pronunciatione  rhetorica  des  Jodocus  Willich,  gedruckt  zu- 
erst zu  Basel  im  Jahre  1540  und  bis  in  die  fünfziger  Jahre  hinein 
wiederholt  aufgelegt:  eben  jene  Schrift,  die  die  Wirksamkeit  des 
rednerischen  Vortrags  in  theatro  aiit  in  theatralibus  ludis  gebührend 
hervorhebt.  Und  nicht  nur  eine  derartige  Äußerung  weist  uns  darauf 
hin,  daß  wir  es  hier  nicht  mit  einer  rein  der  eigentlichen  Rhetorik 
dienenden  Leistung  des  Frankfurter  Hochschulprofessors  zu  tun 
haben,  wir  können  vielmehr  nachweisen,  daß  sein  Interesse  für  die 
Schuldramatik  besonders  rege  gewesen  ist  und  daß  er  demnach 
wohl  auch  an  die  Schulbühne  gedacht  hat,  als  er  über  die  bisher 
am  meisten  vernachlässigte  Seite  der  Redekunst  eine  besondere 
Monographie  vorlegte  :  er  hat  nicht  nur  eine  kommentierte  Ausgabe 
des  Terenz  veranstaltet,  sondern  auch  in  seinem  Kommentar  zur  ars 
poetica  mannigfaches  Interesse  fürs  Drama,  ja  auch  für  die  moderne 
Schulkomödie  bekundet  2),  und  er  hat  den  Druck  der  in  Frankfurt 
entstandenen  Studentenkomödie  des  Ch.  Stymmelius  mit  einem  Vor- 
wort begleitet,   das  zu   einem  bedeutsamen  Zitat   eine    Stelle   aus 

1)  Genaueres  wird  sich  erst  s;.«gen  lassen,  wenn  die  von  der  Gesellschaft  für  deutsche 
Erziehungs-  und  Schulgeschichte  unlernommene  bibliographische  Sammlung  der  älteren 
Schulbücher  Deutschlands  zum  Abschluß  gekommen  ist. 

2)  Vgl.  Creizenach,  Geschichte  des  neueren  Dramas.  2     (Halle  1901),  S.  113,  -iS». 


Jodocus  WiUk'li.  ■  261 

Ciceros  rhetorischer  Hauptschrift  benutzt;  sein  Stiefbruder  ist  jener 
Gregorius  Wagner,  der  ReuchUns  Henno  deutsch  bearbeitete  und 
in  Frankfurt  a.  O.  aufführen  heß.  Kurz,  es  ist  durchaus  wahr- 
scheinUcli,  daß  der  Verfasser  der  Prominciatio  in  der  Frankfurter 
Theatergeschichte  1)  eine  gewisse  Rolle  gespielt  hat. 

Aus  dieser  Prominciatio  nun  die  Grundzüge  der  damaligen 
Schauspielkunst  der  Schulbühne  herauszulesen,  wird  sich  um  so 
eher  empfehlen,  als  ihre  Anweisungen  auch  für  die  Praxis  der  Ein- 
studierung eine  wohl  brauchbare  Mitte  bildeten  zwischen  der  gar 
zu  großen  Knappheit  der  meisten  zeitgenössischen  Rhetoriken  und 
der  kaum  zu  bewältigenden  Ausführlichkeit,  mit  der  Quintilian  im 
elften  Buche  der  Institutionen  die  Vortragskunst  behandelte;  immer- 
hin sind  die  für  die  Anleitung  der  jungen  Mimen  notwendigen  Regeln 
immer  noch  so  umfänglich  und  damit  ihre  Anwendung  so  schwierig, 
daß  man  Johann  Sturms  Seufzer  versteht  2):  Eariim  personanim, 
qiiae  paiica  loqinintiir,  facilis  est  actio;  plus  laboris  reqiiiriint  pri- 
mariim  partium  actores.  Quintilians  Lehren  liegen  Willichs  Dar- 
stellung in  erster  Reihe  zugrunde,  obschon  er  auch  Cicero  und 
namentlich  den  Herenniusautor  stark  heranzieht;  aber  er  steht 
diesen  Vorbildern  doch  nicht  rein  kompilatorisch  gegenüber :  er  strebt 
nach  einer  höchst  bemerkenswerten  Universalität,  sichtlich  bemüht, 
eine  klassisch  orientierte  und  doch  moderne  Normalgestik  zusannnen- 
zubringen,  indem  er  in  einer  heute  nicht  mehr  zulässigen,  für  jene 
Zeit  aber  äußerst  fortschrittlichen  Art  eine  Fülle  von  Ausdrucks- 
bewegungen von  den  verschiedensten  Orten  zusammenträgt  und  in 
den  quintilianischen  Schubfächern  unterzubringen  sucht.  Da  sind 
nicht  nur  die  sacri  scriptores,  vor  allem  die  Bibel,  auf  charakte- 
ristische Gesten  durchmustert,  damit  auf  solche  Weise  die  zeit- 
gemäße Konkordanz  zwischen  biblischem  und  heidnischem  Altertum 
zustande  komme,  auch  die  antiken  Profanschriftsteller  und  zwar 
nicht  nur  die  landläufigen  müssen  Material  hergeben,  ja  sogar  in 
der  bildenden  Kunst  der  Antike,  den  vetenim  imagines,  werden  Be- 
obachtungen gemacht;  weiter  wird  auch  die  Geste  der  neueren  Zeit 
nicht  unbeachtet  gelassen :  die  rituelle  Geste  des  geistlichen  Gottes- 
dienstes ist  berücksichtigt,  die  lebhafte  Gebärdensprache  der  Sar- 
mates  fällt  dem  Autor  auf,  in  deren  Nähe  zu  stehen  besser  ver- 
mieden werde,  ne  qua  alapa  impingatur  per  illorum  bracchia  nimis 
proiecta,  und  wie  Hans  Sachs  hat  er  einen  Blick  für  die  tierischen 
Ausdrucksbewegungen  und  weiß  durch  charakteristische  Bilder 
aus  dem  Tierleben  das  Menschliche-  anschaulich  zu  machen.  Er 
häuft  aber  nicht   nur,    sondern    er   scheidet    auch    aus,   indem   er 

1)  Bauchs  vorher  zitiertes,  sonst  so  materialreiches  Buch  macht  uns  hier  leider  keine 
Mitteilungen. 

2)  Joannis  Sturmii  Classicarum  epistolarum  lih.  111  (Straßburg  1567)  p.  68a  (vom 
Jahre  1565). 


262  stimme,  Mimik  mid  Gestik. 

gelegentlich  manche  Bewegungen  der  antiken  Rhetorik  für  tot  er- 
klärt, ja  sogar  in  einem  (S.  255  f.)  schon  erwähnten  besonderen  Ab- 
schnitt gebärdengeschichtlichen  Charakters  (De  aetate  gestuum)  eine 
Anzahl  literarisch  überlieferter  Gesten  aussondert:  hi  in  desiietii- 
dinem  abienint,  et  alii  siirrogati  sunt. 

Lassen  wir  nun  von  der  eigentlich  praktischen  Anleitung 
Willichs  beiseite,  was  wesentlich  nur  dem  rednerischen,  nicht 
dem  theatralischen  Vortrag  zugute  kommen  kann,  so  zeigt  sich, 
daß  er  ganz  unselbständig  da  ist,  wo  er  den  Ausdruck  der  Affekte 
durch  die  Stimme  erörtert;  hier  variiert  er  eigentlich  nur  stilistisch, 
ohne  etwas  hinzuzufügen  oder  fortzulassen,  die  Ausführung  Quinti- 
lians  Inst.  Or.  XI,  3,  63 — 65 1).  Quis  non  animadveiierit,  sagt  Willich, 
in  hilaritate  plenam  esse  et  simplicem  [seil,  voceni];  in  certamine 
seil  conteniione  erectam  iotis  viribus  et  veliit  omnibiis  nervis  in- 
tentam;  in  ira  acriorem,  asperam,  densam,  cum  crebra  respirafione ; 
in  blandiendo,  rogando  et  fatendo  lenem  et  submissam;  in  siia- 
dendo,  monendo  et  pollicendo  et  consolando  grauem;  in  metu  et 
vereciindia  contraciam,  in  adhortatione  fortem;  in  disputationibus 
gravioribiis  teretem;  in  miseratione  flexam,  flebilem  et  consiilto 
quasi  obscuriorem;  in  expositione  et  sermone  rectam  et  mediam 
inter  acutum  et  sonum  grauem;  in  egressione  fiisam  et  claram 
esse.  Quid  miiltis?  In  concitatis  affectibiis  attollitiir,  in  compositis 
descendit  plus  minusue  pro  utriiisque  rei  modo. 

Viel  genauer  und  selbständiger  werden  Mimik  und  Gestik  be- 
handelt: gerade  hier  finden  sich  jene  Zusätze  und  Fortlassungen, 
und  auch  die  zahlreichen  starken  Anlehnungen  an  Quintilian  — 
sie  sind  im  folgenden  durch  besondere  Schrift  herausgehoben  — 
zeigen  zuweilen  eigene  Erweiterung  und  Ausdeutung.  Auch  die 
scharf  heraushebende  Einteilung  mit  den  besonderen  Überschriften 
ist  Willichs  Eigentum. 

De  capite. 

Ex  membris  .  .  .,  quorum  opera  in  pronunciatione  utimur, 
primiim  est  caput,  qiiod  secundiim  natiiram  rectum  esse  debet, 
attamen  mobile,  non  rigidiim  et  durum,  in  quo  magna  mentis  bar- 
baries  est,  quasi  Tsravo;  corripuisset.  Sed  cum  siibmissiim  fiierit, 
hiimilitatis  est  et  pudoris,  humiles  enim  fere  caput  inchnant;  cum 
siipinum,  arrogantiae  est;  cum  inclinatiim  est  in  latus,  languoris 
est  et  somni;  cum  in  transversum  nutat,  renuimiis;  cum  in  pronum, 
annuimus  et  asseveramus  .  .  .  Cum  in  supinum  versum  fuerit, 
advocamus;  cum  modice  vacillarit,  dubitamiis  et  admiramiir;  cum 
ita  surrectum  fuerit,  ut  antica  pars  faciei  declinet  lanquam  mina- 
bunda,    indignationem    significat;    cum    vibratur    illusionem    .    .    . 

1)  UnboriicksiclitiKt  bleibt  nur  Quintilians  Aii<>;itM':  Patiliini  in  invidia  ßciendalentior  .  .  . 


Mimik  und  (Jestik.  263 

Vitiosum    autem   hie  iiidicatur  frequens  nutus:  et  subinde  iacfare 
Caput  et  comam  rotare  iiixta  Quintilianum  fanaticum  est. 

De  fronte. 

Frons  vero  est  meiitis  significatrix.  Quae  si  serena  et  expiicata 
fuerit,  hilaritatis,  blanditiae  et  clementiae  nota  est,  nam  porrectiore 
fronte  sunt  qui  maxime  exhilarescunt.  Si  corrugata  seu  obducta 
seu  contracta  seu  caperata,  iracundiae,  severitatis,  tristitiae  et 
tyrannidis  ...  Si  niodice  demissa  et  corrugata  fuerit,  pudoris 
Signum  est;  quibus  autem  talis  non  est,  effrontes,  hoc  est  impu- 
dentes  dicuntur.  Verum  ex  huius  membri  gestu  multae  sunt  natae 
paroemiae,  quae  aliunde  petendae  sunt 

De  siipercüiis. 

At  proxime  frontem  supercilia  sunt  constituta.  Quae  si  sublata 
fuerint,  arrogantiam  notant  .  .  .;  si  demissa,  verecundiam;  si  re- 
missa  hilaritatem ;  si  addiicta,  iracundiam  et  torvitatem;  si  compo- 
sita,  lenitatem;  si  deducta,  tristitiam ;  si  inaequalia,  videlicit  cum 
umim  fuerit  sublatum  et  alterum  compositum,  crudelitatem  porten- 
dunt  ...  Si  subito  deflexa,  concessionem  et  asseverationem ;  sin 
autem  subito  retorta  sursus  versus  fuerint,  abnegationem  monstrani. 

De  oculis. 

Ceterum  sub  his  latitant  oculi,  qui  animi  indices  sunt,  sicut 
vultus  eiusdem  imago  .  .  .  Rubentes  autem  oculi,  sed  ardentes, 
instar  scintillae  micantes  iracundiam  notant  .  .  .,  intenti  et  intuentes 
attentionem ,  f iduciam  et  autoritatem  .  .  .  Suspicientes  vero  anxie- 
tatem  seu  dolorem  portendunt,  qui  gestus  est  deum  invocantibus 
et  gratias  agentibus  .  .  .  Clausi  autem  et  aversi  inimicitiam,  aperti 
amicitiam  et  favorem  monstrant  .  .  .  honesti  honestatem,  nimium 
deducti  stoliditatem  (tales  enim  sunt  vitulis),  rigidi  stuporem  seu 
zy,nTX(ji\,  languidi  et  subinde  nictantes  pudorem  et  verecundiam, 
torpentes  torporem  et  segnitiem,  paeti,  qui  et  venerei  sunt,  lasciviam, 
limi  seu  semiclusi  insidias  et  adulationem,  mobiles  veluti  innatentes 
aut  volantes  voluptatem  et  libidinem  .  .  .  Ceterum  de  saltu  oculi 
vel  dextri  vel  sinistri  tanquam  superstitiosum  et  inutiliter  actori 
relinquimus. 

De  naribus. 

His  succedunt  nares,  quae  efflantes  iram  significant,  quemad- 
modum  in  equis  ferocientibus  conspicitur  .  .  .  Corrugatae  vero 
illusionem  prae  se  ferunt  .  .  .  Frequens  autem  nariuni  emunctio 
damnatur  .  .  . 


264  Mimik  und  Gestik. 

De  buccis. 
Proximum  his  locum  buccae  retiiient,  quae  inflatae  arrogantiam 
et  fastum,    apud   Horatium    tarnen    et    iracundiam   significant   .  .  . 
demissae  autem  tristitiam  et  desperationem  .  .  . 

De  labiis. 
lam   succedunt  labia,    quae  cum  porrigiintiir,    stultorum   sunt; 
cum    astringiintiir,   humilium;    cum    didiiciintiir,    illudentium;   cum 
mordentur,  iratorum  /. .  sed  ea  lambere  vitiosiim  est.    In  rictu  autem 
Sit  moderatis,  ore  enim  magis  quam  labris  loquendum  est. 

De  dentibus. 
Sub  haec  sunt  dentes,  quibus  irati  frendebant  .  .  . 

De  cervice. 
Ceterum  post  faciem  est  cervix,  quae  primum  erecta  esse  debet, 
non  rigida  .  .  .  deinde  non  sit  siipina  .  .  .  postremo  neque  semper 
decet  eam  in  alterum  humerum  inclinare,  nisi  quid  admodum  triste 
acciderit  .  .  .  Sequitur  autem  motum  capitis  cervix,  quare  utrius- 
que  eadem  paene  erit  ratio.  Id  tamen  non  est  negligendum,  quando 
illa  breviatur,  qiiod  gestiim  faciat  Inimilem,  servilem  et  fraiidulentum. 

De  collo. 
Verum  pars  illi  paene  opposita  est  collum,  quod  nunc  contrahitur 
ut  in  tristitia,  nunc  e.xtemlitiir  ut  in  superbia  et  hilaritate  .  .  . 

De  bracchiis. 

Ab  his  [humeris]  autem  dependent  bracchia,  quae  modice  proici- 
untur,  magis  tamen  quando  dictio  incalescit,  hoc  est  quando  obiur- 
gamus,  quando  exhortamur,  quando  contendimus;  liaec  tamen 
proiectio  moderata  esse  debet.  Nam  si  immodica  fuerit,  atliletis  et 
antagonistis  rectius  conceditur  atque  Sarmatis  quibusdam  incivili- 
oribus,  a  quorum  pronuntiantium  latere  non  satis  tutum  est  sedere 
aut  stare,  ne  qua  alapa  impingatur  per  illorum  bracchia  nimis 
proiecta. 

De  manibus. 

At  horum  partes  sunt  manus,  quae  loquacissimae  sunt,  sine 
quibus  actio  debilis  est  et  manca.  Haec  autem  pectori  admovetur, 
cum  quis  de  se  loquitur,  cum  vero  de  alio  quopiam,  ad  eundem 
intenditur  öely.tiymq,  sed  percussione  seu  strepitu  pronae  manus 
Silentium  commonstratur.  Eadem  sublata  et  inflexa  ad  nos  ilHcimus 
et  invitamus;  eadem  a  nobis  reflexa  et  depressa  aversamur  et 
repellimus;  eadem  in  ecciesia  pectus  tundimus  tanquam  pubüco 
poenitentiae  signo ;  eadem  admirantes  veteres  femur  percutiebant. 
Eadem  quoque  cum  sensu  incipiat  et  cum  eodem  deponatur.  \\\ 
exordio  quidem,    quia  ibi  fere  VjOo;  est,    non  7rai)o:,  haec   vix   veste 


Scluiltheaterkuiisl  und  Meistersingerkunst.  265 

aut  pallio  exeritur,  donec  oratio  magis  inealuerit.  Nunc  pariter 
dextra  in  facie  crucem  signamus  admirantes,  qui  gestus  quoque 
servatur,  qiiando  abeuntibus  bene  precamur  et  bene  valere  iubemus. 
Sed  manibus  iunctis  et  expansis  ariorainus  et  hodie  .  .  .  Dextram 
autem  in  altum  porrectam  vibrare  est  militare  Signum  laetitiae  et 
ebriorum,  qui  Euan  Euan  ingeminant. 

De  digitis. 
Porro  manus  pars  una  est  digitus,  qui  ori  impressus  silentiuni 
indicat . . .  Indice  autem  sublato  caelum  seu  superna,  sicut  depresso 
terram  seu  interna  demonstramus  ... 

De  genibus. 
Succedunt    bis    [pectori,    ventri,    lateribus]  deorsum   versus  in 
actione  genua,  quibus  flexis  hodie  honorem  impendimus  .  .  . 

De  pedibus. 
Porro  infimum  locum  sortiti  sunt  pedes,  in  quibus  duo  tamen 
observantur:  status  et  incessus  .  .  .  Sed  ad  pedes  revertemur, 
quorum  alter  porrigatur:  iunctis  enim  pedibus  stare  potius  muHerum 
est  .  .  .  Vitiosa  est  immoclica  pediim  divaricatio,  siipplosio  autem 
pedis  ohm  in  loco  opportunior  fiiit  quam  hodie. 

Überschauen  wir  nun  den  Gesamtcharakter  dieser  schulmäßigen 
Schauspielkunst,  um  sie  mit  der  Meistersingerkunst  zu  vergleichen 
und  dabei  festzustellen,  was  Hans  Sachs  ihr  etwa  für  sein  Theater 
entnommen  haben  kann,  so  diu-fen  wir  wohl  in  erster  Reihe  sagen: 
eben  das  Schulmäßige,  den  Gedanken  an  die  Möglichkeit,  Dilettanten 
nach  bestimmten  Regeln  für  die  Aufführung  wechselnder  Spiele 
heranzubilden ;  gegenüber  der  Anleitung,  die  die  Mitwirkenden  beim 
älteren  geistlichen  Drama  erhielten,  in  dem  es  sich  um  eine  be- 
stimmte Reihe  immer  wiederkehrender  Szenen  und  eine  sehr  kleine 
Zahl  feststehender  Vortragsformen  handelte,  war  das  immerhin 
doch  etwas  Neues.  Und  ferner:  wenn  wir  bei  Hans  Sachs  (vgl. 
oben  S.  174  ff.)  eine  ganz  kleine  Anzahl  von  Gemütsverfassungen 
fanden,  in  denen  übereinstimmend  mit  mittelalterlicher  Art  dem 
Darsteller  überlassen  bleibt,  seinen  körperlichen  Habitus  von  innen 
heraus  zu  gestalten,  so  kennt  auch  die  klassizistische  Rhetorik  eine 
prominciatio  naturalis,  quae  ductu  naturae  in  voce  et  motu  cor- 
poris fit,  ja  die  Zahl  der  ihr  anheimgegebenen  Seelenzustände  ist 
sogar  größer  als  die  der  Nürnberger  Bürgerkunst;  in  der  Haupt- 
sache aber  ist  es  doch  hier  wie  dort  so,  daß  jedem  einzelnen 
psychischen  Element  die  ihm  zukommende  Ausdrucksbewegung 
von  außen  her  zugewiesen  wird.  Und  da  es  sich  bei  diesen 
psychischen  Elementen  auf  der  Schulbühne  ganz  wesentlich  um 
die    stilisierte    Verdeuthchung    von    Affekten    und    Leidenschaften 


266  Schultheaterkunst  und  Meistersingerkunst. 

handelt,  so  würde  auch  der  stark  pathetische  Grundcharakter  der 
nürnbergischen  Scliauspielkunst  hier  ihr  Vorbild  haben  können. 
Weiter  geht  die  Vergleichbarkeit  allerdings  nicht:  ob  das  Lyrisch- 
Sentimentale  auch  auf  der  Schulbühne  so  stark  hervortritt  wie  in 
Hans  Sachsens  Darstellungen,  läßt  sich  nicht  entscheiden,  und 
fast  noch  weniger  ist  im  einzelnen  auszumachen,  welche  Gefühle 
und  Affekte  in  bezug  auf  die  Häufigkeit  und  Entschiedenheit  der 
Ausdrucksbewegung  auf  dem  Schultheater  im  Vordergrund  stehen. 
Nicht  vergessen  darf  man  auch,  daß  uns  für  die  Schulkunst  unser 
Material  in  bezug  auf  all  die  Gesten  im  Stich  läßt,  die  die  An- 
wesenheit eines  zweiten  Menschen  voraussetzen,  dessen  Körper 
mit  in  die  Bewegung  hineinziehen;  und  gar  nichts  Sicheres  läßt 
sich  darüber  sagen,  ob  jener  feierlich-zeremonielle  Charakter,  der, 
wie  oben  (S.  161)  hervorgehoben  wurde,  der  meistersängerischen 
Kunst  zu  eigen  ist,  dem  Schultheater  ebenfalls  zugesprochen  werden 
kann:  die  Vorschriften  über  das  Grüßen  und  dergleichen  spielen 
in  der  Rhetorik  keine  Rolle;  immerhin  ist  anzunehmen,  daß  eine 
Wissenschaft,  die,  solange  sie  vor  allem  Briefstilkunst  war,  die 
Lehre  von  der  Salufatio:  den  schriftlichen  Grußformen,  besonders 
eifrig  anbaute,  später  auch  ihre  lebendigen  Korrelate  nicht  ver- 
nachlässigt haben  wird. 

Im  Gegensatz  zu  solchen  nicht  unwahrscheinlichen  oder  wenig- 
stens gut  denkbaren  Zusammenhängen  zwischen  Schulbühne  und 
Meistersingerbühne  1)  tritt  uns  nun  aber  der  allerstärkste  Unter- 
schied entgegen,  sobald  wir  die  hier  und  dort  gebräuchlichen  Aus- 
drucksbewegungen im  einzelnen,  ja  auch  nur  die  Hauptbetätigungs- 
gebiete nebeneinander  halten.  Schon  die  karge  Zahl  der  den 
Schauspielern  Hans  Sachsens  zu  Gebote  stehenden  stimmlichen 
Vortragstöne  ergibt  ein  anderes  Bild  als  die  bedeutend  größere 
Reihe,  über  die-  im  Anschluß  an  Quintilian  die  Schulbühne  ver- 
fügen soll;  wohl  entspricht  dem  weinerlichen  Ton,  den  wir  früher 
(S.  168)  als  eine  Vortragsart  auf  dem  Hans  Sachstheater  feststellten, 
die  üox  flebiUs  der  Schulspieler,  und  auch  das  Lachen  hat  sein 
Seitenstück  in  der  iocatio,  dem  risiis  pudens  et  liberalis,  in  quo  vox 
leniter  tremebunda  est;  aber  für  so  allgemeine  Dinge  braucht  ge- 
wiß nicht  erst  die  Schulbühne  die  Lehrmeisterin  abzugeben.  Und 
sobald  wir  aufs  visuelle  Gebiet  übergehen,  schwindet  die  Überein- 
stimmung durchaus.  Die  Haupttätigkeit  des  Schulschauspielers 
liegt    auf   dem   mimischen  Gebiete,    für   das  ja  die  eingehendsten 


1)  Wie  sehr  solche  Annahme  mehr  als  bloße  Hypothese  ist,  beweist  uns  Hans 
Sachsens  Augsburger  Schüler  Sebastian  Wild,  indem  er  im  Vorwort  zu  der  1560  er- 
schienen Gesamtausgabe  seiner  Comedien  viul  Tra(;edien  zwölf/'  als  den  Zweck  solcher 
dramatischen  Dichtungen  angibt :  .  .  sonderlich  für  die  Jiigent,'  sich  darinnen  zu  üben  vnnd 
zu  kurtzweylenj  darauß  ein  gute  Memorij'  oder  gedechtmißl  vnnd  auffmercken  volget 
mit  sprechen  vnnd  gehe rden  sich  gegen  einander  zuerzeggen. 


Schultheaterkiinst  und  Meislersingerkunst.  267 

Vorschriften  gegeben  werden;  die  stilisierende  Kunst  der  Nürn- 
berger Bürger  aber  leistet  gerade  hier  so  gut  wie  nichts.  Um- 
gekehrt fällt,  wie  wir  sahen,  bei  Hans  Sachs  die  Hauptleistung  den 
Armen  und  Händen  zu;  die  Schulbühne  dagegen  setzt  ihre  Ver- 
wendung auf  ein  möglichst  geringes  Maß  herab:  so  sehr,  daß  in 
Willichs  Vortragslehre,  die  doch  von  Quintilians  Vorschriften,  so- 
weit sie  sich  auf  die  mimischen  Ausdrucksbewegungen  beziehen, 
nur  verschwindend  wenig  beiseite  läßt,  die  große  Affektenreihe 
des  Meisters,  in  welcher  aufgezählt  wird,  was  wir  alles  mit  den 
Händen  auszudrücken  vermögen  (Inst.  orat.  XI,  3,  86  f.),  völlig 
getilgt  ist;  ebenso  sind  die  genauen  Anweisungen  über  die  Bered- 
samkeit der  Finger  (ibid.  92 ff.)  durchaus  unberücksichtigt  ge- 
blieben —  sie  werden  dann  später  in  dem  'Generale  artificium 
orationis  cuiascumque  componendae'  des  Jesuiten  J.  Voellius 
(Cöln  1590)  um  so  eingehender  behandelt,  aber  das  gehört  schon 
in  die  alles  losbindende  Zeit  des  Barock  hinein  und  müßte  im  Zu- 
sammenhang mit  der  Kunst  des  Jesuitentheaters  gewürdigt  werden,  i) 
Jene  Fesselung  der  Arm-  und  Handgebärden  aber,  die  das  Schul- 
theater zu  Hans  Sachsens  Zeit  erstrebt,  ist  eine  Folge  seines  ober- 
sten Vortragsgrundsatzes,  den  schon  die  Rhetorik  des  Altertums 
hervorhebt,  den  die  neue  Zeit  aber  mit  doppelter  Energie  betonen 
mußte :  In  gestu  mediocritas  requiritiir,  w^eil  offenbar  der  eigentliche 
Zug  der  Zeit  der  großen  Geste  zustrebte;  so  wie  schon  mehr  als 
ein  Menschenalter  vorher  die  geistliche  Regie  ihren  Spielern  ein 
Omnia  cum  moderamine !  zurufen  mußte.  2)  Vielleicht  ist  jenes 
Bemühen  der  Schultheateregisseure,  durch  die  Übertragung  der 
antikisierenden  Rhetorik  auf  die  Aufführung  der  lateinischen  Dramen 
der  zu  lebhaften  Aktion  der  Arme  und  Hände  entgegen  zu  treten, 
geradezu  eine  Reaktion  gegen  die  Terenzaufführungen  des  älteren 
Humanismus  im  ausgehenden  15.  Jahrhundert:  die  im  zweiten 
Teil  dieses  Buches  gebotene  kritische  Untersuchung  der  Terenz- 
illustrationen  jener  Zeit  wird  wenigstens  für  die  wichtigste  Leistung 
der  Epoche  die  nicht  ganz  selten  gebotene  Abbildung  der  großen 
Affektgeste  als  eine  Darstellung  wirklicher  Theatergebärde  zu  er- 
weisen suchen.  Auf  der  Schulbühne  war  eine  Bändigung  solchen 
Überschwangs  zu  Hans  Sachsens  Zeit  im  allgemeinen  erreicht ;  in  der 
bürgerlichen  Schauspielkunst  dagegen,  wie  sie  das  Nürnberger 
Theater  uns  vor  Augen  führt,  spricht  sich  der  laute  Charakter  der 
Geste  aus,  den  die  rhetorischen  Schultheaterregisseure  bekämpfen 
mußten:  ihre  Leistungen  haben  also  kein  Vorbild  für  die  bürger- 
liche Kunst   abgegeben.     Unsere  Betrachtung    endet    mit    der   Er- 

1)  Eine    eingehende  Untersuchung    über    das   Jesuitentheater    von    W.  Fl e mm  in  g 
tritt  demnächst  hervor. 

2)  Vgl.    aucli    die    von   Creizenacli  2.  S.  93  Anm.  4    angeführte    Äußerung    des 
spanischen  Neulateiners  Petrejus. 


268  Selbständigkeit  der  Nürnberger  Theatergestik.  Die  Gestik  der  Bildkunst. 

kenntiiis:  die  Nürnberger  Theatergestik  ist  doch  wohl  nichts  Ab- 
geleitetes, sondern  eine  selbständige  Schöpfung  des  Zeitgeistes, 
eine  Fortbildung  jener  Ansätze  zu  einem  bürgerlichen  Schauspiel- 
stil, die  sich  um  die  Wende  des  15.  zum  16.  Jahrhundert  bei  der 
Emanzipation  von  dem  kirchlich-liturgischen  Stil  zuerst  gezeigt 
hatten;  vielleicht  nur,  daß  die  damals  neben  der  neuen  großen 
Gebärde  sich  eindrängenden  Wirklichkeitsgesten  in  einer  ähnlichen 
Mischung  während  der  ersten  Zeit  der  dramaturgischen  Tätigkeit 
Hans  Sachsens  noch  erhalten  geblieben  sind  i)  und  dann  erst  durch 
eine  gewisse  allgemeine  Einwirkung  der  ganz  unnaturalistischen 
Schultheaterkunst  zugunsten  einer  wesentlich  stilisierenden  Art 
verdrängt  wurden.  Die  Art  der  Stihsierung  aber  hält  im  all- 
gemeinen an  der  weitausgreifenden  Gestik  fest,  die  sich  in  der 
zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  durchzusetzen  begann. 

Eine  letzte  Möglichkeit  bleibt  allerdings  noch  zu  erörtern.  Man 
könnte  daran  denken,  daß  die  Nürnberger  Schauspielkunst  ihre  am 
meisten  charakteristischen  Züge  aus  den  Schöpfungen  der  zeitge- 
nössischen Bildkunst  entlehnt  hätte.  In  der  bildnerischen  Gebärden- 
sprache nämUch  ist  seit  dem  Zeitpunkt,  bis  zu  dem  wir  sie  früher 
verfolgt  hatten  (S.  239),  ein  gewaltiger  Umschwung  eingetreten.  Er 
wird  vornehmlich  durch  die  Kunst  des  Mannes  dargestellt,  an  den 
wir  in  erster  Reihe  zu  denken  hätten,  wenn  wir  einen  Einfluß  der 
Malerei  auf  die  Schauspielkunst  des  Nürnberger  Theaters  annehmen 
wollten :  durch  Albrecht  Dürer,  Man  wird  hier  nicht  erwarten  dürfen, 
eine  eingehende  Betrachtung  der  Dürerschen  Gebärdensprache  zu 
finden.2)  Nur  in  wenigen  Sätzen  sei  hervorgehoben,  daß  jener 
Mangel  an  Pathos,  der  die  letzte  Generation  des  15.  Jahrhunderts 
kennzeichnete  und  der  die  großen  Leidenschaftsgesten  der  Arme 
und  Hände  auf  die  nebensächlichen  Stellen  der  Bilder  zu  verbannen 
pflegte,  nun  einer  ausgesprochenen  Pathetik  Platz  macht,  die  aus 
dem  Blute  des  Künstlers  stammt  und  sich  an  italienischen  Meistern, 
zumal  an  Mantegna  schulen  darf  und  die  begreiflicherweise  am 
stärksten  in  der  Gebärdensprache  zutage  tritt.  Dies  Wort  muß  man 
freilich,  wie  es  sich  bei  einem  ganz  großen  Meister  von  selbst  ver- 
steht, im  allerweitesten  Sinne  nehmen  und  vor  allem  etwa  auch 
die  Ausdrucksbewegungen  mit  einbeziehen,  die  durch  die  völlig 
veränderte  Behandlung  des  Gewandes  erzielt  werden.  Die  Leiden- 
schaftlichkeit äußert  sich  weiter  in  der  pathetischen,  ausdrucks- 
gesättigten Art,  in  der  das  gesamte  Lineament,  in  der  auch  die 
eigentlichen  Aktionsbewegungen  gehalten  zu  sein  pflegen,  ja,  in  der 
ganzen  Art  der  neuen  Behandlung  des  Körpers:  man  spürt,  selbst 

1)  Auf  gewisse  Reste,  die  trotz  der  stilisierenden  Tündie  späterer  Überarbeitung 
bewahrt  geblieben  sind,  haben  wir  gelegentlich  hingewiesen. 

2)  Die  wichtigsten  Hinweise  finden  sich  an  vielen  Stellen  des  Wolf  fl  in  scheu 
Buches  „Die  Kirnst  Albrecht  Dürers"  (München   1'JÜ5). 


Dürer  und   Hans  Siiclis.  269 

wenn  er  in  Ruhe  gezeigt  wird,  daß  iiun,  sobald  er  in  Bewegung 
kommen  wird,  die  großen  Gesten  besonders  gemäß  sein  werden. 
Wo  diese  sich  nun  umnittelbar  dem  Beschauer  zeigen,  sind  sie  von 
einer  Fülle  der  individualisierenden  Kraft,  die  hier  auch  nicht  an- 
gedeutet werden  kann,  sie  tritt  in  allen  möglichen  Arten  zutage, 
an  die  das  Theater  nicht  denkt;  immerhin  erscheinen  auch  jene  in  der 
Tradition  nie  völlig  untergegangenen  großen  Bewegungen  beider 
Hände  und  beider  Hände  nun  wieder  in  entschiedener  Bildwirk- 
samkeit, und  Jene  wichtigsten  Gesten  der  Hans  Sachs-Bühne: 
Händezusammenlegen,  Händeaufheben,  Händewinden,  Händezusam- 
menschlagen,  Armeaufheben,  Händeüberdemkopfzusammenschlagen, 
sind  auch  bei  Dürer,  und  zumal  in  seiner  Schwarzweißkunst,  sehr 
häufig  zu  beobachten.  Und  er  steht  in  dieser  Beziehung  keines- 
wegs allein  in  der  Kunst  seiner  Zeit:  nicht  alle,  aber  doch  sehr 
viele  seiner  Zeitgenossen  und  seiner  unmittelbaren  Schüler  haben 
den  gleichen  Zug  zur  leidenschaftlichen  Gebärdensprache  und  durch- 
aus verwandte  Ausdrucksformen. 

Soll  man  auf  Grund  solcher  unverkennbaren  Übereinstimmungen 
nun  annehmen,  der  Informator  der  Nürnberger  Schauspieler  habe 
die  Hauptzüge  seiner  Anordnungen  den  Schöpfungen  der  Bildkunst 
entnommen  ?  Dem  wird  zunächst  die  rein  äußere  Erwägung  eini- 
germaßen entgegenstehen,  daß  alle  Verbindung  mit  der  bildenden 
Kunst,  in  der  wir  Hans  Sachs  auf  der  Höhe  seines  Schaffens  nach- 
weisen können,!)  sich  auf  die  jüngeren  Nürnberger  Künstler,  zu- 
nächst auf  Hans  Sebald  Beham  bezieht;  hätte  er  aber  deren  Arbei- 
ten auf  die  Gebärdensprache  durchmustert,  so  würde  er  dort 
die  große  Pathetik  der  Gesten  nicht  mehr  so  ausgeprägt  gefunden 
haben:  die  jüngere  Generation  übt,  sei  es  aus  einem  neuen  Lebens- 
gefühl heraus,  sei  es  in  einem  Bemühen  um  stärkere  Klassizistik, 
größere  Zurückhaltung.  Wichtiger  ist  schon  der  Umstand,  daß 
Hans  Sachsens  Blick  bei  der  Betrachtung  von  Bildwerken  offenbar 
immer  so  stark  an  das  Reinstoffliche  gebunden  erscheint,  daß  ihm 
eine  entscheidende  Aufmerksamkeit  für  ein  so  wesentlich  formales 
Element,  wie  es  die  Gebärdensprache  immerhin  ist,  kaum  zuzu- 
trauen sein  wird.  Erinnert  mag  hier  ferner  daran  werden,  daß 
unsere  Untersuchungen  für  die  vorangegangenen  Jahrhunderte  das 
Vorhandensein  von  beträchtlichen  Zusammenhängen  zwischen  der 
Gestik  des  Theaters  und  der  der  Bildkunst  durchaus  haben  leugnen 
müssen;  ist  nun  inzwischen  auch  der  Hauptfaktor  solcher  Verschie- 
denheit, die  ständige  geistliche  Gebundenheit  der  Schauspielkunst, 
in  Fortfall  gekommen,  so  ist  doch  umgekehrt  bei  der  jetzt  einge- 
tretenen stofflichen  Differenziertheit  der  beiden  Kunstübungen  kaum 


II  Vgl.  Buchwald:  Zeitschrift  für  Bücherfreunde  N.  F.  2,  2  (1911),  S.  233ff.  und 
das  Illustrationsmaterial  in  der  hübschen  Hans  Sachs- Ausgabe  des  Inselverlags:  2.  Aufl. 
Leipzig  1911.  2  Bde. 


270  Hans  Sachsens  Leistung:  Systeniatisierung  der  theatralischen  Tradition. 

anzunehmen,  daß  sich  mit  einem  Male  die  Tlieaterkunst  die  Ge- 
bärdensprache der  Bildkunst  sollte  zum  Muster  genommen  haben. 
Das  Entscheidende  aber  ist  wohl  die  Unmöglichkeit,  daß  ein  Be- 
obachter sich  jene  dem  Theater  und  der  Bildkunst  gemeinsamen 
großen  Arm-  und  Handbewegungen  etwa  aus  Dürers  Bildern  und 
dem  Ganzen  ihrer  Ausdrucksdarbietungen  allein  sollte  heraus- 
gesehen haben.  In  der  höchst  primitiven  Kunst  der  Meistersinger- 
bühne allerdings  fallen  die  spießbürgerlichen  Persönlichkeiten  der 
Darsteller  und  ihre  stilisierten  Leidenschaftsgebärden  unorganisch 
auseinander;  wenn  man  aber  auch  treffend  darauf  aufmerksam  ge- 
macht hat,i)  daß  mitunter  auch  bei  Dürer  „der  Rock  großartiger  ist 
als  der  Mann'^,  die  Ausdrucksgewalt  des  Gewandes  zu  stark  ist  für 
den  etwas  kleinbürgerlichen  Kopf  darüber,  so  ist  doch  im  Ganzen 
in  dieser  Hochkunst  eine  organische  Einheit  erzielt,  die  das  Heraus- 
reißen jener  Einzelzüge  beinahe  undenkbar  erscheinen  läßt. 

Trotz  solcher  Erkenntnis  aber  wird  der  Hinweis  auf  jenen  Um- 
schwung in  der  bildenden  Kunst  hier  nicht  ganz  zwecklos  gewesen 
sein.  Dieser  Umschwung  ist  auch  für  uns  wichtig  als  das  spürbarste 
Symptom  des  neuen  Lebensgefühls  der  Dürer-  und  Luthergeneration ; 
dieser  Generation  gehört  auch  Hans  Sachs  noch  an,  mögen  gleich 
seine  wichtigsten  Leistungen  auf  dem  Gebiet  der  Theaterkunst  in 
eine  Zeit  fallen,  in  der  jene  Generation  im  ganzen  schon  einer 
neuen  Platz  gemacht  hat,  und  als  ein  von  der  Bildkunst  unabhän- 
giges Kennzeichen  des  gleichen  Lebensgefühls  sind,  freilich  auf  un- 
vergleichbar tieferem  Niveau,  auch  die  großen  Gesten  der  Nürn- 
berger Schaubühne  anzusehen. 

Ihr  Seil  Opfer  ist  Hans  Sachs  schwerlich  gewesen.  Daß  die  Ge- 
neration, der  er  noch  zugehört,  schon  um  die  Wende  des  15.  zum 
16.  Jahrhundert  auf  der  Schulbühne  zur  großen  Geste  neigte,  wurde 
unter  den  Hinweis  auf  den  zweiten  Teil  dieser  Untersuchungen 
schon  angedeutet;  in  ihnen  wird  sich  ferner  zeigen,  daß  auch  auf 
dem  bih'gerlichen  Theater  in  Basel  im  zweiten  Jahrzehnt  des 
16.  Jahrhunderts  die  gleiche  Tendenz  sich  geltend  macht.  Hans 
Sachs  hat  offenbar  nur  das  von  der  Tradition  Überkommene  syste- 
matisiert und  normalisiert,  nach  dem  Vorbilde  des  meistersänge- 
rischen  Betriebs  der  Lyrik,  dem  sich  ja  die  theatralische  Tätigkeit 
unmittelbar  zur  Seite  stellt,  und  durch  solche  Feststellung  fügt  sich 
auch  seine  Wirksamkeit  für  das  Theater  ganz  und  gar  in  sein  Ge- 
samtbild ein:  das  Bild  eines  Mannes,  der,  vom  Humoristischen  ab- 
gesehen, nur  mit  einem  recht  durchschnittlichen  Können,  den  von 
Vergangenheit  und  Gegenwart  ihm  zuströmenden  Stoff  meisterte, 
der  aber  durch  die  Fülle  und  die  systematische  Anordnung  seiner 
kleinbürgerlichen  Polyhistorie  beinahe  einen  Zug  von  Größe  erhält. 

1)  Wöiniin  S.  148. 


Zweiter    Teil: 

Dramenillustrationen  des  15.  und  16.  Jahrhunderts. 


Erstes  Kapitel: 

Ziele  und  Wege. 

Die  Erörterung  des  Verhältnisses  zwischen  Theater  und  bildender 
Kunst  hat  sich  die  kunstgeschichtliche  Forschung  nicht  entgehen 
lassen.  In  eindringenden  Untersuchungen  i)  ist  uns  gezeigt  worden, 
daß  in  den  vorzüglichsten  Leistungen  der  geistlichen  Kunst  des 
Mittelalters  —  mag  es  sich  um  Skulpturen  oder  um  Bilder  handeln 
—  die  dramatischen  Aufführungen  jener  Jahrhunderte  sich  spiegeln. 
Natürlich  haben  die  Künstler  nicht  etwa  beabsichtigt,  Spiegel- 
bilder des  mittelalterlichen  Theaters  zu  liefern,  der  Hergang  ist 
vielmehr  der,  daß  sie  in  der  Darstellung  der  heiligen  Vorgänge 
vielfach  nicht  mühsam  mit  Beobachtungsübertragung  und  Phantasie 
arbeiteten,  sondern  sich,  im  wesentlichen  unbewußt,  an  die  Erinne- 
rung der  Bilder  hielten,  die  ihnen  durch  die  alljährlichen  Vorfüh- 
rungen von  Oster-,  Passions-  und  Weihnachtsspielen  vermittelt 
waren.  Jene  Untersuchungen  aber  sind  durchaus  im  Interesse  der 
Kunstgeschichte  angestellt;  ihre  Aufgabe  ist  es  nicht,  die  Elemente 
jener  Aufführungen  aus  den  Bildern  heraus  festzustellen,  sie  wollen 
vielmehr,  indem  sie  die  Art  der  Aufführungen  als  bekannt  voraus- 
setzen, die  mittelalterlichen  Kunstwerke  erläutern,  sie  wollen  zeigen, 
bei  wie  vielen  der  scheinbar  in  ihnen  enthaltenen  Lebenselemente 
es  sich  tatsächlich  um  Theatralisches  handelt. 

Das  auf  solche  Art  wissenschaftlich  zurechtgelegte  Material  ist 
aber  umgekehrt  für  die  Zwecke  der  Theatergeschichte  nicht  oder 
nur  schwer  zu  brauchen,  ganz  abgesehen  davon,  daß  es  im  besten 
Falle  nur  über  die  Art  der  öffentlichen  Aufführungen  des  Mittel- 
alters Licht  verbreiten  könnte.  Über  ganz  allgemeine  Vorstellungen 
hinaus  wird  es  uns  für  die  Einzelheiten  spezieller  Theaterauffüh- 
rungen schwerlich  zuverlässig  unterrichten  können. 

Von  dieser  Richtung  her  also  kommen  wir  nicht  an  unsere 
Aufgabe  heran.  Nicht  von  Bildern  dürfen  wir  ausgehen, 
die  ohne  Wissen  der  Künstler  theatralische  Elemente  in  sich  auf- 
genommen haben.  Unsere  Grundlage  müssen  vielmehr  solche 
Darstellungen  bilden,  die  absichtlich  zu  dramatischen  Dichtungen 
oder  gar  zu  ihren  Aufführungen  in  Beziehung  gesetzt  worden  sind : 
wir  werden  uns  an  Bühnenbiljder  oder,  wo  solche  noch  nicht  vor- 

1)  Vgl.  o.  S.  240,  Anm. 
Herrmann,  Theater.  18 


274  Die  theatralischen  Elemente  der  Dramenillustrationen. 

banden  sind,  an  D  r  a  m  e  n  i  1 1  u  s  t  r  a  t  i  o  n  e  n  zu  halten  haben.  Auch  sie 
aber  sind  tatsächhch  wissenschaftlich  erst  zu  benutzen,  nachdem  wir 
denVersuch  gemacht  haben,  die  wirklich  in  ihnen  enthaltenen  Thea- 
terelemente von  den  daneben  in  ihnen  steckenden  Elementen  der 
bildenden  Kunst  zu  sondern.  Denn  es  ist  natürlich,  daß  es  sich 
zumal  bei  Dramenillustrationen  der  älteren  Zeit  niemals  um 
Surrogate  für  photographische  Abbildungen  der  betreffenden  Vor- 
stellungen handeln  kann:  immer  sind  es  Handschriften-  oder 
Buchillustrationen,  mit  denen  wir  zu  tun  haben.  In  der  älteren 
Zeit  hat  der  Illustrator  nur  ausnahmsweise  die  Absicht,  ein  Theater 
seiner  Zeit  abzubilden,  und  auch  nachdem  Sebastiano  Serho  im 
zweiten  Bande  seiner  Architettura  (Paris  1545)  mit  derartigen 
wissenschafthch-technischen  Illustrationen  den  Anfang  gemacht 
hat,  wird  es  zunächst  kaum  anders. 

Ungemein  schwierig  aber  ist  die  Aufgabe,  jene  Sonderung  der 
theatralischen  von  den  bildkünstlerischen  Elementen  in  solchen 
Dramenillustrationen  vorzunehmen.  Denn  einmal  sind  oft  in  jenen 
Elementen  der  bildenden  Kunst,  die  wir  aussondern  müssen,  ehe 
wir  die  Darstellungen  für  die  Theatergeschichte  benützen  dürfen, 
nach  den  eben  angeführten  kunsthistorischen  Untersuchungen  schon 
theatralische  Elemente  vorhanden.  Anderseits  braucht  es  nicht 
erst  der  Illustrator  gewesen  zu  sein,  der  für  seine  Zeichnungen 
Rücksicht  auf  Gesetze  und  Tradition  der  bildenden  Kunst  seiner 
Zeit  genommen  hat:  schon  der  Regisseur  mag  bei  der  Anordnung 
der  Bühnenbilder  oft  genug,  bewußt  oder  unbewußt,  zu  bildlichen 
Darstellungen  des  gleichen  Stoffes  in  Beziehung  getreten  sein,  zumal 
da  seit  dem  16.  Jahrhundert  immer  häufiger  Maler  an  der  Inszenie- 
rung beteiligt  sind. 

Auf  sehr  verschiedene  Weise  können  solche  Dramenillustrationen 
zustande  kommen.  Erstens  braucht  der  Illustrator,  zumal  in  jener 
Zeit,  wo  der  theatralische  Charakter  des  antiken  Dramas  und 
seiner  Nachahmungen  erst  sehr  allmählich  dem  gelehrten  und  dann 
dem  allgemeinen  Bewußtsein  einging,  den  theatrahschen  Zug  seiner 
Vorlage  überhaupt  gar  nicht  erkannt  oder  doch  gar  nicht  berück- 
sichtigt zu  haben,  er  kann  vielmehr  an  die  Aufgabe  genau  so 
herangegangen  sein,  als  ob  es  sich  um  die  Illustration  eines  epischen 
Werkes  gehandelt  hätte.  Er  kann  zweitens,  ohne  daß  er  eine  Auffüh- 
rung des  betreffenden  Dramas  mit  angesehen  hätte,  sich  künstlich 
eine  Vorstellung  von  ihrem  Verlauf  gemacht  haben.  Das  wird, 
wo  es  sich  um  Illustrationen  der  antiken  Dramen  in  einer  Zeit 
handelte,  in  der  eine  Tradition  für  die  Art  ihrer  Aufführungen 
noch  nicht  bestand,  durch  rein  gelehrte  Forschung  und  eine  im 
gelehrten  Sinne  arbeitende  Phantasie  geschehen  sein;  es  kami  sich 
aber  auch  um  eine  Art  Entwurf  zu  einer  künftigen  Aufführung  des 
betreffenden  Stückes  handeln,  in  jenem  Sinne,  wie  auch  der  moderne 


Die  theatralischen  Elemente  der  Dramenillustrationen.  275 

Regisseur  für  die  Anlage  einer  Vorstellung  gern  die  Zeichenkunst 
—  wenn  auch  nur  skizzierend  —  in  Anspruch  nimmt.  Endlich  — 
und  das  ist  der  fin*  unsere  Zwecke  günstigste  Fall  —  können  wir 
es  mit  Zeichnungen  zu  tun  haben,  die  mit  einer  wirklich  stattge- 
habten Vorstellung  des  Dramas  tatsächlich  in  Beziehung  stehen, 
sei  es,  daß  der  Illustrator  während  der  Vorstellung  sich  Skizzen 
von  den  Bildern  angelegt  hat,  die  seinem  Auge  geboten  wurden, 
sei  es,  daß  er  nachträglich  aus  der  Erinnerung  noch  das  Eine  oder 
das  Andere  der  Wirklichkeit  entsprechend  zu  erhaschen  suchte. 
Möglich  auch,  daß  es  sich  dabei  um  mehrfach  gestützte  Erinnerung 
gehandelt  hat:  der  Zeichner  kann  als  Mitspielender  an  der  Vor- 
stellung beteiligt  gewesen  sein,  oder  er  kann  auch  nicht  nur  der 
Aufführung,  sondern  auch  schon  den  vorangegangenen  Proben  bei- 
gewohnt haben. 

Während  in  der  ersten  auf  solche  Art  gekennzeichneten  Kate- 
gorie der  Illustrationen  lediglich  das  Bildkünstlerische  in  Betracht 
kommt  und  das  wirklich  Theatermäßige  ganz  fortfällt,  spielt  in  die 
beiden  andern  das  Bildkünstlerische  nur  mehr  oder  weniger  ent- 
schieden mit  hinein.  Durch  kritische  Betrachtung  den  rein  rein  illu- 
strativen Charakter  der  Bilder  festzustellen  oder  anderseits  aus  jenen 
Mischungen,  die  unter  Umständen  sehr  kompliziert  sein  können, 
das  tatsächlich  Theatralische  herauszuholen,  das  ist  die  schwierige 
Aufgabe,  die  die  Forschung  sich  zu  stellen  hat. 

Mit  der  Lösung  dieser  Aufgabe  soll  nun  systematisch  ein  An- 
fang gemacht  werden,  systematisch  auch  insofern,  als  hier  nicht 
die  dankbareren  Gebiete  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  in  Angriff  ge- 
nommen sind,  sondern  —  auf  die  Gefahr  hin,  daß  das  Ergebnis 
mehr  im  Abbauen  von  Hoffnungen  als  im  Aufbauen  positiven 
Wissens  besteht  —  wirklich  die  ersten  Leistungen,  die  überhaupt 
in  Betracht  kommen.  So  beginnen  wir  mit  den  Illustrationen,  die 
seit  den  Anfängen  des  Humanismus  und  zumal  seit  dem  Einsetzen 
des  Holzschnittes  den  antiken  Dramen  zuteil  geworden  sind,  und 
behandeln  dann  das  wichtigste  Sondergebiet  der  Illustrationen  zu 
deutschen  Dramen  aus  der  gleichen  Periode,  nämlich  die 
Schweiz  1).  Wir  werden  jedesmal  zuerst  versuchen,  die  Ent- 
stehungsgeschichte der  wichtigsten  dieser  Bilder  oder  Bilderzyklen 
zu  skizzieren  und  auf  solche  Weise  jene  Sonderung  in  die  oben 
gekennzeichneten  Kategorien  vorzunehmen,  die  die  Voraussetzung 
für  die  weitere  Scheidung  der  einzelnen  Elemente  ist.  Wir  werden 
dann  endlich  diejenigen  Bilder,  in  denen  wir  irgendwie  größere 
oder  geringere  Rücksichtnahme  auf  tatsächliche  Aufführungen  nach- 
weisen können,  unter  einem  zwiefachen  Gesichtspunkte  betrachten: 

1)  Absolute  Vollständigkeit  ist  nicht  das  Ziel  und  wird  bei  der  Schwierigkeit,  des 
zerstreuten  Materials  habhaft  zu  werden,  wohl  nur  das  Werk  vereinter  Kräfte  sein  können. 
Immerhin  hoffe  ich,  daß  mir  des  Wesentlichen  nicht  zu  viel  entgangen  ist. 

18* 


276  Di^  theatralischen  Elemente  der  Dramenillustrationen. 

wir  werden  sie  einmal  vergleichen  mit  dem,  was  wir  etwa  sonst 
über  die  betreffenden  Aufführungen  wissen,  um  von  dem  etwaigen 
Nachweis  tatsächlicher  Aufführungselemente  auf  das  Vorhanden- 
sein weiterer  theatralischer  Bestandteile  einen  Schluß  zu  tun;  wir 
werden  anderseits  diese  Illustrationen  mit  verwandten  Darbietungen 
der  bildenden  Kunst  zu  vergleichen  haben,  die  nicht  zur  Illustration 
dramatischer  Werke  bestimmt  sind.  Wir  werden  in  den  besonders 
glücklichen  Fällen,  in  denen  die  Entstehungsgeschichte  uns  die 
Möglichkeit  gegeben  hat,  den  Künstler  der  betreffenden  Bilder  zu 
ermitteln,  seine  sonstigen  Leistungen  heranzuziehen  haben,  um 
festzustellen,  in  welchen  Elementen  er  bei  seiner  freischöpferischen 
Tätigkeit  sich  von  denjenigen  Arbeiten  unterscheidet,  die  er  als 
Dramenillustrator  zu  schaffen  hatte.  Wo  die  Möglichkeit,  den  ein- 
zelnen Künstler  zu  kontrollieren,  nicht  vorliegt,  werden  wir  den  Blick 
auf  die  gleichzeitige  Praxis  der  bildenden  Kunst  überhaupt  in  dem- 
selben Sinne  zu  richten  haben.  Die  letzten  Fragen  endlich  würden  die 
sein:  sind  die  Abweichungen  von  der  üblichen  Art  der  bildenden 
Kunst  theatergeschichtlich  zu  erklären  und  zu  stützen?  Und  um- 
gekehrt :  lassen  sich  die  etwa  hervortretenden  Übereinstimmungen 
zwischen  Dramenbildern  und  freien  Kunstschöpfungen  statt  auf  eine 
rein  künstlerisch  bedingte  Veränderung  des  ganz  abweichenden 
wirklichen  Bühnenbildes  vielleicht  darauf  zurückführen,  daß  die 
Regie  der  betreffenden  Aufführung  durch  die  bildende  Kunst  be- 
einflußt worden  ist? 


Zweites  Kapitel: 

Illustrationen  antiker  Dramen. 

überschauen  wir  das  gesamte  Material  der  in  der  Renais- 
sancezeit gedruckten  und  mit  Holzschnitten  ausgestatteten  Aus- 
gaben antiker  Dramatiker,  so  fällt  uns  zunächst  rein  biblio- 
graphisch etwas  Merkwürdiges  ins  Auge.  Es  handelt  sich  fast 
ausschließlich  um  Illustrationen  zu  Terenz.  Bekannt  genug  ist  freilich, 
daß  Terenz  der  eigenthche  Lieblingsautor  des  16.  Jahrhunderts  ge- 
worden ist.  Aber  zu  der  Zeit,  in  der  die  wichtigsten  und  maß- 
gebenden Illustrationen  hervortraten,  war  Terenzens  Sieg  doch  noch 
in  keiner  Weise  entschieden.  Und  auch  noch  später  steht  namentlich 
Plautus  und,  da  wir  hier  von  internationalen  Verhältnissen  reden, 
auch  Seneca,  von  den  Griechen  ganz  abgesehen,  im  Mittelpunkte 
humanistischen  Interesses,  und  die  Zahl  der  alten  Plautusaus- 
gaben  kann  sich  mit  der  der  Terenzeditionen  wenigstens  einiger- 
maßen messen.  Dagegen  fällt  für  die  Holzschnittillustration  Seneca 
ganz  aus,  und  Plautus  tritt  erst  ganz  spät  und  sichtlich  als  Nach- 
zügler im  Gefolge  der  Terenzillustrationen  in  den  Gang  der  Ent- 
wicklung ein.  Terenz  aber  ist  früh  schon  mit  bildhchen  Dar- 
stellungen geschmückt  worden,  und  wenigstens  für  zwei  derjenigen 
Stellen,  die  zuerst  Terenzholzschnitte  hervorbrachten,  läßt  sich 
irgend  eine  Abhängigkeit  der  einen  von  der  andern  Darstellung 
nicht  nachweisen:  von  einander  unabhängige  Kunstbestrebungen 
sind  zweimal  auf  die  Illustration  nur  des  Terenz  verfallen,  und  zu- 
nächst nur  an  seiner  Ausstattung  mit  Szenenbildern  hielten 
Renaissance  und  Humanismus  fest. 

Zur  Erklärung  dieser  auffallenden  Erscheinung  werden  wir 
vielleicht  den  Umstand  heranziehen  dürfen,  daß  es  für  die  Illu- 
stration der  Terenzischen  Dramen  eine  ältere  Tradition  gab,  auf 
deren  Spuren  und  auf  deren  Nachahmung  humanistische  Interessen 
an  verschiedenen  Punkten  führen  konnten.  Terenz  nämlich  ist  der 
einzige  antike  Dramatiker,  der  der  Renaissancezeit  in  Handschriften 
des  Altertums  oder,  richtiger  gesagt,  [der  ottonischen  Renaissance 
mit  Illustrationen  geziert  überliefert  worden  ist  i).    Eine  ganze  An- 

1)  Auf  die  Streitfrage,  ob  diese  alten  Terenzbilder  noch  in  der  Tradition  der  antiken 
Kunst  stehen  oder  erst  das  Erzeugnis  der  byzantinisclien  Kunst  jener  ersten  Renaissance 
sind,  brauchen  wir  hier  nicht  einzugehen. 


278  D'6  alten  Terenzbllrter.     Miniaturen  des  ]■!.  und  1 5.  Jahrhunderts. 

zahl  solcher  alten,  bildergeschmückten  Terenzhandschriften  ist  auch 
noch  auf  uns  gekommen  —  die  berühmtesten  sind  der  Cod.  Vat. 
Lat.  3868,  der  Pariser  Codex  Bibl.  Nat.  7899  und  der  Cod.  Ambros. 
H.  75 1)  — ,  gewiß  aber  hat  die  Renaissance  eine  weit  größere  An- 
zahl besessen,  die  dann  erst  durch  die  Stürme  des  16.  und  17. 
Jahrhunderts  verweht  worden  sind. 

Daß  die  Humanisten  für  eine  derartige  Handschrift  die  größte 
Verehrung  und  das  größte  Interesse  gehabt  haben,  können  wir 
gewiß  annehmen,  obschon  keines  der  erhaltenen  Manuskripte  so 
unmittelbar  die  Beweise  für  die  humanistische  Hochschätzung  liefert, 
wie  der  uralte,  aber  bilderlose  Cod.  Vat.  Lat.  3226  durch  die  in  ihm 
enthaltenen  ehrfürchtigen  Notizen  Bembos  und  Polizianos  2).  Die 
erhaltenen  Handschriften  zeigen  alle  durchaus  die  nächste  Verwandt- 
schaft hinsichtlich  der  Illustrationen :  diese  gehen  offenbar  alle  auf 
einen  Grundtypus  zurück,  und  so  werden  uns  die  genannten 
Codices  durchaus  ein  Ersatz  sein  können  für  etwa  verlorene,  die 
die  Humanisten  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  noch  benützen  konnten. 
Jedenfalls  haben  wir  durchaus  Veranlassung,  da,  wo  wir  das  Ein- 
setzen der  modernen  Terenzillustrationen  beobachten,  nach  einem 
etwaigen  Zusammenhange  mit  dieser  alten  Bildertradition  zu 
suchen. 

Miniaturen. 

Der  eigentliche  Gegenstand  unserer  Untersuchungen  sind  die 
Holz  Schnittillustrationen  zu  den  Ausgaben  antiker  Dramen,  denn 
erst  sie  fallen  in  die  Periode,  in  der  diese  dramatischen  Dichtungen 
auch  zur  Aufführung  gekommen  sind,  erst  in  ihnen  also  kann  man 
nach  Spuren  solcher  Aufführungen  zu  suchen  unternehmen.  Immer- 
hin aber  werden  wir  an  den  entsprechenden  Leistungen,  die  die 
Zeit  vor  der  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  hervorgebracht  hat, 
an  den  aus  dem  14.  und  15.  Jahrhundert  stammenden  Miniaturen 
in  Seneca-  und  Terenzhandschriften 3)  nicht  ganz  vorübergehen 
dürfen:  einmal  können  sie  uns  vielleicht  die  Vorstellung  anschau- 
lich vermitteln,  die  man  in  der  Frühzeit  des  Humanismus  rein 
theoretisch  von  der  Art  des  antiken  Theaters  gehabt  hat,  und 
ferner  wäre  es  ja  denkbar,  daß  eine  bewußte  oder  unbewußte 
Identifikation  des  antiken  und  des  mittelalterlichen  Dramas  seitens 
der  Miniatoren  vorgenommen  worden  wäre  und  daß  wir  im  Zu- 
sammenhange  damit  Reste    der   mittelalterlichen  Inszenierungsart 


1)  7  weitere  Handschriften  oder  Handschriftenfragmente  verzeichnet  z.  B.  0.  Engel- 
hardt,  Die  Illustrationen  der  Terenzhandschriften.     Diss.  Jena  1905.     S.  8  ff. 

2)  Terenti  Comoediae  ed.  Umpfenbach  (Berlin  1870)  p.  IV  ff. 

3)  St.  B eissei,  Vatikanische  Miniaturen  (Freiburg  1893)  S.  45  nennt  den  Cod. 
Ollol).  lat.  2003  als  einen  illustrierten  PI  au  tus;  tatsächlich  ist  es,  wie  mich  Hr  P.Kranz 
Ehr](;  gütigst  belehrt,  ein  nicht  illustrierter  Properz. 


Miiiiatiireii.     Frühliuinanistisches  Interesse  für  Seneca.  279 

in  diesen  Bildern  vor  uns  liätten;  freilich  muß  hier  gleich  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  sich  urkundhche  Zeugnisse  für  eine 
solche  Identifikation  erst  aus  wesentlich  späterer  Zeit  finden i)  und 
daß  die  sehr  eigentümliche  Auffassung,  die  das  Mittelalter  vom 
antiken  Drama  und  Theater  hat,  eine  Identifikation  mit  dem  wieder- 
um ganz  eigenwüchsigen  mittelalterlichen  Theater  nicht  eben 
leicht  macht. 

Sollten  diese  Miniaturen  also  etwa  nur  Buchillustrationen  dar- 
stellen wie  andere  Buchillustrationen  auch,  ohne  jeden  theatralischen 
Charakter  auch  in  jenem  sehr  eingeschränkten  Sinn  ?  Es  kann  keinem 
Zweifel  unterliegen,   daß  wir  sie  zunächst  von  diesem  Standpunkt 
aus    anzusehen,    sie    einzuordnen    haben    in    die    Geschichte    der 
Klassikerillustration  dieser  Zeit.   Wenn  nun  die  historische  Behand- 
lung  der  Miniaturkunst   im    allgemeinen    unter   allen  Zweigen  der 
mittelalterlichen  und   frühneuzeithchen  Kunstübung  am  wenigsten 
zum  Gegenstand  zusammenfassender  Betrachtung  gemacht  zu  sein 
scheint,  so  fehlt  es  im  besonderen  ganz  an  einer  Geschichte  der  Klas- 
sikerillustration, in  der  der  Bund  der  fortschreitenden  Miniaturkunst 
mit  der  fortschreitenden  Altertumsbegeisterung  in  seiner  Entwick- 
lung dargestellt  würde.     Daß  auf  einen  solchen  Bund  schon  in  den 
Anfängen  der  Renaissancebewegung  hingearbeitet  wird,  dafür  ist 
Petrarcas  lebhafte  und  erfolgreiche  Bemühung  um  illustrierte  Hand- 
schriften ein  deutUcher  Beweis  2).    Doch  erscheint  unter  ihnen  kein 
Codex  mit  antiken  Dramen,  wie  man  denn  mit  Recht  hervorgehoben 
hat,  daß  Petrarcas  und  ebenso  Boccaccios  Interesse  für  das  Drama 
des  Altertums   und   namentlich  auch    für    die    Tragödie    sich    mit 
seiner  Neigung  für  andere  Schriftsteller  wie  Vergil  und  Cicero  nicht 
vergleichen    läßt  3).    Wohl  aber  ist  an  andern  Stellen  Italiens   das 
Interesse  besonders  für  Seneca  geradezu  brennend:  man  behandelt 
ihn  mit  dem  regsten  Eifer  zumal  in  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahr- 
hunderts an  den  Hochschulen,  und   auch  an  Erläuterungsschriften 
fehlt  es  nicht,  nachdem  sich  der  auf  Veranlassung  eines  italienischen 
Kirchenfürsten  um  1310  verfaßte  Kommentar  des  englischen  Domi- 
nikanermönchs Nikolaus  Treveth  gerade  in  Italien  weit  verbreitet 
hattet).  Diese  Senecaverehrung  spiegelt  sich  nun  in  der  Anfertigung 
illustrierter  Handschriften    seiner    Dramen    eben   gegen   Ende    des 


1)  Vgl.  u.  beim  Straßburger  Terenz. 

2)  Vgl.  P.  Nolhac,  Manuscrits  ä  miniatures  de  le  bibliotheque  de  Petrarque:  Gazette 
archeologique  15,  S.  25  ff.  Auf  die  Bedeutung  dieser  Codices  hat  uns  Burdach  wieder- 
holt energisch  hingewiesen:  Vom  Mittelalter  zu  Reformation  (Halle  1893)  S.  113  und  Ab- 
handhmgen  der  BerUner  Akademie  1903,  S.  12.  VieUeicht  darf  man  hoffen,  daß  eine  der 
künftigen  Arbeiten  Burdachs,  der  systematisch  so  viele  Handschriftensammlungen  auch 
des  Auslands  für  die  Erörterung  der  großen  Kultlirprobleme  des  internationalen  Huma- 
nismus durchforscht,  auch  die  hier  gestreifte  Frage  völlig  zur  Erledigung  bringen  wird. 

3)  Greiz e nach  1,  2.  Aufl.,  S.  513  ff.,  530  ff . 

4)  Vgl.  Creizenachs  treffliche  Ausführungen  S.  492  ff.,  517  f. 


280  N.  Treveth  und  die  Auffassung  des  antiken  Theaters. 

14.  Jahrhunderts  in  Italien  i);  die  Miniaturen  solcher  Codices  aber^) 
halten  sich,  soweit  wir  uns  aus  zugänglichen  Reproduktionen  ein 
Urteil  erlauben  können,  so  völlig  im  Stil  der  sonstigen  Hand- 
schriftenillustrationen, daß  es  nicht  lohnt,  hier  in  eingehende  Un- 
tersuchungen über  die  etwa  auf  das  Konto  einer  Theateranschauung 
zu  setzende  Besonderheiten  einzutreten:  schon  daß  es  sich  durch- 
aus um  Initialenausschmückung  handelt,  ist  bezeichnend,  und  von 
dem  Trevethschen  Kommentar,  der  auch  die  Theorie  des  Dramas 
und  des  Theaters  berücksichtigt,  scheinen  sie  nichts  zu  enthalten. 
Wohl  aber  finden  sich  Trevethsche  Auslegungen  in  dem  Cod.  Lat. 
Urbin.  355  der  Vatikanischen  Bibliothek  3),  der  auch  textkritisch 
mit  Treveths  Lesungen  zusammenhängt 4)  und  in  einem  Initialbuch- 
staben Treveths  Bild  bringt.  Hier  beschränken  sich  die  eigenthchen 
Dramenillustrationen  auf  eine  Darstellung  der  „Medea"  in  ihrem 
ersten  Buchstaben;  der  Codex  enthält  aber  auf  seinem  ersten  Blatt 5) 
etwas  was  uns  mehr  interessiert  als  jene  Initialausschmückung:  die 
von  uns  (Abb.  17)  verkleinert^)  wiedergegebene  Darstellung  der  öffent- 
lichen Vorführung  der  ersten  Tragödie,  des  »Hercules  furens«,  so  wie 
die  italienischen  Frühhumanisten  sie  sich  vorstellten.  Man  hat 
schon  bemerkt  7),  daß  diese  Auffassung  im  engsten  Zusammenhang 
steht  mit  der  Erklärung  des  Theaters,  die  Treveth  in  der  Einleitung 
zum  Herculeskommentar  gibt  8):  Et  nota,  qiiod  tragoediae  et  comoe- 
diae  solebant  in  theatro  hoc  modo  recitari:  Theatnim  erat  avea  semi- 
circularis,  in  cuins  medio  erat  parva  domiincnla,  qiie  scena  dicebatiir, 
in  qua  erat  piüpitum,  super  quo  Poeta  carmina  pronuntiabat.  Extra 
vero  erant  mimi,  qui  carminum  pronunciationem  gestu  corporis efficie- 

1)  Ebenda  S.  518  f. 

2)  Der  schönste  ist  der  Innsbriicker  Cod.  87;  er  ist  jetzt  genau  beschrieben  durch 
H.  J.  Hermann  im  1.  Bande  des  „Beschreibenden  Verzeichnisses  der  illuminierten  Hand- 
schriften in  Österreich" (Leipzig  1905)  S.  146  ff.,  und  hier  sind  auch  die  Bilder  wiedergegeben : 
sie  rühren  von  Niccolo  da  Bologna  her  und  scheinen  seine  einzige  Klassikerillustration 
darzustellen.  Der  Anfangsbuchstabe  jedes  Senecaischen  Dramas  zeigt  hier  zwei  neben- 
einander gerückte  Szenen  aus  der  betreffenden  Tragödie.  Das  gleiche  Prinzip  findet  sich 
wenigstens  teilweise  in  einer  der  beiden  Senecahandschriften  durchgeführt,  aus  der 
d'Agincourt,  Historie  de  l'art  V,  tab.  74  (vgl.  II,  S.  79  f.)  Proben  gibt;  die  eine  ist 
von  einem  Petrus  theotunicus  de  Nurnberga  1.373  in  Italien  geschrieben,  die  andere  ist 
der  Cod.  lat.  Urb.  356  der  Vaticana,  den  Stornajolo,  Codices  Urbinates  Latinil  (Rom  1902) 
S.  329  f.,  575  genau  beschreibt.     Vgl.  auch  Codd.  Vatt.  latt.   1644,  1645,   1650. 

3)  Beschreibung  bei  Stornajolo  S.  328  f.,  375  f. 

4)  R.  Peiper,  Festschrift  z.  250  j.  Jubelfeier  des  Gymnasiums  zu  St.  Maria  Magda- 
lena zu  Breslau  (Breslau   1897)  S.  130  f.,  vgl.  auch  S.   159  f. 

5)  Stornajolos  Angabe:  „fol.  81  v"  beruht,  wie  mir  Herr  P.  Franz  Ehrle  gütigst 
mitteilt,  auf  einem  Druckfehler. 

6)  Nach  einer  Originalaufnahme  von  P.  Sansaini  in  Rom,  Via  Corsi  45.  Größe  des 
Originals:  19,3x30,2  cm. 

7)  Creizenach  P  S.  519. 

8)  Hier  wiedergegeben  nach  der  Lesung  von  Pei])er  a.  a.  O.  S,  164  f.,  zu  der  icii 
Ms.  Berol.  lat.  fol.  547  |fol.  1  b]  herangezogen  habe. 


Darstellung  des  'Hercules  turens' 


281 


Abb.  17.    Darstellung  des  'Hercules  f 


urens'  im  Cod.  Lat.  Urbin.  355  (vgl.  S.  280). 


282  N.  Treveth  und  seine  Quellen. 

bant,  per  adoptionem  ad  qiiemlibet,  ex  cuius persona  poeta  loquebatiir. 
Unde  cum  hoc  primiim  Carmen  [d.  h.  Hercules  furens,  Scaena  I]  lege- 
batur,  mimus  effigiebat  Junonem  conquerentem  et  inuocantem  furias 
infernales  ad  infestandum  Herculem.  Über  Treveths  Quelle  kann 
man  nicht  im  Zweifel  sein:  er  beruft  sich  in  vorangegangen  Er- 
läuterungen über  das  Wesen  des  Dramas  wiederholt  auf  die  Ety- 
mologien des  Isidorus,  und  hier  finden  sich  im  18.  Buch  Cap.  42  ff. 
verschiedene  Stellen,  die  —  selbst  schon  weit  davon  enfernt,  die 
antiken  Zustände  richtig  darzulegen  —  in  einer  argen  Um-  und 
Mißdeutung,  wie  sie  sich  schon  das  frühere  Mittelalter  erlaubt 
hatte,  auch  von  Treveth  benutzt  worden  sindi).  Da  heißt  es  u.  a.: 
Theatrum:  est  quo  scena  includitur,  semicirculi  figuram 
Habens,  in  quo  stantes  omnes  inspiciunt.  Cuius  forma  primum  ro- 
tunda  erat  sicut  et  amphitheatri;  postea  ex  medio  amphiiheatro  thea- 
trum factum  est.  Theatrum  autem  ab  spectaculo  nominatum,  quod  in 
eo  populus  stans  desuper  atque  spectans  ludos  contemplaretur.  .  . 
Scena  autem  erat  locus  infra  theatrum  in  modum  domus  instructa 
cum  pulpito,  qui  pulpitus  orchestra  vocabatur ;  ubi  cantabant  comici, 
tragici,  atque  saltabant  histriones  et  mimi. .  Ibi  poetae  comoedi  et  tra- 
goedi  ad  certamen  conscendebant,  hisque  canentibus  alii  gestus  ede- 
bant^).  .  .  Die  sonderbare  Umwandlung  aber,  die  bei  Treveth  mit  der 
scena  dieser  Definition,  mit  domus  und  pulpitus  vor  sich  gegangen  ist: 
die  Umformung  in  ein  auf  dem  Theater  stehendes  Häuschen,  in  dem 
ein  Pult  für  den  vorlesenden  Poeten  aufgestellt  ist,  geht  wohl  auf 
eine  Kombination  zurück,  die  Treveth  oder  ein  älterer  Autor,  den 
Treveth  benutzte,  mit  mehreren  Sätzen  des  aus  dem  11.  Jahrhun- 
dert stammenden,  im  ganzen  ausgehenden  Mittelalter  viel  ge- 
brauchten >'Vocabularium«  des  Papias  vorgenommen  hat;  hier  heißt 
es3):  Scena  umbraculum,  ubi  poetae  recitabant  (also  ohne  Beschränkung 
auf  die  dramatischen  Dichter).  .  .  Scena  est  camera,  quae  obumbrat 
locum  in  theatro.  .  Scena  domus  in  theatro  est  structa  cum  pulpito. 
Jene  Worte  des  Isidorus  aber  oder  mittelalterliche  Auseinander- 
setzungen, die  mit  ihnen  zusammenhingen,  muß  —  mindestens 
neben  jener  Erklärung  des  Treveth  —  der  unbekannte  Gelehrte  im 
Sinn  gehabt  haben,  der  dem  ebenso  unbekannten  Miniator^)  unseres 
Theaterbildes  die  orientierende  Skizze  entworfen  hat :  nur  hier  und 
nicht  bei  Treveth  ist  der  populus  [exjspectans  erwähnt,  nur  hier 
steht  das  Wort  amphitheatrum  —  dieses  Wort  hat  offenbar  jener 

1)  Auf  den  Ziisanimenhanf^  mit  Isidorus  weist  C  reizen  ach  hin:  1-,  S.  496. 

2)  Tatsächlich  kommt  es  auf  dem  römischen  Theater  vor,  daß  der  actor  nur  gestikuliert, 
während  ein  anderer  singt,  aber  nur  bei  den  Monodieen,  bei  denen  des  Schauspielers 
Stimme  nicht  zureichte. 

3)  Ich  benutze  eine  Ausgabe  Venedig  1485. 

4)  Stornajolo  S.  329  hält  es  für  möglich,  daß  es  sich  um  einen  Franzosen  handelt. 
Ich  habe  darüber  kein  Urteil  und  möchte  nur  darauf  liinweisen,  dat.5  ich  in  französischen 
Handschriftenkalalogen  keinen  illustrierten  Senecacodex  zu  finden  vermochte. 


Die  Senecaminiatur      Französische  Terenzilluslration.  283 

skizzierende  Gelehrte  an  den  Rand  des  Halbkreises  geschrieben, 
der  Künstler  aber  hat  es  nicht  verstanden,  es  für  den  Namen  einer 
der  gestikulierenden  Personen  gehalten  und  so  einen  ap/üi'co  zwischen 
Hercules  und  Theseus  gestellt,  dem  in  Senecas  Tragödie  auch  nicht 
die  leiseste  Beziehung  entspricht.  Die  ganze  Auffassung  aber  ver- 
bildlicht in  sehr  charakteristischer  Weise  die  wiederholt  i)  erörterte 
Verständnislosigkeit  des  Mittelalters  gegenüber  der  dramatischen 
Poesie  des  Altertums,  die  völlige  Niederreißung  der  Grenzpfähle, 
die  sie  von  der  Epik  trennen:  in  der  hier  vorgeführten  Art  kann 
schließlich  auch  jede  erzählende  Dichtung  vorgetragen  werden. 
Wieweit  diese  epische  Auffassung  geht,  zeigt  besonders  deutlich 
der  Umstand,  daß  hier  außer  den  wirklich  redenden  Personen  auch 
die  fiirie  infernales'^)  abgebildet  werden,  die  doch  nirgends  auftreten, 
sondern  nur  in  Junos  Monolog  genannt  sind:  Juno  weist  abwärts 
auf  sie,  so  wie  sie  mit  der  andern  Hand  aufwärts  auf  den  eben- 
falls ganz  in  epischem  Sinne  angedeuteten  Sternenhimmel  zeigt  3). 
Ob  und  in  welcher  Art  ein  allgemeiner  Zusammenhang  zwischen 
der  italienischen  Klassikerillustration  des  ausgehenden  14.  und  der 
französischen  des  beginnenden  15.  besteht,  kann  hier  nicht  erörtert 
werden,  und  auch  ein  direkter  Zusammenhang  zwischen  der  ita- 
lienischen Seneca-  und  der  französischen  Ter  enz illustrierung  im  be- 
sonderen wird  hier  nicht  behauptet.  Wohl  aber  wird  man  hervor- 
heben dürfen,  daß  Terenz  in  Frankreich  die  Bewegung  einleitet, 
die  dann  so  viele  wundervolle  Leistungen  hervorgebracht  hat  und 
die  ihren  Ursprung  sicher  in  Kreisen  hatte,  die  zu  den  Bibliophilen 
am  französischen  Hofe  in  engsten  Beziehungen  standen.  Während 
die  illustrierte  Liviushandschrift  erst  1413,  die  ebenfalls  mit  Bildern 
verzierte  Handschrift  der  Metamorphosenübersetzung  Ph.  de  Vitrys 
erst  1416  sich  nachweisen  läßt,  hat  die  eine  große  Terenzhand- 
schrift  bestimmt  schon  im  Januar  1408  existiert^).  Für  die  der 
Terenzillustination  besonders  nahestehende  Handschrift  der  Bucolica 
und  Georgica*^)  haben  wir  kein  Datum,  schwerlich  aber  werden 
die  14  Miniaturen  dieses  Codex  die  Anregung  für  die  132  der 
Terenzhandschriften  geboten  haben,  das  Umgekehrte  ist  durchaus 
wahrscheinlich,  und  vor  allem:  die  große  Neuerung  ist  der  Über- 
gang von  der  Initialillumination  zur  Situationsillustrierung,  und  für 


1)  Besonders  durch  Cloetta,  Komödie  und  Tragödie  im  Mittelalter  (Halle  1890 
S.  14ff.  u.  Creizenach  1-  S.  9ff. 

2)  Der  Ausdruck  wieder  bei  Treveth  a.  a.  0. 

3)  Dieser  Sternenhimmel  findet  sich  auch  in  dem  zum  »Herculus  furens«  gehörigen 
Initialbuchstaben  des  oben  S.  280,  Anm    2  erwähnten  Innsbrucker  Codex. 

4)  Vgl.  Delisle,  Le  Cabinet  des  manuscrits  de  la  bibliotheque  nationale  3  (Paris 
1881),  S.  191. 

5)  Cod.  307  der  Bibliothek  des  Lord  Leicester  zu  Holkham  Hall,  Norfolk,  vgl.  Dorez, 
Les  manuscrits  ä  peintures  de  la  Bibliotheque  de  Lord  Leicester  (Paris  1907),  S.  81  f.  u. 
Tafel  40/1. 


284  Das  'Theatruni  Ronianuni'  im  französischen   Terenz. 

sie  haben  wir  beim  Vergil  gar  keine,  beim  Terenz  dagegen  die  ein- 
leuchtendste Erklärung.  Die  Anregung  hat  jedenfalls  beim  Terenz 
jene  Illustration  der  früheren  Jahrhunderte  gegeben,  die  sicherlich 
als  antik  galt  und  gerade  in  Frankreich  durch  besonders  viele 
alte  Manuskripte  vertreten  war,  so  durch  den  jetzigen  Cod.  7899 
der  Pariser  Nationalbibliothek,  der  damals  der  Abtei  von  St.  Denis 
gehörte  i).  In  den  Einzelheiten  der  Szenenillustrationen  findet  sich 
zwar  keine  schlagende  Übereinstimmung  2);  wohl  aber  ist  die  Ge- 
samtanlage merkwürdig  gleich :  im  allgemeinen  zu  jeder  Szene  ein 
Bild  und  vor  dem  Ganzen  eine  Doppeldarstellung,  die  zwar  nicht 
völlig  identisch  ist,  aber  doch  beidemale  ein  Bild  der  Persönlich- 
keit des  Dichters  und  eine  Theatereinrichtung  bietet. 

Das  hierbei  (Abb.  18)  unter  Fortlassung  der  an  sich  reizvollen  Um- 
rahmung wiedergegebene  Titelbild 3)  aus  der  französischen  Terenz- 
handschrift^)  bietet  in  seinem  unteren  Teil  links  eine  uns  kaum 
interessierende  Darstellung  aus  Terenzens  Leben:  der  Dichter,  der 
der  Freigelassene  des  Terentius  Lucanus  ist,  überreicht  seinem  Schutz- 
patron ein  Exemplar  seiner  Komödien.  Darüber  und  auf  der  rechten 
Seite  sehen  wir  wohl  Römer,  die  durch  die  Straßen  der  Stadt  zum 
Theater  gehen  oder  eben  in  dessen  Türen  eintreten.  Die  obere 
Hälfte  aber  zeigt  die  Theateraufführung  selbst,  deren  Gesamtauf- 
fassung lebhaft  an  die  Darstellung  der  Senecahandschrift  erinnert, 
ohne  daß  es  nötig  ist,  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  anzu- 
nehmen. Vor  allem  sitzt  auch  hier  in  der  Mitte  des  Ganzen  und 
wiederum  in  einem  scena  genannten  besonderen  Häuschen  der 
poeta  oder  richtiger  diesmal  der  berühmte  Calliopius  als  sein  Ver- 
treter 5)  und  liest  das  Drama  dem  Publikum  vor,   und  andere  Ge- 

1)  Neuerdings  herausgegeben:  Bibliotheque  nationale.  Departements  des  manuscrits. 
Comedies  de  Terence  (Paris  o.  J.  =  1907). 

2)  Auffallend  ist  vielleicht,  daß  beidemale  die  große  Szene  Andria,  II  3  (Pamphilus- 
Davus)  ganz  ohne  Bild  geblieben  ist  und  daß  III,  1  die  nicht  auftretende  Glycerium  hier 
wie  dort  mit  dargestellt  ist  (in  dem  modernen  Terenz  freilich  auch  in  einigen  andern 
Szenen). 

3)  Nach  einer  eigenen  Aufnahme  des  Ateliers  St.  Thomas  d'Aquino,  Paris, 
45  rue  Jacob.    Originalgröße. 

4)  Es  handelt  sich  eigentlich  um  mindestens  zwei  Codices,  die  den  ältesten  neu- 
französischen Typus  verkörpern :  den  Cod.  lat.  7907A  der  Nationalbibliothek  und  den  Cod. 
Lat.  664  der  Arsenalbibliothek.  Eine  genaue  Untersuchung  ihres  Verhältnisses  und  der 
Beziehungen  zu  den  jüngeren  Terenzhandschriften  kann  nur  in  Paris  vorgenommen  werden; 
ich  hatte  dazu  keine  Möglichkeit,  und  die  zu  erwartenden  Ergebnisse  wären  für  unsere 
Zwecke  auch  ohne  große  Wichtigkeit.  So  begnüge  icii  mich  mit  der  Behandlung  der  be- 
rühmten Arsenalhandschrilt ,  deren  Miniaturen  neuerdings  mit  einer  sehr  eingehenden 
Einleitung  vollständig  veröffentlicht  sind:  Le  Terence  des  Ducs  par  H.Martin  (Paris 
1907);  dort  aucii  p.  18—20,  38,  9,  54  Behandlung  der  andern  Handschriften.  Eine  — 
minderwertige  —  Wiedergabe  des  Titelbilds  im  Codex  der  Nationalbibliothek  bietet  das 
Magasin  pittoresque  1842,  S.  169;  sie  reicht  aus,  um  erkennen  zu  lassen,  daß  die  beiden 
Titelbilder,  ohne  identisch  zu  sein,  in  allem  für  uns  Wesentlichen  übereinstimmen. 

5)  Vgl.  o.  S.  257  f. 


Das  'Tlieatniiii    [{oiiiaiuim'   im   fianzösisclien  Terenz. 


285 


stalten  gestikulieren  dazu.  Anderseits  fallen  auch  die  Unter- 
schiede ins  Auge.  Hier  ist  nicht  der  eigenthche  Schauplatz  ein 
Halbkreis,  an  dessen  Außenseite  völlig  abgesondert  einige  Zuschauer 
sitzen,    sondern   das   ganze  Theater  ist  ein  ovaler  Bau,    dessen 


Abb.  18.    Tlieatnim  Komamim  im  Cod.  Lat.  Ars.  ö64  (vgl   S.  284  it.). 


größter  Teil  innen  von  dem  zuschauenden  populus  Romanus  einge- 
nommen ist.  Dieses  hat  wie  das  mittelalterliche  Publikum  bei 
einer  Fastnachtspielaufführung  die  sämtlichen  Mitwirkenden  ohne 
trennende  Schranken  in  seiner  Mitte.  Zu  diesen  Mitwirkenden  ge- 
hören hier  auch  zwei  Musikanten  zur  Linken  der  scena,  und  aus 
ihr  stürmt  rechts  eine  eigentümliche  gestikulierende  Gestalt  hervor. 
Endhch   sind   die  mimischen  Künstler  keine  bestimmten  Personen 


286  Das  'Theatruin  Romanum"  im  französischen  Terenz. 

aus  einem  terenzischen  Drama,  sondern  vier  seltsame,  verlarvte, 
vermummte  Gestalten,  iociilatores,  die  noch  mehr  zu  tanzen  als  zu 
gestikulieren  scheinen.  Fragen  wir  nach  der  theoretischen  Grund- 
lage dieser  Darstellung,  so  haben  wir  uns  zunächst  an  die  dem 
illustrierten  Codex  vorangehende  „Vita  Terentii"  zu  halten '^),  die  offen- 
bar die  von  dem  französischen  Frühhumanismus  des  14.  und  be- 
ginnenden 15,  Jahrhunderts  vertretenen  Anschauungen  über  das 
Wesen  des  terenzischen  Lustspiels  vorträgt.  Der  völlige  Mangel 
an  einem  Verständnis  für  das  Wesen  des  antiken  Theaters,  den 
wir  bei  Treveth  und  den  ihm  folgenden  Senecaphilologen  Italiens 
gefunden  haben  und  der  uns  in  gleicher  Weise  bei  den  eigent- 
lichen Leuchten  des  italienischen  Frühhumanismus,  auch  bei  Petrarca 
und  Boccaccio  begegnet^),  ist  auch  hier  zu  spüren:  die  Komödie 
w  ird  von  einem  Mann,  von  dem  ominösen  Calliopius  vorgetragen. 
Unmittelbare  Angaben  über  den  antiken  Theaterbau  aber  bietet 
die  Abhandlung  nicht;  der  den  Miniator  beratende  Gelehrte  muß 
sich  also  noch  aus  andern  Quellen  unterrichtet  habend).  Zunächst 
jedenfalls  aus  den  oben  (S.  282)  zitierten  Auseinandersetzungen  des 
Isidorus,  aus  denen  er  inbezug  auf  die  Grundform  des  Theaters 
im  Gegensatz  zu  dem  Senecaillustrator  die  Worte  gewählt  hat: 
Ciiiiis  forma  primiim  rotiinda  erat;  aus  Isidorus  stammen  zweifellos 
auch  die  beiden  Musikanten  neben  der  Scena:  Et  dicti  thymelici, 
qiiod  olim  in  orchestra  stantes  cantabant  super  piilpitiim,  qiiod  thy- 
mele  vocabatiir,  —  allerdings  hat  der  Künstler  sie  nur  mit  organis, 
Blaseinstrumenten,  und  nicht  auch  mit  lyris  et  citharis  ausgestattet. 
Daneben  muß  der  unbekannte  Gelehrte  den  früher  (S.  208  f.)  zitierten 
Senecakommentar  des  Treveth  oder  dessen  mittelalterliche  Quelle 
gekannt  haben;  denn  erst  hier  war,  wie  wir  sahen,  der  pulpitiis 
des  Isidor,  der  die  Orchestra  bedeutet,  auf  der  die  comici  und  tragici 
singen  und  die  histriones  et  mimi  tanzen,  zu  einem  Katheder  für 
den  vorlesenden  Dichter  gemacht  und  in  das  kleine  Haus  auf  dem 
Theater  hineingestellt,  zu  dem  die  scena  des  Isidor  —  locus  infra 
theatrum,  in  modum  domus  instructa — geworden  ist.  Endlich  aber  hat 


1)  Martins  sonst  so  eingehende  Einleitung  zu  seiner  großen  Ausgabe  erwähnt 
diese  Vita  niclit,  wohl  aber  sein  gedruckter  Katalog  der  Handschriften  der  Arsenalbiblio- 
thek  Bd.  2  (Paris  1886)  S.  1  :  fol.  2  Brevis  descriptio  vite  Terencii  poete  comici,  et  pre- 
ambulus  sermo  scolastici  cujusdam  explanantis  fabiilas  sex  comediarum  ejusdem.  Inc.: 
Quamvis  Terencii  probatissinium  opus  satis  illiim  commendet.  Der  so  anhebende  Terenz- 
essay  aber  ist  gedruckt  von  J.  Abel:  Azo-es  közepkori  Terentiusbiograhiäk  (Budapest 
1887)  S.  40ff.  und  zwar  nach  dem  Cod.  7907  A,  dem  andern  jene  Miniaturen  enthaltenden 
Pariser  Codex,  der  somit  den  Essay  ebenfalls  hat.  Er  ist  dort  bei  Abel  schon  in  einer 
Pariser  Hs.  des  14.  Jh.  belegt. 

2)  Vgl.  o.  S.  279. 

3)  Wie  er  dann  aucii  über  (Um  unten  auf  dem  Titelbild  dargestellten  Lucanus  in 
der  hier  behandelten  Biographie  nichts  fand;  von  ihm  wußte  er  vielleicht  aus  Petrarcas 
Terenzbiographie  (Abel  S.  49). 


Das  'Theatrum  Romanuin"  im  französischen  Terenz.  287 

sich  jener  Gelehrte  offenbar  noch  an  einer  dritten  Stelle  unterrichtet: 
in  dem  aus  dem  Ende  des  12.  Jahrlmnderts  stammenden,  aber  noch 
im  15.  handschrifthch  verbreiteten  'Liber  derivationum'  des  Hugutius, 
in  dem  von  der  scena,  die  hier  wie  bei  Papias  mit  ov.fivog,  Schatten 
zusammengebracht  ist,  folgende  Erklärung  gegeben  wirdi):  ...est 
umbraciilam  sive  locus  obumbratus  in  theatro  et  cortinis  coopertiis 
similis  tabernaciilis  mercennariorum,  quae  sunt  asseribus  vel  cortinis 
opertae,  et  secundum  hoc  scena  potest  dici  a  scenos,  quod  est  domus, 
quae  in  moduni  donius  erat  constructa.  In  umbraculo  latebant perso- 
nae  larvatae,  quae  ad  vocem  recitatoris  exigebantur  ad  gestus  facien- 
dos.  In  engster  Verwandschaft  mit  dieser  Darlegung  des  Hugutius  steht 
auch  die  einzige  theatertechnische  Erklärung,  die  jene  dem  Codex 
beigegebene  „Vita  Terentii"  enthält2).  Die  beiden  ganz  verschiedenen 
scenae  aber:  das  kleine  Haus  des  Treveth,  in  dem  der  Vorleser 
des  Stückes  am  Pult  sitzt,  und  das  aus  Balken  gebaute,  mit  Vor- 
hängen versehene  Haus  des  Hugutius,  aus  dem  die  stummen  Per- 
sonen kommen,  um  die  Gesten  zu  jener  Vorlesung  zu  machen,  hat 
unser  Terenzerklärer  bei  der  Information  seines  Miniators  zu  einem 
Gebilde  verschmolzen,  und  auf  solche  Art  ist  jene  seltsame  Dar- 
stellung auf  unserm  Bilde  entstanden:  das  von  Balken  gebildete 
Häuschen,  scena  genannt,  in  dem  vorn  Calliopius  lesend  am  Pult 
sitzt,  während  rechts  aus  dem  die  Seite  des  Häuschens  verhüllen- 
den Vorhang  eine  Gestalt  heraustanzt,  offenbar  bestimmt,  die  vier 
andern  abzulösen,  die  augenblicklich  vorn  gestikulieren  und  springen. 
Scena  est  portio  actus  multarum  aut  solius  personarum  solitariam 
vel  alternam  ostendens  prolocutionem  cum  gestibus  —  dieser  neben 
dem  oben  herangezogenen  Passus  der  ,,Vita  Terentii"  stehende  Satz 
wird  auf  solche  Art  illustriert. 

Wenn  aber  trotzdem  oben  nicht  nur  diese  Vita  neben  Isidorus 
und  Treveth  für  die  Quelle  des  Pariser  Terenzphilologen  angesehen, 
sondern  auch  auf  Hugutius  verwiesen  wurde,  so  geschah  das  vor 
allem  auch  im  Hinblick  auf  die  eben  erwähnten  tanzenden  Gestal- 
ten. Joculatores  heißen  sie  in  der  Unterschrift  unseres  Bildes 
—  dieser  Ausdruck  für  histriones  und  niimi  aber  findet  sich 
lediglich  im  „Liber  derivationum"  und  den  von  ihm  abhängigen 
Nachschlagewerken:  mimus  ioculator  et  proprie  reruni  humanaruni 
imitator,  sicutolim  erant  in  recitatione  comediarum,  quia  quod  verbo 


1)  Icli  benutze  das  Werk  in  dem  Berliner  Ms.  lat.  511  [fol  213j,  das  aus  dem 
14.  Jh.  stammt.  Jener  Terenzphilolog  kann  statt  des  Hugutius  ülirigens  aucli  den  Johannes 
de  Janua  vor  sich  gehabt  haben,  dessen  'Catholicon'  den  'Liber  derivationum'  ungeniert 
ausschreibt,  so  wie  noch  im  letzten  Viertel  des  15.  Jh.  die  Weisheit  des  unter  Reuchlins 
Namen  gehenden  "Vocabularius  breviloquus'  aus  der  gleichen  Quelle  stammt. 

2)  .  .  scena  vere  dicatur  iimbracuhim  Habens  cortinam  protensam  a  quo  emithintur 
personae  quae  luquuntur  \^cum  gestibusJi  vocem  recitatoris  imitantes  .  .  Abel, 
S.  43,  ZI.   18  ff. 


288 


Das  'Theatrum  Roinanum'  im  franzüsischeii  Terenz. 


recitator  dicebat  mimi  motu  corporis  exprimebanü).  Diese  ioculatores 
sind  hier  mit  Masken  versehen;  man  hat  die  Wahl,  diese  Masken 
entweder  auf  einen  Zusammenhang  mit  den  frühmittelalterlichen 
Terenzillustrationen  zurückzuführen,  auf  denen  die  Personen  ja 
Masken  tragen,  oder  auf  den  Ausdruck  personae  larvafae,  den  Hugu- 


Abb   19.    Terentius,  Andria  1,  ö  im  Cod.  Ars.  ß()4,  links  v.  240 ff.,  rechts  v.  2fi7ft.  (vgl.  S.  290). 


tius  braucht,  oder  endlich  darauf,  daß  die  populären  ioculatores, 
die  „Jongleurs"  tatsächlich  im  Mittelalter  gern  maskiert  auftraten'^). 
Dafür  daß  die  zuletzt  angedeutete  Vorstellung  wenigstens  mit 
hineinspielt,  spricht  wohl  die  phantastische  Vermummung  der  Ge- 
il In  entschiedenem  Ansciiluü  an  Papias,  bei  dem  sich  aber  der  entscheidende  Ans- 
dfuck   ioculator  nicht  findet. 

2)  Vgl.   H.  Reich,  Der  Mimus  1  (Berlin  1903),  S.  807  ff.  —  Über  die  a/We  .s/)e/en  s.u. 


Die  Szent'iil)il(ier  im   fiaiizösi.scheii  Terenz. 


289 


stalten,   auf  die   der  Zeichner  gewiß   nur  durch  den  Gedanken  an 
die  Verkleidungen  der  Jongleurs  geführt  wurde. 

Hat  dieses  Titelbild  somit  ein  gewisses  theatergeschichtliches 
Interesse,  weil  es  uns  .vielleicht  die  mittelalterlichen  ioculatores 
zeigt,  die  immerhin  in  einem  wenn  auch  losen  Zusammenhang  mit 
dem  Theater  stehen,  und  weil  es  uns  die  Vorstellung  deutlich 
macht,  die  ein  Altertumsforscher  im  Beginn  des  15.  Jahrhunderts 
von   einer  antiken  Aufführung  hatte,   so  geben  die  nun  folgenden 


Abb.  20.     Terentius,  Eunuchus  II,  2  im  Cod.  Ars.  664,  links  v.  270ff.,  rechts  v.283. 


132  Einzelminiaturen,  so  stark  ihr  künstlerischer  Reiz  ist,  für  unsere 
Zw^ecke  gar  nichts  her,  sondern  sind  in  genau  der  gleichen  Weise 
lediglich  Buchillustrationen  wie  die  Initialminiaturen  der  Seneca- 
handschriften.  Daß  sie  keinen  Versuch  darstellen,  die  einzelnen 
Szenen  der  terenzischen  Komödien  gemäß  der  damaligen  Anschau- 
ung vom  Wesen  der  antiken  Bühne  zu  rekonstruieren,  muß  jedem, 
der  das  soeben  in  solchem  Sinne  kommentierte  Titelbild  auch  nur 
mit  den  beiden  von  uns  hier  gebrachten  Proben  i^Abb.lO — 20)  aus  der 
Reihe  der  Szenenbilder  vergleicht  i),  ohne  weiteres  klar  sein:  hier  ist 

1)  Zu  Andria  1,5  und  Eunuchus  11,3.    Ebenfalls  nach  eigenen  Aufnahmen  des  Ateliers 
St.  Thomas  d'Aquin  in  Paris.     Originalgröße. 

H  e  r  r  m  a  n  u  .  Theater.  19 


290  D'^  Szenenbilder  im  französischen  Terenz. 

keine  Spur  von  jenen  tanzenden  Gauklern,  die  dort  das  vorgelesene 
Wort  zu  ergänzen  haben.  Von  wirklichen,  wenn  auch  unantik  gehalte- 
nen Terenzaufführungen  aber  ist  im  beginnenden  15.  Jahrhundert 
noch  keine  Rede,  auf  dadurch  hervorgerufene  Eindrücke  können 
die  Szenenbilder  ebensowenig  zurückgehen.  Es  bleibt  die  Möghch- 
keit  einer  Beeinflussung  durch  die  Mysterienaufführungen  des  da- 
maligen Frankreich,  einer  Übertragung  der  mittelalterlichen  Theater- 
verhältnisse auf  die  terenzischen  Szenen,  und  in  solchem  Sinne  hat 
man  i)  tatsächlich  unsere  Bilder  als  Material  für  die  Theatergeschichte 
in  Anspruch  nehmen  wollen,  unbekümmert  darum,  daß  gerade  in 
einer  Sphäre,  in  der  man  die  Vorstellung  vom  antiken  Theater  bis 
zu  bildlicher  Anschauung  gesteigert  hat,  die  Kombination  der  antiken 
und  der  mittelalterlichen  Bühne  beinahe  unmöglich  ist.  Die  dafür  an- 
geführten Gründe  aber  halten  dem  leichtesten  Gegenstoß  nicht  stand: 
daß  die  mimische  Haltung  der  Personen  nicht  sowohl,  auf  Beobach- 
tung des  wirklichen  Lebens  als  auf  Abbildung  von  schauspielerischer 
Art  sich  gründe,  ist  eine  rein  impressionistische  Behauptung,  die 
nur  auf  eine  unbefangene,  aber  unhaltbare  Identifikation  mittel- 
alterlicher und  moderner  Schauspielkunst  zurückzuführen  ist;  die 
unrealistischen  Häuser  sind  so  ganz  Gemeingut  aller  Miniaturen 
dieser  Zeit,  daß  man  auch  ein  paar  gelegentliche  Besonderheiten, 
wie  man  sie  wohl  an  Einzelheiten  der  Terenzcodices  beobachten 
mag,  lieber  auf  jede  andere  Weise  als  durch  den  Gedanken  an 
eine  Nachbildung  mittelalterlicher  Theatereinrichtung  erklären 
soll 2).  Umgekehrt  ist  es  vielmehr  deutlich,  daß  hier  eine  theatra- 
lische Auffassung  gar  nicht  vorliegen  kann.  Der  ständige  Wechsel 
des  Ortes  der  Handlung  von  Szene  zu  Szene  ist  der  epischen 
lilustrationsart  durchaus  gemäß,  der  mittelalterhchen  Bühne  aber 
ganz  und  gar  nicht :  auf  ihr  schreiten  die  Personen  doch  nur  dann 
an  eine  andere  Stelle  des  Schauplatzes,  wenn  die  Hergänge  es  ver- 
langen, während  hier  die  Darstellung  einer  neuen  Lokalität  Selbst- 
zweck ist.  Warum  spielt  die  Szene  Andria  I,  5  zwischen  Pamphilus 
und  Mysis  (vgl.  Abb.  19)  plötzlich  draußen  auf  dem  Lande  in  einer 
Hügellandschaft,  die  gewiß  kein  mittelalterlicher  Regisseur  bauen 
oder  auch  nur  benutzen  würde,  während  das  vorhergehende  Bild  den 
Pamphilus  unmittelbar  an  dem  Hause  zeigt,  aus  dem    Mysis   eben 


1)  H.  Martin  a.  a.  0    S.  42/4 

2)  Martin,  dem  ausgezeichneten  Miniaturenkenner,  ist  diese  Üliereinstimmun":  der 
Terenzhäüser  mit  den  Häusern  auf  Miniaturen,  die  ganz  andere  Dinge  darstellen,  natürlich 
eine  Binsenwahrheit.  Trotzdem  suggeriert  er  sich  die  Möglichkeit  „de  songer  ä  de  veri- 
tables  decors  de  theatre".  Was  er  in  dieser  Beziehung  zu  Bild  57  seiner  schönen  Aus- 
gabe sagt,  ist  mir  offen  gesagt  nicht  verständlich;  aber  auch  die  ilun  wohl  cutscheidende 
Beobachtung  zu  Bild  120  hält  nicht  Stich:  wir  brauchen  uns  nur  zu  denken,  daß  rechts 
von  der  Sostrata  das  Zinuner,  in  dem  sie  sich  befindet,  sich  noch  fortsetzt,  durch  eine 
schräge  Wand   von  dcni   '/immer  der   FraiuMi  getrennt,  und   alles   ist  in   Ordnung. 


Terenzminiaturen  des  späteren  15.  .Jalirliiirulerls. 


291 


herauskommt?!)  Gegen  irgendeinen  theatralischen  Sinn  dieser 
Miniaturen  spricht  ferner  der  Umstand,  daß  auf  nicht  wenigen  von 
ihnen  Dinge  mitdargestellt  werden,  die  bei  Terenz  nicht  vorgeführt, 
sondern  nur  erzählt  werden.  Und  vor  allem:  entscheidend  ist  jene 
offenbar  vorhandene-)  völlige  Übereinstimmung  mit  der  Darstellungs- 
manier in  dem  Vergilcodex  des  Lord  Leicester  —  der  deutlichste 
Beweis  dafür,  daß  auch  bei  Terenz  keine  besondere  Berücksichti- 
gung des  Theaters  erfolgen,  sondern  nur  die  damals  übhche  Bücher- 
illustration geboten  werden  sollte. 

Die  Tätigkeit  der  französischen  Miniatoren  für  den  Terenz  ist 
mit  der  Ausstattung  der  beiden  großen  Codices  und  ihren  unmittel- 
baren Nachbildungen 3)  nicht  erschöpft,  und  auch  in  Italien  tauchen 
im  15.  Jahrhundert  illustrierte  Terenz- 
handschriften  auf^).  Schließlich  finden 
sich  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  fran- 
zösische Codices,  in  denen  wie  in  den 
Senecahandschriften  des  14.  Jahrhunderts 
jedes  Drama  nur  mit  einer  einzigen  Illu- 
stration ausgestattet  isfä).  Es  handelt 
sich  nicht  mehr  wie  dort  um  Initialen- 
ausschmückung, aber  von  irgendwelchem 
theatralischen  Element  ist,  wie  das  zum 
„Eunuchus"  (I,  1)  in  der  kleinen  Hand- 
schrift 1135  der  Pariser  Arsenalbibliothek 
gehörige  Bild  (Abb. 21)  zeigen  mag^),  auch 
hier  in  keiner  Weise  die  Rede,  Und  keine 
Brücke  führt,  so  scheint  es,  von  diesen  Aus- 
läufern der  Handschriftentradition  zu  der 
nun  einsetzenden  Bücherillustration  hin"). 


Abb.  21.  Terentius,  Eunuchus  I,  1 
im  Cod.  Ars.  1135. 


1)  Martin  S.  44  nimmt  gerade  diesen  Wechsel  als  eine  Übereinstimmung  mit  dem 
mittelalterlichen  Theater  an. 

2)  Ich  muß  mich  für  diese  Erklärung  allerdings  mit  den  von  -Dorez  gebotenen 
Reproduktionen  begnügen.  Eine  genaue  Vergleichung  mit  der  Darstellungsart  in  andern, 
nichtdramatischen  Codices,  die  aus  der  gleichen  Schule  stammen  wie  die  Terenzhand- 
schrift,  wäre  im  übrigen  nur  in  Frankreich  durchzuführen. 

3)  Codd.  lat  7907  und  8193  der  Pariser  Nationalbibliothek.  Über  sie  Martin 
S.  19  f.     Dazu  vielleicht  auch  noch  Cod.  nouv.  acq.  lat.  458  v.  J.  1438. 

4;  Ich  notiere  nach  Katalogen:  Cod.  10  der  Bibliotheca  Florio  in  Udine  (1463  in 
Ferrara  geschrieben,  Initialen)  und  Cod.  151  in  Vicenza.  Auch  Handschriften  der  Pariser 
Nationalbibliothek  sind  nach  Martin  S.  19  italienischen  Ursprungs. 

5)  Zu  ihnen  gehört  wohl  auch  der  Cod.  Escor,  d.  IV 4  in  Madrid. 

6)  Wiederum  nach  einer  .\nfnahme  durch  das  Atelier  St.  Thomas  d'Aquin  in  Paris. 
Originalgröße. 

7)  Ob  etwa  ein  Zusammenhang  zwischen  den  Terenzminiaturen  und  den  Miniaturen 
in  den  Handschriften  geistlicher  Spiele  Frankreichs  besteht  (z.  B.  Ms.  frauQ.  7206  u.  7208 
der  Nationalbibliothek,  6431  der  Arsenalbibliothek),  ist  eine  Frage,  die  erst  im  Zusammen- 
hang mit  der  dringend  notwendigen    kritischen  Untersuchung    der   letztgenannten  lllustia- 

19* 


292  Der  Ulmer  'Eunuchus". 

Der  Ulmer  'Eiuiuchus'. 

Das  erste  Einsetzen  erfolgt  in  einer  sehr  versteckten  Ecke: 
in  Ulm,  und  es  ist  die  Übersetzung  einer  Terenzischen  Komödie, 
die  zuerst  mit  Illustrationen  geschmückt  ist.  Hans  Nithart,  ein 
hoher  Beamter  des  Ulmer  Gemeinwesens,  ein  gelehrter  Freund  und 
Kenner  antiker  und  humanistischer  Schriftsteller  und  ein  guter 
Stilist,  hat,  von  ähnlichen  Tendenzen  ausgehend  wie  Albrecht  von 
Eyb,  ohne  die  Höhe  seiner  populären  Sprachkunst  ganz  zu  erreichen, 
sich  an  die  Verdeutschung  von  Klassikern  gewagt.  Das  einzige 
Werk  der  Art,  das  auf  uns  gekommen  ist,  ist  der  „Eunuchus"  des 
Terenz.  Der  Ulmer  Drucker  C.  Dinckmut  hat  ihn  1486  unter  die 
Presse  gehen  lassen  mit  den  Illustrationen,  auf  die  es  hier  ankommt i). 

Der  Gesamtcharakter  dieser  Ulmer  Terenzillustrationen  ist  zu- 
nächst nicht  derart,  daß  man  ohne  weiteres  an  eine  Nachahmung 
der  alten  Terenzbilder  aus  dem  9.  bis  11.  Jahrhundert  denken 
möchte.  In  den  Bewegungen,  in  den  Kostümen,  in  der  Darstellung 
der  Lokalität  die  größten  Unterschiede,  vom  künstlerischen  Gesamt- 
stil gar  nicht  zu  reden.  Und  trotzdem  scheint  mir  manches  dafür 
zu  sprechen,  daß  ein  Zusammenhang  vorliegt.  Zunächst  entspricht 
das  ganze  Bestreben,  das  wir  so  voraussetzen:  das  Bestreben,  bei 
der  Herstellung  neuer  Holzschnitte  eine  Anknüpfung  an  alte  Hand- 
schriftenillustrationen zu  suchen,  durchaus  der  Praxis,  die  wir 
anderweitig  für  den  gleichen  Künstler,  der  in  Dinckmuts  Auftrag 
die  Terenzbilder  hergestellt  hat,  nachzuweisen  vermögen:  bei  der 
Anfertigung  der  Zeichnungen  zu  der  alten  Fabelchronik  von  Thomas 
Lirer,  die  im  Januar  des  gleichen  Jahres  1486  die  Presse  verließ, 
hat  er  sich  an  handschriftliche  Zeichnungen  gehalten,  wie  sie  z.  B. 
in  dem  Münchener  Cod.  Germ.  436  vertreten  sein  mögen.  Es  stimmt 
ferner  die  Gesamtanlage   der  Illustrationen   hier    und  in  den  alten 


tionen  behandelt  werden  kann.  Ich  glaube  kaum  an  das  Vorhandensein  eines  Zusammen- 
hangs, wenigstens  nicht  für  die  Hss.  des  15.  .Jh.,  und  keinesfalls  haben  etwa  die  Bilder 
zu  den    neueren  Spielen  die  Anregung  für  die  Terenzillustrationen  geboten. 

1)  Hain  N.  1.5  436.  Exemplare  z.  B.  Göttingen,  Universitätsbibiothek ;  Berlin,  Kgl. 
Kupferstichkabinett,  —  nach  dem  letztgenannten,  schön  erhaltenen  Exemplar  sind  mit 
freundlicher  Genehmigung  der  Direktion  unsere  Abbildungen  gefertigt.  Die  Originalgröße 
der  Holzschnitte  beträgt  durchschnittlich  18,8x12,2  cm;  Abb.  22  entspricht  ihr  einiger- 
maßen, bei  den  übrigen  (23—30)  ist  die  Seitenlänge  auf  die  Hälfte  verkleinert. 

Über  die  litterarische  Seite  dieser  Übersetzung  vgl.  H.  Wunderlich,  Forschungen  zur 
neueren  Litteraturgeschichte,  Michael  Bernays  gewidmet,  S  201  ff.,  von  den  Illustrationen 
spricht  er  nicht;  s.  auch  MGDESchG.  3,  S.  1  ff.  u.  Hartmann  (vgl.  o.  S.  257,  Anm.  2),  passim 
Erwägenswert  wäre  es,  ob  nicht  der  Cod.  Lat.  Mon.  21302  mit  N.s  Übertragung  zusammen- 
hängt. Er  stammt,  wie  der  Katalog  angibt,  aus  dem  15.  Jh.  und  aus  Ulm  und  enthält 
'Terentii  comoediae  cum  interpretationibus  scolasticis,  partim  germanicis  dialecti  suebici'. 
Verschiedene  von  den  Ulmer  Handschriften  der  Münchener  Bililiothek  haben  im  Anfang 
des  15.  .lahrhunderts  einem  Vorfahren  des  Hans  Nithart:  Heinricii  Nithart  gehört;  vgl. 
über    die    N.sche    Hililiolhek   Felix    Fal)ri,    De    Civitate  Uimensi  ed.   Veesenmever  S.   95. 


Der  Ulnicr  TümiHluis' 


293 


Abb.  22.  Uhner  "Eunuchus'  IV,  4  (v.  (ifiü  ff.) 


294  Zusammenhang  des  Ulmer  'Eunuchus'  mit  den  alten  Miniaturen. 

Handschriften  insofern  überein,  als  für  jede  Szene  ein  besonderes 
Bild  gegeben  wird.  Ferner  ist,  keineswegs  immer,  aber  doch 
manchmal,  die  Anordnung  der  Personen  hier  und  dort  die  gleiche, 
und  das  fällt  namentlich  bei  einer  der  figurenreichsten  Szenen,  bei 
Eunuchus  111,2  auf,  wo  wir  fast  völlige  Übereinstimmung  finden. 
Sehr  bemerklich  macht  sich  ferner  in  den  Ulmer  Illustrationen  das 
Prinzip:  wenn  in  den  letzten  Worten  einer  Szene  auf  das  Heran- 
nahen einer  neuen  Person  hingewiesen  wird,  diese  Person  mit  auf 
das  Bild  zu  bringen ,  während  im  übrigen  keineswegs  immer  der 
letzte  Augenblick  der  Szene  von  dem  Künstler  festgehalten  wird. 
Das  ist  nun  zwar  in  den  alten  Illustrationen  bei  weitem  nicht 
überall  der  Fall,  aber  sehr  auffallend  tritt  es  doch')  in  der  Szene 
111,4  hervor,  in  der  es  sich  nur  um  einen  Monolog  des  Antipho 
handelt ,  wo  aber  die  Illustration  in  beiden  Fällen  doch  auch  schon 
den  in  Antiphos  letzten  Worten  angekündigten  Chaerea  eben  aus 
der  Tür  treten  läßt.  Man  könnte  natürlich  zunächst  auch  denken, 
daß  nicht  die  alten  Terenzbilder,  sondern  die  Miniaturen  der  fran- 
zösischen Codices  des  15.  Jahrhunderts  dem  Ulmer  Künstler  vor 
die  Augen  gekommen  seien,  und  tatsächlich  stimmt  auch  hier 
manches  merkwürdig  überein:  der  Rosenkranz  der  Dorias  z.  B.  auf 
dem  Bilde  zu  IV,1,  und  das  Erscheinen  von  Chremes  und  Thais 
oben  am  Fenster  bei  IV,7^);  im  Ganzen  aber  überwiegt  doch  die 
Verwandtschaft  mit  den  älteren  Illustrationen,  und  bemerkenswert 
ist  es  auch,  daß  die  bei  den  Pariser  Miniaturen  beliebte  Vereinigung 
von  zwei  Momenten  einer  Szene  auf  einem  Bilde  (vgl.  o.  Abb.  19 
u.  20,  S.  288  f.)  bei  dem  Ulmer  Meister  nicht  zu  finden  ist. 

Eine  weitere  Frage  ist  die:  lag  etwa  im  Jahre  1486  eine  be- 
sondere äußere  Veranlassung  vor,  sich,  unter  Anlehnung  an  alte 
Handschriftenbilder,  an  eine  illustrierte  Terenzausgabe  zu  wagen? 
H.  Wunderlich  hat  aus  sprachlichen  Gründen  die  Entstehung  der 
Übersetzung  schon  in  die  70  er  Jahre  des  15.  Jahrhunderts  ver- 
legt. Wieso  tritt  sie  jetzt  hervor  und  wieso  wird  bei  ihrer  Ver- 
öffentlichung zugleich  auch  dem  Auge  eine  Anregung  geboten? 
Das  Jahr  1486  ist  für  die  Theatergeschichte  ein  Jahr  allerersten 
Ranges:  das  Jahr,  in  dem  das  antike  Drama  zu  einer  nun  nicht 
mehr  abbrechenden  Reihe  von  Aufführungen  belebt,  das  Jahr,  in 
dem  dadurch  der  Grundstein  zu  dem  modernen  Theater  überhaupt 
gelegt  wurde.  Zwar  haben  schon  wenige  Jahre  vorher,  vielleicht 
im   Jahre  1484,    in   Rom   Aufführungen    antiker  Dramatiker    statt- 


1)  Die  Nachbildungen,  die  die  alten  Zeichnungen  bisher  erfahren  haben,  stellt 
Engelhardt  zusammen:  a.  a.  ().  S.  94ft. ;  seitdem  ist  noch  eine  ausgezeichnete  Wieder- 
gabe der  Pariser  Handschrift  dazugekommen:  s.  o.  S.  284,  Anm.   1. 

2)  Auffallen  mag  auch  die  Ähnlichkeit  zwischen  dem  Holzschnitt  zu  1,  1  (Abb.  28) 
undderEunuchusminiatiu' aus  dem  jüngeren  Terenzkodex  (Abb.  21,  S.  291):  mit  der  in  der 
Ferne  erscheinenden  Thais. 


Zusammenhang  des  Ulmer    Eiinuchus'   mit  gleichzeitijjen  Terenzauffülirungen. 


295 


gefunden.  Leider  sind  wir 
über  ihre  Art  im  besondern 
nur  recht  dürftig  unterrich- 
tet; wir  wissen,  dal.i  der 
große  Philolog  Pomponius 
Laetus  mit  seinen  Schülern 
sie  veranstaltete,  und  in 
einem  Widmungsbriefe,  den 
SulpiciusVerulanus,  der  Her- 
ausgeber der  ersten,  im  Jahre 
1486  zu  Rom  erschienenen 
Ausgabe  des  Vitruv  an  den 
Cardinal  Raphael  Riarius 
richtete  und  jenem  Drucke 
beigab,  heißt  es:  Tu  etiam 
primiis  picturatae  scenae  fa- 
dem,quom  Pomponianae  co- 
moediam  agerent,  nostro  sae- 
culo  ostendisti.  Es  muß  sich 
also  um  Aufführungen  mit 
einer  gemalten  Dekoration 
gehandelt  haben.  Viel  be- 
deutsamer aber  sind  die  Dar- 
stellungen antiker  Komödien, 
die  der  größte  Festefeierer 
Italiens,  der  Fürst  Ercole 
d'Este  seit  dem  Jahre  1486 
in  seiner  Residenz  Ferrara 
veranstaltete,  freilich  mehr 
den  Zwischenspielen  und 
dem  Prunk  zu  Liebe,  den 
er  in  ihnen  entfalten  konnte, 
als  um  das  echte  antike 
Drama  wieder  lebendig  wer- 
den zu  lassen  1).  Immerhin 
aber  war  zum  Beispiel  die 
Leuchte  der  damaligen  Fer- 
rareser  Universität,  der  jün- 
gere Guarino  als  Übersetzer 


1)  Vgl.  über  diese  Aufführungen 
besonders  Flechsig,  Die  Dekoration 
der  modernen  Bühne  in  Italien,  Leip- 
zig, Diss.  phil,  1894,  S.  lOff.  und 
Creizenach,  Geschichte  des  neu- 
eren Dramas  2  (Halle  1901),  S.  217  ff., 
auch  1-  (19111,  S.  572  Anm.  2. 


Ahi>.   23.     Ulmer   „Eunuchus"   I,   1. 


Abb    24.      Ulmer  „Eunuchus"   11,2  [y.  270  ff. 


296      Zusammenhang  des  Ulmer  "Eunuchus"  mit  gleichzeitigen  Terenzautführungen. 


Abb.  25.     Uhner  „Eunuchus"  II,  3  (v.  293  ff.j. 


Abb.    2(i.     Uhner   „Kuiuuluis"  111, 1   (v.  398  ff. 


an  diesen  Aufführungen  be- 
teiligt, und  so  wird  man  sie 
auch  niclit  völhg  in  un- 
antikem, mittelalterlichem 
Geiste  gehalten  haben.  Von 
der  Notwendigkeit,  die  Hand- 
lung vor  den  Häusern  der 
meistbeteiligten  Personen 
von  statten  gehen  zu  lassen, 
hatte  man  sich  offenbar  über- 
zeugt, und  so  wissen  wir  denn 
z.  B.,  daß  in  der  am  25.  Januar 
1486  erfolgten  allerersten 
Aufführung  dieser  Art,  einer 
Vorstellung  der  plautinischen 
Menaechmen,  fünf  Häuser, 
jedes  mit  Zinnen  gekrönt 
und  mit  Tür  und  Fenster 
versehen  dargestellt  wurden. 
Anderseits  aber  hat  schon 
die  ältere  Forschung  mit 
Recht  hervorgehoben,  daß 
aus  den  Versen,  mit  denen 
der  eben  erwähnte  Guarino 
den   Schauplatz   beschreibt: 

Vidimus  effictam  celsis 
cum  moenibus  iirbem 

Stnictaque  per  latas  tecta 
superba  vias, 
eine  straßenartige  Anlage 
der  Häuser  im  mittelalter- 
lichen Sinne  sich  ergibt,  die 
also  wohl  noch  plastisch, 
nicht  rein  dekorativ  gehalten 
waren. 

Diese  Aufführungen  nun 
machten  offenbar  Sensation 
in  dem  ganzen  renaissance- 
frohen Italien  und  darüber 
hinaus  in  all  denjenigen  Län- 
dern, in  denen  die  Anhänger 
des  jungen  Humanismus  ihre 
Blicke  auf  die  jenseits  der 
Alpen  sich  immer  entschie- 
dener entfahende  Wiederbe- 
lebung:  antiker  Kultur  rieh- 


ZiisammcMilianu;  des  Uliner    lüiiiuclius"   mit  i>l''it'lizt'itigen  Terenzaiifführungen.        297 


teten.  In  Mantiia,  in  Mailand, 
in  Urbino  und  anderwärts 
ahmte  man  diese  Vorfüh- 
runi^en  alsbald  nach,  und  in 
humanistischen  Gedichten 
wurde  ihr  Ruhm  der  Welt 
verkündet;  aus  dem  einen 
solcher  Lobgedichte  haben 
wir  vorhin  eine  Probe  ge- 
boten. Gewiß  drang  die 
Kunde  von  dieser  neuen  Er- 
rungenschaft auch  zu  uns 
nach  Deutschland  i);  zwi- 
schen Ferrara  und  Augsburg 
z.  B.  hatten  schon  in  den 
Tagen  Ulrich  Gossembrots 
Beziehungen  bestanden,  und 
zumal  die  Persönlichkeit  Gu- 
arinos,  zu  dem  man  von  aller 
Welt  her  wallfahrte,  um 
Griechisch  zu  lernen,  wird 
besonders  geeignet  gewesen 
sein,  auch  in  Ulm  ein  bren- 
nendes Interesse  für  diese 
große  und  neue  Leistung  zu 
erwecken.  So  werden  wir 
wohl  nicht  fehl  gehen,  wenn 
wir  annehmen ,  daß  die  Kun- 
de von  der  im  Januar  1486 
erfolgten  Vorführung  einer 
antiken  Komödie  im  glei- 
chen Jahre  auch  den  Te- 
renz-Übersetzer  Hans  Nit- 
hart  veranlaß  te,  seinen 
Drucker  zu  einer  Ausgabe 
des  von  ihm  übersetzten 
'Eunuchus'  zu  bestimmen, 
die  dem  Auge  durch  Illustra- 
tionen wenigstens  einen  Er- 
satz für  die  Aufführung  bot. 
Nicht    unmöglich,    daß  ihm 


1)  Woher  meine  Angabe  (MGDESchG. 
3,  S,  14)  stammt,  1486  habe  in  Wien 
eine  Aufführxmg  des  'Eunuchus'  statt- 
gefunden, vermag  ich  leider  nicht  zu 
sagen. 


Abb.  27.      Uhner  „Eunuchus"   IV,  5  (v.  7.39). 


il/mjTi. 


VAXimno 


Abb.  2S.     Ulmer  „Eunuchus"   V,  ö  iv.  i»7ü  ff. 


298 


Der  Ulmer  'Eunuclms'. 


Abb.  29      Ulmer  „Eunuchus"  V,  ti  (v.  1002  ff. 


€bcvu 


V^XitiA 


etwa  jenes  vorhin  zitierte 
Gedicht  des  Guarino  bekannt 
geworden  ist:  auch  auf  den 
Ulmer  Bildern  sehen  wir  fast 
überall  Stadtmauern ,  Häuser 
und  Straßen  vor  uns,  wie  sie 
nach  jener  Beschreibung  in 
Ferrara  den  Schauplatz  ge- 
schmückt hatten. 

Anderseits  aber  zeigt  es 
sich  nun  deutlich,  daß  der 
Illustrator  die  lebendige  Auf- 
führung selbst  nicht  mitan- 
gesehen haben  kann:  er  hat 
alles  vom  Dramatischen  ins 
Epische  oder  auch  ins  ganz 
Sinnlose  übersetzt:  denn  es 
ist  nicht  etwa,  wie  es  der 
Hergang  gebot,  auf  sämt- 
lichen Bildern  der  Straßen- 
schauplatz festgehalten,  son- 
dern ähnlich  wie  auf  den 
f ranzösi  sehen  Terenzminia- 
turen  aus  dem  Anfang  des 
Jahrhunderts  ist,  selbst  da, 
wo  es  sich  um  die  Illustra- 
tion unmittelbar  aufeinan- 
der folgenden  Szenen  han- 
delt, in  denen  fast  dieselben 
Personen  vor  uns  stehen,  das 
Straßenbild  regelmäßig  ein 
anderes  geworden;  ein  oder 
zwei  Male  werden  wir  auch 
von  draußen  herein  ins  In- 
nere eines  Zimmers  geführt. 
Auch  rein  künstlerisch  be- 
trachtet steht  in  diesen  Bil- 
dern die  Vorführung  des  Lo- 
kals am  tiefsten;  die  Anlage 
der  Straßen  und  die  Darstel- 
lung der  Häuser  haben  etwas 
Kindliches:  sie  sehen  aus  wie 
aus  der  Spielzeugschachtel 
aufgebaut.  Die  beigefügten 
Abbildungen     machen     das 


Abb.  ;5().  Ulmer   „Hmuiclius"    V,  8    (v.  1049  ff  ). 


Der  Ulmer  'Eiinuchus'.  -  ^"9 

ohne  weiteres  klar;  im  übrigen  zeigen  sie  aber  auch,  daß  wir 
uns,  was  die  Darstelhing  der  Personen  betrifft,  auf  einer  Ivünstle- 
rischen  Höhe  befinden,  wie  sie  der  deutsche  Holzschnitt  in  den 
ersten  Jahrzehnten  des  Buchdrucks  nur  selten  erreicht  hat.  Dieser 
Terenzdruck  ordnet  sich  den  schönsten  Erzeugnissen  des  Uhner 
Buchdrucks  ein,  der  wiederum  hinsichtlich  seiner  künstlerischen 
Bedeutung  überhaupt  unter  den  deutschen  Leistungen  jener  Zeit 
so  ziemlich  an  der  ersten  Stelle  steht. 

Hier  haben  wir  nun  weiter  den  Vorteil,  daß  wir  den  Künstler, 
welcher  für  Nithart  und  Dinckmut  diese  Terenzbilder  gefertigt  hat. 
zwar  nicht  mit  Namen  nennen  können,  daß  wir  aber  andere  Lei- 
stungen von  ihm  aufzuweisen  und  deren  Art  mit  seiner  Darstellung 
der  terenzischen  Szenen  zu  vergleichen  vermögen  i).  Vor  allem 
eignet  sich  dafür  der  schon  erwähnte,  sicher  von  ihm  mit  Bildern 
ausgestattete  Druck  der  Lirerischen  Chronik,  weil  dieser  unmittel- 
bar vorher:  im  gleichen  Jahre  1486  vollendet  worden  ist.  Hier  ist 
also  jene  Gelegenheit  gegeben,  durch  einen  Vergleich  dramatischer 
und  nicht  dramatischer  Bilder  auf  etwaige  Zusammenhänge  zwischen 
den  Szenenillustrationen  und  der  im  Künstler  lebenden  Vorstellung 
wirklich  stattgehabter  Aufführungen  in  bezug  auf  Kostüme  wenig- 
stens und  namenthch  in  bezug  auf  Gebärden  einen  Schluß  zu 
tun.  Freilich  hat  die  oben  versuchte  Entstehungsgeschichte 
dieser  Illustrationen  gezeigt,  daß  der  Künstler  unmöglich  eine 
Terenzaufführung  mit  angesehen  haben  kann,  anderseits  aber 
hat  er  doch,  da  man  ihm  von  Ferrara  erzählt  hatte  2),  eine  Vor- 
stellung davon  gehabt,  daß  es  sich  um  etwas  Aufgeführtes  oder 
Aufzuführendes  handelte,  und  so  hat  er  möglicherweise  die  Erinne- 
rungen, die  er  von  den  geistlichen  Aufführungen  oder  von  den 
Fastnachtspielen  seiner  Zeit  in  bezug  auf  die  Art  der  Spieler  sich 
zu  kleiden  und  sich  zu  bewegen  besaß,  auf  die  bildUche  Vorführung 
dieser  antiken  Hergänge  übertragen.  Ist  es  doch  die  Zeit,  in  der 
man  sich  endlich  nach  so  vielen  verständnislos  gebliebenen  Jahr- 
hunderten darauf  besann,  daß  in  den  im  Mittelalter  -für  episch  ge- 
haltenen antiken  Komödien  und  Tragödien  und  in  den  selbständig 
entwickelten  geistlichen  und  weltlichen  Spielen  des  Mittelalters 
schließlich  doch  Leistungen  des  gleichen  poetischen  Formgebietes 
vorlagen.  Ein  Symptom  dafür,  daß  diese  Kombination  jetzt  zustande 
kam,  mag  eine  handschriftliche  Notiz  sein,  die  sich  in  dem  Berliner 
Exemplar  des   alsbald  zu   besprechenden  Straßburger  Terenz   von 


1)  Vgl.  Kristeller,  Kupferstich  und  Holzschnitt  in  vier  Jahrhunderten.  2.  Aufl. 
(Berlin   19  U)  S.  42. 

2)  Bemerkt  mag  in  unserm  Zusammenhange  werden,  dat.?  eine  in  jüngster  Zeit 
hervorgetretene  Beurteilung  dieser  Holzschnitte  (Worringer,  Die  altdeutsche  Buchillu- 
stration, München  1912,  S  55)  erklärt:  „Man  würde  sich  kaum  wundern,  sie  in  einem 
italienischen  Druck  zu  finden." 


300  D^i'  Lyuner  Terenz.     Jodocus  Badius. 

1496  findet  und  wo  das  u.  S.  320  abgebildete  Theatriim  folgender- 
maßen erklärt  wird :  ein  offen  stat  der  weltlichkeit  da  man  zu  sieht, 
iibi  fiunt  chorei,  ludi  et  (?)  de  alys  leuitatibus,  sicut  nos  facimus 
oster  spill. 

Der  Lyoner  Terenz. 

Nach  Frankreich  führt  der  zweite  illustrierte  Terenz;  im  Zu- 
sammenhange mit  Deutschland  bleiben  wir  aber  schon  insofern, 
als  der  Drucker,  der  im  Jahre  1493  zu  Lyon  Terenzens  Lustspiele 
in  einer  kommentierten  und  überreich  mit  Holzschnitten  versehenen 
Ausgabe  erscheinen  ließ*),  ein  Deutscher  gewesen  ist:  der  Nürn- 
berger Johannes  Trechsel,  der  hier  in  Lyon  seit  dem  Jahre  1488 
tätig  war 2).  Dieser  Trechsel  aber  ist  offenbar  gar  nicht  die  Haupt- 
person bei  der  inneren  Entstehung  jener  Ausgabe  gewesen;  das 
war  vielmehr,  wie  die  Forschung  zu  ihrem  Schaden  bisher  zu  wenig 
beachtet  hat,  der  spätere  Gatte  seiner  Tochter:  Jodocus  Badius 
Ascensius.  Dieser  Badius  ist  eine  der  hervorragendsten  Persönlich- 
keiten, die  in  der  Entwicklung  des  Humanismus  eine  Rolle  ge- 
spielt haben.  Vir  in  secularibus  litteris  eruditissimus  et  divinarum 
scripturariini  non  ignarus,  philosophus,  rhetor  et  poeta  clarissimus 
ingenio  excellens  et  disertus  eloqui,  so  charakterisiert  ihn  der  Abt 
Trithemius,  und  auch  Erasmus  sagt  ihm  später  Gutes  nach.  Leider 
aber  ist  bekanntlich  der  französische  Humanismus  so  ziemlich  das 
dunkelste  Gebiet  der  gesamten  neueren  Literaturgeschichte ;  so  oft 
bei  den  bedeutsamen  Beziehungen,  welche  zwischen  Badius  und 
den  meisten  Größen  des  europäischen  Humanismus  bestanden, 
sein  Name  auftaucht,  so  fehlt  es  uns  doch  noch  an  einem  völlig 
ausreichenden  Überbhck  über  sein  gesamtes  Schaffen^),  und  zumal 
für  die  Geschichte  seiner  Jugend  müssen  wir  uns  mit  dürftigen 
und  nicht  immer  kontrollierbaren  Angaben  begnügen.  Und  doch 
wäre  gerade  eine  genaue  Kunde  seiner  Jugendentwicklung  für  die 
internationalen  Beziehungen,  in  die  wir  hier  hineinzuleuchten  haben, 

1)  Hain  N.  15  424.  Exemplar  in  Dannstadt,  Großherzogl.  Hoibibliothek.  Die  hier 
gebotenen  Holzschnittreproduktionen  sind  mit  freundlicher  Genehmigung  der  dortigen 
Direktion  hergestellt.  Die  Originalgröße  des  Gesamttheaters  (Abb.  31)  beträgt  20x13,2  cm, 
die  der  Szenenbilder  durchschnittlich  10,2x12,1  cm.  Abb.  33  kommt  daher  der  Original- 
größe ziemlich  nahe;  bei  den  übrigen  Szenenbildern  ist  aus  Sparsamkeitsgründen  die 
Länge  der  Seiten  auf  ^/',  herabgesetzt. 

2)  Vgl.  über  ihn  ADB.  38,  S.  252  f.  Ob  es  etwa  derselbe  Hans  Trechsel  war,  der  14tt7  das 
Kheinauer  Weltgerichtsspiel  geschrieben  hat  (s.  Mone,  Schauspiele  1,  S.  3041,  vermag  ich 
nicht  auszumachen;  im  Falle  der  Identität  würde  auch  bei  Trechsel  das  Interesse  für  antikes 
und   mittelalterliches  Drama  Hand  in  Hand  gehen. 

3)  Über  seine  Tätigkeit  als  Drucker  belehrt  uns  iieueslerdings  das  auch  sonst  rein 
bibliographisch  vortreffliche  Werk  von  Ph.  Renouard,  Bibliographie  des  impressions  et 
des  Oeuvres  de  Jo.sse  Badius  Ascensius  (Paris  1908),  3  Bde.;  auch  die  voraufgeschickte 
Biographie  (1,  S.  1 — 38|  bedeutet  immerhin  einen  entschiedenen  Fortschritt  iil)er  das  l)is- 
her  Gebotene. 


Badius  und  die  Feirareser  Aiü'l'ülimnjren.  301 

von  der  allerorößten  Bedeutunj^;  immerhin  führt  auch  das  Wenige, 
was  wir  wissen  und  kombinieren  können,  auf  den  richtigen  Weg. 
Badius  ist  im  Jahre  1461  oder  1462  in  Assche  bei  Brüssel  oder 
aber  in  Gent  geboren;  er  hat  besonders  in  Gent  seine  Ausbihlung 
empfangen,  und  die  flandrische  Kultur  hat  offenbar  einen  tiefen 
Eindruck  auf  ihn  gemacht;  er  selbst  bezeichnet  sich  stets  als 
Flamänder,  nicht  als  Brabanter,  und  auch  sein  erster  Biograph 
Trithemius  rechnet  ihn  zu  den  Germanen.  Dann  treffen  wir  ihn 
in  Italien  und  zwar  —  hier  lenken  wir  wieder  auf  die  richtige 
Straße  ein,  die  von  den  ersten  Versuchen  einer  Wiederbelebung 
der  antiken  Komödie  zum  modernen  Theater  führt,  —  in  Ferrara: 
er  gehörte  zu  jenen  wissensdurstigen  Humanisten,  die  zu  Guarinos 
Füßen  saßen,  um  Kenner  der  griechischen  Sprache  und  Literatur 
zu  werden.  Bei  diesem  ferrareser  Aufenthalt  des  Badius  handelt 
es  sich  nun  offenbar  um  jene  Zeit,  in  der  die  fürstliche  Freude 
am  Theater  dem  Plautus  zu  neuem  Leben  verhalf;  daß  er  noch 
der  ersten  Aufführung  der  terenzischen  „Andria"  im  Februar  des 
Jahres  1491  beigewohnt  hat,  ist  zwar  chronologisch  eben  noch 
möglich,  aber  doch  nicht  recht  wahrscheinlich.  Denn  bevor  wir 
ihn  noch  im  gleichen  Jahre  1491  oder  1492  in  Lyon  wieder  finden, 
muß  er  offenbar  noch  anderwärts  mit  Freunden  und  Kennern  der 
antiken  Bühne  zusammengetroffen  sein :  Ferrara  hat  ihm  wohl  den 
Anstoß  gegeben,  eine  bildliche  Vorführung  antiker  Dramen  im 
Auge  zu  behalten;  anderseits  aber  hat  er,  wie  sich  gleich  zeigen 
wird,  Verständnis  dafür  besessen,  daß  sich  jene  ferrareser  Auf 
führungen  von  der  echt  antiken  Art  doch  noch  recht  weit  ent- 
fernten, und  dieses  Verständnis  war  damals  wohl  nur  bei  Pomponius 
Laetus  oder  seinen  Schülern  zu  gewinnen.  Bevor  Badius  nach 
Lyon  kam  (oder  war  es  etwa  schon,  ehe  er  nach  Ferrara  sich  wandte?), 
muß  er  sich  also  an  einem  Orte  aufgehalten  haben,  an  dem  er  die 
Lehren  des  Pomponius  auf  sich  wirken  lassen. konnte i);  das  kann 
entweder  in  Rom  der  Fall  gewesen  sein  oder  aber  auch  in  Paris, 
wo  seit  dem  Jahre  1489  Faustus  Andrelinus,  einer  der  hervor- 
ragendsten Schüler  des  Pomponius  Laetus,  als  Professor  der  Rhe- 
torik und  Poesie  an  der  Universität  tätig  war  und  wo  auch  ein 
anderer  Jünger  der  gleichen  Schule,  Hieronymus  Baibus,  sich  zu 
derselben  Zeit  aufhielt2).  Auf  einen  römischen  oder  Pariser  Auf- 
enthalt des  Badius  weist  auch  noch  ein  anderer  Umstand  hin,  von 
dem  wir  alsbald  im  Zusammenhange  zu  sprechen  haben.    Jedenfalls 


1)  Schwerlich    in  Mantua   odfir   in  V'alence,    wo  er  sich  kurze  Zeit  aufgehalten    hat. 

2)  Über  Faustus  Andrelinus  und  Baibus  vgl.  L.  Geiger:  VKLR.  1,  S.  2  ff.;  233  ff. 
G.Knod  in  »Die  Bibliothek  zu  Schlettstadt«  1889  S.  91  ff.;  besonderes  Interesse  des  Faustus 
Andrelinus  für  Drama  und  Theater  vermögen  wir  allerdings  nicht  zu  belegen,  höchstens 
dadurch,  daß  ihm  einer  seiner  Schüler  eine  Ausgabe  plautinischer  Lustspiele  zugeeig- 
net hat. 


302 


Badius'  Anteil  an  den  Holzschnitten. 


aber  zeigt  es  sich  auch  hier  wieder,  daß  die  Ferrareser  Aufführungen 
den  Anstoß  für  die  weitere  Entwicklung  gegeben  haben. 

Im  Jahre  1491   kam  Badius  nach  Lyon:   an   den   Knotenpunkt 
der   Kulturwege  Frankreichs,   Deutschlands    und  Italiens,    wo    sich 
unter   der  Gunst    dieser  Verhältnisse   eben   damals  der  Buchdruck 
zu  einer  Blüte  entwickelte,  die  der  Herrlichkeit  Venedigs  auf  diesem 
Gebiete  wenig  nachstand.  Zu  jenem  Trechsel  trat  nun  Badius  offenbar 
als  gelehrter  Korrektor  in  Beziehung,   und   der  Inhaber  der  Firma 
wußte    ihn    alsbald    in    sein  Haus  zu  ziehen   und   als  literarischen 
Berater    an   sein  Geschäft  zu  fesseln.     Hier    nun  beschloß  Badius, 
sein  aus  Ferrara,   Rom  und  Paris  mitgebrachtes  Interesse   für  die 
antike  Komödie   und    für    die    lebendige  Anschauung   ihrer  Bilder 
dadurch   zu   betätigen,     daß    er   im  Verlage   Trechsels    1493   jene 
Terenzausgabe  erscheinen  ließ.    Er  erwarb  nicht  nur  den  Kommen- 
tar des  berühmten  Terenzforschers  Guido  Juvenalis  und  veranlaßte 
diesen  Gelehrten,    ein    paar  Geleitbriefe  beizusteuern,    die    freilich 
für  die  Theatergeschichte  nichts  irgendwie  in  Betracht  Kommendes 
enthalten;    er   fügte    vielmehr   dem    Kommentar    auch    eigene  Be- 
merkungen bei  und  setzte    sich  endlich,     um    auch    nichtgelehrten 
Lesern  des  Buches  lebendige  Anschauung  zu  verschaffen,  mit  einem 
Künstler   in    Verbindung,    der   das    ganze   Werk,    sämtliche   sechs 
Komödien,    mit  Illustrationen    zu   versehen    hatte.     Diese  Tendenz 
setzt  Badius  selbst  uns  in  einem  Schlußwort  (fol.  Q  4  b)  folgender- 
maßen au  seinander :  Effecimus,  iit  etiam  illitteratiis  ex  imaginibiis, 
quas  cuilibet  scenae  praeposiiimiis,  legere  atqiie  accipere  comica  argu- 
menta valeat. 

Man  darf  daraus  nicht  etwa  schließen,  daß  Badius  nun,  weil 
es  sich  um  eine  Arbeit  für  Ungelehrte  handelte,  das  Werk  im 
einzelnen  durchaus  dem  Belieben  des  Künstlers  überlassen  habe, 
es  läßt  sich  vielmehr  zunächst  wenigstens  in  einem  Falle  nach- 
weisen, daß  er  ihm  die  genauesten  Vorschriften  gegeben  hat  und 
daß  auch  in  den  Bildern  im  einzelnen  noch  gelehrte  Arbeit  steckt. 
In  jenen  Erörterungen  nämlich,  die  Badius  dem  Kommentar  des 
Guido  Juvenalis  hinzugefügt  hat,  stellt  er  gleich  im  Eingang  der 
ersten  Szene  der  'Andria'  die  Erwägung  an,  was  unter  der  allge- 
meinen Bezeichnung  istaec,  mit  der  der  Hausherr  dasjenige  be- 
zeichnet, was  die  Sklaven  ins  Haus  tragen  sollen,  eigentlich  zu 
verstehen  sei;  Guido  Juvenalis  hatte  erklärt  edulia,  Lebensmittel; 
Badius  setzt  ausführlich  auseinander,  daß  es  sich  seiner  Ansicht 
nach  vielmehr  um  Brennholz  handle,  und  fügt  hinzu:  quapropter 
in  pictiiris  ligna  intro  auferuntur.  Wenn  nun  der  Künstler  auf  dem 
der  ersten  Szene  beigegebenen  Holzschnitt  tatsächlich  durch  die 
Sklaven  Holzscheite  ins  Haus  tragen  läßt,  kann  es  sich  dabei  nicht 
um  eine  Erkenntnis  handeln,  die  er  selbst  durch  das  Studium  des 
Kommentierten  Textes  sich  erworben  hat:  in  dem  Kommentar  steht 


Ziisammcnhaii<f  mit  den  alten  Miniaturen.  303 

an  dieser  Stelle  tatsächlich  nur  das  guidonische  edulia,  und 
Badius  hat  seine  Zusätze  zu  den  beiden  ersten  Komödien,  der 
'Andria'  und  dem  'Eunuchus',  erst  nachträglich  am  Schluß  des 
ganzen  Buches  gegeben.  Es  bleibt  also  keine  andere  Erklärung 
als  die:  der  Künstler  ist  von  vornherein  von  ihm  mit  genauesten, 
auf  gelehrter  ?]rwägung  beruhenden  Hinweisen  auch  über  die 
Einzelheiten  der  Bilder  versehen  worden. 

Die  illustrative  Gesamtanlage  des  von  Trechsel  gedruckten 
Terenz  ist  nun  die  folgende:  auf  dem  Titelblatt  finden  wir  ein  Bild 
des  Dichters,  der  wie  ein  humanistischer  Gelehrter  von  Folianten 
umgeben  in  seiner  Studierstube  sitzt;  es  folgt  auf  Blatt  4b,  am 
Schluß  der  Einleitung,  eine  Gesamtzeichnung  des  antiken  Theaters 
(Abb.  31,  S.304),  und  dann  beginnt  die  lange  Folge  der  Einzelillustrati- 
onen, die  Szene  für  Szene  das  Werk  des  Dichters  begleiten.  Schon  diese 
Gesamtanlage  zeigt  uns  deutlich,  daß  wir  auch  hier  wieder  in 
einem  gewissen  Zusammenhang  mit  einem  der  alten  Codices  uns 
befinden,  in  denen  die  ottonische  Renaissance  den  alten  Komiker 
weiter  überliefert  hatte:  auch  dort  treffen  wir  zuerst  das  Bild  des 
Dichters,  darauf  zweitens  zwar  nicht  eine  Gesamtdarstellung  des 
Theaters,  wohl  aber  einen  gebäudeartigen  Schrank,  in  welchem  sich 
die  verschiedenen  im  Altertum  verwendeten  Masken  aufgehängt 
finden;  es  ist  natih'lich,  daß  bei  einer  Darbietung,  die  auf  die  Er- 
wähnung und  Vorführung  dieser  Masken  völlig  Verzicht  leistete, 
an  die  Stelle  jenes  zu  ihrer  Aufbewahrung  bestimmten  Bauwerks 
sehr  leicht  der  gesamte  Theaterbau  treten  konnte.  Und  daran 
schließen  sich  auch  dort  die  Einzelbilder,  deren  je  eines  jeder 
Szene  gewidmet  ist.  Daneben  könnte  man  durch  einzelne  Überein- 
stimmungen, namentlich  durch  die  im  Lyoner  Terenz  auch  beson- 
ders häufige  Vereinigung  mehrerer  Situationen  einer  Szene  auf 
dem  gleichen  Bilde,  auch  zur  Annahme  einer  Bekanntschaft  mit 
dem  Terence  des  Ducs  oder  seiner  Sippe  geführt  werden:  die 
äußere  Möglichkeit  einer  solchen  Bekanntschaft  war  hier  jedenfalls 
noch  eher  als  bei  dem  Ulmer  Künstler  gegeben;  aber  zum  min- 
desten daneben  muß  Badius  auch  einen  der  alten  Codices  gekannt 
haben :  eine  ganz  entscheidende  Einzelheit,  in  der  der  von  Badius 
besorgte  Druck  mit  diesen  alten  Terenzillustrationen  übereinstimmt 
und  auf  die  wir  noch  zurückkommen  müssen,  wird  jenen  Zusammen- 
hang völlig  deutlich  machen.  Ob  Badius  nun  auf  die  Anregung 
des  Pomponius  selbst  hin  in  Rom  einen  illustrierten  Terenzcodex 
der  ersten  Renaissance  hat  einsehen  dürfen,  ob  er  in  Paris  etwa 
auf  einen  Hinweis  des  Pomponianers  Faustus  Andrelinus  sich 
den  alten  Codex  hat  zeigen  lassen,  der  damals  dem  Kloster 
des  Heihgen  Dionys  gehörte,  wird  sich,  wie  wir  schon  andeuteten, 
bei  dem  Mangel  an  Nachrichten  über  die  Jugend  Schicksale  des 
Badius  vorläufig  nicht  ausmachen  lassen. 


304 


Der  Lvoner  Terenz. 


Abb.    ;J1.      Lyoner  Terenz.  Oesanihiarstelliins  des  Theaters  (vgl.  u.  S.  310 ff. 


Badius'  Aiischaiiuii'ren  ül)er  das  antike  Tlieater. 


305 


Seine  Anschauungen  über  den  Bau  des  antiken  Theaters  setzt 
uns  Badius  in  dieser  Ausgabe  vom  Jahre  1493  theoretisch  nicht 
auseinander,  wohl  aber  hat  er  später  sehr  eingehend  über  sie  in 
einer  Praenotanientn  betitelten  Abhandlung  gesprochen,  in  der  er 
auch  seine  Auffassung  der  antiken  dramatischen  Dichtung  ausführ- 
lich darzulegen  sucht.  Diese  Praenotamenta  aber  sind,  soweit  sich 
ermitteln  läßt,  zuerst  im  Jahre  1502  einer  Terenzausgabe  beige- 
geben worden,  die  Badius  damals  im  eigenen  Verlage  zu  Paris  er- 
scheinen ließi),  und  entstanden  können  sie  frühestens  am  Ende 
der  90er  Jahre  sein,  da  Badius  hier  unter  anderm  von  cantica 
miisicalia    spricht,     die    an   Stelle  des  antiken  Chors   in   modernen 


Abb.  32.     Lyoner  Terenz :  Andrla,  Prolog. 


Dramen  zwischen  den  einzelnen  Akten  gesungen  würden :  er  setzt 
damit  die  mit  solchen  Chören  ausgestatteten  humanistischen  Dra- 
men voraus,  deren  älteste  in  der  zweiten  Hälfte  der  90er  Jahre 
entstanden  sind'-).  Von  vornherein  dürfen  wir  also  nicht  etwa  die 
hier  niedergelegten  Anschauungen  über  den  Bau  des  antiken 
Theaters  mit  denjenigen  identifizieren,  die  bei  der  Anlage  der 
Terenzillustrationen  vom  Jahre  1493  maßgebend  gewesen  sind, 
wenngleich  wir   manches   von  dem,    was  Badius  hier  sagt,    schon 


1)  Renouard  a.  a.  0.  1,  S.  145  vermntet,  daß  sie  zuerst  in  einer  verloren  ge- 
gangenen Ausgabe  von  1500  gestanden  haben. 

2)  Das  früheste  Beispiel:  die  Chöre  in  Lochers  Drama  „De  rege  Franciae'"  v  J.  1495, 
ist  in  Lilie  ncrons  sonst  so  ausgezeichneter  Abhandlung  über  die  Chorgesänge  des  lat.- 
deutschen  Schuldramas  (VMusikW.  6,  S.  309 ff.)  übersehen. 

Herrmann,  Theater.  20 


306 


Badius"  Anschauungen  über  das  antike  Theater. 


für  die  ältere  Periode  werden  in  Anspruch  nehmen  dürfen.  Daß 
er  im  ganzen  mit  jener  damahgen  Auffassung  nicht  mehr  einver- 
standen war,  mag  man  wohl  auch  dem  Umstände  entnehmen,  daß 
er  in  seinen  eigenen  Pariser  Terenzausgaben  die  alten  Bilder 
niemals  hat  reproduzieren  lassen.  Ein  wirkliches  Verständnis  für 
jene  Anschauungen  der  Praenotamenta  und  eine  Aussonderung  der- 
jenigen, die  er  erst  nach  dem  Jahre  1493  sich  erarbeitet  hat,  wird 
wohl  erst  dann  gelingen,  wenn  wir  eine  ausführliche  Arbeit  über 
die  Geschichte  der  humanistischen  Terenzkommentare  besitzen i). 
Die  Hauptquellen  für  die  Praenotamenta  hinsichthch  der  antiken 
Theatereinrichtungen  sind  offenbar  Donat,  Vitruv  und  der  Huma- 
nist Johannes  Tortellius,  der  schon  in  seinem  1471  gedruckten 
Werke  „Orthographia"  ein  hier  von  Badius  übernommenes  Kapitel 


Abb.  33.     Lyoner  Terenz:  Andria  I.   1. 

Über  das  Wort  fheatriim  geboten  hatte.  Badius  aber  begnügt  sich 
nicht  damit,  antike  und  moderne  Theoretiker  zu  studieren  und  ihre 
Angaben  mehr  oder  weniger  frei  wiederzugeben;  er  richtet  daneben 
den  Blick  auf  das  lebendige  Theater  der  Gegenwart,  er  macht 
offenbar  im   modernen   Sinne   als  Philolog  den  Versuch,    die   tote 


1)  Vgl.  inzwischen  die  bei  Creizenach   1-,  S.  5  genannten  Arbeiten. 


Hineinzieluing  der  l'lamirisclien   „abele  speien". 


30- 


Vergangenheit  durch  die  lebendige  Gegenwart  zu  begreifen.  Es 
ist,  wie  wir  schon  betonten,  jene  Zeit,  in  der  man  den  inneren 
Zusammenhang  zwischen  antikem  Drama  und  mittelalterhchem 
Spiel  zu  verstehen  anfängt.  Aber  nicht  auf  die  geistlichen  Vor- 
führungen, wie  er  sie  gewiss  auch  in  Lyon  sich  ansehen  konnte, 
richtete  Badius  sein  Augenmerk,  auffallenderweise  spricht  er  auch 
nicht  von  jenen  halb  antiken,  halb  mittelalterlichen  Aufführungen, 
die  er  in  Ferrara  mit  angesehen  haben  muß;  in  den  Praenotamenta 
ist  vielmehr  ausschließlich  von  den  theatralischen  Darstellungen  in 
seiner  flandrischen  Heimat  die  Rede.  Die  flandrische  Kultur  zieht 
er  hier  nicht  nur  heran,  um  die  Stelle,  die  er  aus  Donat  über  die 


Abb.  34.     Lyoner  Terenz,  Andria  III,  1  (v.  453  ff.) 


Verwendung  von  Teppichen  und  Vorhängen  auf  der  Bühne  ent- 
lehnt, durch  einen  Hinweis  auf  die  tapeta  zu  erläutern,  qiialia  nunc 
fiiint  in  Flandria;  viel  interessanter  ist  eine  Auseinandersetzung, 
die  er  anstellt,  um  dem  modernen  Leser  die  Gründe  begreiflich  zu 
machen,  die  die  antiken  Darsteller  zur  Anlegung  von  Masken  be- 
stimmten. Einer  dieser  Gründe  ist  der:  qiiia  variiim  et  pleniorem 
sonum  reddunt ;  a  personando  enim  dicifur  persona  {=  Maske)  eo 
quod  per  varias  personas  vox  iinius  hominis  varie  sonat.  Und  nun 
fährt  er  fort:  Itemque  qiii  historias  regum  principiimque  in  cameris 
pretio  liidnnt ,  ut  nunc  vulgo  est  videre  in  Flandria  et  regionihus  vici- 
nis  variis,  personas  accipiunt ,  ut  unus  actor  seu  lusor  varias  posset 
praesentare.  Und  auch  die  nun  folgende  Auseinandersetzung  kann 
sich  offenbar  nur   auf  diese   flandrischen  Vorstellungen  beziehen, 

20* 


308 


Hineinziehung  der  flandrischen  „abele  speien". 


denn  aufs  antike  Drama  paßt  die  hier  gegebene  Aufzählung  der 
dramatischen  Charaktere  ganz  und  gar  nicht:  alia  causa  est,  quia 
opus  est  aliquando  repraesentare  personam  infantis,  aliquando  adolescentis, 
aliquando  viri,  aliquando  senis,  aliquando  decrepiti,  aliquando  regis, 
aliquando  principis  ,  aliquando  cursoris,  aliquando  agricolae,  aliquando 
mercatoris,  aliquando  traditoris  aut  hominis  perfidi:  quocirca  necesse 
est  varias  sibi  sumere  personas;  wohl  aber  zeigt  sie  uns  mit  zwingen- 
der Deutlichkeit,  auf  was  für  Aufführungen  sich  diese  theaterge- 
schichtlich höchst  merkwürdige  Stelle  bezieht:  gemeint  können  nur 
die  Aufführungen  jener  Dichtungen  sein,  die  in  der  Geschichte  des 
mittelalterlichen  Dramas  an  vollständig  isolierter  und  für  uns  histo- 
risch   noch    kaum   verständlicher   Stelle    stehen:   der    sogenannten 


Abb.  35.     Lyoner  Terenz :  Andria  V  4,  (v.  904  ff.) 

abele  speien,  jene  dramatischen  Rittergeschichten,  die  durch  Form 
und  Inhalt  gleichmäßig  aus  dem  Bestände  der  übrigen  mittelalter- 
lichen Dramen  herausfallen.  Nun  sehen  wir  auch,  daß  sie  in  Be- 
zug auf  die  Art  der  Aufführungen  vollkommen  isoliert  stehen :  für 
die  Benutzung  von  Masken  im  ernsten  Drama  bietet,  wenn  wir  von 
den  ganz  anders  zu  erklärenden  Teufelsmasken  absehen,  die 
Geschichte  des  mittelalterlichen  Theaters  Europa  kaum  ein  Bei- 
spieD).  Nur  in  aller  Kürze  mag  zur  Erklärung  dieser  seltsamen 
Erscheinung  hier  die  Vermutung  gewagt  sein,  daß  die  Masken 
durch  Niederländer,  die  in  Italien  gewesen  sind,  mit  nach  dem 
Norden  gebracht  wurden;  im  ernsten  Drama  hatten  sie  zwar  auch 


1)  Als    personati    werden    allerdings    die   Darsteller    bezeichnet,    die  Ariostos  „Isis" 
1444  in  P'errara  vortragen.     Vgl.  Creizenach    1'-,  S.  577. 


Hiiieinzieluiii<i;  der  l'landrisclien   „abele  si)elen". 


309 


dort  keine  Stelle,  wohl  aber  haben  sie  sich  noch  vom  Altertum  her 
in  den  volkstümlichen  Possendarstellungen  wenigstens  gelegentlicii 
erhalten,  freilich  ohne  daß  sie  eigentlich  in  so  früher  Zeit  aus  dem 
Dunkel  auftauchten,  das  in  der  Überlieferung  über  diese  Niederungen 
des  italienischen  Theaters  gebreitet  ist:  nur  der  gelehrten  Forschung 
gelingt  es  hier  und  da,  durch  Hypothesen  den  Schleier  zu  lüften i). 
Die  Überlieferung  der  ahele  speien  zeigt  aber 2),  daß  die  ernsten 
Dramen  mit  ausgelassenen  Possenspielen  untrennbar  verbunden 
sind;  so  mögen  die  Masken  sich  zunächst  von  den  italienischen 
Farcen  auf  die  niederländischen  Possen  und  von  ihnen  aus  auch 
auf  die  ernsten  Stücke  übertragen  haben. 


Abb.  36,     Lyoner  Terenz.    Andria  V,  5  (v.  957  ff.) 


Die  Erinnerung  an  diese  flandrischen  Theatervorstellungen 
aber  lebte  gewiß  in  ßadius  auch  schon,  als  er  im  Jahre  1493  an 
die  bildliche  Ausschmückung  des  Terenz  sich  wagte;  wenigstens 
gibt  uns  das,  was  wir  von  seinem  Leben  wissen,  keinen  Anhalt 
für  die  Annahme,  daß  er  zwischen  seiner  Lyoner  und  seiner 
Pariser  Zeit  noch  einmal  zu  längerem  Aufenthalt  in  seine  flandrische 
Heimat  zurückgekehrt  wäre.  Dagegen  hat  er  die  in  der  Haupt- 
sache richtigen  Angaben,  die  er  für  die  Praenotamenta  aus  Vitruv 
und  aus  TorteUius  entnommen  hat,  sicherlich  1493  noch  nicht  ge- 
kannt: denn  von  der  korrekten  Vorstellung  des  ungedeckten  Halb- 
kreises,  in  dem  die  Zuschauer  vor  der  Bühne  saßen,  findet  sich 


1)  Vgl.  A.  Dieterich,  Pulcinella.  Leipzig  1891 

2)  Vgl.  Creizenach  1%  S.  367f. 


310 


Einfluß  Albertis. 


hier  keine  Spur,  und  selbst  wenn  wir  im  Auge  behalten,  daß  er, 
wie  es  sich  z.  B.  für  Donat  nachweisen  läßt,  gelegentlich  seine 
Quellen  recht  frei  und  obenhin  benutzte,  scheint  eine  Bekannt- 
schaft mit  jenen  beiden  Autoren  ausgeschlossen.  Dagegen  hat  er 
offenbar  etwas  läuten  hören  von  der  Darstellung,  die  ein  damaliger 
großer  Kenner  des  antiken  Theaters,  der  berühmte  Leo  Baptista 
Alberti  gegeben  hatte:  sie  war  schon  bald  nach  1450  verfaßt  und 
seit  dem  Jahre  1485  auch  durch  den  Druck  zugänghch  gemacht 
worden;  möglich,  daß  ihm  gewisse  Elemente  der  Albertischen  Lehre 
aus  zweiter  und  dritter  Hand,  also  etwa  durch  Schüler  des  Pom- 
ponius  Laetus   bekannt  geworden   sind.     Besonders  deutlich  wird 


V^-^^^^y^^^^.^^^.^^^ 


Abb.  37.     Lyoner  Terenz :  Eunuchus  11,2  (v.  232  ff.) 

diese  fast  komische  Mischung  einer  ganz  entfernten  Kenntnis 
des  antiken  Theaters  und  der  seltsamsten  Verwirrung  in  jener  Dar- 
stellung des  Theaterbaus,  die  wir  hier  (Abb.  31,  S.  304)  reproduzieren. 
Eine  gelehrte  oder  richtiger  halb  gelehrte  Rekonstruktion  also, 
—  wir  denken  an  jene  halbgelehrte  wenn  auch  ganz  andere  Art, 
in  der  man  zu  Ferrara  das  antike  Theater  wieder  belebt  hatte. 
Ganz  gewiss  sind  nicht  alle  Wunderlichkeiten,  die  dieses  Bild  auf- 
weist, auf  die  Rechnung  des  Künstlers  zu  setzen;  anderseits  ist 
gerade  hier  wohl  manches  auf  die  Benutzung  aus  dem  Zusammen- 
hang gerissener  Sätze  Albertis  zurückzuführen.  In  drei  Reihen  ist, 
wie  wir  sehen,  das  Pubhkum  angeordnet;  bei  Alberti  heißt  es: 
Totas  gradationes  siibsellionim  veteres  in  maximis  theatris  dividebant 
in  partes  tres.  Auf  einem  ganz  abgesonderten  Platze,  in  einer  Art 
Fremdenloge    sehen  wir  die   hohe   Obrigkeit,    die    beiden  Aediles, 


Einfluß  Albertis. 


311 


sitzen,  unter  deren  Aufsicht,  wie  die  Terenzhandschriften  mitteilen, 
die  Aufführungen  stattfanden;  bei  Alberti  steht:  erat  consuetudo, 
iit  patres  et  maf/istratiis  certo  et  (ti(/nissinio  loco  segregati  a  plebe 
considerent.  Von  zwei  besonderen  Säulen  ist  die  Bühne  einge- 
schlossen, von  deren  Einrichtung  wir  im  übrigen  erst  später 
sprechen;  Alberti  sagt  von  ihr:  atqiie  onml)atiir  qiiidem  haec  pars 
in  utrisqiie  coliimnis.  Gänzlich  unantik  scheint  die  Überdachung 
des  Theaters,  die  von  vier  hohen  Säulen  getragen  wird;  hier  ist 
Badius  offenbar  durch  den  das  Richtige  meinenden,  aber  allerdings 
leicht  mißzuverstehenden  Satz  des  Alberti  verführt  worden:  Et  in 
supremo    ambitu    porticiis    et    tecta.      Andere    Anregungen    mag    er 


Abb.  38,    Lyoner  Terenz,  Eunuchus  I,  1. 

anderswo  empfangen  haben:  von  der  Flötenmusik  ist  bei  Donat 
ausführlich  die  Rede;  daß  aber  hier  nur  ein  einziger,  vor  der  Bühne 
sitzender  Flötenspieler  das  ganze  Orchester  bildet,  wird  auf  eine 
Stelle  des  plautinischen  Pseudolus  (v.  585  ff.)  zurückzuführen  sein, 
wo  der  ins  Haus  gehende  Held  die  auf  der  Bühne  zurückbleibenden 
mit  den  Worten  tröstet:  tibicen  uos  interea  hie  delectaverit. 

Den  ganz  seltsamen  Umstand  aber,  daß  das  Theater  sich  hier 
im  oberen  Stockwerk  eines  Gebäudes  befindet,  zu  dem  die  Zu- 
schauer auf  einer  großen  Treppe  emporsteigen  müssen,  werden  wir 
gewiß  nicht  mit  irgendeiner  wenn  auch  mißdeuteten  gelehrten 
Theorie  über  das  Wesen  des  antiken  Theaters  In  Verbindung  bringen 
können;  hier  wird  vielmehr  jene  oben  erwiesene  Erinnerung  an 
das  flandrische  Theater,  das  dem  Badius  wegen  der  Verwendung 
der  Masken  der  Antike    ähnlich   erscheinen   mochte,   bestimmend 


312 


Das  Gesamtbild  des  Theaters. 


gewesen  sein.  Denn  wenn  wir  sonst  auch  nichts  über  die  Art  der 
Aufführung  jener  abele  speien  zu  sagen  vermögen,  so  geht  doch 
aus  den  Abschiedsworten  eines  der  erhaltenen  Ritterdramen,  des 
„Esmoreit",  hervor,  daß  die  VorsteUung  im  oberen  Stockwerk  eines 
Gebäudes  stattfand,  von  dem  die  Zuschauer  dann  am  Schluß  auf 
einer  hohen  Treppe  heruntersteigen  i). 

Die  allergrößten  Schwierigkeiten  endlich  bereitet  zunächst  die  von 
Badius  angeordnete  Einrichtung  dieses  unteren  Stockwerkes  im 
besonderen ;  sie  ist,  wie  man  sieht,  durch  die  Inschrift  Fornices  an- 
gedeutet, und  seltsame  Liebespaare  treiben  davor  und  darin  ihr 
Wesen.    Das  Rätsel  löst  sich  aber,  wenn  wir  uns  erinnern,  daß  für 


i^A...-^..^^^' 


Abb.  39.     Lyoner  Terenz :  Eunuchus  11,3  (v.  293  ff.:  303  ff.) 

die  Theateranschauungen  der  Humanisten  des  15.  Jahrhunderts  die 
in  den  „Etymologiae"  des  Isidorus  gebotenen  Auseinandersetzungen 
eine  wichtige  Rolle  spielen.  Hier  heißt  es  nach  dem  ersten  oben 
S.  282  wiedergegebenen  Satz  über  die  allgemeine  Einrichtung  des 
Theaters  (nach  contemplaretur) :  Idem  vero  theatnim,  idem  et  pro- 
stibidum,  eo  qiiod  post  ludos  exactos  meretrices  d)i  prost rarentiir. 
Das  Theater  dient  also  auch  als  Freudenhaus.  Um  sich  über  die 
bauliche  Anlage  dieses  Teils  eine  Vorstellung  zu  machen  und  seinen 
Künstler  beraten  zu  können,  griff  Badius  nun  offenbar  nach  einer 
andern   isidorischen  Stelle  (X,  111),    an   der  es   heißt:   Fornicatrix 


1)  Vgl.  Crelzenach  1^,    S.  368.     Badius    selbst  sagt  in  bezug  auf  die  flandrischen 
Dramen  a.   a    O.  nur,  daß  sie,  statt  auf  offenem  Marktplatz,  in  aimeris  stattfanden. 


Das  Gesanitl)il(l  des  Theaters. 


313 


est  cujus  corpus  publicum  et  imlgare  est.     Hae  sub  arcuatis  po- 
stabant,  quac  loca  fornices  dicunfur. 

Derartige  Anschauungen  über  das  Wesen  des  antiken  Theaters 
hat  Badius  offenbar  seinem  Lyoner  Künstler  suggeriert,  und  so 
wunderHch  die  Anschauungen  sind,  so  wunderlich  ist  auch  die 
künstlerische  Ausführung.  Von  dem  Wesen  und  dem  Sinn  der 
antiken  Architektur  hat  dieser  Künstler  jedenfalls  eine  eben  so  un- 
richtige Vorstellung  wie  Badius  von  der  Einrichtung  des  Theaters. 
Wenn  es  im  Wesen  der  Frührenaissance  überhaupt  liegt,  die  an- 
tiken Kunstformen,  von  denen  die  modernen  Darsteller  zumal  jen- 
seits der  Alpen  gewiß  nicht  viel  im  Original  gesehen  haben,  so  zu 


Abb.  40.     Lyoner  Terenz :  Eunuchus  V,  6  (v.   1002  ff;   1Q06  ff.) 


verändern,  daß  ihr  Charakter  völlig  verloren  geht,  so  ist  unser 
Lyoner  Theaterbild  mit  den  ins  Groteske  entstellten  korinthischen 
Säulen,  dem  schnurrigen  Dach,  den  friesartigen  Darstellungen  am 
Unterbau  und  den  ganz  mittelalterlichen  Kreuzgewölben  in  der  Tiefe 
ein  besonders  charakteristisches  Beispiel.  —  Viel  lebendiger  als 
die  Darstellung  des  Baues  ist  die  Gestaltung  der  Personen  auf 
diesem  Holschnitt;  aber  sein  Bestes  sollte  der  Künstler  doch  auch 
hier  erst  in  den  szenischen  Einzelbildern  geben,  deren  Betrachtung 
wir  uns  nvui  zuwenden. 

Während  wir  in  bezug  auf  die  soeben  besprochene  Gesamt- 
darstellung des  Theaters  feststellen  mußten,  daß  sich  eine  Über- 
einstimmung mit  den  später  in  den  Praenotamenta  niedergelegten 
Anschauungen  Badius'    nur    teilweise    konstatieren    läßt,    ist    die 


314 


Die  Szenenbilder.     Podium. 


Ähnlichkeit  zwischen  ihnen  und  den  nun  folgenden  Einzelbildern 
eine  weit  größere.  In  dem  Abschnitt  De  scenis  et  proscenüs  setzt 
Badius  hier  Folgendes  auseinander:  Infra  igitiir  theatnim  ab  una 
parte  opposita  specfatoribiis  erant  scenae  et  proscenia,  id  est  loca  luso- 
ria  ante  scenas  facta.  Scenae  autem  erant  qiiaedam  unibraciila  seii  ab- 
sconsoria,  in  quibus  abscondebantiir  liisores,  donec  exire  deberent.  Ante 
autem  scenas  erant  quaedam  tabulata,  in  quibus  personae  qui  exierant 
ludebant.  Diese  Angabe  entspricht,  wie  die  o.  S.  305  ff  gegebenen  Re- 
produktionen (Abb.  32 — 40)  zeigen,  tatsächlich  der  Bühnenanordnung 
auf  den  Bildern  des  Jahres  1493.  Die  einzelnen  Häuser,  welche,  wie 
Badius  so  gut  wie  die  andern  Theaterphilologen  seiner  Zeit  sehr 
wohl  wußte,  auf  der  Komödienbühne  dargestellt  werden  mußten, 
sind  hier  als  eine  Reihe  von  Verschlagen  gedacht,  als  einfache 
Holzrahmen,  die  durch  Vorhänge  verschlossen  werden  und  durch 
eine  oben  angebrachte  Inschrift  als  domus  Simonis,  domus  Chrisi- 
dis  usw.  charakterisiert  werden.  Man  hat  sie  neuerdings  etwas 
drastisch,  aber  ganz  treffend  mit  den  Auskleidezellen  in  einem 
Schwimmbad  verglichen i).  Hier  finden  wir  also  die  allerentschie- 
dendste  Abweichung  von  der  Art,  in  der  bei  den  Ferrareser  Auf- 
führungen die  Häuser  vorgeführt  wurden,  und  ebenso  von  der  Dar- 
stellung, die  wir  auf  den  Ulmer  Bildern  beobachtet  hatten.  Die 
Dekorationen,  die  der  Lyoner  Künstler  für  die  Szenen  der  sechs 
terenzischen  Komödien  bietet,  sind,  wie  auch  unsere  Reproduktionen 
andeuten,  nicht  immer  ganz  dieselben;  völlig  übereinstimmend  aber 
und  darin  vor  allem  von  den  Ulmer  Bildern  abweichend  sind  sie 
in  der  Grundauffassung:  sie  wollen  den  wirklichen  Schauplatz  einer 
Aufführung  vorführen.  Auf  einigen  der  Holzschnitte  (vgl.  Abb.  33)  ist 
es  ganz  deutlich  zu  erkennen,  daß  diese  Vorstellungen  nach  der  Auf- 
fassung des  Badius  auf  einem  Podium  stattgefunden  haben:  man 
sieht  die  Pfähle ,  auf  denen  die  obere,  als  Bühne  dienende  Bretterlage 
ruht;  für  diese  Auffassung  hatte  Badius  in  seinem  Alberti  eine 
Anregung  finden  können,  der  die  antike  Bühne  als  opus  pulpifi, 
als  Brettergerüst  bezeichnet.  Dagegen  ist  von  einer  Bekanntschaft 
mit  den  komplizierteren  Angaben  über  antike  Dekorationen,  wie 
sie  vor  allem  auf  Vitruv  zurückzuführen  sind,  hier  noch  keine  Spur 
zu  finden;  die  Ferrareser  Aufführungen  hatten  in  dieser  Hinsicht 
ebenfalls  nichts  echt  Antikes  geboten,  und  so  mußte  Badius  sich 
die  Sache  hier  selbst  zurechtlegen.  Manches  gab  ihm  auch  weiter- 
hin Alberti.  Wenn  dieser  zum  Beispiel  von  contignationibus  alteris 
in  alteram  positis  ex  domorum  imitatione  spricht,  so  konnte  sich  der 
moderne  Leser  das  sehr  wohl  so  deuten,  daß  es  sich  nicht  um  eine 
naturalistische  Häuserdekoration,   sondern,  eben  wie  es  die  Bilder 


1)  Creizenach  2,  S.  (j.     Vielleicht  lial  Badius  sich  jene  früher  (S.  287)  zitierte  Hugu- 
tiusstelle  oder  eine  von  ihr  abgeleitete  Erläuterung  zu  Nutze  gemacht. 


Die  Szenenbilder.     Vorhänge.  315 

zeigen,  um  eine  bloße  Andeutung  durcli  ein  paar  Balken  handelte. 
Wie  aber  ist  Badlus  wohl  auf  die  Vorhänge  gekommen?  Möglich 
wäre  es  vielleicht  auch,  daß  jene  geheimnisvollen  flandrischen  Auf- 
führungen, die  Badius,  wie  wir  gesehen  haben,  bei  dem  Versuch  einer 
Rekonstruktion  des  antiken  Theaters  wiederholt  in  den  Sinn  kamen, 
einen  Hintervorhang  verwendet  haben;  aus  dem  Umstände,  daß  wir 
in  den  Volkstheateraufführungen  des  16.  Jahrhunderts  einen  solchen 
Hintervorhang  treffen,  wird  man  wohl  keinen  zu  sicheren  Rück- 
schluß auf  die  Verhältnisse  im  15.  Jahrhundert  ziehen  dürfen  i). 
Immerhin  würden  dann  auch  die  von  Badius  besonders  hervorge- 
hobenen flandrischen  tapeta  zu  ihrem  Recht  kommen.  Der  Haupt- 
einfluß aber  geht,  wie  ich  meine,  hier  ganz  entschieden  aus  von 
einer  jener  alten  illustrierten  Terenzhandschriften,  deren  Benutzung 
durch  Badius  wir  auch  schon  früher  für  wahrscheinlich  erklärt 
haben.  Im  allgemeinen  ist  da  der  Ort  der  Handlung  vom  Künstler 
nicht  besonders  gekennzeichnet;  nur  wo  in  der  Handlung  eine  Tür 
geradezu  eine  Rolle  spielt,  ist  diese,  bald  rechts,  bald  links,  bald 
in  der  Mitte,  angedeutet.  In  den  meisten  Fällen  geschieht  dies 
durch  einen  bloßen  Rahmen,  der  aus  vier  Balken  besteht.  Mit- 
unter aber  ist  auch  ein  die  Tür  für  gewöhnlich  verhüllen- 
der Vorhang  angedeutet,  der  nun  freilich  hier  gardinenartig  fast 
ganz  zurückgeschlagen  zu  sein  pflegt.  Hier  bot  sich  für  die  Phan- 
tasie des  Badius  die  Gelegenheit,  jene  Andeutung  seines  Theore- 
tikers, daß  es  sich  nur  um  eine  ungefähre,  nicht  um  eine  völlige 
Nachahmung  eines  Hauses  gehandelt  habe,  zur  Rekonstruktion 
seines  Bühnenbildes  zu  benutzen;  er  hat  die  Anlage  der  alten  Illu- 
strationen natürlich  für  authentisch  gehalten,  da  man  in  der 
Renaissancezeit  jene  tatsächlich  nur  einige  Jahrhunderte  alten 
Codices  unbedingt  für  antik  erklärt  hat.  Nicht  ganz  unmöglich 
wäre  es  freilich,  daß  diese  Rekonstruktion  nicht  erst  der  kombinie- 
renden Tätigkeit  des  Badius  ihre  Existenz  verdankte,  sondern  daß 
bereits  die  Pomponianer,  denen  jene  Zeichnungen  ja  in  dem 
römischen  Codex  bekannt  werden  konnten ,  eine  solche  Über- 
tragung vorgenommen  hätten;  sicherlich  aber  könnte  es  sich 
dabei  nur  um  Theorie,  nicht  um  eine  praktische  Verwertung  dieser 
„Schwimmbadzellen''  bei  den  römischen  Plautusdarstellungen  in  der 
Mitte  der  80  er  Jahre  handeln,  da  eine  derartige  Anlage  der  Bühne, 
bei  der  der  Maler  nichts  zu  tun  gehabt  hätte,  in  keiner  Weise  mit 
der  urkundlich  bezeugten  scena  pictiirata  des  Cardinais  Riario^) 
in  Einklang  zu  bringen  ist. 


1)  Allerdings  waren  auch  schon  auf  der  mittelalterlichen  Bühne  in  Frankreich  mit 
unter  die  einzelnen  Standorte  mit  besonderen  Vorhängen  versehen ,  besonders  um  durch 
rasches  Hinwegziehen  eigene  Effekte  zu  erzielen:  s.  Creizenach   P,  S.  166 f. 

2)  Vgl.  o.  S.  295. 


316  Die  Szenenbilder.     Der  Künstler  ein  Niederländer. 

Solche  Vorstellungen  also  von  der  Einrichtung  der  antiken 
Bühne  muß  Badius  dem  Zeichner  mitgeteilt  haben,  der  das  große 
Illustrationswerk  zu  besorgen  hatte.  Wieder  hat  dieser  seine  wunder- 
lichen Vorstellungen  von  antiker  Architektur  bei  der  Ausführung 
seiner  Zeichnungen  an  den  Mann  gebracht.  In  sechs  verschiedenen 
Formen  tritt,  wie  wir  schon  erwähnten,  die  Bühneneinrichtung  uns 
entgegen;  je  nach  der  Anzahl  der  von  dem  jedesmal  vorliegenden 
Drama  geforderten  Häuser  ist  deren  Anordnung  verschieden :  bald 
sind  sie  in  einer  Reihe,  bald  in  einer  Art  Erker  vorspringend  ge- 
geben. Besonders  eigentümlich  ist  die  Darstellung  der  Dekoration 
für  die  „Andria":  hier  ist  zur  Rechten  und  zur  Linken  der  Zellen- 
reihe je  ein  höchst  phantastisch  und  höchst  unantik  gehaltener 
Altar  angebracht,  auf  dem  zur  Linken  Bacchus,  zur  Rechten  Apollo 
thront.  Diese  Anordnung  beweist  wieder i),  daß  Badius  die  Be- 
ratung des  Künstlers  bis  ins  Einzelne  durchgeführt  und  daß  er  zur 
Unterstützung  seiner  rekonstruierenden  Phantasie  auch  den  Dona- 
tus  zur  Hand  gehabt  hat,  in  der  die  Anlage  jener  beiden  Altäre 
geradezu  auf  eine  Stelle  in  der  „Andria"  zurückgeführt  wird.  Im 
ganzen  aber  muß  man  urteilen:  hier  wo  die  architektonische  Auf- 
gabe keine  so  verzwickte  war  wie  auf  dem  Bild  des  gesamten 
Theaters  und  wo  namentlich  die  Perspektive  keine  so  großen  An- 
forderungen stellte,  entbehrt  auch  die  Gestaltung  der  baulichen 
Verhältnisse  nicht  eines  eigentümlichen  Reizes  trotz  aller  Verkehrt- 
heit der  Mischung  verschiedenartiger  Elemente,  und  namentlich 
dort,  wo  die  Szene  verlangt,  daß  wir  durch  den  hochgeschlagenen 
Vorhang  ins  Innere  eines  solchen  Zellenhäuschens  hineinsehen,  (vgl. 
Abb.  34)  weiß  der  Künstler  einen  gewissen  Zauber  auszuüben.  Seine 
eigentliche  Meisterschaft  aber  offenbart  sich  in  der  Darstellung  der 
Personen;  ein  gelehrter  Kenner,  der  die  Bilder  gelegentlich  rein  vom 
künstlerischen  Standpunkt  beurteilt2),  zählt  diesen  Terenz  zu  den 
feinsten  Leistungen  der  ganzen  Renaissancezeit. 

Hoch  ragt  er  jedenfalls  über  all  das  hinaus,  was  Lyon  bis  da- 
hin auf  dem  Gebiete  der  Holzschneidekunst  hervorgebracht  hat-^), 
und  die  ganze  künstlerische  Art,  die  uns  hier  entgegentritt,  beweist, 
daß  wir  es  mit  der  Leistung  eines  niederländischen  Meisters  zu  tun 
haben,  sowohl  was  die  Zeichnung  als  was  den  Schnitt  betrifft-*),  an 
dem  allerdings  mehrere  Hände  mit  zuletzt  erlahmender  Kraft  be- 
teiligt zu  sein  scheinen.  Die  meisten  älteren  Leistungen  zu  Lyon 
zeigen  jenen  Eklektizismus,  der  die  ganze  Kunst  der  französischen 


1)  Vgl.  o.  S.  802. 

2)  Lippmann:  JbKPreuss  Kunsts.  5,  S.  25 f. 

3)  Vgl.  Rondot,  Les  graveurs  sur  bois  et  les  iniprinieurs  ä  Lyon  au  XVieme  siecle 
(Lyon  et  Paris  1896). 

4)  Ich   befinde    mich    hier    durchaus    in  Übereinstimmung  mit   Kri  stell  er,    Kupfer- 
stich und   HolzschnitL     2.  Aufl.  S.   112  f. 


Der  Künstler  ein  Niederländer.  '  3J7 

Frührenaissance  charakterisiert;  niederländische  Anregungen  sind 
in  diesen  Leistungen  neben  andern  ganz  deutlich  bereits  zu  spüren, 
aber  sie  sind  doch  durchaus  ins  Französische  verarbeitet,  während 
uns  hier  zum  ersten  Mal  rein  niederländische  Kunstübung  in  Lyon 
begegnet;  höchstens  die  1490  erschienene  Ausgabe  von  Le  Fevre's 
„Troie  la  grande"  macht  vielleicht  eine  Ausnahme. 

An  untergeordneten  Holzschneidern  niederländischen  wie  auch 
deutschen  und  italienischen  Ursprungs  fehlte  es  in  Lyon  keines- 
wegs, wo  die  Kultur  von  mehreren  Ländern  zusammenströmte, 
aber  so  weit  wir  sehen,  befindet  sich  keiner  unter  ihnen,  dem  wir 
diese  Meisterleistung  zutrauen  möchten.  Offenbar  war  der  Verlauf 
der:  als  Badius  das  Werk  übernahm,  den  illustrierten  Terenz 
herauszugeben,  beschloß  er,  dessen  leidenschaftliches  Interesse  für 
seine  Heimat  wir  bereits  kennen  gelernt  haben,  sich  auch  für 
die  Herstellung  der  Bilder  an  einen  hervorragenden  Meister  nieder- 
ländischer Schule  zu  halten  1),  Dazu  brauchte  er  sich  nicht  erst  an 
die  ferne  Heimat  zu  wenden,  denn  w^enigstens  an  hervorragenden 
niederländischen  Malern  scheint  in  Lyon  kein  Mangel  gewesen 
zu  sein.  Da  finden  wir^)  Roboam  de  Masles  fseit  1490),  zwei 
Künstler  Namens  Johann  (seit  1492)  und  einen  Namens  Peter 
(seit  1493):  von  allen  Dreien  kennen  wir  nur  den  Vornamen  und 
den  niederländischen  Ursprung;  endlich  hielt  sich  seit  1493,  also 
eben  seit  dem  Jahre  der  Arbeit  an  dem  Terenz,  der  bedeutendste 
Künstler,  Guillaume  le  Roy  in  Lyon  auf,  und  an  einen  von  diesen 
muß  Badius  die  Bitte  gerichtet  haben,  einmal  statt  zum  Pinsel  zum 
Stift  zu  greifen  und  die  Zeichnungen  für  den  Terenz  nach  seinen 
Angaben  zu  entwerfen.  Leider  ist  es  nicht  möglich,  den  Namen 
dieses  Meisters  festzustellen;  wir  würden  für  unsere  Zwecke  auch 
wenig  Vorteil  davon  haben,  da  wir  zum  Zweck  der  Aussonderung 
des  speziell  Theatralischen  in  den  Terenzillustrationen  andere  Werke 
des  gleichen  Meisters  neben  den  Terenz  zu  legen  doch  nicht  im 
Stande  sein  würden.  Es  wird  also  nichts  anderes  übrig  bleiben, 
als  späterhin  zu  solchem  Vergleiche  Meisterwerke  des  holländischen 
Holzschnitts  aus  dieser  Zeit  überhaupt  heranzuziehen;  einigermaßen 
wird  sich  dafür  die  große  Lübecker  Bibel  vom  Jahre  1494  eignen, 
die  es  hinsichtlich  der  Schönheit  ihrer  Bilder  mit  den  ihnen  künstle- 
risch nahe  verwandten  Terenzbildern  wohl  aufzunehmen  vermag. 
Denn  immerhin:  so  viel  des  tatsächlich  auf  dem  Theater  niemals 
Gesehenen  in  diesen  Bildern  steckt,  so  mag  doch  anderseits  auch 
durch  die  Psyche  des  darstellenden  Künstlers  manches  von  Reminis- 
zenzen   an    jene   auch   von    Badius    herangezogenen    flandrischen 

11  In  den  Leistungen  der  damaligen  niederländischen  Holzschneidekunst  zwischen 
holländischer  und  vlämischer  Art  einen  Unterschied  zu  machen,  wird  wenigstens  vorläufig 
nicht  angehen. 

2)  Vgl.  Rondot  S.  39. 


318  Der  Straßburger  Terenz. 

Ritterspielaufführungeii  auf  diese  hypothetischen  Terenzaufführungen 
übertragen  und  so  in  die  Bilder  hineingekommen  sein. 

Wie  Badius  diesen  Künstler  im  einzelnen  unterstützt  hat,  haben 
wir  mehrfach  festzustellen  versucht;  daß  der  Codex^),  der  mit 
seinen  alten  Terenzbildern  für  die  Gesamtanlage  des  neuen  Druckes 
und  für  die  Auffassung  der  Dekoration  eine  so  bedeutende  Rolle 
spielte,  für  die  Anlage  der  Bilder  im  einzelnen  keine  Wichtigkeit 
gehabt  hat,  ist  von  vornherein  wahrscheinlich  und  zeigt  sich  bei 
der  Vergleichung  im  einzelnen  ganz  deutlich:  Badius  hat  ihn  1493 
gewiß  nicht  zur  Hand  gehabt  und  sich  lediglich  an  seine  Erinnerung 
gehalten,  die  eben  doch  nur  den  Gesamteindruck  bewahrt  hatte. 
Und  ebensowenig  scheint  Badius  oder  der  Künstler  jenen  deutschen 
„Eunuchus"  vom  Jahre  1486  gekannt  zu  haben,  obwohl  es  an  sich 
keineswegs  ausgeschlossen  wäre,  daß  der  Schwiegersohn  eines  der 
Abstammung  nach  deutschen  Buchdruckers,  der  Freund  vieler 
deutscher  Humanisten  auch  für  diesen  deutschen  Terenz  Interesse 
und  Verständnis  gehabt  hätte. 

Der  Straßburger  Terenz. 

Daß  der  in  Straßburg  bei  Johannes  Grüninger  im  Jahre  1496 
erschienene  Terenz  auf  den  Lyoner  Druck  als  auf  sein  Vorbild  in 
jeder  Hinsicht  zurückgeht,  brauchen  wir  nicht  erst  durch  einen 
Vergleich  der  Bilder  zu  erweisen:  schon  auf  dem  Titelblatt  wird 
verheißen,  daß  diese  Ausgabe  unter  anderm  auch  die  Erläuterungen 
des  Guido  Juvenalis  und  des  Badius  Ascensius  bringen  werde,  und 
wenigstens  der  Kommentar  des  Badius  war  damals  eben  nur  in 
dem  Lyoner  Terenz  zugänglich.  Tatsächlich  bekundet  aber  dann 
auch  die  Gesamtanlage  der  Illustrationen  die  Anlehnung  ganz  deut- 
lich. Freilich:  das  Bild  des  Dichters  fehlt  hier,  und  an  seiner 
Stelle  wird  schon  auf  dem  Titelblatt  eine  Gesamtdarstellung  des 
theatnim  gegeben;  aber  es  zeigt  sich,  daß  das  nur  ein  Notbehelf 
ist :  denn  nach  dem  Schluß  der  Einleitung,  genau  auf  dem  gleichen 
Platze  wie  im  Lyoner  Terenz,  findet  sich  dieses  Theaterbild  noch 
einmal.  Offenbar  ist  das  Bild  des  Terenz  für  die  Herstellung  der 
Ausgabe  nicht  rechtzeitig  fertig  geworden;  es  taucht  im  näch- 
sten Jahre  in  dem  von  Grüninger  besorgten  Druck  der  Locher- 
scheu  Tragödie  „De  Turcis"  und  an  der  Spitze  des  1498  bei  Grü- 
ninger publizierten  Horaz  als  Bild  dieses  Dichters  auf.  Im  übrigen 
ist  dann  auch  hier  im  Straßburger  wie  im  Lyoner  Terenz  Szene 
für  Szene  der  sechs  Komödien  durch  ein  besonderes  Bild  illustriert. 
Von  sechs  sehr  interessanten  Vollbildern,  die  die  Straßburger 
Ausgabe  ganz  aus  eigenen  Mitteln  beisteuerte,  wird  weiterhin  noch 
die  Rede  sein. 


1)  Sei  es  der  von   Paris  oder  der  von  Rom 


Der  Straüburger  Tereiiz.  319 

Diese  ganze  Ausgabe  nun  '),  so  eng  sie  sich  an  den  Lyoner 
Druclc  anzuleimen  scheint,  ist  doch  nicht  etwa  eine  bloß  kompila- 
torische  Nachahmung,  die  ohne  gelehrte  Hilfe  zu  Stande  gekommen 
sein  könnte;  schon  die  Durcharbeitung  der  rein  gelehrten  Beigaben 
zeigt  das  ganz  deutlich.  Ob  sich  der  Drucker  Johannes  Grüninger 
eines  besonderen  gelehrten  Ratgebers  bedient  hat  oder  ob  seine 
eigene  Magisterbildung  der  Aufgabe  gewachsen  war,  wird  sich  nicht 
entscheiden  lassen.  Die  gelehrte  Tätigkeit  muß  sich  aber  auch 
hier  in  Straßburg  nicht  nur  auf  Text  und  Anmerkungen,  sondern 
auch  auf  die  Bilder  erstreckt  haben.  Wieder  ziehen  wir  zum  Be- 
weise die  Illustration  zur  ersten  Szene  der  „Andria"  heran:  hier 
hat  der  Straßburger  Künstler  zwar  im  Anschluß  an  die  ent- 
sprechende Lyoner  Illustration  dem  einen  Sklaven  Holz  auf  die 
Schulter  geladen,  den  andern  aber  läßt  er  offenbar  mit  Rücksicht 
auf  jene  von  Badius  verschmähte  Erklärung  des  istaec  durch  ediilia 
einen  Korb  mit  Gänsen  und  andern  Lebensmitteln  ins  Haus 
tragen.  Dem  gleichen  Bilde  zur  ersten  Szene  (Abb.  43,  s.  u. 
S.  323)  möchte  man  auch  die  Vermutung  entnehmen,  daß  für 
die  Straßburger  Illustrationen  wiederum  auf  die  alten  Terenz- 
zeichnungen  aus  der  karolingisch-ottonischen  Periode  Rücksicht 
genommen  sei:  der  freigelassene  Sosia  wird  hier  in  Überein- 
stimmung mit  der  alten  Auffassung  und  im  Gegensatz  zu  der 
Lyoner  Darstellung  als  Koch  mit  dem  Kochlöffel  vorgeführt. 
Das  ist  aber  auch  wohl  der  einzige  Punkt,  an  dem  eine  solche 
Ähnlichkeit  hier  in  Straßburg  hervortritt.  Und  im  übrigen  zeigt 
es  sich,  daß  der  Gelehrte,  der  die  Anlage  dieser  Straßburger  Bilder 
beaufsichtigte,  von  dem  Wesen  des  antiken  Theaters  viel  weniger 
wußte  als  der  Lyoner  Humanist,  an  den  er  sich  anlehnte;  daß 
zwar  auch  bei  ihm  Bewußtsein  von  dem  Zusammenhang  zwischen 
antiken  und  modernen  theatralischen  Darbietungen  vorhanden  war, 
daß  er  aber  viel  unphilologischer  als  jener  die  mittelalterlichen  Vor- 
stellungen der  geistlichen  Aufführungen  auf  offenem  Platze  auf  die 
Antike  übertrug. 

Dieser  Mangel  an  eigentlichem  Verständnis  erweist  sich  zu- 
nächst auf  dem  Titelbild,  das  das  ganze  Theatriim  vorführt.  Zu- 
vörderst ist  hier  das,  was  uns  in  der  Lyoner  Illustration  bereits  als 
mißverstanden  erscheinen  mußte ,  noch  einmal  mißverstanden 
worden;  anderseits  hat  die  Straßburger  Darstellung  mit  einer 
gewissen  Energie  die  falsche  Renaissance  ins  rein  Gotische,  das 
unmögliche  Theatergebäude  in  einen  Teil  des  Zuschauerraums  ver- 
wandelt.   Freilich    kommt    auf   diese  Art   nun    eine  Mischung    zu 


l)  Hain  N.  15431.  In  nicht  wenigen  Bibliotheken  erhalten;  unsere  Reproduktionen 
nach  einem  Exemplar  der  Berliner  Kgl.  Bibliothek.  Das  Original  der  Abb.  4 1  ist  24,4x16,2  cm- 
das  der  Abb  46  24,8x16,5  cm  groß;  die  Szenenbilder  messen  im  Durchschnitt  8,8x15,6  cm. 


320 


Der  Straßburger  Terenz. 


Al)l).  41.     Stral.^l)urger  Terenz:  IJesamtdarslellung  des  Theaters. 


GesainttheateriiarsIcUung  im  Straßhurger  Terenz.  321 

Stande,  die  auch  wieder  keiner  Wirklichkeit  ganz  entspricht;  die 
hier  beigegebene  Reproduktion  zeigt  einen  Aufbau,  der  architekto- 
nisch ganz  und  gar  undenkbar  ist:  eine  Ornamentik  zumal,  die 
unter  keinen  Umständen  irgendwie  in  Stein  übersetzt  werden  kann. 
Nicht  zu  errichten  ist  auch  der  seltsame,  balkenartige  Turm,  um 
den  zwei  sich  nach  oben  verjüngende  Balkons  sich  ziehen;  die 
Überdachung  bleibt  ganz  im  Zeichnerischen  stecken,  und  die 
noch  am  ehesten  ausführbare  untere  Etage,  die  dem  Unterbau  des 
Lyoner  Theaters  ziemlich  treu  nachgebildet  ist,  entspricht  wohl 
auch  schwerlich  einem  tatsächlich  einmal  vorhanden  gewesenen 
Bauwerk.  Wie  in  Lyon  ist  das  Publikum  auf  drei  Etagen  verteilt: 
außer  den  beiden  Balkons  bieten  die  Kellerluken  Plätze  fih'  einige 
Zuschauer;  viel  geringer  aber  ist  deren  Zahl,  so  daß  wir  die  einzel- 
nen sehr  genau  unterscheiden  können,  wie  sie  über  die  Brüstung 
der  Balkons  sich  beugen  und  den  Blick  nach  unten  richten:  nicht 
geradeaus,  wie  das  in  Lyon  der  Fall  ist,  wo  die  Zuschauer  dem 
hier  ganz  fehlenden  Proscenium  gerade  gegenüber  sitzen.  Über 
den  mittleren  Teil  des  unteren  Balkons  ist  ein  Teppich  gebreitet, 
auf  den  die  vornehmsten  Zuschauer  beim  Herabsehen  sich  lehnen^). 
Keine  Treppe  führt  hier,  wie  es  auf  dem  Lyoner  Holzschnitt  der 
Fall  ist,  von  unten  zum  Zuschauerraum.  Die  unten  postierten 
Personengruppen  sind  nun  zwar,  wie  man  sieht,  durchaus  im  An- 
schluß an  das  Lyoner  Bild  entstanden.  Aber  sie  haben  ganz  und 
garnicht  den  Sinn,  den  wir  dort  erkannt  haben;  die  Inschrift 
Foinices  für  das  untere  Stockwerk  ist  fortgefallen,  und  der  Straß- 
burger Nachahmer  hat  offenbar  keine  Ahnung  davon  gehabt,  daß 
er  hier  die  galanten  Bewohnerinnen  der  Fornices  und  ihre  Besucher 
zu  etwas  ganz  anderm  umbildete.  Die  Frau  zur  Rechten  kniet 
nicht  mehr  vor  dem  Soldaten,  sondern  steht  nun  vor  ihm  in 
ruhiger  Unterhaltung;  bei  der  Gruppe  auf  der  entgegengesetzten 
Seite  ist  aus  der  aufdringlichen  Zärtlichkeit  ebenfalls  ein  harm- 
loses Gespräch  geworden,  und  aus  dem  Liebespaar  in  der 
Mitte  hat  sich  ein  alter  Mann  mit  einem  Knaben  entwickelt; 
die  Bewohner  der  kellerartigen  Gewölbe  sind,  wie  wir  sahen, 
zu  einem  Teil  des  Publikums  geworden:  hier  liegt  wohl  eine 
falsche  Ausdeutung  der  caveae  des  antiken  Theaters  vor,  des  terminus 
technicus  für  die  Zuschauerplätze  überhaupt,  den  der  Herausgeber  aus 
Plautus  oder  Cicero  kennen  mochte.  Kurzum:  an  diese  Stelle,  an  der 
Badius  eine  doch  natürhch  auch  seiner  Ansicht  nach  nur  ganz  lose 
mit  dem  Theater  verbundene  Einrichtung  unterbrachte,  ist  hier  in 
Straßburg  die  eigentliche  Bühne,  der  Schauplatz  der  Handlung  ver- 
legt.  Kein  Zweifel :  der  Illustrator  und  sein  gelehrter  Berater  haben 

1)  Auf  ähnliche  Teppiche  lehnen  sich  die  von  Fenstern  heral)  dem  Turnier  zuschauen- 
den Personen  auf  einem  schönen  Holzschnitt  zum  Chevalier  delibere  (ed.  Lippmann: 
London,  Bibl.  Soc.  1897   bl.  27j. 

Herrmann,   Theater.  Ol 


322 


Die  Straßburger  Szenenbilder  und  die  Ulmer  und  Lyoner  Holzschnitte. 


hier  die  mittelalterliche  Bühnenvorstellung  wieder  eingeschmuggelt. 
Denn  im  Mittelalter  stand  das  Publikum  nicht  immer  nur  um  den 
Platz  herum,  sondern  es  waren,  wie  wir  aus  archivalischen  Nach- 
richten wissen,  wohl  auch  Gerüste  errichtet,  auf  denen  zumal  die 
vornehmsten  Zuschauer  ihren  Platz  fanden ij.  Solch  ein  Gerüst 
also  stellt  offenbar  das  Straßburger  Theaterbild  dar,  nur  daß  es 
anderseits  uns  auch  wieder  ganz  und  gar  nicht  als  eine  getreue 
Nachbildung  der  Wirklichkeit  gelten  kann,  weil  es  ja  doch  auch 
die  Anlehnung  an  das  ganz  anders  geartete  Lyoner  Bild  nicht  auf- 
geben mochte. 

Wenn  wir  uns  nun  der  Betrachtung  der  Szenenbilder  zuwenden, 
so  tritt  der  Zusammenhang  mit  den  Lyoner  Bildern  auch  hier 
wieder  sofort  deutlich  hervor:  gleich  auf  dem  ersten  Bild  (Abb.  42) 


Abb.  42.     Straßburger  Terenz:   Andria,  Prolog. 

verneigt  sich  an  Stelle  des  Prologs  hier  wie  dort  (vgl.  Abb.  32,  o.  S.  305) 
jener  Calliopius,  der,  wie  schon  öfter  bemerkt  worden  ist,  sich  in 
der  Phantasie  der  Humanisten  aus  der  Rolle  des  alten  Texterklärers, 
der  er  tatsächlich  gewesen  ist,  in  die  des  Prolog-  und  Epilogsprechers 
der  terenzischen  Lustspiele  hat  versetzen  lassen  müssen.  Anderseits 
wird  bei  der  genaueren  Betrachtung  dieser  Szenenbilder  nun  alsbald 
klar,  daß  der  Künstler  neben  dem  Lyoner  Terenz  auch  den  Ulmer 
„Eunuchus"  zur  Hand  gehabt  haben  muß :  sein  Parmeno  z.  B.  (Abb. 
44)  ist  ohne  das  Vorbild,  das  der  Ulmer  Phaedria  gab  (vgl.  Abb.  23, 
o.  S.  295), mit  seinem  langen  Haar,  dem  großen  Federbusch,  dem 
kurzen  Mäntelchen  nicht  zu  denken,  und  wenn  die  Gestalt  der 
Pamphila  auch  in  der  Szene  II,  2,  in  der  sie  zuerst  auftritt,  nur  in 
der  Haltung  an   das   Ulmer  Vorbikl  eriiniert,   so  ist   doch   der  auf- 


1)  Nachweise  für  Frankreich  beiBapst,    Essai  sur  riiistoiro  du  tlieatre  (Paris  1893) 
S.  23  f. 


Clichesystem. 


323 


fallende  Zug,  daß  sie  dort  in  Ulm  mit  der  Harfe  im  Arm  dargestellt 
wird,  wenigstens  auf  dem  noch  zu  besprechenden,  zum  „Eunuchus" 
gehörenden  Gesamtbild  (Abb.  46,  S.  327)  getreulich  nachgeahmt.  Die 
Technik  aber,  mit  der  die  einzelnen  Gestalten  nun  vorgeführt 
werden,   ist  von   der  Ulmer  nicht  minder  als  von  der  Lyoner  Art 


Abb.  43.     Straßburger  Terenz:  Andria  I,  1. 


Abb.  44.     Stral.U)iir}.r(.r  Terenz:  Eiiniichus   11,2  iv,   270  ff.i. 

verschieden.  Während  wir  auf  den  an  diesen  beiden  Orten  ent- 
standenen Bildern  die  einzelnen  Gestalten  in  wechselnden  Stellungen 
mit  verschiedenen  Geberden  vorgeführt  finden,  ganz  so  wie  es  die 
jeweilige  Situation  verlangte,  sind  die  Gestalten  hier  zu  völliger 
Starrheit  verdammt.  Der  Drucker  arbeitet  mit  Cliches.  Diese 
Technik  ist  nun  freilich  in  der  Geschichte  der  deutschen  Bücher- 
illustration nicht  unerhört:  schon  der  älteste  Druck  eines  deutschen 

21 


324 


Clichesystem:  Personen. 


Buches ,  die  Ausgabe  von  Boners  „Edelstein" ,  die  1461  bei  Pfister 
in  Bamberg  erschienen  war,  zeigt  einen  Wechsel  von  drei  Cliches, 
durch  die  zu  den  einzelnen  Fabelillustrationen  drei  verschiedene 
Männergestalten  in  regelmäßigem  Wechsel  herangesetzt  werden. 
Die  Ausnutzung  solcher  Cliches  fürs  Dramatische  aber  ist  etwas 
durchaus  Neues  und  nichts  Vorteilhaftes,  denn  nur  ganz  selten 
entschließt  sich  der  sparsame  Drucker  wenigstens  für  den  Fall,  daß 
etwa  eine  Person  im  Zusammenhang  mit  einem  neuen  Requisit  ge- 
zeigt werden  muß,  ein  besonderes  CHche  für  diese  Scene  anfertigen 
zu  lassen,  wie  es  z.  B.  in  der  „Andria"  für  die  Mysis  in  der  Kinder- 
aussetzungsszene der  Fall  ist;  gewöhnlich  wird  bis  zur  Sinnlosig- 
keit gespart,  und  Chaerea  zum  Beispiel,  der  doch  nur  dadurch 
ins  Haus  seiner  Angebeteten  kommen  kann,  daß  er  sich  durch  das 


Abb.  45.     Straßburger  Terenz,     Einiuchus  IV,  7  (v.   77 ff.). 

Eunuchenkostüm  unkenntlich  macht,  wird  uns  dort  ganz  ruhig  in 
seiner  gewöhnlichen  Kleidung  vorgeführt.  Auch  sonst  zeigt  sich 
der  Geiz  des  Verlegers  in  nicht  eben  geistreicher  Art:  wenn  z.  B. 
in  den  späteren  Komödien  mehrere  Namen  wieder  auftauchen,  die 
der  Dichter  schon  in  einer  früheren  verwendet  hat,  so  werden  für 
ihre  Träger  nun  flugs  die  dort  benutzten  Cliches  wieder  heraus- 
geholt. Die  Folge  davon  ist  die,  daß  der  größte  Reiz  der  Ulmer 
wie  der  Lyoner  Bilder  hier  völlig  fehlt:  das  Leben.  Die  Personen 
stehen  immer  wieder  in  gleicher  Stellung  da,  selbst  wenn  es  den 
Anforderungen  der  Handlung  völlig  widerspricht,  und  von  einer 
Gruppenbildung  z.  B.  kann  eigentlich  nirgends  die  Rede  sein.  Nur 
an  zwei  Stellen  hat  Grüninger  offenbar  eingesehen,  daß  seine  gar 
zu  haushälterliche  Art  sich  unmöglich  durchführen  ließ:  in  der  Szene 
Eunuchus  IV,  7  (Abb.  45),  wo  Thraso  sein  seltsames  Kriegsvolk  zur 
Belagerung  der  Thais  heranführt,  und  Adelphi  II,  1,  wo  drei  Personen 


Clichesystem  :  Lokales.  325 

einander  in  den  Haaren  liegen.  Hier  ist  das  Clichesystem  aufge- 
geben, und  der  Künstler  hat  zwei  selbständige  Bilder  liefern 
dürfen,  die  sich  in  der  Komposition  offenbar  an  das  Lyoner  Vor- 
bild halten. 

Das  gleiche  Clichesystem  aber  ist  nun  auch  für  die  Dar- 
stellung des  Lokalen  in  Anwendung  gekommen,  und  vielleicht  hat 
es  sogar  von  hier  seinen  Ausgang  genommen.  Der  Straßburger 
Illustrator  und  sein  Beirat  haben  sich  nämlich  weder  entschließen 
können,  die  seltsamen  Schwimmzellenhäuser  des  Badius  zu  über- 
nehmen: die  widersprachen  gar  zu  sehr  ihren  mittelalterlichen 
Bühnenvorstellungen;  noch  konnten  sie  bei  der  Notwendigkeit,  die 
Bilder  kleiner  zu  gestalten  als  in  Ulm ,  die  dortige  Anlage  von 
Straßen  und  Häusern  nachahmen.  So  kommt  wieder  eine  seltsame 
Mischung  zweier  heterogener  Elemente  zu  Stande.  Die  rahmen- 
artige oblonge  Form  der  Lyoner  Zellen  wird  beibehalten,  in  diese 
Form  hinein  aber  wird  die  Architektur  der  modernen  deutschen 
Häuser  in  der  Ulmer  Art  gezeichnet.  Die  Bühne  der  „Andria"  im 
Lyoner  Terenz  wird  auf  solche  Weise  gewissermaßen  in  vier  Cliches 
zerschnitten,  und  mit  diesen  vier  Häusercliches  hat  der  Straßburger 
Drucker  in  der  Hauptsache  die  Darstellung  der  Dekoration  für 
sämtliche  sechs  Lustspiele  bestritten,  indem  er  das  sinnlose  Ulmer 
Prinzip,  in  keiner  Szene  dieselben  Häuser  zu  zeigen  wie  in  der 
vorhergehenden,  nun  auch  seinerseits  durchzuführen  suchte.  Je 
nachdem  nach  der  Nebeneinanderordnung  der  in  der  Szene  auf- 
tretenden Personen  noch  Platz  blieb,  werden  ein,  zwei  oder  drei 
Häusercliches  ihnen  an  die  Seite  gestellt;  zuweilen  finden  wir  auch 
gar  keine.  Außerdem  hat  der  Drucker  noch  zwei  verschiedene 
Baumcliches  zu  seiner  Verfügung,  die  er  namentlich  da  anwendet, 
wo  es  sich  um  Selbstgespräche  handelt:  wer  einen  Monolog  zu 
halten  hat,  wird  meist  von  zwei  Bäumen  eingeschlossen,  und  wenn 
zwei  Personen  eine  dritte,  die  auf  der  Szene  ist,  nicht  sehen  oder 
hören  sollen,  wird  ein  Baumcliche  zur  Trennung  benutzt.  Mit  dem 
gleichen  Mittel  arbeitet  der  Drucker  auch,  wo  er  nach  dem  Vor- 
bild des  Ulmer  Drucks  eine  Person,  deren  Herannahen  in  den 
letzten  Worten  einer  Szene  erwähnt  wird,  bereits  vorführt;  einmal 
(Andria  IV,  4)  ist  sie  statt  durch  einen  Baum  gar  durch  ein  Haus- 
cliche  von  den  übrigen  Personen  getrennt.  All  das  hat,  wie  man 
leicht  sieht,  weder  mit  lebendiger  Vorstellung  noch  mit  irgend 
einem  wirklichen  oder  möglichen  Theater  das  Geringste  zu  schaffen. 
Man  hat  die  Straßburger  Bilder  trotzdem  deshalb  für  theater- 
geschichtlich wichtig  erklären  wollen  i),  weil  diese  schmalen  Häuser- 
cliches   vorbildhch    für    die  Anlage    von  Coulissen    hätten   werden 


1)  Vgl.  Roetlie:   ADA.   26,  S.  16.     R.  spricht   übrigens   nicht  vom  Terenz,   sondern 
von  der  nach  dem  gleichen  Prinzip  illustrierten  Türkentragödie  Lochers  (Straßburg  1497). 


326       Clichesystem  der  Szenenbilder.     Gesamtbilder  zu  den  einzelnen  Komödien. 

können.  Der  zu  Grunde  liegende  Gedanke  ist  gewiß  richtig,  und 
wir  werden  alsbald  sehen,  daß  in  einem  andern  Lande  ein  Einfluß 
der  Dramenillustration  auf  die  Einrichtung  der  lebendigen  Bühne 
sehr  wahrscheinlich  ist;  die  Voraussetzung  für  das  Zustandekommen 
solcher  Wirkung  ist  doch  aber  wohl  die,  daß  die  Technik  der  be- 
^ --ffonden  Drci^ienillustrationen  in  vielen  Auflagen  lange  Zeit  hin- 
durch immer  wiederholt  wird  und  daß  sie  anderseits  durchaus 
auf  die  bildliche  Ausschmückung  dramatischer  Werke  be- 
schränkt bleibt.  Beides  aber  ist  in  Bezug  auf  die  hier  behandelte 
Technik  nicht  der  Fall.  Nach  dem  Jahre  1499  ist  Grüningers  Terenz 
in  dieser  Ausstattung  nicht  wieder  aufgelegt  und  kein  anderes 
Drama  in  der  gleichen  Weise  illustriert  worden,  und  wenigstens 
in  Deutschland  hat  keine  einzige  andere  Druckerei  dieses  System 
übernommen.  Dagegen  verwendet  es  Grüninger  selbst  noch  Jahr- 
zehnte hindurch  für  andere,  nicht  dramatische  Werke:  schon 
im  Jahre  1498  für  den  von  Locher  besorgten  Horaz  und  dann 
weiterhin  bis  in  die  20  er  Jahre  des  16.  Jahrhunderts  hinein  sogar 
für  volkstümliche,  erzählende  Werke  in  deutscher  Sprache,  so  z.  B. 
für  die  Ausgabe  des  Eulenspiegel  vom  Jahre  1515.  So  ist  ein  Einfluß, 
der  das  mittelalterliche  ins  moderne  Theater  hätte  umwandeln  helfen, 
von  diesem  Straßburger  Terenz  schw^erlich  ausgegangen. 

Die  mittelalterlichen  Theateranschauungen  der  Veranstalter 
dieses  Druckes  treten  nun  aber  vor  allen  Dingen  in  den  sechs 
großen  Bildern  hervor,  deren  je  eines  jedem  terenzischen  Lustspiel 
gewidmet  ist  und  von  denen  wir  bis  jetzt  noch  nicht  gesprochen 
haben.  Hier  sind  geradezu  die  terenzischen  Dramen  als  mittel- 
alterliche Spiele  arrangiert.  Wir  brauchen  nur  einen  der  Pläne  des 
geistlichen  Theaters,  also  etwa  die  Donaueschinger  Skizze,  daneben 
zu  legen,  um  die  Verwandschaft  sofort  zu  empfinden.  Auch  diese 
so  gänzlich  unantik  inszenierten  imaginären  Terenzaufführungen 
finden  auf  offenem  Markte  statt.  Auch  hier  sehen  wir  zwei  Reihen 
von  Häusern  nebeneinander  errichtet,  zwischen  denen  die  handeln- 
den Personen  sich  hin  und  her  bewegen.  Die  S.  327  nachgebildete 
Zeichnung  für  den  „Eunuchus"  mag  das  deutlich  machen.  Auf  der 
linken  Seite  finden  wir  im  Hintergrund  das  Haus  der  Thais;  die 
Herrin  steht  mit  ihren  Dienerinnen  Pythias  und  Dorias  davor;  vorn 
sehen  wir  Chremes  vor  einem  besonderen  Hause:  ganz  im  mittel- 
alterlichen Sinne,  obwohl  er  eigentlich  vom  Lande  in  die  Stadt 
hereinkommt.  Die  rechte  Seite  dagegen  zeigt  uns  im  Hintergrunde 
das  Haus  oder  richtiger  gesagt  die  Häuser  des  Laches:  er  und 
seine  beiden  Söhne  Chaerea  und  Phaedria  stehen  davor,  im  Hinter- 
grunde sitzt  Chaereas  Freund  Antipho,  undPhaedrias  Sklave  Parmeno 
führt  die  Mohrin  und  den  Eunuchen  nach  dem  gegenüberliegenden 
Hause  der  Thais.  Ganz  vorn  rechts  endlich  ist  Thraso  zu  Hause, 
der  mit  seiner  Leibwache   im  Vordergrund   steht,   während    etwas 


Straßburger 


Gesamtdarstellung  des  „Eunuchus". 


327 


Abb.  46.     Straßburger  Terenz: 


Gesamtdarstellung  des  ,Eunuchus- 


328  Die  Straßburger  Gesamtbilder  und  das  mittelalterliche  Theater. 

weiter  zurück  Gnato  mit  der  Pampliila  soeben  vom  Hause  sich  weg 
begiebt;    eine   Handbewegung   des  Gnato    deutet    an,    daß  er  das 
Mädchen   zum  Hause   der  Thais  hinüberbringen  will.    Im  Zentrum 
der  freibleibenden  Mittelgasse   endlich  steht,   keinem  Hause  zuge- 
hörig,   die   Amme   Sophrona.     Ganz    eigentümlich    sind   die  völlig 
unillustrativen  Striche,  die  quer  durch  das  Bild  gehen.   Sie  führen 
hier  von  Thais  zu  Thraso,  von  Thais  zu  Phaedria,  von  Chaerea  zu 
Pamphila    und    endlich    von    Pamphila    zu    Chremes    und   deuten 
also     in     den     ersten     drei    Fällen     die    Liebesverhältnisse    des 
Stückes,    im    letzten    das    durch    die    Hausanordnung    noch    nicht 
gegebene   verwandtschaftliche    Verhältnis    an.      Auf    den    andern 
Bildern    wird    ein     solcher    Strich     auch    wohl     zur    Bezeichnung 
der  Richtung  benutzt,   in  der  sich  die   betreffende  Person  zu  be- 
wegen hat.    Überhaupt  ist   eigentlich  das  Bild   zur  „Andria"   noch 
charakteristischer  als  das  zum  'Eunuchus',  das  wir  hier  aus  andern, 
oben  (S.323)gekennzeichnetenRücksichten  wiedergegeben  haben.  Auf 
jenem  wird   die  Übersetzung  des  Dramatischen  im  antiken  Sinne 
ins  Episch-Theatralische  nach  mittelalterlicher  Art  ganz  besonders 
deutlich.     Die  „Andria"  hat  bekannthch  eine  besonders  große  Vor- 
geschichte, die  sich  im  Laufe  des  Dramas,  das  nur  die  Katastrophe 
bringt,   allmählich   enthüllt.     Für  die   mittelalterliche  Dramatik  ist 
diese  allmähliche  Enthüllung  undenkbar:  da  wird  kaum  etwas  er- 
zählt,   sondern    tatsächlich    alles    vom   Anfang  bis   zum  Ende  vor 
Augen  geführt,  und  so  ist  denn  auch  hier  bei  der  mittelalterlichen 
Inszenierung  der  „Andria"  die  ganze  Vorgeschichte  mit  auf  das  Bild 
aufgenommen.     Sämtliche  Personen,   auch   die,   die  nur  im  Dialog 
genannt  werden,  stehen  vor  unsern  Augen,    so  z.  B.  am  Hause  des 
Chremes  dessen  Tochter  Philomela ;  ja  sogar  der  tote  Phania  wird  uns 
nicht  erspart:  er  schwimmt  hinten  im  Meere  bei  der  Insel  Andros, 
die  ebenfalls  mit  aufs  Bild  gekommen  ist;  ganz  korrekt  dem  Wort- 
laut der  Terenz  entsprechend  ist  die  bildliche  Darstellung  der  Vor- 
geschichte freilich  nicht.   Und  besonders  eigenartig  ist  es,  daß  das 
Bild    uns   die  Glycerium,   die  doch   bei  Terenz   überhaupt   nicht 
auftritt,  nicht  weniger  als  dreimal  vorführt:  als  kleines  Kind  auf 
dem  Floß   im   Meere,  dann   als  Wöchnerin  im  Hause   der  Chrysis 
und  endlich  ganz  vorn  am  Hause  des  Chremes,  als  dessen  Tochter 
sie   schließlich   erkannt   wird.     Das  entspricht  ihrer  epischen  Be- 
deutung   für   die   Handlung    oder,    was    dasselbe    sagen   will,   der 
theatralischen   Stellung,    die    ein    mittelalterliches  Spiel,    das   ihre 
Geschichte  dramatisiert   hätte,   ihr  hätte   anweisen  müssen.     Ähn- 
lich sind  die  Bilder  zum  „Heautontimoroumenos"  und  zum  „Phormio"; 
auf  dem  letztgenannten  Holzschnitt  ist  besonders  das  für  die  drei 
Freunde  Hegio,  Cratinus  und  Crito  gegebene  Haus  in  unserm  Sinne 
höchst   interessant.    Das  Bild  zu  den  „Adelphi"  dagegen  ist  schon 
durch    einen    bedenklichen    Inszenierungsfehler   entstellt,    und    bei 


Der  Baseler  Terenz.  329 

dem  letzten  Stück,  der  „Hecyra'',  ist  dem  Künstler  oder  seinem  Bei- 
rat Aufmerksamkeit  und  Sorgfalt  ganz  verloren  gegangen. 

Immerhin  sind  also  diese  Vollbilder,  obwohl  sie  ja  nicht  wirk- 
hch  stattgehabte  Vorstellungen  wiedergeben,  sondern  sie  nur  fin- 
gieren, für  das  Studium  des  mittelalterlichen  Theaters  von  großer 
Bedeutung,  und  in  dieser  Hinsicht  wird  es  sich  empfehlen,  andere, 
nicht  theatralische  Darstellungen  des  Straßburger  Künstlers  zum 
Vergleich  heranzuziehen.  Ein  solcher  Vergleich  käme  ferner  für 
die  beiden  nicht  clichemäßigen  Szenenbilder  in  Betracht;  aber  auch 
in  der  Gesamtleistung  ist  noch  ein  Element  vorhanden,  das  viel- 
leicht bei  der  Durchführung  des  Vergleiches  eine  theatergeschicht- 
liche Ausbeute  liefern  könnte:  zwar  ergeben  für  das  wichtige  Ge- 
biet der  theatralischen  Geberden  die  meisten  dieser  Darstellungen 
unmöglich  etwas,  weil  die  Clichemanier  hier  gerade  den  Wechsel, 
auf  den  es  ankommt,  zu  Grunde  richtet,  aber  wenigstens  für  die 
Frage  nach  dem  Theaterkostüm  könnten  doch  auch  die  Cliches 
etwas  erkennen  lassen. 

Der  Baseler  Terenz. 

Wir  kommen  nun  zu  demjenigen  Teil  unseres  Materials,  das 
wir  leider  nur  nach  den  Bruchstücken  zu  beurteilen  vermögen,  die 
bisher  von  ihjn  publiziert  sind,  das  aber  rein  bildkunstgeschichtlich 
betrachtet  von  allem  was  wir  hier  zu  besprechen  haben  so  ziem- 
lich das  stärkste  Interesse  einflößt.  Wenigstens  hat  sich  in  der 
kunsthistorischen  Forschung  der  letzten  Jahrzehnte  ein  Streit  daran 
geknüpft,  der  von  allen  Seiten  mit  großer  Lebhaftigkeit  geführt 
worden  und  der  noch  heute  nicht  ganz  erledigt  ist.  Ohne  daß 
unsere  Ziele  hier  rein  kunstgeschichtliche  sind,  dürfen  wir  vielleicht 
hoffen,  auch  durch  unsere  Betrachtungsweise  für  die  Entscheidung 
der  Frage  einen  nicht  unw^esentlichen  neuen  Gesichtspunkt  hinzu- 
fügen zu  können. 

Die  Frage  lautet:  rühren  die  Zeichnungen,  die  sich  auf  den 
jetzt  in  der  öffentlichen  Kunstsammlung  zu  Basel  aufbewahrten 
hundertunddreißig  Holzstöcken  befinden  und  die  das  gesamte 
Material  zu  einer  neuen  Terenz-Ausgabe  darstellen,  von  Albrecht 
Dürer  her?  Eine  energische  Bejahung  dieser  Frage  ist  von  Seiten 
desjenigen  Forschers  erfolgt,  der  zuerst  ausführlicher  auf  diese 
Zeichnungen  eingegangen  ist  und  der  sich  jedenfalls  das  Verdienst 
erworben  hat,  einen  beträchtlichen  Teil  von  ihnen  bei  dieser  Ge- 
legenheit bekannt  gemacht  und  durch  lockende  Hypothesen  die 
ganze  Erörterung  in  Fluß  gebracht  zu  haben.     Daniel  Burckhardts^) 


1)  D.   Burckhardt.    Albrecht    Dürers    Aufenthalt    in    Basel    1492  —  1494.     München 
u.  Leipzig  1892). 


330  Die  Dürerhypotliese. 

Gedankengang  ist  dieser:  Albrecht  Dürer  befand  sich,  wie  wir  durch 
Scheurl  wissen,  während  seiner  Wanderzeit  im  Jahre  1492  zuerst 
in  Cohnar  und  dann  in  Basel.  In  einem  Baseler  Buch  ist  im 
gleichen  Jahre  1492  ein  (früher  erst  ins  Jahr  1497  gesetzer)  Holz- 
schnitt, eine  Darstellung  des  heiligen  Hieronymus  erschienen;  den 
dazu  gehörigen  Holzstock  besitzen  wir  noch  heut,  und  auf  seiner 
Rückseite  hat  der  Künstler  eigenhändig  seinen  Namen:  Albrecht 
Dürer  von  nörmergk  aufgezeichnet;  an  seiner  Urheberschaft  kann 
also  kein  Zweifel  sein.  Erst  1494  vermögen  wir  Dürer  wieder 
anderwärts  nachzuweisen:  zunächst  in  Straßburg  und  dann  seit 
Pfingsten  daheim  in  Nürnberg.  Es  fällt  nun  ungemein  auf,  daß  in 
der  dazwischen  liegenden  Zeit  eben  in  Basel,  wo  wir  Dürers  Tätig 
keit  im  Dienste  des  Buchdrucks  jetzt  sicher  festgestellt  haben, 
eine  Reihe  hervorragender  Holzschnitte  gezeichnet  und  geschnitten 
worden  sind.  Unter  ihnen  treten  zunächst  jene  Terenzbilder  her- 
vor, die  uns  hier  besonders  angehen ;  nicht  das  ganze  Werk  schreibt 
Burckhardt  Dürer  zu,  obwohl  er  die  nahe  Verwandtschaft  sämt- 
licher Zeichnungen  nicht  verkennt,  sondern  wesentlich  nur  die 
Bilder,  die  zu  den  beiden  Lustspielen  „Andria''  und  „Eunuchus"  ge- 
hören. Die  Holzstöcke,  auf  denen  sie  erhalten  sind,  lassen  sich  in 
den  40  er  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  als  Eigentum  der  Buchdrucker- 
familie Amerbach  nachweisen;  zu  Amerbach  stand  der  große  Nürn- 
berger Buchdrucker  Koberger  in  nahen  Geschäftsbeziehungen,  Ko- 
berger  aber  war  Albrecht  Dürers  Pate^),  und  so  sind  die  äußeren 
Bedingungen  für  die  Möglichkeit  der  Annahme  gegeben,  daß  Amer- 
bach zwischen  1492  und  94  den  ihm  von  Nürnberg  her  empfohlenen 
jungen  Künstler  in  den  Dienst  einer  von  ihm  geplanten  illustrierten 
Terenzausgabe  gestellt  habe.  Die  innere  Richtigkeit  der  These  be- 
müht sich  Burckhardt  zu  erweisen,  indem  er  auf  die  enge  sti- 
listische Verwandschaft  zwischen  dem  heiligen  Hieronymus  und  den 
Terenzbildern  hinweist  und  zugleich  auf  die  Schongauerischen  Ele- 
mente in  diesen  Terenzzeichnungen  deutet;  Einflüsse  der  Schon- 
gauerischen Schule  mußten  für  den  jungen  Dürer  gelegentlich 
seines  Colmarer  Aufenthalts  besonders  wichtig  geworden  sein. 
Wenn  wir  nun  sehen,  daß  im  Jahre  1493  zu  Basel  eine  Ausgabe 
des  „Ritters  vom  Thurn"  herauskommt,  die  zu  der  Kunstart  der 
Terenzzeichnungen  in  allernächster  Beziehung  steht,  wenn  dann 
1494  in  der  berühmten  Ausgabe  von  Brants  Narrenschiff  der 
gleiche  Meister  wiederum  stark  vertreten  ist,  so  glaubt  Burckhardt 
den  Satz  erwiesen  zu  haben,  daß  eine  bisher  dunkle  Zeit  in  Dürers 
Leben  eben  durch  die  Tätigkeit  für  die  wichtigsten  damaligen  Er- 
zeugnisse des  Baseler  Buchdrucks  ausgefüllt  wird;   er  meint  auch. 


1)  Für   eine   allerdings    weit   spätere  Zeit    sind    ancli    direkte  Beziehungen    zwischen 
Dürer  und  Amerbacii  nachzuweisen:  vgl.  Burckhardt  S.  18. 


Dio  Düreiiiypothese  und  ilire  Bekämpfuiiü.  331 

daß  diese  Baseler  Holzschnitte  sich  durchaus  dem  einordnen  lassen, 
was  uns  bisher  von  den  Leistungen  der  Dürerischen  Jugendzeit 
bekannt  geworden  ist.  Bisher  setzte  man  in  jene  biographisch  sonst 
nicht  erhellte  Zeit  Dürers  erste  Reise  nach  Italien;  mit  dieser 
Störung  seiner  Annahme  wird  Burckhardt  fertig,  indem  er  die 
Tatsächlichkeit  eines  italienischen  Aufenthalts  Dürers  in  den  90er 
Jahren  überhaupt  leugnet. 

Die  von  vielen  Seiten  an  dieser  Hypothese  geübte  Kritik 
stürzte  sich  zunächst  auf  den  schwächsten  Punkt  jener  Beweis- 
führung: auf  den  Versuch,  Dürers  ersten  italienischen  Aufent- 
halt ganz  zu  bestreiten.  Die  Widerlegung  jenes  Satzes  auf  Grund 
einer  stilkritischen  Beweisführung  w^ar  nicht  schwer;  die  meisten 
Kritiker  aber  begnügten  sich  nun  damit,  entweder  jene  Fahrt  nach 
Venedig  noch  neben  die  Tätigkeit  in  Basel  wiihrend  der  Jahre 
1492 — 94  zu  verlegen  oder  aber  Dürers  ersten  Zug  über  die  Alpen 
ins  Jahr  1495  zu  setzen  und  dadurch  zugleich  eine  chronolo- 
gische Übereinstimmung  mit  jener  Andeutung  Dürers  in  seinem 
Briefe  an  Pirckheymer  vom  Jahre  1506  herbeizuführen.  Im  Übrigen 
aber  ließ  man  die  Burckhardtsche  Hypothese  von  dem  Dürerischen 
Ursprung  jener  Terenzzeichnungen  und  der  andern  Baseler  Holz- 
schnitte zunächst  gelten i).  Etwas  später  aber  ist  in  Weisbach  2)  ein 
entschiedener  Gegner  der  ganzen  Dürer-These  aufgetreten.  Zu  die- 
ser i\blehnung  kommt  er,  indem  er  die  Frage  in  den  bei  Burck- 
hardt vernachlässigten  Zusammenhang  der  gesamten  Baseler  Buch- 
illustration stellt.  Die  Geschichte  dieser  Baseler  Holzschneidekunst 
zeigt  allerdings,  daß  im  Jahre  1492  ein  merkwürdiger  Aufschwung 
beginnt.  Dürers  hl.  Hieronymus  hat  sichtlich  Nachahmer  gefunden; 
und  ebenso  stimmt  Weisbach  Burckhardt  auch  darin  zu,  daß  die 
Terenzillustrationen,  der  „Ritter  vom  Thurn"  und  gewisse  von 
Weisbach  besonders  namhaft  gemachte  Bilder  zum  „Narrenschiff" 
die  gleiche  Hand  zeigen.  Aber  der  Meister,  der  diese  Werke  ge- 
schaffen hat,  kann  nicht  Dürer  gewesen  sein:  sonst  müßte  ja 
seine  Tätigkeit  für  den  Baseler  Buchdruck  nach  1494,  wo  Dürer 
Basel  verlassen  hat,  nicht  mehr  nachzuweisen  sein;  tatsächlich 
aber  sucht  Weisbach  darzulegen,  daß  wir  in  Basel  auf  Leistungen 
dieses  anonymen  Meisters  noch  bis  zum  Jahre  1499  stoßen.  Und 
ferner:  diese  Baseler  Schöpfungen  stimmen  nicht  zu  dem  Bilde, 
das  wir  uns  von  der  Art  des  jungen  Dürers  zu  machen  haben, 
selbst  wenn  wir  ganz  von  der  schier  unüberwindlichen  Schwierig- 


1)  Nur  zwei  Forscher  verhielten  sich  ablehnend:  Thode  im  JbKPKunsts.  1893, 
S.  201ff.  und  Kristeller:  ASArte  1892,  S.  355. 

2)  W.  Weisbach,  Der  Meister  der  Bergmannschen  Offizin  und  Albreclit  Dürers 
Beziehungen  zur  Baseler  Buchillustration  (^  Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte  6), 
Straßburg  1896. 


332  Di*?  Düreiliypothese.     Datierung  der  Baseler  Terenz. 

keit  absehen,  daß  sich  nicht  genügend  sichere  Jugendwerke  Dürers 
zum  Vergleich  mit  jenen  Bildern  heranziehen  lassen:  der  junge 
Dürer  ist  in  jener  Zeit  unbedingt  noch  in  voller  Gährung  begriffen, 
in  dem  Baseler  Meister  aber  tritt  ein  völlig  fertiger  Künstler  vor 
uns,  der  eine  Entwicklung  nicht  mehr  vor  sich  hat.  Dieser  Baseler 
Meister  wird  auch  schwerlich  für  Amerbach  gearbeitet  haben:  eine 
Terenzausgabe  passt  gar  nicht  zu  dem  ganzen  Charakter  des 
Amerbachschen  Verlages;  wohl  aberweist  ein  Umstand,  den  schon 
Burckhardt  nachgewiesen  hatte  und  auf  den  wir  in  unserm  Haupt- 
zusammenhang gleich  zu  sprechen  kommen,  ganz  entschieden  auf 
denjenigen  Buchdrucker  als  den  Verleger  der  geplanten  Terenzaus- 
gabe hin ,  der  das  „Narrenschiff"  und  indirekt  auch  den  „Ritter  vom 
Thurn"  hat  erscheinen  lassen :  auf  Johann  Bergmann  von  Olpe,  und  so 
wird  der  Künstler  der  Terenzbilder  als  „Meister  der  Bergmannschen 
Offizin"  bezeichnet.  Diesen  Namen  mag  er  behalten,  obwohl  jener 
Versuch  Weisbachs,  den  Plan  zu  einer  Terenzausgabe  als  ein  dem 
Geist  der  Amerbachschen  Druckerei  völlig  widersprechendes  Unter- 
nehmen zu  erweisen,  nicht  geglückt  isfi):  warum  soll  der  Künstler, 
der  vor  allem  für  Bergmann  gearbeitet  hat,  nicht  auch  einmal  einen 
Amerbachschen  Auftrag  ausgeführt  haben? 

Obwohl  nun  hervorragende  Forscher  durch  Weisbachs  Be- 
weisführung überzeugt  wurden,  scheint  die  Neigung  zur  An- 
nahme des  Dürerischen  Ursprungs  jener  Werke  noch  keineswegs 
beseitigt. 

Und  eine  der  Annahmen,  die  nur  innerhalb  der  Burckhardt- 
schen  Hypothese  eine  gewisse  Berechtigung  hatten'^),  hat  Weis- 
bach ruhig  mit  übernommen:  er  setzt  auch  seinerseits  den  Baseler 
Terenz  ins  Jahr  1493.  Diese  Datierung  nun ,  die  immerhin  die 
Möglichkeit,  Dürer  für  den  Urheber  der  Terenzillustrationen  zu  er- 
klären, noch  zuläßt,  zeigt  sich  sofort  als  unhaltbar,  wenn  wir  die  ganze 
Frage  in  denjenigen  Zusammenhang  hineinstellen,  der  durch  den 
Gang  unserer  Untersuchung  geboten  ist  und  den  merkwih-diger 
Weise  alle  bisherigen  Behandlungen  dieser  Streitfrage  außer  Acht 
gelassen  haben.  Wo  bisher  von  diesen  Terenzbildern  die  Rede 
gewesen  ist,  sind  sie  so  betrachtet  worden,  als  ob  sie  völlig  freie 
Schöpfungen    eines    Künstlers    wären    oder    höchstens    doch    den 


1)  Burckhardt  hat  neuerdings:  JliPreußKunsts.  1907,8.  169  mit  Recht  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  er  schon  in  seiner  ursprünglichen  Arbeit  auf  Amerbachs  Plan,  die 
Komödien  der  Roswitha  herauszugeben,  hingewiesen  habe;  er  hafte  hinzufügen  können, 
daß  A.  Ja  auch  Petrarca  und  Philelphus  verlegt,  also  keineswegs  einen  Verlag  rein  theo- 
logischen Charakters  besessen  hat. 

2)  Eine  völlige  Berechtigung  gewiß  nicht:  14(13  ist  Amerbachs  Verlag  noch  so  ganz 
theologischer  Art,  daß  man  ihm  den  Gedanken  an  eine  Terenzausgabe  tatsächlich  kaum 
zutrauen  möchte:  erst  14!).')  erfolgt  die  Wendung  zum  Humanisnuis  (vgl.  die  vorige  Anm.). 


i 


Gesaiiitbiki  des  Theaters   im   Baseler  Terenz. 


333 


Abb.  47.     Baseler  Terenz:  Gesamtbild  des  Theaters. 


gg^j.  Datierung  des  Baseler  Terenz. 

Einfluß  eines  seinerseits  wiederum  ganz  frei  arbeitenden  Gelehrten 
verrieten. 

Wenn  wir  nun  wieder  daran  gehen,  die  Entstehungsgeschichte 
auch  dieses  Baseler  Terenz  zu  skizzieren,  werden  wir  eben  dieser 
neuen  Datierung  zu  Liebe  zuerst  auf  einen  Zusammenhang  hinweisen, 
der  eigenthch  nicht  der  grundlegende  ist.  Dieser  Baseler  Te- 
renz kann  erst  nach  dem  Jahre  (1.  November)  1496  ent- 
standen sein,  denn  die  Gesamttheaterdarstellung,  die  auch  hier 
wieder  beigegeben  ist,  ist  nicht  ohne  das  Vorbild  des  zuletzt  be- 
sprochenen, im  Jahre  1496  erschienen  Straßburger  Terenz  denkbar. 
Man    vergleiche    nur   das   hier   (Abb.  47,    S.  333)    wiedergegebene 


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Abb.  48.     Baseler  Terenz:  Der  Dichter. 

Baseler  Theaterbild  i)  mit  der  oben  (S.  320)  gebotenen  Reproduktion 
des  Straßburger  Holzschnitts.  Aus  den  beiden  Balkons  ist  hier 
eine  Galerie  geworden,  von  der  die  Vornehmsten  herab  auf  die 
unten  sich  produzierenden  Spieler  schauen:  die  Vornehmsten,  in  der 
Mitte  der  König;  und  der  Teppich,  der  über  die  Brüstung  des  Straß- 
burger Balkons  gelegt  war,  ist  auch  hier  wieder  zu  finden.  Die 
Possenreißer  und  Spielleute,  die  sich  hier  unten  in  der  Mitte  eines 
zirkusartigen  Raumes  produzieren,  merkwth'dig  ähnlich  übrigens 
den  Gauklern  auf  dem  Theaterbild  des  Terence  des  Ducs,  haben 
weit  mehr  Sinn  als  die  Gruppen,  die  in  Straßburg  in  mißverstan- 


1)  Originalgrötäe    23,3>'13,8  cm,     die    der    folgentlen    Szenenl)ilder    durchschnittlich 
3,8x14,2  cm. 


Baseler  und  Stiaßbiirger  Terenz.  '  335 

dener  Nachbildung^  der  Lyoner  Fornices  und  ihrer  Besucher  am 
Boden  sich  zeigen.  Es  ist  nun  gewiß  nicht  anzunehmen,  daß  etwa 
die  sinnvollere  Baseler  Darstellung  zu  dem  Zustandekommen  der 
sinnloseren  Straßburger  beigetragen  habe,  und  das  um  so  weniger, 
als  ja  das  ganze  Baseler  Werk  unpubliziert  in  den  Schränken  des 
Baseler  Buchdruckers  ruhte '  und  dem  Straßburger  Künstler  also 
schwerlich  zugängUch  zugänglich  gewesen  wäre.  Der  Zusammen- 
hänge sind  außerdem  noch  mehrere,  obwohl  man  von  vornherein 
nicht  erwarten  wird,  daß  die  unbedeutenden  Straßburger  Leistungen 
dem  hervorragenden  Baseler  Künstler  mehr  als  gelegentliche  An- 
regung geboten   haben.     Inmierhin  ist  z.  B.  der  Kopf  des  Dichters 


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Abb.  49.     Baseler  Terenz:    Brants  Entwurf  zu  Andria  V, -1  (v.  904  ff.). 

Terenz,  der  in  einer  besonderen  Zeichnung  im  Freien  sitzend  und 
dichtend  dargestellt  wird  (Abb.  48),  eine  Nachbildung  des  Kopfes 
des  Calliopius,  der  im  Straßburger  Terenz  die  ersten  Prologe  und 
Epiloge  spricht :  die  Darstellung  der  Locken  und  die  eigentümliche 
Art  der  Zweige,  die  das  Haar  schmücken,  ist  in  beiden  Fällen  die 
gleiche;  und  ähnliche  Verwandtschaft  ließe  sich  auch  sonst  an 
manchen  kleinen  Zügen  nachweisen  '). 

Im  Übrigen    aber   sind    andere,    uns  wohlbekannte   illustrierte 
Terenzausgaben  von  größerer  Wichtigkeit  für  die  Entstehung  dieses 


1)  Mir  scheint  sogar  die  Baseler  Zeichnung  des  Davus  (Andria  I,  3)  die  Bekannt- 
schaft mit  einer  Gestalt  vorauszusetzen,  die  erst  in  Grüningers  Horaz  149  8  mehrfach 
sich  findet. 


336 


Sebastian  Brant  als  Berater  des  Baseler  Künstlers. 


Baseler  Werkes  geworden.  Schon  vorher  ist  davon  die  Rede  ge- 
wesen, daß  auch  hier  wieder  ein  Gelehrter  an  der  Arbeit  beteiligt 
ist.  Burckhardt  hat  auf  den  höchst  interessanten  Umstand  aufmerk- 
sam gemacht,  daß  auf  der  Rückseite  eines  der  Holzstöcke  sich  der  Ent_ 
wurf  zu  der  Zeichnung  einer  Szene  erhalten  hat  (Abb.  49 — 50), 
der  sicherlich  nicht  von  dem  Künstler  selbst,  sondern  von  einem, 
übrigens  recht  unkünstlerischen,  beratenden  Gelehrten  herrühren 
muß,  und  er  hat  durch  palaeographische  Untersuchung  gezeigt,  daß 
dieser  Entwurf  von  dem  berühmten  Baseler  Humanisten  und  Dichter 
herrührt,  auf  den  wir  auch  sonst  zuerst  raten  würden,  wenn  wir 
für  die  Ermittlung  jenes  gelehrten  Beistandes  auf  bloße  Vermutung 
angewiesen  wären:  von  Sebastian  Brant i).   Nicht  nur  kommt  dieser, 


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Abb.   50.     Baseler  Terenz:  Andria  V,  4  (v.  904  ff.l. 

was  die  Gelehrsamkeit  betrifft,  hier  in  erster  Reihe  in  Frage,  wir 
treffen  bei  ihm  auch  eine  Anschauung  über  den  Sinn  der  Bücher- 
illustration überhaupt,  die  sich  durchaus  mit  jener  Ansicht  deckt, 
die  wir  in  Jodocus  Badius'  Terenzausgabe  hinsichtlich  der  Beigabe 
von  Bildern  ausgesprochen  fanden,  und  es  wird  sich  alsbald  er- 
weisen, daß  diese  Lyoner  Terenzausgabe  auch  hier  das  Vorbild  für 
die  Gesamtanlage  der  Illustrationen  in  erster  Reihe  gegeben  hat. 
Fast  wie  eine  Übersetzung  jener  oben  (S.  302)  zitierten  Worte  klingt  es, 
wenn  Brant  in  der  Einleitung  zu  seinem  ebenfalls  mit  Bildern  über- 
reich ausgestatteten  Narrenschiff  (v.  24  ff.)  sich  folgendermaßen 
äußert : 


1)  Weisbachs  Bedenken  a.  a.  0    S.  52  vermag   ich  nicht  zn  tcih'n. 


Braut  und  Badiiis.     Baseler  Terenz  uiul  Ulmer  „Eiinuclius".  337 

Vit  narren,  doren  kamen  dryn, 

Der  bildnisz  jch  hab  har  (jemacht. 

Wer  jeman,  der  die  cfschrijft  veravht 

Oder  villicht  die  nit  künd  lesen 

Der  siecht  im  molen  wol  syn  wesen 

Vnd  findet  dar  Jnn,  wer  er  ist .... 
Durch  einen  glücklichen  Zufall  wissen  wir  auch  von  einer  per- 
sönlichen oder  wenigstens  brieflichen  Bekanntschaft  zwischen  Badius 
und  Sebastian  Brant;  der  Abt  Trithemius  muß  sie  um  die  Zeit,  von 
der  wir  jetzt  reden,  vermittelt  haben,  möglicherweise  auf  Brants 
Wunsch,  der  den  Herausgeber  der  offenbar  von  ihm  geschätzten 
Terenzausgabe  persönlich  kennen  zu  lernen  wünschte,  und  wir  be- 
sitzen einen  Brief  und  ein  Gedicht,  worin  Badius  nun  seinerseits 
dem  großen  deutschen  Gelehrten  und  Dichter  seine  Huldigung  dar- 
brachte i).  Die  Gesamtanlage  also  der  geplanten  Baseler  Ausgabe 
lehnt  sich  eng  an  die  Lyoner  an :  hier  treffen  wir,  wozu  der  Straß- 
burger Druck  das  Vorbild  nicht  bieten  konnte,  gerade  wie  in  Lyon 
ein  kleineres  Bild,  das  uns  Terenz  bei  der  Arbeit  sitzend  zeigt,  dann 
die  schon  behandelte  Gesamtdarstellung  des  Theaters,  auf  der  wir 
auch  wie  in  Lyon  jene  zum  Zuschauerraum  emporführende  Treppe 
finden,  die  in  Straßburg  fehlt,  und  schließlich  wiederum  die  einzelnen 
Szenenbilder,  von  denen  wohl  manche  nur  darum  nicht  vorliegen, 
weil  die  betreffenden  Holzstöcke  mittlerweile  in  Verlust  geraten 
sind. 

Auch  im  Einzelnen  wird  sich  ein  gewisser  Zusammenhang 
zwischen  den  Bildern  von  Basel  und  von  Lyon  nachweisen  lassen, 
aber  wenn  wir  nun  die  Baseler  Szenenbilder  zu  charakterisieren 
haben,  so  muß  doch  zunächst  der  Einfluß  einer  andern  Darstellung 
Terenzischer  Szenen  betont  w^erden,  der  für  die  Gesamtart  der 
Baseler  Zeichnungen  von  der  größten  Bedeutung  geworden  ist. 
Dieser  Zusammenhang  liegt  so  auf  der  Hand,  daß  man  nicht  genug 
über  die  Tatsache  erstaunen  kann,  daß  er  noch  niemandem  aufge- 
fallen zu  sein  scheint.  Eine  getreue  Nachbildung  der  Lyoner  Szenen- 
bilder hätte  wiederum  die  wenn  auch  fingierte  Vorstellung  wirk- 
licher Theateraufführungen  ergeben;  statt  dessen  führen  eben  durch 
dieses  weitere  Vorbild  die  Baseler  Zeichnungen  zunächst  wieder  ganz 
aus  dem  Theatralischen  heraus.  Dieses  weitere  Vorbild  ist  der  Ulmer 
.„Eunuchus"  von  1486.  Daß  der  Baseler  Künstler  sich  von  vornherein 
an  ihn  hielt,  mag  einmal  gelehrten  Zusammenhang  haben,  es  ist 
aber  anderseits  auch  im  Wesen  der  ganzen  Baseler  Kunstentvvicklung 
von  vornherein  gegeben:  denn  immer  deutlicher  tritt  neuerdings  die 


1)  Brief  und  Gedicht  sind  Renouard  (vgl.  o.  S.  300  Anin.  3)  entgangen;  sie  sind  ge- 
druckt an  sehr  verstecktem  Orte:  in  einer  Sammlung  „ungedruckter  Gedichte  ober- 
rheinischer Humanisten",  die  Holstein  in  der  ZVLG.  6,  S.  472f.  veröffentlicht  hat.  Beide 
sind  vom  7.  März  1-19.5  datiert. 

Herrmann,    Theater.  29 


338 


Baseler  Terenz  und  Ulmer  „Eunuchus" 


kunstgeschichtliche  Tatsache  hervor,  daß  der  Baseler  Buchdruck, 
so  wie  er  in  sprachlicher  Hinsicht  sich  damals  mehr  und  mehr  an 
die  Leistungen  der  durch  Augsburg  beherrschten  östlichen  Nach- 
barstädte anzugleichen  suchte,  so  auch  in  Bezug  auf  die  künstle- 
rische Ausstattung,  für  die  das  lokale  Können  nicht  viel  vermochte. 


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Abb.  51.     Baseler  Terenz:  Andria  V,  .5  (v.  957  ff.). 


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Abb.  52.     Baseler  Terenz:   Eiinuclius  11,2  (v.  270  ff.). 


Baseler  Terenz  und  Uliner  „Euiiuchus" 


339 


sich  an  östliche  Vorbilder  und  besonders  an  die  Ulmer  Holzschneide- 
kunst hielt  1). 

Am  geringsten  scheint  die  Übereinstimmung  zwischen  den  Ulmer 
und  den  Baseler  Bildern  in  Bezug  auf  die  Darstellung  des  Lokalen 
zu  sein.  Während  die  Straßen  und  Häuser  im  Ulmer  Terenz  jenen 
etwas  kindlichen  Eindruck  machen,  zeigt  sich  hier  der  große  Fort- 
schritt in  der  Landschaftsdarstellung,  der  vor  allen  Dingen  auf  den 
Einfluß  der  Schongauerischen  Schule  zurückzuführen  ist.  Nicht 
immer  begnügt  sich  ferner  der  Baseler  Zeichner  mit  der  bloßen 
Vorführung  von  Häusern;  er  liebt  es  vielmehr,  uns  in  die  Nähe 
der  Peripherie  der  Stadt  zu  führen  und  uns  so  auch  einen  Blick 
in  die  umliegende  Landschaft  tun  zu  lassen.    Anderseits  befinden 


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Abb.  53.     Baseler  Terenz:  Eunuchus  III,  1   (v.  398  ff.). 

wir  uns  doch  auch  hier  eben  fast  immer  auf  der  Straße  —  nur 
an  den  wenigen  Stellen,  an  denen  der  Ulmer  „Eunuchus"  uns  in  die 
Stube  führt,  stellt  auch  der  Baseler  Künstler  ein  Interieur  dar  — , 
auch  die  Richtung  der  Straßenzüge  und  die  Anordnung  der  Häuser 
ist  trotz  aller  Unterschiede  im  einzelnen  vielfach  auf  die  Nachah- 
mung  des  Ulmer  Vorbildes    zurückzuführen.     Und    vor    allem    ist 


1)  Weisbach,  Die  Baseler  BuclüUustration  des  15.  .Jahrhunderts  (=  Studien  z 
deutschen  Kunstgeschichte  8)  Straßburg  1896  S.  13 f.  ist  allerdings  noch  geneigt,  den  Zu- 
sammenhang im  umgekehrten  Sinne  aufzufassen.  Er  hat  aber  auch  die  Abhängigkeit  der 
Terenzzeichnungen  vom  Ulmer  „Eunuchus"  noch  nicht  gesehen.  Ein  allgemein  künstle- 
rischer Zusammenhang  zwischen  der  Ulmer  Kunst  der  achtziger  Jahre  und  den  Leistungen 
des  Bergmannschen  Meisters  ist  neuerdings  wiederholt  hervorgehoben  worden :  zuerst  von 
Kristeller,  Kupferstich  und  Holzschnitt,  1.  Aufl.  S.42  und  dann  von  Röttinger:  .IhKunsth- 
SammlKaiserh.  1907. 


340  Baseler  und  Lyoner  Terenz. 

in  Basel  dem  Ulmer  Druck  jenes  untheatralische  Prinzip  entnommen, 
daß  uns  jedes  Szenenbild  eine  völlig  veränderte  lokale  Situation 
zeigt.  Viel  schlagender  aber  ist  der  Zusammenhang  hinsichtlich 
der  Darstellung  der  Personen,  sowohl  was  die  Komposition  der 
Gruppen  wie  was  die  Tracht,  die  Gesichtszüge  und  die  Handbe- 
wegungen der  einzelnen  Figuren  anlangt.  Ganz  besonders  klar 
wird  das  auf  den  Bildern  zu  Eunuchus  II,  2  (Abb.  52,  vgl.  24  u. 
dagegen  38);  III,  1  (Abb.  53,  vgl.  26);  IV,  5  (Abb.  54,  vgl.  27);  V,  5 
und  6  (Abb.  55,  vgl.  29) ').  Aber  auch  in  fast  allen  übrigen  Szenen 
(besonders  noch  in  1,1;  IV,  4;  V,  4  und  7)  ist  die  Beeinflussung 
durchaus  ersichtlich. 


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Abb.  54.     Baseler  Terenz :    Eunuchus  IV.  5  (v.  739  ff.). 

Immerhin  aber  konnte  der  Baseler  Künstler  eben  doch  nur  für 
den  „Eunuchus"  durch  den  Anschluß  an  diese  Uhner  Bilder  ohne  ge- 
lehrten Beirat  arbeiten;  schon  für  die  „Andria"  tritt  dieser  in  Tätig- 
keit, und  es  zeigt  sich  hier  nun  wieder  deutlich  die  Benutzung  der 
Lyoner  Terenzillustrationen.  Freihch  nirgendswo  in  einem  der- 
artigen Anschluß,  wie  er  sich  eben  für  die  Ulmer  Eunuchus-lliu- 
strationen  konstatieren  ließ.  Es  scheint  alles  dafür  zu  sprechen, 
daß  nur  Sebastian  Brant  seinerseits  diese  Lyoner  Bilder  vor  sich 
gehabt  und  nach  ihnen  jene  groben  Skizzen  angedeutet  hat,  von 
denen   uns  die  eine  auf  der  Rückseite  des  einen  Holzschnittes  zur 


1)  Für  die  letztgenannte  Szene  liegen  zwei  einigernial5en  von  cinaiKlcr  aliwcicluMide 
Darstellungen  vor;  Burekhardt  bezweifelt  bei  der  zweiten  die  Eigenhändigkeit;  ein  Ver- 
gleich mit  dem  enls|)rechenden  Ulmer  Bild  zeigt,  daß  gerade  seine  zweite  Fassung  die 
urspriitigliedien!  ist. 


Baseler  und  Lyoner  Terenz.  '  341 

Aiidria  zufällig  erhalten  ist  (s.  o.  Abb.  49,  S.  335);  der  Zeichner 
hat  die  Lyoner  Holzschnitte  offenbar  nicht  angesehen,  und  so  ist 
die  rein  künstlerische  Beeinflussung  denn  auch  weitaus  geringer. 
Daß  ein  enger  Zusammenhang  aber  in  dem  eben  angedeuteten 
Sinne  besteht,  geht  vor  allem  aus  mehrfacher  Übereinstimmung  in 
einer  fehlerhaften  Auffassung  der  betreffenden  Szene  hervor.  Fiu* 
Andria  V,  5  mußte  ein  Bild  gezeichnet  werden,  auf  dem  die  beiden 
auftretenden  Personen,  Charinus  und  Pamphilus,  einander  nicht  zu 
Gesicht  bekommen;  statt  dessen  gehen  sie  auf  dem  Lyoner  Bild 
(s.  0.  Abb.  36,  S.  309)  direkt  aufeinander  los  und  scheinen  sich  im 
nächsten  Augenblick  die  Hand  reichen  zu  sollen.  Diesen  gleichen 
Fehler,   auf  den  schwerlich  zwei  Illustratoren,  die  unabhängig  von 

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Abb.   55.     Baseler  Terenz:    Eiiniichus  V,  6  iv.  1002  ff.l.     Zweite  Ausführung. 

einander  arbeiteten,  gekommen  wären,  finden  wir  in  der  ent- 
sprechenden Baseler  Zeichnung  (s.  o.  Abb.  51,  S.  338)  wieder; 
ebenso  ist  auf  dem  nächsten  Bilde,  das  zur  letzten  Szene  des 
Dramas  gehört,  die  Anordnung  der  Personen  beide  Male  die  gleiche 
und  beide  Male  dem  Inhalt  des  Dialogs  widersprechend  i).  Offen- 
bar war  dem  Künstler  oder  richtiger  gesagt  zunächst  dem  beraten- 
den Gelehrten  am  Ende  des  Stückes  die  Aufmerksamkeit  ausge- 
gangen, mit  der  er  an  einer  früheren  Stelle  der  Komödie  solche 
Fehler  gewiß  bemerkt  hätte.  Weiter  aber  fällt  uns  auch  die  Über- 
einstimmung auf  nicht  fehlerhaften  Bildern  entschieden  auf.  So 
ist    z.  B.    in    der  Szene  Andria  III,  1    auf   beiden  Bildern  nicht  wie 


1)  Für   den  Inhalt    der  Szenen   darf   man    sich  übrigens  leider  auf  die   Angaben,   die 
Burckhardt  unter  die  Bilder  setzt,  nicht  völlig  verlassen. 


O/io  Baseler  und  Lyoner  Terenz. 

sonst  ein  Moment  des  Auftrittes  illustriert,  sondern  wir  sehen 
eigentlich  zwei  Situationen,  und  die  Anordnung  der  sprechenden 
Personen  ist  in  Basel  dieselbe  wie  in  Lyon ;  ja  sogar  in  Bezug  auf 
die  Dekoration,  wenn  wir  von  einer  solchen  sprechen  dürfen,  ist 
die  Nachahmung  ganz  deutlich.  In  Lyon  (s.  o.  Abb.  34,  S.  307)  ist 
der  Vorhang  der  einen  Zelle  etwas  zurückgeschlagen,  und  wir  er- 
blicken die  Andria  auf  ihrem  Schmerzenslager,  während  der  Dichter 
nur  ihre  Weherufe  hinter  der  Scene  laut  werden  läßt ;  dadurch  an- 
geregt hat  auch  der  Baseler  Zeichner,  der  sonst  streng  jede  archi- 
tektonische Unmöglichkeit  vermeidet,  aus  der  Wand  des  Hauses 
ein  großes  Stück  herausgebrochen,  um  uns  da  einen  Blick  in  das 
Wochenzimmer  der  Andria  tun  zu  lassen.  Besonders  interessant  ist 
endlich  die  Szene  V,  4,  wo  wir,  wie  schon  erwähnt,  die  Brantische 
Skizze  (s.  o.  Abb.  49,  S.  335)  mit  der  ausgeführten  Zeichnung 
(s.  o.  Abb.  50,  S.  336)  vergleichen  können i).  Es  ist  die  Szene,  in  der 
durch  Critos  Aussage  festgestellt  wird,  daß  es  sich  mit  der  Andria 
so  verhält,  wie  Pamphilus  seinem  sehr  skeptisch  gesonnenen  Vater 
Simo  vorher  erzählt  hatte:  daß  sie  die  Tochter  des  ebenfalls  auf 
der  Szene  anwesenden  Chremes  ist.  Pamphilus  und  Crito  treten 
zusammen  aus  dem  Hause,  den  beiden  Alten  entgegen,  die  sich  auf 
der  Szene  befinden.  Der  Lyoner  Terenz  hatte  etwas  sinnwidrig 
Chremes,  Simo  und  Pamphilus  zu  einer  Gruppe  zusammengestellt, 
welcher  Crito  isoliert  gegenübersteht.  Die  Brantsche  Skizze  rückt  hier 
schon  sinnvoller  den  Pamphilus  zu  Crito,  behält  im  übrigen  aber 
die  Anordnung  des  Vorbildes  bei.  Merkwürdig  ist  es  nun  zu  sehen, 
daß  unter  dem  Stift  des  Künstlers  die  Darstellung  noch  weit  mehr 
an  Sinn  gewonnen  hat.  Er  hat  Pamphilus  und  Crito  umgeordnet, 
und  nun  ist  die  Situation  genau  so,  wie  der  Anfang  der  Szene  sie 
vorschreibt:  Crito  zieht  den  noch  ängstlichen  Pamphilus  aus  dem 
Hause  heraus  und  tritt  seinerseits  zuerst  dem  ihm  von  Alters  her 
befreundeten  Simo  entgegen,  um  im  nächsten  Augenblick  einen 
Händedruck  mit  ihm  zu  tauschen.  Daß  der  namenlose  Künstler, 
von  dem  hier  die  Rede  ist,  dem  Sebastian  Brant  nicht  selten  ge- 
wissermaßen geistig  überlegen  ist,  läßt  sich  sehr  schön  bei  einem 
Vergleich  einiger  Bilder  des  „Narrenschiffes"  mit  den  zu  ihnen  ge- 
hörigen Worten  des  Textes  feststellen  2);  dort  aber  konnte  der 
Zeichner  sich  an  die  ihm  verständliche  deutsche  Darstellung  halten 
und  so  mit  völligem  Verständnis  ausgerüstet  seinen  überlegenen 
Humor  spielen  lassen;  wie  aber  war  das  hier  möglich?  Gab  es  im 
15.  Jahrhundert  einen  Künstler,  der  Latein  konnte  und  der  gar 
einen  der  schwierigsten  Schriftsteller,  den  Terenz,  in  der  Ursprache 


1)  Daß  der  Zeichner  nlclil ,  wie  Biircl<liardt  zu  rasch  meinte,  sich  einfach  gelreu  an 
Rrants  Andeutungen  gehalten  hatie,  hat  schon  Weisbach,  Der  Meister  der  Bergmann- 
schen  Offizin  S.  52  mit   Hecht  liervorgehoben. 

2)  Vgl.  Weisbacli  a.  a.  O.  S.  35. 


Die  Baseler  Bilder  und  die  Terenzverdeiitscliiiiiif  von  1499.  343 

ZU  lesen  vermochte?  Diese  Frage  werden  wir  im  allgemeinen  ganz 
entschieden  mit  Nein  beantworten  müssen. 

Und  so  kommen  wir  hier  zu  einer  Vermutung,  mit  der  wir  die 
Entstehungsgeschichte  dieser  Baseler  Terenzillustrationen  zum  Ab- 
schluß zu  bringen  gedenken.  Für  den  „Eunuchus"  war  dem  Künst- 
ler das  Verständnis  des  Wortlauts  ohne  weiteres  möglich,  da  ihm 
hier  die  Ulmer  Übersetzung  vorlag.  Wie,  wenn  er  etwa  auch,  zu- 
nächst wenigstens  für  die  „Andria",  eine  deutsche  Übersetzung  zur 
Hand  gehabt  hätte?  Es  gab  damals  freilich  noch  keine  solche. 
Aber  im  Jahre  1499,  also  jedenfalls  nur  kurze  Zeit  nach  der  Ent- 
stehung unserer  Zeichnungen  i),  erschien  in  Straßburg  bei  Grüninger 
eine  deutsche  Übersetzung  sämtlicher  sechs  Lustspiele,  als  deren 
Verfasser  sich  eine  Gemeinschaft  mit  Namen  nicht  genannter, 
hoch  gelerter  lüt,  Doctor  und  meister  bekennt.  Die  Übersetzung  des 
„Eunuchus",  die  hier  an  zweiter  Stelle  erscheint,  ist  aber,  wie  schon 
früher  bemerkt  wurde  2),  mit  der  Ulmer  Übersetzung  des  Hans 
Nithart  so  gut  wie  völlig  identisch.  Wenn  wir  nun  also  gesehen 
haben,  daß  die  Baseler  Arbeit  auch  ihrerseits  vom  Ulmer  „Eunuchus** 
ausging,  wenn  die  Wahrscheinlichkeit  groß  war,  daß  der  Künstler 
dann  auch  handschriftlich  wenigstens  eine  deutsche  „Andria"  in  der 
Hand  gehabt  hat^),  so  werden  wir  vielleicht  der  Vermutung  geneigt 
werden,  daß  das  ganze  Baseler  Illustrationswerk  zunächst  nicht  für 
eine  lateinische  Terenzausgabe,  sondern  zur  Ausschmückung  dieser 
deutschen  Terenzübersetzung  bestimmt  war,  die  dann  also  ursprüng- 
lich in  Basel  bei  Johannes  Bergmann  hätte  erscheinen  sollen.  Wir 
würden  damit  zu  der  literarhistorisch  immerhin  wichtigen  Hypothese 
kommen,  daß  an  dieser  ältesten  deutschen  Gesamtübersetzung  des 
Terenz  Sebastian  Brant  in  hervorragendem  Maße  beteiligt  gewesen, 
daß  er  einer  der  hochgelerten  lüt,  Doctor  und  meister  gewesen  ist. 

Wer  aber  war  der  zweite  Doctor  und  meister,  der  hier  mit 
am  Werke  war  ?  Ich  glaube,  man  wird  zunächst  auf  keinen  andern 
raten  können  als  auf  den  Doktor  Jakob  Locher.  Er  hat  für  den 
Straßburger  Drucker  Grüninger  1499  die  zweite  Auflage  des  latei- 
nischen Terenz  mit  einer  Vorrede  ausgestattet,  und  diese  Tätigkeit 
ist  jedenfalls  nicht  nur  auf  eine  zufällige  und  gelegentliche  Be- 
stellung zurückzuführen,  sondern  entspricht  durchaus  dem  innersten 
Interesse  Lochers  für  den  römischen  Komiker.  Locher  ist  selbst 
seit  der  zweiten  Hälfte  der  90  er  Jahre  einer  der  fruchtbarsten 
humanistischen  Dramatiker  geworden ;  aber  nicht  auf  Grund  dieser 
selbständigen  Leistungen  möchten  wir  ihm  die  Teilnahme  an  der 
deutschen  Terenzübertragung  zuschreiben,  denn  in  seinen  eigenen 


1)  Vgl.  auch  0.  S.  335,  Anm.  1. 

2)  Vgl    meine  Angaben:  MGDESchG   3.  S.  20 f. 

3)  Wie   er  in  dieser  Hinsieht  für  die  übrigen  Stücke  ausgerüstet  war,   läßt  sich  bei 
der  Unmöglichkeit,  das  Material  ganz  zu  überschauen,  vorläufig  nicht  ausmachen. 


344  Lochers  Anteil  an  der  Terenzverdentschung. 

Dramen  ist  die  Anlehnung  an  Terenz  keine  starke.  Wohl  aber 
leitet  uns  Lochers  ganze  Jugendgeschichte  in  die  Bahnen,  die  zu 
einer  von  dem  Ulmer  deutschen  „Eunuchus"  ausgehenden,  mit  Brant 
gemeinsam  verfaßten  Übertragung  des  ganzen  Terenz  führen 
konnten.  Gerade  in  Ulm  nämlich  und  zu  der  Zeit,  als  dort  das 
Werk  des  Hans  Nithart  erschien,  hat  Locher  die  lateinische  Schule 
besucht  (1483 — 87)i).  1487  kam  er  darauf  nach  Basel,  um  Sebastian 
Brants  treuester  Schüler  zu  werden.  Und  als  er  dann  über  die 
Alpen  zieht,  um  an  italienischen  Hochschulen  den  feinsten  huma- 
nistischen Schliff  sich  zu  erwerben,  treffen  wir  ihn  alsbald  in  Hör- 
sälen, in  denen  das  Interesse  für  eine  intime  Beschäftigung  mit 
der  römischen  Komödie  nur  genährt  werden  konnte.  In  Padua  saß 
er  zu  den  Füßen  des  Johannes  Calphurnius,  der  einer  der  berühm- 
testen damaligen  Terenzspezialisten  war;  in  Pavia  hörte  er  bei 
Baptista  Pins,  der  sich  durch  seine  gelehrte  Arbeit  am  Plautus 
einen  Namen  in  der  Weltliteraturgeschichte  erworben  hat;  auch  in 
Ferrara  scheint  er  für  kurze  Zeit  gewesen  zu  sein,  ohne  daß  wir 
freilich  seine  Anwesenheit  bei  einer  der  berühmten  Renaissance- 
vorstellungen nachzuweisen  vermöchten.  Nach  seiner  Heimkehr 
1494  nimmt  er  dann  die  alten  Beziehungen  zu  Sebastian  Brant 
wieder  auf,  und  wir  sehen  die  beiden  Männer  vereint  in  dem  Be- 
streben, hervorragende  Werke  gleichzeitig  lateinisch  und  deutsch 
dem  Publikum  zugänglich  zu  machen:  Locher  hat  bekanntlich 
Sebastian  Brants  „Narrenschiff"  mit  dessen  Genehmigung  in  die  la- 
teinische Form  übertragen,  die  dem  Werke  einen  europäischen 
Erfolg  verschaffen  half.  So  wird  sich  die  Vermutung  durchaus 
rechtfertigen  lassen,  daß  umgekehrt  nun  Brant  ihn  heranzog,  als 
es  galt,  dem  lateinischen  Terenz  einen  deutschen  an  die  Seite  zu 
stellen.  Es  kommt  dazu,  daß  Lochers  Theateranschauungen  mit 
den  Tendenzen,  die  uns  in  den  Baseler  Zeichnungen  und  im  deut- 
schen Terenz  von  1499  entgegentreten ,  durchaus  übereinzustimmen 
scheinen.  Sein  Verständnis  vom  Wesen  des  antiken  Theaters  ist 
nämlich  ein  höchst  geringes:  ihm  scheint  jenes  seltsame,  aller  Wirk- 
lichkeit völlig  widersprechende  Grüningersche  Terenzbild  der  echten 
Antike  aufs  Glänzendste  zu  entsprechen,  wie  er  das  in  jenem  Vor- 
wort zur  zweiten  lateinischen  Terenzausgabe  höchst  charakteristisch 
auseinandersetzt  2);  wer  solche  Anschauungen  hatte,  der  wird  gewiß 

1)  Vgl.  Hehle,  Der  schwäbische  Humanist  Jakob  Locher  (Ehinger Programm  1873)S.9ff. 

2)  In  hoc  opere  Amphitheatri  spatiosiis  circiilits  conspicitiir ,  subsellia  theatrica 
aiileis  amicta ,  tapetis  ornata  ostroque  Thyrio  decorata  et  sijnthesi  quadam  elegantissima 
picluri.sqiie  admiraiitibiis  vennkiilata  cennintiiv.  In  caveis  staut  ordines  spectantiiim ,  in 
Ncannnati  et  proscenio  histriciis  imperator  cum  delegala  ludionnm  caterva  f/estit  plansuni- 
qiie  ab  spertatoribus  aucupiitur.  Quis  non  existiniet,  cum  pktum  spectaculnm  e/'fi(/iala.s- 
qne  fabellas  in  hoc  f'acundissimo  ac  politissimo  opere  conspicit ,  se  Romanum  Pompeia- 
inimque  theatrum  invisere:  viva  omnia  sunt,  quae  tarnen  ad  umbram  tlieatricani,  ad  haie- 
nam  palest licam  ac  vitae  imagines  a  poeta  nostra  excoyitata  sunt. 


Lochers  Anteil  an  der  Terenzvercleutscluuig.  345 

noch  über  die  mittelalterliche  Vorstellung  nicht  hinausgekommen 
sein,  daß  es  sich  bei  den  Lustspielen  des  Altertums  im  allgemeinen 
um  Vorlesungen  handelte.  Nun  sahen  wir  Ja,  wie  auch  das  Wesen 
der  Baseler  Illustrationen  durchaus  im  Epischen  besteht,  und  wel- 
ches die  Tendenz  des  deutschen  Terenz  von  1499  ist,  das  geht  z.  B. 
aus  den  Schlußworten  dieser  Veröffentlichung  deutlich  hervor,  wo 
es  heißt:  Beluit  sijnd  viul  schlahent  die  hend  von  frödeii  zesamen; 
ich  Calliopius  habs  erzellet.  So  stimmt,  wie  mir  scheint,  hier  alles 
so  vorzüglich  zusammen,  daß  sich  der  Versuch  einer  stilgeschicht- 
lichen Untersuchung  des  Problems  durchaus  empfiehlt;  in  unserm 
Zusammenhange  kann  er  natürlich  nicht  gemacht  werden.  Halten 
wir  aber  einmal  an  der  Hypothese  fest,  so  erklärt  sich  nun  auch 
das  Ende  der  ganzen  Baseler  Unternehmung  aufs  deutlichste.  Aus 
irgend  welchen  Gründen  —  sei  es,  daß  der  Verleger  nun  doch  die 
Kosten  für  das  große  Werk  scheute  und  deshalb  keine  oder  nur 
wenige  Zeichnungen  schneiden  ließi),  sei  es,  daß  Brant  damals 
schon,  im  Bewußtsein,  Basel  bald  verlassen  zu  müssen,  Beziehungen 
zu  Straßburg  suchte,  wo  wir  ihn  dann  von  1501  an  treffen  —  unter- 
blieb der  Abschluß ;  Jakob  Locher,  der  von  seinem  eigenen  lyrisch- 
dramatischen Sammelband,  von  der  durch  ihn  besorgten  ersten 
Horazausgabe  und  nun  auch  von  der  zweiten  Terenzedition  her 
mit  Grihiinger  in  Verbindung  stand,  bewog  diesen,  die  Ausgabe  der 
Übersetzung  zu  übernehmen,  die  ihm  keine  sonderlichen  Ausgaben 
fih'  Illustrationen  machte,  da  er  im  Ganzen  einfach  die  Holzschnite 
des  lateinischen  Terenz  noch  einmal  wiederholen  konnte.  So  kam 
auch  die  Geschäftsverbindung  zwischen  Grihiinger  und  Sebastian 
Brant  zu  Stande,  der  für  diesen  Straßburger  Verlag  schon  1502 
die  große  Vergiledition  übernahm  und  im  nächsten  Jahre  dann 
auch  Grüningers  lateinische  Terenzausgabe  durch  eine  Überarbeitung 
im  Sinne  der  antiken  Metrik  erst  zu  eigentlich  wissenschaftlicher 
Bedeutung  erhob. 

So  hofft  unsere  Betrachtung  zunächst  ein  doppeltes  Ergebnis 
gehabt  zu  haben :  ein  literaturgeschichtliches,  das  sich  auf  die  Autor- 
schaft der  Übersetzung  bezieht,  und  ein  kunstgeschichtliches.  Denn 
nicht  nur  wird  die  Neigung,  die  Baseler  Zeichnungen  Dürer  zuzu-, 
schreiben,  jetzt,  wo  wir  für  ihre  Entstehung  in  die  Jahre  1497 — 98 
gekommen   sind,    noch    geringer   geworden  sein   als   früher 2),  wir 


1)  Im  Ganzen  sind  zwölf  geschnitten;  Weisbach  hält  diesen  Schnitt  für  eine 
spätere  Arbeit  des  16.  Jahrhunderts. 

2)  Mag  man  selbst  mit  der  Energie,  die  Burckhardt,  JbPreussKunsts.  1907,  S.  168 ff. 
und  Koegler,  RepKunstw.  1907,  S.  195 ff.  bekunden,  die  von  Weisbach  für  Spuren  einer 
Baseler  Tätigkeit  des  Bergmannmeisters  in  den  J.  1495/9  angesehenen  Holzschnitte  für 
Reste  seiner  Anwesenheit  1492/4  erklären,  so  ist  doch  nun  durch  die  Umdatierimg  der 
Terenzzeichnungen  die  Baseler  Existenz  des  Meisters  für  eine  Zeit  nachgewiesen,  in  der 
Dürer  längst  in  Nürnberg  war.     Neuerdings  bemüht  sich  Röt tinger  a.  a.  0.  S.  39ff.  auf 


g^g  Der  Venetianer  Terenz. 

werden  vielmehr  auch  für  ihre  künstlerische  Schätzung  im  Einzelnen 
neue  Gesichtspunkte  gewonnen  haben.  Wenn  z.  B.  als  das  schönste 
Bild  der  Reihe  die  Zeichnung  zuEunuchusIV,5(Abb.  54,  s.  o.S.340)  ge- 
priesen wurde,  „wo  mit  echt  deutscher  Innerlichkeit  und  Gemütstiefe 
aus  der  Hetäre  ein  gutes  deutsches  Blh-germädchen  geworden  ist, 
das  schüchtern  und  sittsam  die  Augen  niederschlägt,  während  der 
neben  ihr  sitzende  Chremes  ihre  Hand  ergriffen  hält"  i),  so  sehen 
wir  jetzt,  daß  diese  Metamorphose  nicht  das  Verdienst  des  Baseler 
Künstlers  ist,  daß  sie  vielmehr  schon  auf  das  Konto  seines  Vor- 
bildes, des  Ulmer  Meisters,  zu  setzen  ist  2).  Was  endlich  die  dritte 
Seite  der  Frage,  die  eigentlich  theatergeschichtliche  betrifft,  so  ist 
unser  Ergebnis  zunächst  allerdings  ein  rein  negatives:  wir  haben 
gesehen,  daß  ein  eigentlicher  Zusammenhang  mit  einer  Aufführung 
in  irgend  welchem  Sinne  nicht  besteht.  Immerhin  wäre  es  aber 
möglich,  daß  der  Künstler  bei  der  Wiedergabe  der  Kostüme  und 
der  Bewegungen  seiner  Lustspielfiguren  doch  von  Erinnerungen  an 
die  gleichen  Elemente  der  damaligen  geistlichen  oder  weltlichen 
Aufführungen  bestimmt  worden  sein  könnte,  und  in  diesem  Sinne 
trifft  es  sich  gut,  daß  wir  neben  seine  Terenzillustrationen  seine 
Zeichnungen  zu  rein  epischen  Werken  vergleichsweise  zu  legen 
vermögen. 

Der  Venetianer  Terenz. 
Erst  als  letztes  Ghed  tritt  Italien,  wo  doch  zuerst  wirkliche 
Aufführungen  der  antiken  Komödien  zu  Stande  gekommen  waren, 
in  die  Reihe  der  Länder  ein,  die  illustrierte  Ausgaben  des  Terenz 
lieferten;  und  als  im  Jahre  1497  bei  Lazarus  Soardus  in  Venedig 
der  erste  illustrierte  Terenz 3)  erscheint,  da  ist  von  einer  solchen 
Selbständigkeit  der  Arbeit,  wie  wir  sie  bei  dem  Einsetzen  in 
Deutschland  und  in  Frankreich  beobachtet  hatten,  nicht  die  Rede: 
längst  hat  die  kunsthistorische  Forschung^)  bemerkt,  daß  dieser 
Venetianer  Arbeit  der  Lyoner  Terenz  vom  Jahre  1493  als  Vorlage 


der  Suche  nach  einem  Mann,  der  Dürers  Schatten  gewesen  sein  muß,  da  seine  Art  später 
in  Nürnl)erg  wieder  auftaucht,  den  Bergmannmeister  mit  dem  bisher  wenig  beachteten 
Hans  Wächtlin  zu  identifizieren,  der  1497  oder  1498  als  Dürers  Gehilfe  von  Basel  nach 
Nürnberg  übergesiedelt  sein  müßte.  Dieser  Hypothese,  deren  Richtigkeit  im  übrigen  hier 
nicht  weiter  nachgeprüft  werden  kann,  muß  unsere  neue  Datierung  des  Terenz  recht  will- 
kommen sein. 

1)  Weisbach.  Übrigens  ist  es  nicht  die  Hetäre,  sondern  ihre  Magd  Pythias. 
Der  Fehler  ist  durch  die  Burckhardtsche  Szenennumerierung  und  Inhaltsangabe  entstanden. 

2)  Röttinger  a.  a.  O.  möchte  gar  die  ganzen  Erzeugnisse  jener  Ulmer  Kunst 
(Seelenwurzgärtlein,  Lirer,  Terenz)  für  Arbeiten  seines  Hans  Wächtlin  ansehen! 

3)  Hain  N.  15  429.  Exemplar  in  der  Bibliothek  des  Kgl.  Kunstgewerbemuseums  in 
Berlin;  die  Abbildungen  wurden  mit  freundlicher  Erlaubnis  der  Direktion  hergestellt.  Die 
Szenenbilder  sind  in  Originalgröße  gegeben,  das  Gesamttheaterbild  mißt  im  Urdruck 
24x15,7  cm. 

4)  Lippmann,  .IbKPreußKunsts.  5,  S.  26. 


Venetianer  Terenz:  Gesainttheaterdarstellung. 


347 


Abb.  56.     Venetianer  Terenz;  Gesamttheaterdarstellunc 


348  Venetianer  Terenz:  Gesamttbeaterdarstellung. 

gedient  hat.  Auch  in  den  rein  gelehrten  Beigaben  zum  Texte  zeigt 
sich  dieser  Zusammenhang  deuthch;  allerdings  ist  der  Text  selbst 
bereits  in  metrischer  Form  gegeben,  und  den  Kommentaren  des 
Donatus,  des  Guido  Juvenalis  und  des  Badius  sind  hier  auch  Er- 
läuterungen jenes  Johannes  Calphurnius  hinzugefügt,  den  wir  be- 
reits in  anderm  Zusammenhange :  als  den  Lehrer  des  Jakob  Locher 
kennen  gelernt  haben.  In  Bezug  auf  die  Illustration  ist  zunächst 
wieder  die  Gesamtanlage  die  uns  schon  bekannte:  zuerst  das  Bild 
des  Dichters,  dann  eine  Darstellung  des  Theaters  und  endlich  die 
Bilder  zu  den  einzelnen  Szenen.  Hinsichlich  der  beiden  ersten 
großen  Holzschnitte  fällt  die  Anlehnung  an  das  Lyoner  Werk  nicht 
sofort  in  die  Augen;  Terenz  ist  hier  nicht  einsam  in  seiner  Studier- 
stube dargestellt,  sondern  in  einem  feierlichen  Saale  von  echt 
venetianer  Ausstattung  auf  dem  obersten  Ehrensitze  thronend  und 
gleichsam  den  Vorsitz  führend  über  vier  seiner  antiken  Kommen- 
tatoren, unter  denen  Donatus  ausdrücklich  genannt  ist  und  zu  deren 
Füßen  wieder,  mit  der  Feder  beschäftigt,  zwei  moderne  Erläuterer, 
jedenfalls  Guido  Juvenalis  und  Calphurnius,  sitzen.  Und  auch  das 
von  uns  (Abb.  56,  S.  347)  wiedergegebene  Bild  des  Theaters,  das  zu  den 
entzückendsten  Leistungen  des  altvenetianer  Holzschnittes  gehört,  ist 
von  dem  Lyoner  Theater  etwa  so  weit  entfernt  wie  das  Theaterbild 
der  Straßburger  oder  der  Baseler  Ausgabe.  Auch  hier  nämlich  ist  in 
der  Hauptsache  nur  der  Zuschauerraum  dargestellt,  in  dem  wir  aber 
hier  nicht  wie  in  Straßburg  das  vornehme  Publikum  von  dem  nie- 
deren gesondert  finden,  wo  vielmehr  ausgezeichnet  beobachtete  Ty- 
pen aus  allen  Ständen  Venedigs  neben  einander  Platz  genommen 
haben;  auch  für  ein  paar  Zaungäste  ist  gesorgt.  Dieser  Zuschauer- 
raum stellt  einen  Halbkreis  dar,  dessen  hintere  Wand  durch  Arka- 
den unterbrochen  wird,  und  hier  treffen  wir  anders  als  in  Lyon  und 
Straßburg  echte  Renaissancearchitektur;  freilich  läßt  die  Zeichnung 
in  perspektivischer  Hinsicht  sehr  zu  wünschen  übrig.  Die  Anleh- 
nung an  das  Lyoner  Bild  tritt  nun  aber  darin  hervor,  daß  dieser 
Zuschauerraum,  ganz  unantik,  überdacht  ist.  Die  Bühne  selbst  da- 
gegen ist,  so  viel  wir  von  ihr  sehen  können,  ungedeckt;  freilich 
sind  eben  nur  die  beiden  äußersten  Vorsprünge  sichtbar,  und  da 
zeigen  sich  rechts  und  links  Teile  jener  von  einem  Vorhang  ge- 
deckten Häuserzellen  des  Badius.  Auch  diese  Darstellung  und  ihre 
Ergänzung  durch  die  folgenden  kleinen  Bilder  aber  hat  mit  irgend 
einer  Wirklichkeit  nichts  zu  schaffen,  sondern  ist  reines  oder  aus 
zweiter  Hand  empfangenes  Phantasiegebilde;  dafür  spricht  nicht 
nur  die  baulich  doch  wohl  nicht  mögliche  Gesamtanlage,  nicht 
nur  der  Umstand,  daß  wir  weiteriiin  auf  den  Szenenbildern  rechts 
und  links  von  den  Häusern  gelegentlich  kleine  Landschaftsreste 
gezeichnet  finden,  die  doch  den  ganzen  Sinn  jener  von  Badius  er- 
dachten Bühnenanlage  umstoßen;  wir  haben  vielmehr  auch  ein  aus- 


Venetianer  Tereiiz:  die  Szenenbilder. 


349 


drückliches  Zeugnis  des  Druckers  Soardus,  auf  das  wir  uns  berufen 
können;  es  stammt  freilich  nicht  aus  diesem  Terenz  vom  Jahre  1497, 
sondern  erst  aus  einem  illustrierten  Plautus  vom  Jahre  1511,  in  dem 
aber  der  nämliche  Holzschnitt  zur  Darstellung  des  Theaters  noch 
einmal  benutzt  worden  ist.  Hier  bemerkt  der  Verleger  in  einem 
Schlußwort  (fol.  189a),  er  habe  die  Illustrationen  herstellen  lassen: 
qiioniam  in  prnesentia  niillae  vel  ac/uniur  uel  a(/i  fabiilae  po.ssiint 
proindeqiie  talihiis  ac  lihero  dignis  homine  voliiptütihus  privamiir. 
Besonders  deutlich  aber  fällt  es  in  die  Augen,  daß  die  nun  fol- 
genden Szenenbilder  bis  ins  Einzelne  sich  an  die  Lyoner  Illustra- 
tionen anlehnen.  Das  ganze  Zellensystem  ist  genau  das  nämliche, 
abgesehen  davon,  daß  auch  hier  wieder  die  wunderliche  dekorative 
Ausschmückung  durch  eine  einfache  und  mögliche  ersetzt  worden 
ist.  Die  Anordnung  der  Gestalten  mit  allen  den  seltsamen  theater- 
widrigen Juxtapositionen,   die  Bewegungen,    die  Kostüme   sind  ge- 


r Y  V  V  ^r^  V  Y  V Y  7  V  Y  VN  V  vr / V  y  V  V  V  V  7  Y  Y  Y  TT ^ 


'r    JCm.      ^ifH    -Clprc.    ^^'f^^übii.    Sy^     ^oSx.     ^^ 


Abb.  57.     Venetianer  Terenz:  Andria  III  (v.  453  ff). 

treu  nachgebildet  oder  doch  nur  aus  dem  Lyonischen  ins  Venetia- 
nische  übersetzt.  Diese  Übersetzung  bezieht  sich  vor  allem  auf 
die  Veränderung  des  Formats:  die  Szenenbilder  sind  samt  und 
sonders  in  den  Venetianer  Vignettenstil  tibertragen,  der  seit  dem 
Jahre  1489  aufgekommen  war  und  bekanntlich  das  Vorbild  für  den 
größten  Teil  der  europäischen  Bücherillustrationen  im  16.  Jahrhun- 
dert geworden  ist.  So  ist  alles  aus  der  derben  Grazie  des  nieder- 
ländischen Meisters,  der  für  Badius  gearbeitet  hatte,  in  die  zier- 
liche Grazie  dieser  Venetianer  Kunst  übertragen  worden,  und  die 
sehr  reale  Körperhaftigkeit  der  Lyoner  Gestalten  hat  einer  selt- 
samen Körperlosigkeit  Platz  gemacht;  an  die  Stelle  der  ausgebil- 
deten Schattierung  ist  die  Venetianer  Art  getreten,  die  nur  mit 
feiner  Andeutung  der  Umrisse  und  höchstens  ganz  geringer  Mo- 
dellierung der  Innenformen  arbeitet.  Lippmann,  ein  ausgezeich- 
neter Kenner  dieser  Kunst,  hat  die  Ansicht  aufgestellt,  daß  die 
beiden  Vollbilder  sowohl  wie  die  kleinen  Vignetten  von  der  Hand 


350 


Venetianer  Terenz:  die  Szenenbilder. 


des  Meisters  herrühren,  der  seine  Leistungen  häufig  mit  einem 
kleinen  b  bezeichnet,  und  mir  scheint  dieser  Ansicht  auch  durch 
einen  späteren  Angriff  nicht  erschüttert  zu  sein,  durch  den  dem 
Meister  b,  der  zu  den  glänzendsten  Vertretern  der  venetianischen 
Kunst  aus  Bellinis  Schule  gehört  •),  dem  Illustrator  der  „Hypnero- 
tomachiaPoliphiU",  nur  die  beiden  großen  Holzschnitte  gelassen,  die 
Vignetten  aber  als  unbedeutende  Leistungen  abgesprochen  werden 
sollen^).  Allerdings  ist  die  Vignettenkunst  des  Meisters  b  hier  nicht 
auf  der  Höhe,  wie  sie  uns  etwa  durch  einige  seiner  Leistungen  in 
der  Malermi-Bibel  vom  Jahre  1490  gezeigt  wird,  aber  wir  haben 
dafür  eine  ausreichende  Erklärung:  der  Meister  kann  bei  dieser 
Arbeit  nicht  mit  dem  Herzen  gewesen  sein,  da  ihm  hier  durch  die 
Notwendigkeit  eines  genauen  Anschlusses  an  die  Vorlage  die  Hände 
gebunden  waren,  während  er  bei  den  biblischen  Darstellungen  trotz 
aller  Benützung  der  Kölner  Bibelbilder  von  1479  doch  freier  schalten 


Abb.  58.     Venetianer  Terenz:   Eunuehus   1,1. 

konnte  und  eine  sehr  große  Zahl  von  Illustrationen  auch  völlig  frei 
geschaffen  hat.  Diese  Unlust  offenbart  sich  in  der  ausgeprägten  Flüch- 
tigkeit, mit  der  die  zahlreichen  Terenzvignetten  gearbeitet  sind. 
Auf  die  Lyoner  Scheidung  der  sechs  Komödien  hinsichtlich  der 
Zusammenstellung  der  Häuserzellen  kommt  er  erst  während  der 
Arbeit,  und  eine  ziemlich  sinnlose  Ungleichmäßigkeit  ist  die  Folge, 
so  daß  das  Bühnenbild  innerhalb  eines  Stückes  nicht  immer  das 
gleiche  bleibt;  es  kommt  ferner  vor,  daß  die  Personen  aus  falschen 
Häusern  herauskommen,  ja  daß  nach  einem  offenbar  nur  ganz 
flüchtigen  Blick  auf  die  Vorlage  eine  ganz  andere  Person  als  der 
Text  es  verlangt,  gezeichnet  wird;  die  Körperlosigkeit  der  Gestalten 
steigert  sich  zumal  bei  der  Darstellung  von  Figuren,  die  nur  halb 
hinter  dem  Vorhang  hervorsehen,  zu  einem  förmlich  geisterhaften 

1)  Zu   Lippmanns  Identilikalion  die.ses  Mei.sters  1)  mit  Jacopo  dei   i^arliari  vermähr 
ich  mich  nicht  zu  bekennen. 

2)  Kristeller. 


Venetianer  Terenz:   die  Szenenbilder.    Holzschnitte  des  16.  .Jahrhunderts. 


351 


Verschwimmen.  Aber  eben  diese  Körperlosigkeit,  die  liier  bei  der 
flüchtigen,  unlustigen  Arbeit  outriert  wird,  ist  doch  ein  besonderes 
Kennzeichen  der  Art  des  Meisters  b,  und  wenn  Lippmann  ferner 
als  besonders  charakteristisch  für  ihn  die  Abneigung  gegen  das 
Übereinanderschieben  der  Personen  bezeichnet,  so  zeigt  gerade  ein 
Vergleich  der  Terenzvignetten  mit  ihren  Lyoner  Vorbildern,  daß 
wir  es  hier  mit  einem  Zeichner  zu  tun  haben,  der  solche  Abneigung 
im  höchsten  Maße  besitzt:  fast  überall  sind  die  Gruppen,  die  der 
Lyoner  Künstler  ^besonders  gern  durch  engste  Aufeinanderhäufung 
der  Gestalten  erzielt,  auseinander  gezogen,  so  daß  jede  Person  für 
sich  dasteht.  So  sind  wir  also  auch  hier  in  der  glücklichen  Lage, 
andere  Bilder  dieses  Meisters  neben  seine  Terenzzeichnungen  zu 
legen,  um  etwa  wenigstens  hinsichtlich  des  Kostüms  und  der  Be- 
wegungen wirklich  Theatermäßiges  in  seinen  Leistungen  erkennen 
zu  können;  denn  daß  auch  diesem  Künstler  der  enge  Zusammen- 


■  1  ■        ~~^ '      1 1    '  '    '  r^ ' '  I — 


to*\a.   '^'D?ai,    Wp^g.     '^jyp'~ZwX 


Abt).  59.     Venetianer  Terenz:  Eunuchus  II,  2  iv.  232  ff.). 

hang  der  antiken  Aufführungen  mit  den  damaligen  theatralischen. 
Darbietungen  aufgefallen  ist,  zeigt  das  große  Theaterbild :  die  Rolle 
des  Terenzischen  Prologsprechers  hat  hier  ein  moderner  Narr. 

Holzschnitte  des  16.  Jahrhunderts. 
Das  16.  Jahrhundert  hat  nun,  wenigstens  in  seiner  ersten  Hälfte, 
in  der  Illustration  der  antiken  Dramen  Neues  nicht  mehr  geleistet  i), 
sondern  nur  mit  dem  Kapital  gearbeitet,  das  das  15.  hinterlassen 
hat.  Das  Nachdenken  über  antikes  Theater  scheint  den  Gelehrten 
nicht  mehr  lohnend:  mehr  und  mehr  beweisen  die  gelehrten  Bei- 
gaben, daß  die  Tätigkeit  der  Philologen  auch  für  den  Terenz  auf 
Textreinigung,  auf  die  Erledigung  metrischer  Fragen  und  allenfalls 
auf  Sacherklärung  sich  beschränkte.  Am  meisten  ins  Hintertreffen 
gerät  Deutschland;  hier  ist  eigentlich  nur  noch  auf  zwei  Leistungen 
hinzuweisen,  die  streng  genommen  in    unsern  Zusammenhang  gar 

1)  Der  1552  zu  Paris  bei  J.  de  Roigny  gedruckte  Terenz  führt  schon  in  eine  neue  Welt. 


352  Holzschnitte  des  16,  Jahrhunderts:  Deutschland,  Italien. 

nicht  mehr  gehören,  weil  sie  nicht  Szene  für  Szene  bildhch  erläu- 
tern, sondern  sich  damit  begnügen,  jeder  Komödie  einen  Holzschnitt 
beizugeben;  und  auch  diese  Holzschnitte  sind  keine  Originalleistungen 
sondern  alte  Bekannte  treffen  wir  in  ihnen  wieder,  wenn  auch  in 
etwas  veränderter  Form.  Als  der  Pariser  Gelehrte  Paulus  Malleo- 
lus  im  Jahre  1503  eine  neue  Terenzausgabe,  die  er  durch  einen 
Widmungsbrief  an  Robert  Gaguin,  den  Gönner  des  Jodocus  Badius, 
einleitete,  in  Straßburg  bei  Johannes  Prüß  drucken  ließ,  da  griff 
dieser,  um  doch  auch  einen  Bilderschmuck  zu  haben,  nach  den 
Terenzausgaben  seines  Stadtgenossen  Grüninger  und  ließ  mit  un- 
wesentlichen Veränderungen  i)  die  sechs  gänzlich  unantiken  Voll- 
bilder von  zwei  uns  nicht  weiter  bekannten  Künstlern  nachzeichnen 
und  schneiden;  diese  Prüß'schen  Bilder  haben  dann  ihrerseits  wieder 
im  Jahre  1559  dem  Verleger  einer  Neuauflage  der  zuerst  1539  ohne 
Illustrationen  gedruckten  BoltzschenTerenzübersetzung  als  Vorlagen 
für  seine  sechs  Terenzbilder  gedient,  die  die  letzten  Ausläufer  jener 
Straßburger  Entwicklung  darstellen,  ein  eigentlich  theatergeschicht- 
liches Interesse  aber  kaum  mehr  beanspruchen  können. 

Dagegen  spielen  in  Italien  die  Terenzillustrationen,  wenn  man 
lediglich  nach  der  Zahl  der  Auflagen  sieht,  eine  ungemein  bedeu- 
tende Rolle,  und  so  groß  war  offenbar  der  Erfolg  dieser  Bücher, 
daß  der  Verleger  Soardus,  als  er  im  Jahre  1511  die  schon  erwähnte 
Plautusausgabe  veranstaltete,  nun  endlich  das  Illustrationsprinzip 
auch  auf  diesen  Autor  übertrug.  Auch  hier  aber  ist  es  keine  Frage, 
daß  die  gelehrten  Herausgeber  und  Texterklärer  mit  dieser  Illustra- 
tion nichts  zu  schaffen  gehabt  haben:  Soardus  selbst  übernimmt 
für  sie  in  jenem  schon  früher  zitierten  Schlußwort  die  Verantwor- 
tung: ....  meae  esse  partis  piitavi,  qui  vos  alias  offlciis  solitus  essem 
promereri,  totis  contendens  viribus,  ne  meam  ampliiis  operam  hac  in 
parte  desideretis,  qiiippe  cum  litteratis  hominibus,  quotquot  ahmt  Ve- 
netiae,  familiariter  uiar  ac  semper  sim  usus,  Victore praesertim,  quem 
ob  ingenii  suavitatem  eruditionemque  non  vulgarem  mihi  potissi- 
mum  amicitiae  vinculo  copulavi.  Quamobrem,  ne  penitus  spectandi 
voluptate  careatis,  quam  maxime  diximus  esse  momenti,  vobis  de- 
pictas  singulis  fabularum  actibus  scenas  curavimus  annotari,  nee 
minus  histrionum  in  orchestra  saltantium^)  imagines  monogram- 
mate  tantum  de  more  veterum  addimus  comprehensas  .  .  .  Sola 
enim  pictura  quaecunque  olim  visa  sunt,  iisdem  Herum  oculis  subici 
polest-'^). 

Tatsächlich  aber  hat  er  nun,  abgesehen  von  der  Wiederholung 
jenes  Theaterbildes,  nicht  einmal  das  Prinzip  seiner  alten  Terenz- 
illustrationen zum  Muster  genommen,  sondern   sich  seine  Aufgabe 


1)  Sie  sind  zum  Teil  sinnlos  genu^:  die  Hetäre  Chrysis  sitzt  ;im  Sjjinurad. 

2)  Schon  vorher  spricht  er  von  den  moderatae  saltationes. 

3)  Vgl.  o.  S.  302. 


NachhildiiiiK  der  italienischen  Tercnzbildtn'  durch  das  wirkliclie  Theater.         353 

SO  leicht  wie  möglich  gemacht  durch  die  Übernahme  jenes  nur 
finanziell  empfehlenswerten  Verfahrens,  das  er  den  Straßburger 
Terenzausgaben  des  Johannes  Grüninger  abgesehen  hatte:  durch 
die  Einführung  des  Clichesystems,  das  nun  hier,  wo  er  im  übrigen 
den  Vignettenstil  beizubehalten  sucht,  künstlerisch  vielleicht  noch 
weniger  Sinn  hat  als  auf  den  Straßburger  Bildern;  so  kommt  er 
mit  sechs  Bäumen  und  vier  Häusern  für  den  ganzen  Plautus  aus. 
Die  letzteren  stehen  der  Manier  des  von  ihm  verlegten  Terenz  in 
sofern  näher,  als  tatsächlich  nicht  wie  in  Straßburg  ganze  Häuser, 
sondern  bloß  Tih'en  vorgeführt  werden,  die  aber  anderseits  nicht 
mit  einem  Vorhang  verhängte  Rahmen  sind,  sondern  als  wirkliche 
halbgeöffnete  Türen  dargestellt  werden.  Für  die  Theatergeschichte 
kommt  auch  diese  Ausgabe  somit  kaum  in  Betracht;  einige  Nach- 
ahmer aber  hat  sie  doch  gefunden. 

Theatergeschichtlich  viel  wichtiger,  aber  in  einem  andern  Sinne, 
sind  hier  in  Italien  doch  die  Terenzillustrationen,  welche  in  immer 
wiederholten  Ausgaben  auf  den  Markt  kamen,  zunächst  unter 
Benutzung  der  alten  Stöcke,  dann  seit  dem  Jahre  1518  in  neuen 
Nachzeichnungen  und  Nachschnitten,  in  denen  die  Flüchtigkeit 
der  Vorbilder  ins  Grenzenlose  gesteigert  und  ein  recht  talentloser 
Zeichner  an  der  Arbeit  gewesen  ist.  Meist  verschwinden  auf 
diesen  Bildern  sogar  die  die  einzelnen  Zellen  trennenden  Säulen, 
nur  ein  Vorhang  bildet  die  hintere  Dekoration,  und  lediglich  die 
Buchstaben  auf  dem  über  dem  Vorhang  herlaufenden  Querbalken 
deuten  die  einzelnen  Häuser  an.  Venedig  bleibt  der  Hauptmarkt 
für  diese  illustrierten  Ausgaben,  die  bis  weit  über  die  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  hinaus  zu  verfolgen  sind ;  anderwärts,  z.  B.  in  Mai- 
land, handelt  es  sich  um  Nachahmungen  des  gleichen  Stils.  Die 
Bedeutung  dieser  Ausgaben  für  die  Theatergeschichte  liegt  in  ihrer 
Fülle.  So  oft  nämlich  wurde  auf  solche  Art  den  Italienern  diese 
Zellenbühne  als  das  echte  antike  Theater  vorgeführt,  daß  man 
schließlich  den  Versuch  machte,  Aufführungen  antiker  Dramen 
mit  Benutzung  dieser  Dekoration  zu  veranstalten.  Im  Jahre  1513 
wurde  in  Rom  auf  dem  Kapitol  ein  hölzernes  Theater  durch  die 
Mediceer  erbaut,  dessen  Dekoration  mir  wenigstens  nach  dem  Muster 
dieser  illustrierten  Terenze  angelegt  zu  sein  scheint:  ^sie  war  voll- 
ständig frei  und  w'urde  nur  hinten  durch  eine  prachtvolle  dekorative 
Schauwand,  die  Rückwand  des  Theaters,  getrennt,  die  durch  Pilaster 
mit  vergoldeten  Basen  und  Kapitalen  in  fünf  Abteilungen  gegliedert 
war.  In  jeder  dieser  Abteilungen  befand  sich  eine  Tih' von  der  Größe, 
wie  es  bei  Privathäusern  üblich  ist.  Alle  diese  Türen  wurden  durch 
Portieren  vom  feinsten  Goldstoff  geschlossen  und  waren  an  Gesim- 
sen und  Architraven  mit  außerordentlich  schönerMalerei  geziert",  i) 

1)  Diese  Beschreibung  bei  Flechsig  S.  52  auf  Grund  der  Relationen  des  Palliolo  und 
des  Altieri. 

Herr  in  a  ii  n  ,  Theater.  23 


354  Bilder  und  Biiline.     Terenzillustrationen  in  Frankreicii. 

Wenn  wir  dann  noch  hören,  daß  sich  auf  den  beiden  Seiten- 
flügehi  der  Bühne  zwei  große  Tore  befanden,  auf  denen  ge- 
schrieben stand :  Via  ad  forum,  durch  deren  eines  die  Darsteller 
auf  die  Bühne  kamen,  während  sie  sich  durch  das  andere  ent- 
fernten, so  wird  das  vielleicht  auf  eine  Benutzung  der  uns  auch 
noch  heute  wichtigen  Mitteilungen  des  antiken  Scholiasten  PoUux 
zurückzuführen  sein,  dessen  „Onomasticon"  durch  die  Ausgabe  des 
Aldus  Manutius  im  Jahre  1502  bekannt  geworden  war.  Die  gleiche 
Einrichtung  des  Bühnenhintergrundes  mit  den  einzelnen  „Szenen" 
d.  h.  Haustiu^en  hat  sich  dann  in  Deutschland  nachweisen  lassen, 
wo  sie  zuerst  der  Leipziger  Rektor  J.  Muschler  gelegentlich  der 
von  ihm  um  1530  veranstalteten  Aufführung  der  verdeutschten 
„Hecyra"  beschreibt  ij,  und  diese  Terenzbühne,  die  in  den  alten  Illu- 
strationen ihren  Ursprung  hat,  hat  dann,  wie  an  anderer  Stelle 
dieses  Buches  (S.  16)  gezeigt  wurde,  sogar  für  die  bürgerlichen 
Aufführungen  deutscher  Schauspiele  zeitweilig  als  Vorbild  gedient. 
In  Frankreich  dagegen  ist  von  einem  solchen  Zusammenhang 
der  Terenzillustrationen  mit  lebendigen  Aufführungen  zunächst 
nichts  zu  spüren ;  im  Gegenteil  wird  es  hier  alsbald  deutlich,  welche 
Kluft  zwischen  diesen  Bildern  und  dem  wirklichen  Theater  bestehen 
bleibt;  es  wird  kein  Zufall  sein,  daß  uns  für  Frankreich  keine 
einzige  Terenzaufführung  urkundlich  bezeugt  ist. 2)  Als  um  das 
Jahr  1500  bei  Verard  in  Paris  die  erste  französische  Terenzüber- 
setzung  erscheint,  da  greift  man  hier  in  der  Stadt,  wo  jetzt  Jodo- 
cus  Badius  selbst  als  Buchdrucker  tätig  war,  nicht  zu  seinen  Illu- 
strationen, die  doch  tatsächlich  eine  lebendige,  wenn  auch  nicht 
echt  antike  Bühnenvorstellung  bargen,  sondern  man  hält  sich  an 
den  ganz  und  gar  unmöglichen  Straßburger  Terenz  von  1496  und 
zeichnet  in  künstlerisch  ihm  überlegenen  und  stilistisch  nicht  un- 
interessanten, theatergeschichtlich  aber  natürlich  wieder  kaum  er- 
giebigen Darstellungen  zunächst  das  Straßburger  Gesammttheater 
und  das  erste  der  sechs  Vollbilder"^)  nach,  um  dann  endlich  die 
Einzelszenen  wiederum  durch  Benutzung  des  Clichesystems  und 
Nachahmung  der  Straßburger  Cliches   von   1496-1)   zu   ermöglichen. 


1)  P.  Expeditus  Schmidt.  Die  Bühnen\erhältnisse  des  deutschen  Schuldramas, 
S.  12-iff.  (vgl.  S.  186 ff.)  hat  den  Zu.sammenhang  zwischen  den  italienischen  Bildern  und 
der  gereimten  Beschreibung,  die  Muschler  von  seiner  Bühne  gibt,  richtig  erkannt;  aber 
gar  kein  Grund  liegt  für  seine  Annahme  vor,  daß  Muschler  unmittelbar  nach  den  alten 
Bildern  gearbeitet  und  so  jene  Einrichtung  der  Schulbühne  erst  geschaffen  habe. 

2)  Die  von  Creizenach  2,  S.  58f.  erwähnte  Aufführung  in  Metz  koniiiit  nicht  in 
Betracht,  da  Metz  ja  nicht  in  Frankreich  lag. 

3)  Unsinnigerweise  wird  dies  Andriabild  vor  dem  „Phormio"  wiederholt:  vor  dem 
..Heautontimoroumenos"  sind  sämtliche  im  Stück  verwendeten  Cliches  auf  einer  Seite  zu- 
sammengestellt; vor  den  drei  andern  Komödien  steht  immer  wieder  das  Theatriim.  Der 
Titelholzschnitt  —   der  Drucker  überreicht  das  Werk  dem  König  —  geht  uns  hier  nichts  an. 

4)  Es  ließe  sich  im  einzelnen  zeigen,  daß  die  erste  Straßburger  Ausgabe  das  Vorbild  bot. 


Franz()sische  Terenzbilder.     Theatergeschiclitliche  Ergebnisse.  355 

Als  im  Jahre  1539  die  gleiche  Übertragung  unter  dem  Titel  „Le 
grand  Terence"  noch  einmal  erscheint,  stellt  man  eine  höchst  eigen- 
tinnliche  Mischung  her,  die  die  völlige  Entfernung  von  Jeder  leben- 
digen Theatervorstellung  auf  das  Schärfste  kenntlich  macht.  Dies- 
mal sind  nämlich  die  alten  Lyoner  Bilder  benutzt  i):  das  Theater 
und  die  einzelnen  Szenenvorführungen;  aber  als  ob  es  dem  Ver- 
leger leid  getan  hätte,  daß  er  damit  etwas  Bühnenmögliches  lieferte, 
hat  er  jedem  Szenenbild  ein  Häusercliche  von  der  Straßburger  Art 
an  die  Seite  gestellt.  Endhch  erscheint  im  Jahre  1552  in  Paris  ein  la- 
teinischer Terenz  mit  vielen  gelehrten  Beigaben,  die  mit  jenen  Kom- 
mentaren des  15.  Jahrhunderts  nichts  mehr  zu  tiui  haben  und  lauter 
Philologen  des  16.  zu  Worte  kommen  lassen,  wobei  denn  ein  paar  ge- 
legentliche theaterphilologische  Bemerkungen  völlig  in  der  Masse 
der  textkritischen  und  sacherklärenden  Ausführungen  verschwinden. 
Die  hier  beigefügten  Bilder  aber  stellen  sich  auf  den  ersten  Blick 
als  ziemlich  getreue  Nachbildungen  der  venetianischen  Terenzvi- 
gnetten  dar  2),  so  daß  man  also  auf  dem  Umwege  über  Italien  das  be- 
zog, was  doch  einst  im  eigenen  Lande  entstanden  war. 

Die  theatergeschichtlichen  Ergebnisse  dieser  bilder- 
kritischen Untersuchungen  sind  also  in  erster  Reihe  negativer  Art. 
Für  eine  große  Reihe  der  Dramenillustrationen  haben  wir  fest- 
stellen können,  daß  sie  lediglich  dei  bildenden  Kunst  angehören 
wie  eben  andere  Bücherillustrationen  auch.  Nur  für  einige  Lei- 
stungen war  es  uns  wenigstens  als  möglich  erschienen,  daß  der  be- 
treffende Künstler  oder  sein  Berater  den  Zusammenhang  der  Zeich- 
nungen mit  dem,  was  man  damals  theatralisch  nannte,  bewußt  oder 
unbewußt  im  Auge  gehabt  hat,  und  für  diese  wenigen  Arbeiten 
wird  es  sich  also  immerhin  empfehlen,  jene  in  der  Einleitung  metho- 
dologisch geforderten  Vergleichungen  zur  Ausscheidung  solcher 
theatralischen  Elemente  vorzunehmen.  Das  gilt  für  den  Ulmer 
„Eunuchus"  und  für  die  Straßburger  Terenzillustrationen;  weniger 
schon  fih'  Baseler  Arbeiten;  die  Venezianer  Bilder  werden  zwar 
trotz  aller  Anlehnung  an  das  Lyoner  Vorbild  selbständige  Elemente 
des  italienischen  Theaters  enthalten,  sie  sollen  hier  aber  ununter- 
sucht  bleiben,  weil  diese  Arbeit  uns  gar  zu  weit  aus  der  deut- 
schen Theatergeschichte  herausführen  würde.  Dagegen  fällt  eben 
der  Lyoner  Terenz  von  1493  noch  durchaus  in  den  Kreis  unserer 
Betrachtung,  weil,  wie  wir  sahen,  die  hier  in  Betracht  kommenden 
Theaterelemente  dem  uns  wenigstens  damals  noch  mehr  oder  weniger 
eng  verbrüderten  flandrischen  Gebiete  angehören.  Und  es  hatte 
sich  herausgestellt,  daß  wir  bei  keiner  der  andern  Leistungen  so 
viel  Grund  haben,  an  einen  Zusammenhang  der  Illustrationen  mit 


1)  Der  Verleger  hat  die  ursprünglichen  Holzstöcke  ei-worben. 

2)  S.  351  Anm.  geht  nur  auf  ein  Gesamttheaterbild,  das  vor  jedem  Stück  steht. 

23* 


356  Thealergeschichtliche  Ergebnisse.     Kostümfragen. 

dem  lebendigen  Theater  zu  denken  wie  gerade  bei  diesem  Lyoner 
Terenz  von  1493. 

Von  vorn  herein  müssen  wir  darauf  gefaßt  sein,  daß  uns  alle 
diese  Bilder  am  wenigsten  für  die  Gestaltung  des  Schauplatzes 
lehren  werden,  weil  ja  die  normale  Bühne  des  Mittelalters  von  dem 
Schauplatz  der  antiken  Komödie  so  grundverschieden  ist.  Am  ehesten 
dürfen  wir  die  Hoffnung  hegen,  daß  von  den  mittelalterlichen 
Theaterkostümen  und  von  der  Art  der  Schauspieler,  sich 
auf  der  Bühne  zu  bewegen,  etwas  auf  die  Bilder  überge- 
gangen ist.  Es  windle  also  zunächst  darauf  ankommen,  die  Kostüme, 
wie  sie  uns  auf  unsern  Illustrationen  entgegentreten,  einerseits  mit 
den  an  ihrem  Entstehungsort  und  in  ihrem  Entstehungsjahr  wirklich 
getragenen  Kostümen,  anderseits  mit  den  Trachten  zu  vergleichen, 
die  auf  den  durch  unsere  Ermittlungen  festgestellten  nächstliegenden 
Leistungen  der  bildenden  Kunst  sich  finden. 

Kostümfragen. 
Aber  da  zeigt  es  sich  nun  alsbald,  daß  wir  in  Schwierigkeiten 
hineingeraten,  die  wenigstens  vorläufig  noch  beinahe  unüberwind- 
lich sind.  Wenn  wir  in  unserer  methodologischen  Einleitung  auf 
die  Gefahren  hingewiesen  haben,  die  bei  derVergleichung  der  Theater- 
bilder mit  den  Leistungen  der  bildenden  Kunst  im  Hintergrunde 
lauern,  so  muß  hier  zunächst  davon  die  Rede  sein,  daß  uns  für 
die  Feststellung  der  damals  an  einem  bestimmten  Orte  und  zu  einer 
bestimmten  Zeit  tatsächlich  üblichen  Tracht  eigentlich  jede  wissen- 
schaftliche Grundlage  fehlt,  obwohl  ja  an  modernen  kostümgeschicht- 
lichen Werken  auch  für  die  Periode  des  späten  Mittelalters  kein 
Mangel  ist.  Die  Zeit,  in  der  wir  für  unsere  Kenntnis  der  Trachten- 
entwicklung auf  sicheren  Boden  geraten,  hebt  eigenthch  erst  um 
die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  an.  Erst  um  diese  Zeit  erwacht  das 
Interesse  der  Menschen  dafür,  die  zeitgenössischen  Trachten  um 
ihrer  selbst  willen  so  genau  wie  möglich  abzubilden ').  Für  all  die 
vorangehenden  Jahrhunderte  liegt  eine  Tendenz  solcher  Art  nur 
ganz  selten  vor.  Viel  zu  wenig  weisen  unsere  kostümgeschicht- 
lichen Werke  darauf  hin,  daß  sie  sich  die  in  Folge  solcher  Ver- 
hältnisse ungeheuer  schwierige  Arbeit  eigentlich  gar  zu  leicht 
machen,  daß  sie  recht  dilettantenhaft  alles  irgend  wie  erreichbare 
Material  so  gut  es  geht  unkritisch  zusammenstoppeln.  Auf  der  einen 
Seite  fehlt  es  ja  nicht  an  literarischen  Aufzeichnungen  über  Trach- 
ten, auch  aus  älterer  Zeit;  aber  ein  ausnahmsweise  gewissenhafter 
Beobachter^)  hat  schon  darauf  hingewiesen,  daß  sie  schwer  ver- 
wertbar sind,  weil  sie  einerseits  meist  zu  aligemein  gehalten  sind. 


1)  Vgl.  das  Kapitel  „Kostüme"  in  der  ersten  Untersuchung  des  vorliegenden  Buehes, 
bes.  Seite   105  ff. 

2)  Alwin  Schultz  ,  Deutsches  Leben  im  14.  und  15.  Jahrhundert  (Leipzig  1892)  S.  284. 


Methodische  Grundlagen  für  eine  wissenschaftliche  Kostümkiuuie  des  Mittelalters.        357 

als  daß  wir  uns  nach  ihnen  ein  sicheres  Bild  der  wirklichen 
Tracht  zu  machen  vermöchten,  und  weil  sie  auf  der  andern  Seite 
in  moralisierenden  Angriffen  gegen  Auswüchse  der  Tracht  zu  be- 
stehen pflegen,  so  daß  uns  also  die  eigentlich  üblichen  Durchschnitt- 
kostüme gar  nicht  durch  sie  überliefert  werden.  Wichtiger  ist  so- 
mit das  große  Material,  das  in  den  alten  Bildern  niedergelegt  ist, 
und  kostümgeschichtlich  am  wichtigsten  sind  hier  naturgemäß  die 
Grabsteine  oder  sonstigen  bildlichen  Darstellungen,  die  uns  das 
Portrait  bestimmter  Persönlichkeiten  nicht  nur  den  Gesichtszügen 
nach  zu  überliefern  bestimmt  sind.  Sie  haben  vor  den  meisten 
andern  Bildern  zunächst  den  Vorzug,  daß  man  sie  in  Bezug  auf 
den  Ort  und  die  Zeit  ihrer  Entstehung  mit  ziemlicher  Sicherheit 
genau  bestimmen  kann.  Dagegen  scheint  mir  auch  dieses  Material 
überschätzt  zu  werden,  wenn  man  sich  ihm  gegenüber  darauf  ver- 
läßt, daß  man  es  nun  allemal  wirklich  mit  dem  zu  jener  Zeit  und 
an  jenem  Ort  allgemein  gebräuchlichen  Kostüm  zu  tun  habe.  Solche 
Portraits  pflegen  nur  von  Persönlichkeiten  der  höchsten  Gesellschafts- 
schichten, zumal  von  Angehörigen  fürstlicher  Häuser,  hinterlassen 
zu  werden,  und  gerade  in  Bezug  auf  sie  liegt  doch  die  Gefahr  vor, 
daß  sie  nicht  die  zu  der  betreffenden  Zeit  ortsübliche  Tracht  ge- 
tragen, sondern  sich  irgend  wie  besonders  herausgeputzt  haben. 
Im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  können  wir  diese  Neigung  auswär- 
tige Moden  zu  übernehmen  sogar  bei  Bürgern  im  Einzelnen  nach- 
weisen ').  In  zweiter  Reihe  werden  dann  die  Bilderhandschriften 
des  Mittelalters  herangezogen;  erstens  aber  pflegt  ihre  Datierung 
und  zumal  ihre  Lokalisierung  wohl  schwieriger  zu  sein  als  das  in 
Bezug  auf  die  Portraits  der  Fall  ist,  zweitens  ist  das  Material  hier 
noch  weit  seltener  unverdächtig  als  dort.  Denn  gewiß  nicht  häufig 
sind  im  Mittelalter  die  Fälle,  wo  es  einem  Zeichner  darauf  ankommt, 
wirklich  realistische  Bilder  aus  dem  damaligen  Leben  zu  liefern, 
wie  das  etwa  einmal  in  dem  berühmten  sog.  Mittelalterlichen  Haus- 
buch der  Fall  ist;  und  schon  bei  der  Darstellung  von  historischen 
Vorgängen  und  dergleichen  wird  man  nicht  ohne  weiteres  auf  die 
Kostümtreue  der  betreffenden  Bilder  schwören  können;  noch  weniger 
aber  wird  man  bei  den  biblischen  Darstellungen,  die  doch  den  größ- 
ten Teil  des  Materials  bilden,  bloß  aus  dem  Umstände,  daß  sie 
keinen  Versuch  machen,  das  historische  Kostüm  der  alten  Zeiten 
vorzuführen,  sondern  sich  naiv  mit  moderner  Gewandung  zufrieden 
geben,  den  Schluß  tun  dürfen,  daß  die  Leute  nun  wirklich  alle  zu- 
sammen genau  in  den  Trachten  vorgeführt  sind,  die  man  in  dem 
Jahr  und  an  dem  Ort  trug,  da  der  betreffende  Zeichner  tätig  war. 
Man  wird  ferner  im  allgemeinen  zwar  solche  handschriftlichen  Zeich- 


1)  Vgl.  das  handschriftlich  in  Braunschweig  erhaltene  Trachfenbuch  der  Augsburger 
Familie  Schwarz,  s.  o.  S.  106  f. 


358     Methodische  Grundlagen  für  eine  wissenschaftliche  Kostümkunde  des  Mittelalters. 

nungen  mehr  aus  der  Tradition  herausrücken  dürfen,  die  bei  der 
Herstellung  der  großen  Tafelbilder  maßgebend  war,  aber  ganz  ohne 
Beeinflußung  durch  diese  Tradition  werden  doch  auch  solche  Zeichner 
nicht  geblieben  sein,  und  so  fehlen  auch  hier  die  Schwierigkeiten 
nicht  völlig,  die  wir  vor  allem  nicht  vergessen  dürfen,  wenn  wir 
nun  auch  die  eigentlichen  Gemälde  sowie  die  Holzschnitt-  und 
Kupferstichleistungen  für  die  Kostümkunde  fruchtbar  machen  wollen. 
Auch  dieses  große  Material  hat  sich  die  Kostümkunde  nicht  ent- 
gehen lassen,  aber  von  einer  methodischen  Benutzung,  von  einer 
Beachtung  der  komplizierten  Verhältnisse,  mit  denen  wir  es  hier 
zu  tun  haben,  scheint  nirgends  die  Rede  zu  sein.  Wir  sehen  dabei 
ab  von  dem  Umstand,  daß  die  Bestimmung  eines  Gemäldes  nach 
Zeit  und  Ort  oft  noch  die  größten  Schwierigkeiten  macht  und 
daß  jede  der  Kunstgeschichte  gelingende  Neubestimmung  eines  Bil- 
des berücksichtigt  werden  muß.  Vor  allem  aber  haben  wir  hier 
noch  weniger  das  Recht,  einfach  anzunehmen,  daß  der  Künstler 
seine  Gestalten  samt  und  sonders  schlechthin  so  kleide,  wie  er  sie 
damals  vor  Augen  sah,  daß  also  etwa  ein  Bild  Roger  van  der  Wey- 
dens  uns  die  Brüsseler  Kostüme  aus  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts 
vorführte.  Tatsächlich  werden  wir  allerdings  wohl  annehmen  dürfen, 
daß  der  bildende  Künstler  jener  Periode  den  Gestalten  seiner  Dar- 
stellungen, mochten  sie  auch  einer  längst  vergangenen  Epoche  an- 
gehören, vielfach  die  Trachten  angelegt  hat,  die  er  zu  seiner  Zeit 
und  an  seinem  Wirkungsorte  vor  Augen  hatte.  Aber  schon  das 
brauchen  nicht  nur  die  Durchschnittskleider  des  Alltagslebens  ge- 
wesen zu  sein,  im  Gegenteil,  es  liegt  eine  gewisse  Wahrscheinlich- 
keit für  die  Annahme  vor,  daß  er  Feierkleider,  Trachten  von  fest- 
lichen Aufzügen  und  dergleichen  bevorzugt  hat,  Kostüme  also,  die 
im  Gegensatz  zur  fortschreitenden  Mode  sicherlich  vielfach  eine  ge- 
wisse Altertümlichkeit  bewahrten  und  die  also  unbedingt  nicht  ohne 
weiteres  als  Material  für  die  Feststellung  der  Normaltracht  ange- 
sehen werden  dürfen,  welche  zur  Zeit  der  Entstehung  des  betreffen- 
den Bildes  an  dem  betreffenden  Orte  getragen  wurde.  Und  vor 
allen  Dingen  werden  wir  darauf  gefaßt  sein  müssen,  daß  der  Maler 
gern  diejenigen  Kostüme  wählte,  die  er  bei  den  öffentlichen  Dar- 
stellungen der  heiligen  Vorgänge  auf  dem  Marktplatz  beobachten 
konnte,  und  auch  da  werden  wir  gewiß  nicht  behaupten  dürfen, 
daß  dies  immer  die  alltäglichen  Kleider  der  Bürger  waren  ^).  Aber 
das  ist  noch  verhältnismäßig  einfach.  Komplizierend  kommt  weiter 
die  Abhängigkeit  in  Betracht,  in  der  der  Kimstler  zu  andern  Meistern 
oder  Schulen  steht.  Befindet  er  sich  im  Banne  einer  lokalen  Tra- 
dition, so  können  mit  den  überkommenen  Anregungen  auch  Ko- 
stüme einer  etwas  älteren  Epoche  in  sein  Bild  übernonnnen  werden; 


1)  Vgl.  darüber  unten   mehr. 


Methodische  Grun(llau;en  für  eine  wissenschaftliche  Kostümkunde  des  Mittelalters.     359 

hält  er  sich  für  das  besondere  Bild,  um  das  es  sich  handelt,  an 
eine  fremde,  ihm  irgendwie  bekannt  gewordene  Darstellung  des- 
selben Gegenstandes,  so  mögen  bei  dieser  Nachbildung  auch  voll- 
kommen fremde  Trachten,  Trachten  sogar  eines  ganz  andern  Landes 
auf  das  neue  Bild  kommen.  Weiter  kann  der  Künstler,  auch  selbst 
wo  keine  derartige  Abhängigkeit  vorhanden  ist,  aus  rein  malerischen 
Gründen  bewußt  oder  unbewußt  wenigstens  die  eine  oder  andere 
Gestalt  seiner  Schöpfung  mit  einem  Gewände  ausstatten,  das  er 
irgendwo  einmal  in  der  Fremde  wirklich  gesehen  oder  das  sich  von 
der  Betrachtung  irgend  eines  ganz  andern  Bildes  her  seinem  Künst- 
lergedächtnis eingeprägt  hat,  und  schließlich  werden  wir  es  gewiß 
auch  nicht  für  ganz  unmöglich  halten  dürfen,  daß  der  Maler  ein- 
mal um  der  künstlerischen  Wirkung  halber  ganz  auf  die  Nach- 
bildung irgend  einer  Wirklichkeit  verzichtet  und  für  die  Herstellung 
eines  Gewandes  lediglich  seine  Phantasie  in  Anspruch  genommen 
hat.  Wie  wenig  also  werden  wir  da  hoffen  dürfen,  in  einem  Ge- 
mälde jener  Zeit  unmittelbar  die  Trachten  der  betreffenden  Periode 
und  des  betreffenden  Ortes  vor  uns  zu  haben !  Es  kann  unter 
solchen  Umständen  auch  nicht  Wunder  nehmen,  daß  jene  littera- 
rischen Aufzeichnungen  über  Zeitkostüme  mit  den  Illustrationen, 
die  die  gleichzeitigen  Bilder  liefern,  sich  meist  nicht  recht  vereinigen 
lassen  wollen.  Auf  diese  Tatsache  ist  man  bereits  aufmerksam 
geworden!),  aber  zu  ihrer  Erklärung  genügt  nicht  der  Hinweis,  daß 
wir  aus  den  litterarischen  Notizen  nicht  ohne  weiteres  auf  die  Nor- 
maltracht einer  Zeit  schließen  dürfen:  die  Schuld  liegt  gewiß  noch 
mehr  an  jener  Uneinheitlichkeit  der  Bilder,  die  wir  soeben  methodo- 
logisch zu  erklären  versucht  haben.  Das  Ergebnis  dieser  ganzen 
Betrachtung  ist  also  die  Tatsache,  daß  wir  eine  wissenschaftliche 
Kostümkunde  für  die  früheren  Jahrhunderte  noch  nicht  besitzen 
können  und  gewiß  noch  lange  nicht  besitzen  werden,  daß  wir  für 
die  in  so  vielen  Fällen  brennende  Frage:  wie  war  zu  der  und  der 
Zeit  an  dem  und  dem  Orte  das  Kostüm  beschaffen?  fast  niemals 
eine  ausreichende  Antwort  werden  erteilen  können,  daß  wir  uns 
vielmehr  bestenfalls  mit  Einzelheiten  zu  begnügen  haben,  die  noch 
dazu  keineswegs  als  völlig  sichergestellt  gelten  dürfen.  Eine  künf- 
tige wissenschaftliche  Kostümkunde  wird  sich  auf  einer  völlig  neuen 
Grundlage  aufzubauen  haben:  auf  einer Ineinanderarbeitung kritisch 
gesichteteter  Litteraturnotizen  mit  denjenigen  bildlichenDarstellungen, 
die  wir  nicht  nur  nach  Entstehungszeit  und  -ort  vollständig  zu  be- 
stimmen vermögen,  sondern  bei  denen  wir  auch  die  Schulabhängig- 
keit und  sonstige  Beeinflussung  des  Schöpfers  sowie  ihn  selbst  mit 
all  seinen  formalen  Schaffensgrundsätzen  genau  zu  kontrollieren 
im  Stande  sind.  Die  künftige  Kostümgeschichte  hat  somit  die  ge- 
sammte  Kunstgeschichte  zur  Voraussetzung. 

1)  Alwin  Schultz  a.  a.  0.  S.  285. 


360  Die  Gebärden.     Der  Ulmer  „Eunuchus"  und  das  Theater. 

Die  Gebärden. 

Und  kaum  hoffnungsvoller  liegen  die  Verhältnisse,  wenn  wir 
nun  für  die  Gebärden  die  nämhche  Frage  aufwerfen:  die  Frage 
nach  den  wirklichen  Bewegungen  der  Menschen,  welche  in  der  Pe- 
riode lebten,  mit  deren  Theater  wir  uns  zu  beschäftigen  haben.  Im 
Gegenteil:  hier  sieht  es  womöglich  noch  trüber  aus.  Freilich,  auf 
jene  genau  differenzierende  lokale  und  chronologische  Betrachtung, 
wie  sie  bei  den  Kostümen  nötig  ist,  kommt  es  hier  nicht  an,  denn 
so  scharf  nach  Zeit  und  Ort  wie  die  Trachten  sind  die  Bewegungen 
natürlich  nicht  geschieden.  Anderseits  aber  werden  wir  uns  doch 
hüten  müssen,  ohne  weiteres  die  uns  allen  heute  geläufigen  Ge- 
bärden als  die  auch  damals  allgemein  üblichen  anzusprechen.  Sehen 
wir  doch  auch  noch  jetzt,  wie  die  Gestikulation  bei  den  ver- 
schiedenen Völkern  eine  sehr  verschiedene  sein  kann,  wie  z.  B. 
die  Gebärden  der  Deutschen  ganz  andere  sind  wie  die  der  Italiener, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  nun  weiter  auch  noch  ständische  Unter- 
schiede zu  machen  sind.  Und  auch  innerhalb  der  Entwicklung  eines 
Volkes  tritt  allmählich  eine  Veränderung  der  Gestikulation  ein :  das 
sehen  wir,  wenn  wir  die  Gebärden  der  heutigen  Italiener  so  gut 
es  geht  mit  der  Gestikulation  den  alten  Römer  zu  vergleichen  suchen. 

Und  alle  Versuche  moderner  Forschung,  die  wirkliche,  nicht  die 
künstlerisch  verwendete  Gestik  vergangener  Zeiten  wieder  lebendig 
zu  machen,  sind,  wie  an  anderer  Stelle  dieses  Buches  i)  zu  zeigen 
versucht  wurde,  bisher  mißglückt.  Vielleicht  aber  kommen  wir 
auch  ganz  ohne  die  Kenntnis  der  tatsächlichen  Gestikulation  der 
hier  behandelten  Zeit  aus:  wenn  wir  nämlich  sehen  sollten,  daß 
sich  die  Gebärden  unserer  Dramenillustrationen  von  den  sonst  in 
der  bildenden  Kunst  üblichen  nicht  unterscheiden,  wenn  sich  also 
herausstellen  würde,  daß  die  betreffenden  Illustratoren  weder  die 
Wirklichkeit  noch  einen  etwa  existierenden  besonderen  Stil  der 
Theatergestikulation  im  Sinne  haben,  sondern  daß  sie  sich  bei  der 
Darstellung  der  Gebärden  in  diesen  Dramenillustrationen  gar  nicht 
anders  verhalten,  als  wenn  sie  eine  beliebige  andere,  rein  bildkünst- 
lerische Aufgabe  zu  lösen  haben. 

Wenn  wir  nun  also  an  den  Ulm  er  „Eunuchus"  herangehen, 
so  ist  uns  das  Eine  von  vorn  herein  klar:  welche  Kleider  man  zu 
Ulm  im  Jahre  1486  allgemein  trug  und  wie  man  die  Hände  bewegte, 
wenn  man  sich  unterhielt,  das  vermögen  wir  nicht  zu  ermitteln. 
Aber  der  Schade  ist  in  diesem  Falle  wirklich  nicht  groß,  denn  wenn 
wir  die  Eunuchusbilder  mit  den  Darstellungen  vergleichen,  die  der 
nämliche  Künstler  im  gleichen  Jahre  für  die  Drucke  von  Lirers 
Schwäbischer  Chronik  geliefert  hat,  so  zeigt  sich  in  Bezug  auf  die 

1)  S.   179. 


Ulinor  uiul  Straßburger  Terenz  und  das  Theater.  361 

Haartracht  und  die  Kopfbedeckung,  die  Kleider,  die  Mäntel  und 
das  Schuhwerk  bei  Männern  wie  bei  Frauen  eine  so  gut  wie  völlige 
Übereinstimmung,  eine  so  völlige,  wie  man  sie  bei  der  gänzlichen 
Ungleichartigkeit  der  beiden  Aufgaben  nur  irgendwie  erwarten 
kann.  Gerade  auf  dem  Gebiete  der  Bewegungen  ferner  erweist  sich 
der  Künstler  des  Ulmer  Terenz  als  ein  Meister,  der  im  Modernen  so 
weit  fortgeschritten  ist,  wie  um  diese  Zeit  nur  wenige  in  Deutschland. 
Schon  tritt  der  Zug  zur  Beobachtung  des  hidividuellen  deutlich  hervor: 
auf  die  typische  Art  der  Sprechgebärde,  wie  sie  in  der  älteren  Illu- 
strationskunst erscheint,  auf  die  Manier,  beide  Hände  beim  Sprechen 
stets  in  Bewegung  zu  setzen,  ist  verzichtet;  bald  bewegen  die  Reden- 
den beide  Hände,  bald  nur  die  eine,  wobei  das  Bestreben  sich  zeigt, 
die  ruhig  bleibende  Hand  irgendwie  sonst  zu  beschäftigen;  bei  größe- 
rer Lebhaftigkeit  der  Rede  werden  die  Bewegungen  der  Hände  und 
Arme  weiter  ausgreifend.  Wir  werden  aber  nicht  das  Recht  haben, 
hier  etwa  anzunehmen,  der  Künstler  habe  diese  mehr  naturalistische 
Art  gewählt,  weil  er  auf  dem  Theater  Schauspieler  sich  so  ungezwun- 
gen naturalistisch  bewegen  sah:  nicht  nur  zeigt  die  Tendenz,  eine 
gewisse  Abwechslung  dadurch  herbeizuführen,  daß  von  zwei  sich 
Unterhaltenden  der  eine  möglichst  mit  beiden  Händen  agiert,  der 
andere  nur  mit  einer,  die  wesentlich  zeichnerische  Absicht  —  ein 
Vergleich  mit  Lirer,  so  weit  er  sich  durchführen  läßt,  macht  uns 
vielmehr  besonders  deutlich,  daß  darin  nichts  speziell  Theatralisches 
vorliegt,  daß  der  Künstler  vielmehr  die  mythischen  alten  Schwaben- 
helden aller  Zeiten,  von  denen  in  der  Chronik  erzählt  wird,  genau 
so  naturalistisch  agieren  läßt  wie  die  Männer  und  Frauen  des  Terenz. 
Als  Material  für  theatergeschichtliche  Erkenntnis  kommt  der  ganze 
Ulmer  „Eunuchus"  somit  nicht  in  Betracht. 

Etwas  größer  ist  unsere  Hoffnung  beim  Straßburger  Terenz, 
wenigstens  was  die  Vollbilder  betrifft.  Fragen  wir  zunächst  nach 
der  Leistung  des  anonymen  Künstlers,  der  die  erste  Ausgabe  vom 
Jahre  1496  hergestellt  hat,  so  vermögen  wir  hier  leider  nicht  eine 
andere  von  ihm  herrührende  Leistung  daneben  zu  legen;  und  doch 
wird  sich  auch  hier  wahrscheinlich  machen  lassen,  daß  der  Künstler, 
der  bei  jener  sonderbaren  Übersetzung  des  antiken  Schauplatzes 
in  den  mittelalterlichen  unbedingt  doch  das  Theater  seiner  Zeit  im 
Sinne  gehabt  haben  muß,  zunächst  bei  den  Kostümen  jedenfalls 
nicht  an  die  Vorführung  der  etwa  damals  in  Straßburg  im  beson- 
deren üblichen  Theatertrachten  gedacht  haben  kann.  Darauf  führt 
schon  die  Beobachtung,  daß  er  hie  und  da  Trachten  jenes,  wie 
wir  eben  gesehen  haben,  ganz  untheatralischen  Ulmer  „Eunuchus" 
nachgeahmt  hat,  in  erster  Reihe  natürlich  bei  den  zu  dieser  Komödie 
gehörigen  Bildern,  wo  z.  B.  der  Titelheld  wieder  im  Narrengewande 
auftritt.  Andere  Kostüme  der  Straßburger  Bilder  sind  wenn 
auch  zum  Teil  mit  einigen  Modifikationen  aus  dem  Lyoner  Terenz 


362  ^^^  Straßburger  Terenz  und  das  Theater. 

Übernommen,  so  z.  B.  namentlich  in  der  „Andria"  die  Mysis  mit 
den  eigenartigen  überlangen  Ärmeln  und  im  „Eunuchus"  der  Thraso 
mit  dem  eigentümlichen  Mantel,  der  uns  weiter  unten  noch  be- 
schäftigen wird.  All  das  weist  darauf  hin,  daß  der  Künstler  nicht 
etwa  eine  besondere  Straßburger  Theatergarderobe  im  Auge  gehabt 
hat.  Einen  weiteren  Vergleich  ermöglicht  uns  das  große,  oben 
S.  320  reproduzierte  Bild  des  Theaters  und  der  Zuschauer:  hier  sind 
doch  Personen  abgebildet,  die  mit  der  Vorstellung  auf  der  Bühne 
nichts  zu  schaffen  haben.  Hätte  der  Künstler  also  den  Trägern 
der  einzelnen  terenzischen  Rollen  besondere,  von  den  gewöhnlichen 
Trachten  abweichende  Theaterkostüme  anziehen  wollen,  so  müßten 
die  Gewänder  dieser  Zuschauer  sich  von  denen  der  Chremes  und 
Parmeno  und  Thais  usw.  durchaus  unterscheiden.  Tatsächlich  aber 
ist  das  nicht  der  Fall,  i) 

Im  Terenz  von  1499  zeigen  diejenigen  Cliches,  die  Johannes  Grü- 
ninger  zur  Ergänzung  schadhaft  gewordener  alter  hinzugefügen  ließ, 
keineswegs  irgend  welche  Rücksichtnahme  auf  eine  Übereinstimmung 
mit  den  Kostümen  der  älteren  Bilder;  im  ganzen  scheinen  diese 
Trachten  einen  etwas  neumodischen  Charakter  zu  tragen.  Jeden- 
falls aber  und  mit  noch  größerer  Sicherheit  als  vorher  können  wir 
hier  feststellen,  daß  der  neue  Zeichner 2)  an  theatralische  Sonder- 
kostüme jedenfalls  nicht  gedacht  hat,  denn  neben  seine  Terenzzeich- 
nungen  vermögen  wir  verschiedene  Leistungen  seiner  Kunst  aus  der 
allernächsten  Zeit  zu  legen,  und  da  zeigt  sich :  die  Trachten,  die  er 
z.  B.  im  Jahre  1499  den  Helden  des  Vergil,  im  folgenden  Jahre  den 
Gestalten  des  Hugo  Schapler  und  der  Königstochter  aus  Frankreich 
angetan  hat,  sind  genau  die  gleichen,  mit  denen  er  hier  den  Davus 
und  den  Simo  und  andere  terenzische  Figuren  ausgestattet  hat. 
Ja,  einige  von  den  Bildern,  die  1499  als  Gestalten  der  antiken 
Lustspiele  auftreten  müssen,  sind  schon  1498  für  den  bei  Grüninger 
erschienenen  Horaz  verwendet  worden.  Auch  diese  Trachtendar- 
stellungen sind  also  rein  bildkünstlerisch  oder  naturalistisch  und 
liefern  jedenfalls  keine  besondere  theatergeschichtliche  Ausbeute. 
Noch  weniger  haben,  wie  sich  das  wohl  von  vorn  herein  annehmen 
ließ,  die  Gebärden  der  beiden  Straßburger  Terenzausgaben  beson- 
dere theatralische  Bedeutung.    Sowohl  auf  den  Cliches  wie  auf  den 


1)  Auffallend  ist  es  höchstens,  daß  die  eine  unten  links  stehende  Vmu  den  Hennin 
trägt,  jenen  übergroßen,  spitzen,  aus  Frankreich  stammenden  Hut,  der  damals  wohl  auch 
in  Deutschland  aus  der  Mode  zu  kommen  anfing,  während  auf  den  Vollbildern  und  den 
einzelnen  Cliches  keine  einzige  Frauengestalt  mit  diesem  Hut  versehen  ist.  Indessen  hatte 
sich  ja  gezeigt  (vgl.  o  S.  321),  daß  wir  diese  Frau  nicht  zu  den  Zuschauern,  sondern  im 
Gegenteil  zu  den  Schauspielern  zu  rec-hnen  haben;  auch  hier  ist  also  der  gesuchte  Gegen- 
satz  zwischen  Schauspieler-  und  Zuschauertrachlen  nicht  vorhanden. 

2)  In  meinen  Notizen  hat)  ich  mir  seinen  Namen  notiert;  Johannes  Curti ;  aber  meine 
Quelle  vermag  ich  leider  nicht  mehr  anzugeben. 


Straüblirgt'r  und  Baseler  Terenz  und  das  Theater.  368 

Vollbildern  zeigen  sie  bei  dem  Künstler  des  Jahres  1496  die  typische 
Redegebärde  der  durchschnittlichen  Illustrationskunst  des  Mittelalters: 
das  Sprechen  mit  beiden  Händen;  eine  gelegentliche  Abweichung 
in  der  Weise,  daß  nur  eine  Hand  agiert  und  die  andere  etwa  den 
Hut  oder  den  Schwertgriff  faßt,  ist  vermutlich  auf  zufällige  An- 
lehnung an  die  Ulmer  oder  die  Lyoner  Vorbilder  zu  erklären,  i) 
Diese  Redebewegungen  sind  denn  auch  keine  andern  als  die,  die 
wir  auf  dem  Titelbild  die  im  Zuschauerraum  versammelten  und 
mit  einander  plaudernden  Herren  und  Damen  machen  sehen.  — 
Die  neuen  Cliches,  die  Grüninger  für  die  Ausgabe  von  1499  her- 
stellen ließ,  weichen  noch  weniger  von  dieser  normalen  Art  ab. 

Endlich  ist  auch  im  Baseler  Terenz  nichts  davon  zu  spüren, 
daß  der  Künstler  für  Kostüme  oder  Gestikulation  besondere  thea- 
tralische Verhältnisse  berücksichtigt  hätte.  Die  Tracht,  die  die 
terenzischen  Gestalten  hier  aufweisen,  ist  im  ganzen  durchaus  die- 
selbe, die  wir  in  den  von  dem  gleichen  Künstler  herrührenden 
Zeichnungen  zum  „Ritter  vom  Thurn"  finden;  hier  und  da  lehnt  der 
Baseler  Meister  sich  auch  ziemlich  eng  an  die  Tracht  des  Ulmer 
„Eunuchus'*  an,  aber  auch  das  spricht  ja  von  vorn  herein  eher  gegen 
als  für  die  Möglichkeit,  daß  wir  es  mit  der  Nachbildung  einer  wirklich 
vorhandenen  Theatergarderobe  zu  tun  hätten.  Das  Narrengewand 
trägt  der  Eunuch  hier  übrigens  nicht.  In  den  Bewegungen  endlich 
finden  wir  hier  wieder  den  naturalistischen  Zug,  der  der  modernen 
Kunstentwicklung  entspricht  —  stärker  noch,  wie  mir  scheint,  als 
im  „Ritter  vom  Thurn''  und  ungezwungener  noch  als  in  dem  Ulmer 
Vorbild,  von  dem  der  Baseler  Meister  doch  gerade  hier  sichtlich 
gelernt  hat.  Die  individualisierende  Gebärde  und  ihre  zeichnerische 
Verwertung  sind  hier  aus  einer  gewissen  Starrheit  fast  völlig  erlöst, 
die  auf  den  Ulmer  Bildern  immerhin  noch  zu  finden  gewesen  war. 
Aber  nichts  spricht  dafür,  daß  wir  hier  an  etwas  spezifisch  Thea- 
tralisches zu  denken  hätten.  Auffallend  ist  es,  wie  in  dem  Bilde 
zur  ,,Andria"  I,  5  Mysis  die  Hände  über  der  Brust  gekreuzt  hält, 
ohne  daß  wir  das  mit  den  ihr  vom  Dichter  in  den  Mund  gelegten 
Worten  irgendwie  zusammen  bringen  könnten.  Es  ist  die  typisch 
malerische  und  zeichnerische  Devotionsbewegung,  wie  sie  vor  allen 
Dingen  aus  den  zahlreichen  Verkündigung-  und  Marienkrönungs- 
bildern jener  Jahrhunderte  uns  entgegentritt,  und  tatsächlich  hat 
die  ganze  Haltung  der  Mysis,  wie  die  Stellung  des  hinzueilenden 
Ritters    eine    so    ausgesprochene    Ähnlichkeit     mit     der    Haltung 


1)  Auf  dem  Vollbild  der  „Andria"  kommt  hier  einmal  ausnahmsweise  eine  Bewegung 
vor,  die  den  Affekt  des  Schmerzes  zum  Ausdruck  bringt:  bei  der  Darstellung  der  Titel- 
heldin, die  wir  hier  auf  dem  Schmerzenslager  vor  uns  sehen,  während  sie  bei  Terenz 
hinter  der  Szene  bleibt.  Die  Gebärde  besteht  in  einem  Hochheben  beider  Arme  an  den 
Seiten  des  Kopfes,  ohne  daß  sich  die  Hände  einander  nähern;  vermutlich  auch  eine  An- 
passung an  die  Leidgesten  des  Lyoner  Terenz  (vgl.  u.  S.  410.) 


364  Der  Lyoner  Terenz  und  das  Theater.  —  Lebende  Bilder. 

der  Maria  und  des  Engels  auf  den  Annunziationen,  daß  es 
höchst  wahrscheinlich  ist:  der  Baseler  Meister  hat  sich  hier  bewußt 
oder  unbewußt  in  der  Komposition  an  irgend  ein  Verkündigungs- 
biid  gehalten.  Auch  daran  sehen  wir:  er  steht  durchaus  mit  seiner 
Leistung  in  rein  bildkünstlerischen,  kaum  in  theatralischen  Zu- 
sammenhängen. 

So  bleibt  schließlich  lediglich  der  Lyoner  Terenz  vom  Jahre 
1493  übrig,  und  bei  ihm  hatte  die  Entstehungsgeschichte  uns  am 
meisten  Hoffnung  darauf  gemacht,  daß  wir  wirkliche  Theaterelemente 
in  seinen  Bildern  finden  werden.  Die  Untersuchung  ist  hier  zunächst 
besonders  durch  den  Umstand  erschwert,  daß  wir  nur  ganz  all- 
gemein die  Schule  des  unbekannten  Meisters  bestimmen  konnten, 
aber  nicht  in  der  Lage  sind,  andere  Leistungen  von  seiner  Hand 
vergleiche;id  neben  seine  Szenenbilder  zu  legen.  Anderseits  aber 
sind  wir  imstande,  das  Untersuchungsmaterial  hier  wesentlich  durch 
den  Hinweis  auf  bisher  unbenutztes  Material  zu  erweitern,  das 
auch  außerhalb  unseres  Zusammenhanges  betrachtet  seine  theater- 
geschichtliche Bedeutung  besitzt.  Es  handelt  sich  bei  den  Dar- 
stellungen, die  wir  im  Auge  haben,  um 

Lebende    Bilder. 

Die  lebenden  Bilder  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  im  Zusammen- 
hange mit  der  Theatergeschichte  eingehend  betrachtet  zu  haben,  ist 
ein  Verdienst  der  „Histoire  du  theatre"  von  G.  Bapst,  die  bei  uns 
in  Deutschland  entschieden  zu  wenig  beachtet  worden  ist.  Freilich 
bezieht  sich  dieses  Werk  im  Grunde  nur  auf  die  Geschichte  des 
französischen  Theaters,  und  so  sind  denn  wesentlich  auch 
nur  die  lebenden  Bilder  Frankreichs  berücksichtigt  worden:  es  wird 
uns  auch  wenig  mehr  geboten  als  eine  fleißige  und  mühselige  Zu- 
sammenstellung des  an  verstreuten  und  uns  in  Deutschland  viel- 
fach unzugänglichen  Orten  gedruckten  archivalischen  Materials; 
mehr  um  eine  Gesamtgeschichte  als  um  theatergeschichtliche  Aus- 
beutung handelt  es  sich  und  vor  allem  mehr  um  eine  Geschichte 
der  Fürsteneinzüge  überhaupt,  bei  denen  unter  anderm  auch 
die  lebenden  Bilder  vorgeführt  zu  werden  pflegten,  als  um  eine 
konsequente  Beschränkung  auf  dieses  speziell  theatergeschichtliche 
Material.  1)  Trotzdem  müssen  wir  für  die  hier  gegebene  Anregung 
dankbar  sein;  es  fehlt  nun  leider  freilich  an  Beiträgen  der  gleich- 
zeitigen   bildenden    Kunst   zu    der   Überlieferung   dieser   lebenden 


1)  Eine  rein  bibliographische  Zusammenstellung  der  Fürsteneinzüge  bei  Vinet- 
Dehaines,  Petes  et  marches  hisloriques  en  Belgique  (Sociele.  des  Sciences.,  de  Lille 
V,  1)  Lille  1895,  bietet  so  gut  wie  nichts.  Die  Notizen  bei  Petit  de  JulleviUe,  Les 
mysleres  2  (Paris  1880),  S.  186  ff,  beziehen  sich  vor  allem  auf  die  „Mysteres  minies"  im 
eigentlichen  Frankreich.  Immerhin  hat  JulleviUe  (vgl  auch  1,  S.  196—200)  offenbar  auch 
Bai)st  die  Anregung  zu  seiner  genaueren  Darstellung  gegebiMi. 


Holzsclinitle  und   Zcichiuingoii   h^x'iider  Bilder.  365 

Bilder,  und  uiisern  Vorstellungen  von  ihnen  niant^elt  es  wenigstens 
für  die  ältere  Zeit  an  Sicherheit  und  an  Anschaulichkeit.  Die 
ältesten  Zeichnungen  dieser  Art,  die  bisher  bekannt  sind,  liegen  in 
einem  großen  Holzschnittwerk  vor,  das  1515  in  Paris  erschien  und 
uns  den  im  vorhergehenden  Jahre  erfolgten  Einzug  Karls  V.  in 
Brügge  samt  den  damals  vorgeführten  lebenden  Bildern  in  reiz- 
vollen Darstellungen  zeigt.  Diese  Bilder  aber  gehören  schon  einer 
Übergangszeit  an;  Bapst  hat  sie  beschrieben i),  indem  er  diese 
niederländischen  Leistungen  etwas  mühsam  zur  Erläuterung  seiner 
Darstellung  der  französischen  Verhältnisse  heranzieht.  Nach  älteren 
Bildern,  die  den  gleichen  Stoff  behandeln,  zumal  nach  Zeichnungen 
ist  bisher  vergeblich  gesucht  worden;  auch  die  Illustratoren  der 
Froissart-Handschriften,  denen  wir  Einblicke  in  so  viele  Kultur- 
gebiete jener  Zeit  verdanken,  lassen  die  hierher  gehörigen  Berichte 
des  Chronisten  ohne  bildliche  Erläuterung.  So  mag  der  Hinweis 
auf  eine  Handschrift  des  15.  Jahrhunderts  schon  an  sich  willkommen 
sein,  weil  sie  in  reicher  Fülle  das  bisher  Vermißte  bietet;  für  unsern 
Zusammenhang  hat  sie  eine  besondere  Bedeutung  dadurch,  daß  es 
sich  um  die  westlichen  Niederlande  und  um  die  90er  Jahre  des 
15.  Jahrhunderts  handelt,  um  den  Ort  und  die  Zeit  also,  die  für 
unsern  Lyoner  Terenzillustrator  in  Betracht  kommt. 

Die  Handschrift  78  D  5  des  königlichen  Kupferstichkabinetts  zu 
Berlin  ist  in  einen  schönen  braunen  Lederband  gekleidet  und  um- 
faßt 62  Blätter  in  Folio,  Bilder  und  Text.  Die  Einrichtung  ist  fast 
durchgehend  die,  daß  wir  rechts  eine  farbige  Zeichnung  sehen  — 
denn  auch  diese  Eigenschaft  haben  die  hier  behandelten  Bilder  vor 
den  bisher  bekannten  Darstellungen  voraus  —  während  links  der 
dazu  gehörige  erläuternde  Text  handschriftlich  in  lateinischer 
Sprache  zu  lesen  ist.  Das  ganze  Werk  ist  bestimmt,  den  feierlichen 
Einzug  zu  verewigen,  den  die  junge  spanische  Prinzessin  Johanna, 
die  Gattin  von  Kaiser  Maximilians  einzigem  Sohne  Philipp  dem 
Schönen,  späterhin  die  Mutter  Kaiser  Karls  V.,  im  Jahre  1496  zu 
Brüssel  gehalten  hat,  jene  Johanna,  der  der  heißgeliebte  Gatte  ein 
Jahrzehnt  später  durch  den  Tod  entrissen  wurde  und  die  seitdem 
den  schaurigen  Beinamen  ^die  Wahnsinnige"  durch  die  Welt- 
geschichte schleppt.  Damals  lebte  sie  in  den  Honigmonden  der 
jungen  Ehe,  und  die  flandrischen  und  brabantischen  Städte  mühten 
sich  um  die  Wette,  die  junge  Herrscherin  unter  Aufbietung  des 
größten  Pompes  in  ihren  Mauern  zu  begrüßen,  um  auf  solche  Weise 
einmal  den  geheimen  Gegensatz  des  Landes  zum  Herrscherhause 
zu  übertünchen  und  anderseits  der  unbeschreiblich  quellenden 
Festesfreude  der  Bewohner  entgegen  zu  kommen.    Der  unbekannte 


1)  a.  a.  0.  S.  111.    Er  weiß  übrigens  nicht,  daß  es  einen  im  Jahre  1850  in  Brügge 
erschienenen  Neudruck  des  sehr  selten  gewordenen  Originals  gibt. 


366  Der  Brüsseler  Einzug  vom  Jahre  1496. 

Berichterstatter  der  Berliner  Handschrift  meldet  im  Eingange  (Fol.  2) 
das  Folgende:  Quo  Egregios  animos  noiiitatumqiie  ciipidos  quam 
exertis  brachiys  pronis  affectibiis  patulisque  ymmo  effusis  precor- 
clijs  insignis  Bnixellariim  diicatus  brabantie  opidi  eines  quinto  ydus 
decembris  anni  nonagesimi  sexti  in  occiirsiim  Serenissimi  Johanne 
gloriosissimi  Fernandi  hyspanie  Castillie  etc.  regis  Illustrissimi  Phi- 
lippi  archiducis  Anstrie  Romanorum  regis  Maximiliani  semper 
augusti  filii  coniugis  vtpote  eorum  principis  ac  domine  desideratis- 
sime  prodiere  quamque  sincerissimis  votis  festiuis  applausibus  pro- 
fusis  gaudiis  Jocundum  eins  suorumque  aduentum  excepere,  minime 
lateat  hoc  in  libello  summis  quasi  labris  sollicHe  depictas  effigies 
intuenti  viderit  vbi  et  pro  subscriptis  titulis  seu  argumentis  qui 
ordine  quo  cuiusque  officij  digniiatisue  prosilierint  denique  flguris, 
quas  personagias  vocamus  quid  scenis  operam  dantes  tropologes 
pretenderint  quo  et  benignissima  hera  devotos  sue  excellentie  eines 
foneat  congratulansque  inspector  sine  denti  si  quid  negligentie  pre- 
cipitior  affeetus  admiserit  suppleat  liquide  patebit. 

Man  konkurrierte  vor  allem  mit  Antwerpen,  wo  Johannas  Ein- 
zug schon  am  19.  September  stattgefunden  hatte.  Der  Chronist 
Jean  Molinet  berichtet  darüber  i):  leelle  tres  illustre  dame  et  ver- 
tueuse  .  .  .  la  plus  richement  aornee  que  jamais  fut  paravant  venue 
es  pays  de  monseigneur  Varehiduc,  estait  montee  sur  une  mute 
ä  la  mode  d Espaigne,  ayant  le  chief  deeouveri,  estoit  accompaig- 
nee  de  seizes  nobles  dames  et  une  matrone  qui,  vestues  de  drap 
dor,  la  snivoient,  montees  de  parelle  sorte;  avoit  paiges  accoustrez 
de  riches  parurures .  .  .  .  Plusienrs  histoires  par  personnaiges  furent 
faietes  par  ceulx  de  la  ville,  qui  long  seroient  ä  les  reciter .  .  .  icelle 
tres  exeellente  dame  estoit  habituee  de  drap  dor,  estoffee  de  pierre- 
ries  tant  precieuses  et  riches  .  .  . 

Ganz  kurz  ohne  irgend  welche  Einzelschilderungen  handelt 
Molinet  dann  auch  von  Johannas  Einzug  in  Brüssel,  indem  er  er- 
zählt, daß  dazu  auch  madame  Marguerite  d^Autriee,  sa  belle-soeur, 
Kaiser  Maxens  Tochter,  übrigens  eine  geborene  Brüsselerin,  herbei 
geeilt  sei.  Wenn  wir  dann  die  zu  fol.31  unserer  Handschrift  gehörige 
Darstellung  ansehen,  wo  die  Fürstin  und  hinter  ihr  eine  zweite 
Dame  auf  Maultieren  reitend  und  von  einer  glänzend  ausgestatteten 
Gilde  eskortiert  dargestellt  sind,  so  entspricht  das  durchaus  diesen 
Molinetschen  Schilderungen.  Anderweitige  genaue  Nachrichten  über 
den  Brüsseler  Einzug  werden  sich  schwerlich  auffinden  lassen,  da 
die  älteren  Brüsseler  Archivalien  im  Jahre  1695  beim  Bombardement 
der  Stadt  zugrunde  gegangen  sind.  ZufäUig  haben  sich  ein  paar 
Auszüge  aus  den  alten  städtischen  Rechnungen  erhalten,  die  sich 
jemand  privatim  im  Jahre  1628  angelegt  hat,  und  hier  heißt  es  zum 


1)  Molinet,  Chroniques  ed.  Buclion  (Paris  1828)  5,  S.  (>2. 


Der  lirüsselcr  KiiiziiK  vom  .laliic   149fi. 


367 


Jahre  1497  i):  Item  Wonlt  verliaelt  den  cost  (jhedaen  ter  incamste 
van  vroiiwe  Johannen,  der  cronincx  dochter  van  Spaignen,  die  t)innen 
deser  statt  quam,  des  vri/dachs  avondt,  opten  neghensten  dach  van 
de  maendt  van  decemhri  int  jaer  1496. 


Abb.  60.     Brüsseler  Einzug:  der  histrio. 

Auf  den  ersten  29  Blättern  der  Handschrift  sind  uns  nun   die 
Aufzüge  vorgeführt,  die  vor  jener  Gruppe  der  Herrscherin  einher- 

1)  Vgl.  Galeslot:    Conipte   rendue   des  seances   de   la  commission  royale  d'histoire 
3.  Serie,  tom.  9  (Bruxelles  1867),  p.  493. 


368  Aufzüge  und  Schaugerüste. 

schritten;  auch  abgesehen  von  der  Vorführung  der  damahgen  Gilden- 
trachten enthahen  diese  Bilder  allerlei  Merkwürdigkeiten,  die  zumal 
im  volkskundlichen  Interesse  eine  genauere  Untersuchung  wohl 
verdienten:  da  produzieren  sich  vier  musikalische  Narren;  dann 
kommt  (Abb.  60,  s.  S.  367)  ein  histrio,  ein  Mann  in  langem  rotem 
Kittel  mit  einem  Federhut  auf,  mit  einem  Knüppel  unter  dem  Gurt 
und  einem  andern  in  den  Händen,  hinter  dem  fünf  Straßenbuben 
neckend  und  spottend  einherziehen i).  Weiter  folgen  wilde  Männer 
mit  einer  Mohrin,  ein  Narr,  der  sehr  possierlich  hinten  auf  einem 
alten  Pferde  hockt  (Abb.  61,  s.  S.369);  weiter  (Abb.  62,  s.  S.371)  ein 
sehr  merkwürdiger  Aufzug  (zu  fol.  16):  Hoc  scemate  Represen- 
tantiir  qiiidam  qiii  traha  vecti  faciesqiie  tecti  dhiersis  miisis  artis 
siie  acceptissimam  armoniam  compegerunt ;  fihif  seltsame  Gestalten, 
man  weiß  nicht,  sind  es  Männer  oder  Frauen  mit  eigentümlichen 
dudelsackartigen  Musikinstrumenten  in  den  Händen  und  mit  dun- 
keln spitznasigen  Masken  vor  dem  Gesicht  sitzen  in  einer  Art 
Schlitten,  und  auf  dem  Gaul,  der  ihn  zieht,  zeigt  sich  eine  sechste 
ähnliche  Gestalt.  All  das  aber  sind  für  uns  nur  Nebensachen,  die 
Hauptsache  beginnt  auf  Fol.  32,  und  hier  meldet  der  Berichterstatter 
das  Folgende:  Seqiiiintiir  effigies  seil  scemata  figiirariim  qiias  per- 
sonagias  vocamiis  in  scenis  seil  eleiiatis  et  claiisis  esschaiifaiidis 
In  conis  viconim  locaiariim  qiii  pretereuntiiini  cum  oportunitaie 
tum  reqiiesta  cortinis  ad  hoc  aptatis  nunc  velabantiir  nunc  patebant 
obtutibiis  qiie  nediim  gesiorum  congrua  fictione  ac  mirabili  pom- 
posoqiie  apparatu  quam  optime  condecentis  tropologie  (vt  patebit) 
appUcatione  cunctonim,  litterarumque  precipue,  animos  oblectauere. 
Und  nun  folgen  27  Blätter,  deren  jedes  das  Bild  eines  Theater- 
gerüstes zeigt. 

Über  die  Art  der  Einrichtung  dieser  Bühnen  mit  den  Inschriften, 
die  sie  tragen,  mit  dem  Vorhang,  der  sie  verschließt,  wird  weiter 
unten  ausführlich  die  Rede  sein;  für  den  allgemeinen  Eindruck 
wird  zunächst  ein  Blick  auf  die  verschiedenen  Reproduktionen 
aus  unserm  Kodex  genügen,  die  wir  weiterhin  liefern.  An  dieser 
Stelle  wird  vielmehr  zuerst  darauf  hingewiesen  werden  müssen, 
daß  wir  diese  Schaugerüste  nicht  etwa  nur  deswegen  in  nächste 
Beziehung  zum  wirklichen  Theater  setzen,  weil  sie  tatsächlich 
einen  der  modernen  Bühne  durchaus  entsprechenden  Anblick 
bieten  —  das  würde  vielmehr  eher  umgekehrt  zur  Vorsicht  mahnen, 
weil  es  sich  ja  um  etwas  handelt,  was  von  dem  sonst  uns  bekannten 
mittelalterlichen  Theater  durchaus  abweicht;  wir  vermögen  vielmehr 


1)  zu  fol.  12:  Hoc  scemate  represciitatur  histrio  qiiidnm  qni  j>artiiii  luiiatico  cerebro 
correptiis  populo  frecpientem  risüm  extorquere  sueuit  hie  quod  nee  dii  dedignantiir  suomo- 
diilo  affectum  piuni  kt/rieleijson  kijriel.  alta  voce  ingeminans  lUustrissime  domine  cui  allusere 
prata  virencia  queqiie  prodidit.  —  Ob  die  Pfeife  auf  Abb.  61,  die  natürlich  keine  Tabaks- 
pfeife sein  kann,  nachtriiglicli  auf  das  Bild  gekommen  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 


Scliaii<<criislt'  für  lebende  Bilder. 


369 


den  Zusammenhang  dieser  Darstellungen  lebender  Bilder  und  wirk- 
hell  theatralischer  Vorstellungen  kulturgeschichtlich  nachzuweisen 
Ähnliche   Buhnengerüste  wurden  in  jenem  Grenzgebiete   zwischen 
Holland  und  Frankreich  offenbar  nicht  nur  auf  der  Straße,  sondern 


Abb.  61,     Brüsseler  Einzug:  der  Narr  zu  Pferde. 

auch  in  den  großen  Festsälen  aufgeschlagen,  und  nicht  nur  unbe- 
wegliche  Bilder  wurden  auf  ihnen  vorgeführt,  sondern  auch  ganze 
Fantomimen,  die  einen  vollständig  dramatischen  Charakter  haben, 
bo  erzählt  uns  der  Chronist  Olivier  de  la  Marche  von  dem  prunk- 
vollen Feste,  das  Adolf  von  Cleve  1453  für  Philipp  den  Guten  von 


Herr  in  a  ii  n  ,  Theater. 


24 


370  Lebende  Bilder  und  dramatische  Aufführungen. 

Burgund  in  Lille  veranstaltet  hat.  Zu  den  vielen  Vorführungen 
eines  überraffinierten  Luxus,  die  hier  während  des  Mahles  geboten 
wurden,  gehört  auch  die  Aufführung  einer  Pantomime,  deren  Gegen- 
stand Jasons  Heldentaten  sind.  Sie  wird  wie  unsere  lebenden 
Bilder  personage  genannt,  obwohl  es  sich,  wie  aus  der  hier  fol- 
genden Schilderung  ihrer  ersten  Abteilung  hervorgeht,  um  ein  wirk- 
liches Stück,  wenn  auch  nur  ein  Stück  ohne  Worte  handelt,  das 
der  Chronist  an  anderer  Stelle  denn  auch  geradezu  als  mistere 
bezeichnet :  i)  et  tantost  apres  sonerent,  moult-haut,  quatre  clairons, 
et  firent  iine  joyeiise  hatiire.  Ces  clairons  estoijent  derriere  iine 
courtine  verde,  iendue  sur  wie  grande  bourd  faict  au  bout  de  la  sale. 
Quand  leur  bateure  finit,  soudainement  fut  tiree  la  courtine:  et  lä 
fut  veu,  sur  ledict  hourd,  une  personnage  de  Jason,  arme  de  toutes 
armes:  c/ui  se  promenoit  en  celle  place,  regardant  au  tour  de  lug, 
comme  sil  fust  venu  en  terre  estrange.  Puis  s'agenouilla,  et  re- 
garda  vers  le  ciel:  et  lisit  un  brief  que  Medee  lug  avoit  baillee, 
quand  iL  se  partit  delle,  pour  la  Toison  d'or  conquerre:  et,  ä  son 
relever,   il  veit  venir  contre  luy,  grands  et  horribles  beufs,  qui  luy 

vindrent  courir  sus et  ä  tant  fut  la  courtine  retiree:  et  cessa 

ce  mistere,  pour  celle  fois.  Ebenso  werden  zu  Brügge  1468  bei  der 
Hochzeit  Karl  des  Kühnen  mit  Margarethe  von  York  die  Taten  des 
Hercules  aufgeführt.  Bei  andern  Gelegenheiten  handelt  es  sich 
zwar  wieder  wie  in  unserer  Brüsseler  Handschrift  um  auf  der 
Straße  an  den  verschiedenen  Ecken  aufgestellte  Schaugerüste  mit 
lebenden  Bildern,  aber  sie  stehen  nicht  wie  hier  unter  einander  in 
keinem  Zusammenhang,  sondern  stellen  nacheinander  die  einzelnen 
Szenen  eines  Gesamtherganges  dar,  so  daß  auf  diese  Art  schließ- 
lich doch  ein  stummes  Drama  zustande  kommt.  Ja,  es  findet  sich, 
daß  man  diese  Szenen  nicht  auf  einzelne  Schaugerüste  verteilt, 
sondern  sie  ohne  Unterbrechung  hinter  einander  auf  einer  ganz 
ungewöhnlich  langen  Bühne  zur  Darstellung  bringt;  Ansätze  dazu 
sind  auch  auf  den  Brüsseler  Bildern  vorhanden,  anderwärts  aber 
konnte  auf  solche  Weise  die  ganze  Passion  oder  auch  ein  Toten- 
tanz wie  eine  Art  dramatisches  Relief  dem  Auge  der  einziehenden 
Fürstlichkeiten  dargeboten  werden.  Wieder  anderwärts  kommt  es 
vor,  daß  aus  dem  lebenden  Bild  eine  Person  sich  von  den  übrigen 
löst,  hervortritt  und  eine  Ansprache  hält:  Beispiele  dafür  finden 
wir  auf  den  Brügger  Bildern  des  Jahres  15152).  Endlich  zeigt  sich  die 
Verwandtschaft  zwischen  diesen  lebenden  Bildern  und  wirklich 
dramatischen  Aufführungen  auch  darin,  daß  bei  manchen  Fürsten- 
einzügen neben  jenen  wortlosen  Vorführungen  auch  wirkliche  Dramen 
auf  der  Straße  aufgeführt  werden;  eine  andere  Verbindung  zwischen 


1)  Nouvelle  CoUection  des  memoires  pour  servir  ä  l'Hlstoire  de  France  parMichaud 
et  Poujoulat,  3  (Paris  1837),  p.  482  ff. 

2)  Ein  allerdings  bedeutend  späteres  Beispiel  aus  Brüssel  bei  Creizenach  3,  S.  464. 


Lebende  Bildci'  und  dramatische  Aufführungen. 


371 


beiden  theatralischen  Formen  ist  schHeßHch  im  16.  Jaln-hundert  in 
den  großen  Auf führungen  der  niederländischen  Rederijkers  gefunden, 
wo  man  im  Laufe  der  Handlung  den  Vorhang  im  Hintergründe  des 


Abb.  62.     Brüsseler  Einzug:  maskierte  Musilvanten  (vgl.  S.  368). 

Schauspiels    aufzuziehen    und   eine    Vertooning   zu   zeigen  pflegte, 
ein  Bild,  das  auch  aus  lebenden  Personen  bestehen  konnte,  i) 

Alle   die  Einzüge,   denen   das   hier   verwendete   Material    ent- 
nommen ist,   haben  sich  auf  niederländischem    und   französischem 


1)  Creizenach  3,  S.  457. 


24^ 


372  Lebende  Bilder  und  dramatische  Auffüln-ungen. 

Boden  abgespielt,  richtiger  gesagt  wohl  auf  nordfranzösischem,  denn 
bei  den  entsprechenden  Festlichkeiten  des  südlichen  Frankreichs 
treffen  wir  die  uns  hier  interessierenden  Veranstaltungen  entweder 
gar  nicht ')  oder  nur  in  spärlicheren,  offenbar  von  Norden  her  über- 
nommenen Resten.  Nach  dem  eigentlichen  Deutschland  ist  die 
ganze  Sitte  offenbar  überhaupt  nicht  übernommen  worden;  wir 
besitzen  zwar  auch  hier  nicht  wenige  Schilderungen  von  Flh'sten- 
einzügen  im  14.  und  15.  Jahrhundert  2),  und  auch  hier  ging  ein  solcher 
fürstlicher  Besuch  den  städtischen  Behörden  gehörig  an  den  Geld- 
beutel; aber  man  begnügte  sich  meist  mit  einem  einfacheren  Ehren- 
geleit und  legte  das  Geld  lieber  in  anders  gearteten  Genüssen: 
in  Nahrungsmitteln  nämlich  oder  Schmuckgegenständen  an  3). 
Anders  endlich  in  Italien,  wo  die  fiu'stlichen  Einzüge  in  dem  festes- 
frohen Leben  der  Renaissancezeit  wieder  eine  besonders  wichtige 
Rolle  spielten  4).  In  mancher  Beziehung  scheinen  die  Festeskünstler 
hier  und  dort  in  jener  nördlichen  französisch-niederländischen  Sphäre 
in  geistigem  Konnex  zu  stehen,  und  der  Zug  zum  Drama  macht 
sich  hier  wie  dort  geltend.  Aber  während  die  ruhigere  Natur  des 
Nordens  ihn  zu  festen  Bildern  erstarren  läßt,  bleibt  er  hier  im 
Süden  in  wirklich  lebendiger  Bewegung:  die  Teilnehmer  des  Ein- 
zuges selber  stellen,  indem  sie  durch  die  Straßen  ziehen,  gewisser- 
maßen einzelne  Szenen  von  Theaterstücken  vor;  das  Prachtstück 
dieses  durch  die  Gassen  fließenden  theatralischen  Lebens  sind  die 
trionfi,  von  deren  Bedeutung  für  die  Renaissancekultur  hier  nicht 
erst  die  Rede  zu  sein  braucht.  Eine  Sonderstellung  nimmt  Venedig 
ein,  wo  die  Natur  der  Straßen  jene  Bewegtheit  ausschloß;  hier 
stellt  man  auf  den  Hinterteilen  der  bei  der  Einholung  durch  die 
Kanäle  fahrenden  Schiffe  feste  lebende  Bilder  dar.  5)  Diese  Bilder 
aber  unterscheiden  sich  von  den  uns  interessierenden  doch  gerade 
in  dem  wesentlichen  Punkte:  daß  sie  nämlich  im  Sinne  des  mittel- 
alterlichen Theaters  von  allen  Seitin  her  sichtbar  sind,  während 
die  lebenden  Bilder   auf   den    niederländisch-französischen  Schau- 


1)  So  ist  z.  B.  in  der  ausführlichen  Schilderung,  die  wir  von  dem  Einzüge  Karls  VIII. 
an  einer  uns  für  unsern  allgemeineren  Zusammenhang  besonders  interessierenden  Stelle: 
zu  Lyon  im  Jahre  1495  besitzen  (Godofroy,  Le  ceremoniel  fran^ais  I,  Paris  1649, 
S.  685),  von  der  Vorführung  lebender  Bilder  auf  der  Straße  nicht  die  Rede. 

2)  Vgl.  die  Zusammenstellungen  bei  Alwin  Schultz  S.  449  ff. 

3)  Auf  dem  Konstanzer  Konzil  sind  gelegentlich  lebende  Bilder  vorgeführt  worden: 
aber  das  ist  ein  internationaler  Kongreß,  und  die  Vorführenden  sind  keine  Deutschen. 
Vgl.  A.  Springer  in  den  Mitteilungen  der  Zentralkommission  zur  Erforschung  und  Er- 
haltung der  Baudenkmäler  .  .  1860,  S.  125  ff. 

4)  Vgl.  besonders  Burckhardt,  Kultur  der  Renaissance,  7.  Aufl.  2,  S.  136  ff., 
ferner  z.B.  Kristeller,  Mantegna,  Leipzig  1902,  S.  300  ff. 

5)  Vgl.  außer  dem  bei  Burckhardt  angeführten  Älaleiial  tjcsondcrs  den  interessanten 
Bericht  über  den  Einzug,  den  die  Königin  von  Cypern  1490  in  Venedig  hielt:  l)ei  Lünig, 
Theatrum  ceremoniale  (1719  ff.)  S.  33. 


Lebende  Bilder  und  dramatische  Auffühnnifren.  070 

gerüsten  im  Stile  der   modernen  Bühne    nur   von    einer  Seite   her 
sich  betrachten  lassen  und  den  Anblick  wirklicher  Bilder  gewähren 
Jene  venetianischen  Vorführungen  erinnern  mehr  an  die  im  ganzen 
Mittelalter  üblichen  theatralisclien  Darbietungen  auf  den  durch  die 


Abb.  63.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  .Judith  und  Holofernes. 

Straßen  fahrenden  Wagen,  wie  diese  übrigens  auch  in  den  Nieder- 
landen keineswegs  fehlen. 

Welches  Land  nun  Anspruch  auf  den  Ruhm  hat,  diese  modernen 
lebenden  Bilder  zuerst  hervorgebracht  zu    haben,    soll    hier    nicht 


374  I^i®  Personagia  und  die  Rederijkers. 

untersucht  werden,  um  so  weniger  als  jenen  Zusammenstellungen 
über  die  Geschichte  der  Einzüge  in  Frankreich  eine  gleiche  Samm- 
lung für  die  Niederlande  sich  nicht  an  die  Seite  stellen  läßt^);  in 
Paris  ist  eine  derartige  Veranstaltung  zum  ersten  Mal  im  Jahre 
1389  bei  dem  Einzug  der  Königin  Isabeau  belegt.  Daß  Künstler 
aus  Cambrai  sich  gelegentlich  im  Jahre  1439  in  Gent,  also  auf 
flandrischem  Boden  einen  Preis  für  ihre  jeiix  de  personnages 
holend),  ist  natürlich  noch  kein  Beweis  für  die  Priorität  der  franzö- 
sischen Leistungen;  vielleicht  ist  der  burgundische  Hof  der  eigent- 
liche Erfindungsort  und  hat  nach  Osten  und  nach  Westen  seinen 
Einfluß  ausgeübt.  Jedenfalls  aber  sehen  wir  diese  neue  Kunst  als- 
bald in  den  Niederlanden  eifrig  in  Pflege  genommen  und  zu  der 
Eigenart  heimischer  Kunstübung  in  die  engste  Beziehung  gesetzt. 
Die  halb  literarische,  halb  malerische  Aufgabe,  die  hier  gestellt  war, 
mußte  ein  Land  besonders  reizen,  das  auf  beiden  Kunstgebieten 
rastlos  sich  zu  betätigen  bemüht  war. 

Die  literarischen  Väter  oder  Pflegeväter  der  Personagia  sind 
die  Rederijkers.  Hier  ist  nicht  der  Platz,  sie  genauer  zu  charak- 
terisieren oder  gar  auf  ihre  Geschichte  im  einzelnen  einzugehen; 
der  öfter  versuchte  Vergleich  dieser  niederländischen  Rederijkers  mit 
den  deutschen  Meistersingern  liegt  in  unserm  theatergeschicht- 
lichen Zusammenhange  besonders  nahe;  eindringlich  aber  müssen 
gerade  hier  auch  die  Unterschiede  hervorgehoben  werden.  Dabei 
haben  wir  nicht  sowohl  die  Verschiedenheit  der  finanziellen  Hilfs- 
mittel zu  betonen,  die  sich  bei  der  Vergleichung  der  holländischen 
Vertreter  bürgerlicher  Poesie  mit  ihren  deutschen  Kollegen  ergibt, 
als  den  Umstand,  daß  die  Rederijkers  geradezu  vom  Drama  aus- 
gehen, während  die  Meistersinger  erst  ganz  spät,  nachdem  ihr 
Hauptgebiet,  die  Lyrik  und  die  lyrische  Epik,  wesentlich  abgewirt- 
schaftet ist,  sich  zu  dramatischer  Betätigung  aufraffen.  Sonst  aber 
gibt  es  nicht  wenige  Ähnlichkeiten  zwischen  beiden,  die  auch  für 
die  Erläuterung  derjenigen  Leistung  in  Betracht  kommen,  mit  der 
wir  es  hier  zu  tun  haben:  hier  wie  dort  ein  ausgesprochener  Zug 
zur  Lehrhaftigkeit ;  hier  wie  dort  ein  entschiedener  Mangel  an  Ver- 
ständnis für  alles  Nichtbürgerliche  bei  aller  löblichen  Neigung,  den 
Horizont  zu  erweitern;  hier  wie  dort  endlich  als  Stimulans  aller 
Kunstübung  der  Wettbewerb.  Gerade  in  letzterer  Hinsicht  sind 
wir  um  die  Zeit,  von  der  wir  reden,  in  die  eigentliche  Glanzperiode 
der  Rederijkers  eingetreten:  im  Mai  des  gleichen  Jahres  1496,  in 
welches  unsere  Brüsseler  Vorführungen  gehören,  hatte  in  Antwerpen 
das  erste  berühmt  gewordene  Landjuweel,  der  erste  große  dra- 
matische Weltkampf  der  verschiedenen  Städte  und  der  in  ihnen 
ansässigen  Rhetorikerkammern,  stattgefunden.  Gerade  danuüs  inter- 

1)  Doch.  s.  oben  S.  ;5(i4  die  Schrill  von  Dehaines. 

2)  Creizenach  1-,    S.  401   Anm.  2. 


Die  Rederijkers. 


375 


essierten  sich  auch  Nichtbürger  besonders  für  die  Leistungen  der 
Rederijkers;  Fürsten  und  Prinzen  traten  in  ihre  Kammern  ein,  und 
PhiHpp  der  Schöne  selbst  hatte  im  Jahre  1493  einen  großen  Zentrali- 
sierungsversucli   für   die   Kammern    des    ganzen   Landes    gemacht, 


Abb.  64.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Tobias  und  Sara. 

indem  er  Gent  zum  Vorort  erklärte.  Man  dachte  nun  freilich  nicht 
daran,  die  Verordnungen  der  Genter  zu  respektieren,  und  mit  am 
wenigsten  gewiß  in  Brüssel,  dessen  vornehmste  Kammer  im  Gegen- 
satz zu  den  Blumennamen,  die  man  anderwärts  meist  gewählt  hatte, 
die  rein  literarische  Bezeichnung  Het  Boek  führte. 


376  Rederijkers  und  Lukasgilden. 

Wie  die  Vertreter  der  Dichtl^unst  in  den  Kammern  der  Rede- 
rijkers, so  haben  sich,  mit  einer  noch  größeren  praktischen  Be- 
deutung natürhch,  die  Vertreter  der  Malerei  in  den  St.  Lukasgilden 
zusammengetan.  So  wenig  wie  von  der  Geschichte  und  den  Ein- 
richtungen der  Rederijkers  soll  hier  von  der  Entwicklung  und  von 
den  Institutionen  dieser  Künstlergilden  die  Rede  sein,  denen  ein 
zusammenfassendes  Werk,  wie  es  scheint,  bisher  noch  nicht  ge- 
widmet ist.i)  Hier  kommt  es  für  uns  vor  allem  darauf  an  zu  be- 
tonen, dal5  nicht  etwa  nur  die  Großmeister  der  Malerei,  sondern 
auch  die  kleinen  Leute  bis  zu  den  Handlangern  herunter  diesen 
Gilden  angehören  konnten  und  daß  gerade  sie  für  die  Dekorations- 
malereien und  die  ähnlichen  Aufgaben,  um  die  es  sich  in  unserm 
Zusammenhange  handelt,  besonders  in  Betracht  kamen. 2)  Daß  in 
unsern  Brüsseler  Festlichkeiten  die  St.  Lukasgilde  ihre  Hand  im 
Spiele  gehabt  hat,  ist  zwar  nicht  durch  ein  äußeres  Zeugnis 
verbürgt,  ein  inneres  unserer  Handschrift  spricht  aber  dafür  um 
so  vernehmlicher:  das  letzte  Schaugerüst,  das  einzige,  das  aus 
allen  andern  Zusammenhängen  herausfallend  dem  Kreise  spe- 
zifisch christlicher  Vorstellungen  entnommen  ist,  stellt  den  Schutz- 
patron der  Gilde,  den  heiligen  Lukas  dar,  wie  er  die  Madonna 
mit  dem  Kinde  abkonterfeit:  hier  hat  sich  die  Gilde  offenbar 
selbst  ein  Denkmal  ihrer  Teilnahme  an  den  Festesvorbereitungen 
gesetzt.  Im  Übrigen  fehlt  es  aber  auch  sonst  nicht  an  Zeugnissen 
dafür,  daß  die  Rederijkers  mit  den  Lukasgilden  für  ihre  Veranstaltungen 
sich  zusammentaten;  ausdrücklich  ist  es  uns  z.  B.  für  Antwerpen 
bezeugt,  wo  ein  besonders  siegreicher  Bund  zwischen  beiden  im 
Jahre  1480  geschlossen  wurde  ^j;  von  einem  außerordentlich  inter- 
essanten Fall,  in  welchem  wir  einen  der  berühmtesten  Maler  des 
15.  Jahrhunderts  in  der  Gesellschaft  der  Rederijkers  treffen  werden, 
soll  alsbald  die  Rede  sein,  und  noch  mehr  als  hundert  Jahre  später 
finden  wir  in  Karl  van  Mander  einen  Künstler,  der  die  Funktionen 
des  Dekorationsmalers  und  des  Dramendichters  vereinigt.^)  Übrigens 
pflegten  auch  in  Frankreich  zu  jenen  festlichen  Einzügen,  von 
denen  früher  die  Rede  war,  stets  die  hervorragendsten  Künstler 
der  betreffenden  Stadt  herangezogen  zu  werden;  die  berühmtesten 
Namen  der  damaligen  französischen  Kunst,  Foucquet  und  Jehan  Perreal, 
werden  wiederholt  in   solchem  Zusammenhange  genannt;   bei  den 


1)  Ein  typisches  Bild  gewinnt  man  etwa  aus  den  Zusammenstellungen  von  Kä- 
st e  e  1  e  ,  Keuren  1441 — 74.  .  .  et  autres  documents  inedits  concernents  la  gilde  de  St.  Luc 
de  Brügges.     Brügge  1867. 

2)  Derartige  Nachweise  für  Gent  imd  Haarleni  bei  C  r  o  w  e  und  C  a  v  a  1  c  a  s  e  1 1  e , 
Geschichte  der  alten  niederl.  Malerei,  deutsch  von  Springer  (1875),  S.  199,  204 ff. 

3|  Vgl.  Stecher,  Histoire  de  la  Litterature  Neerlandaise  en  Belgique  (Bru- 
xelles  1886),  S.   186. 

4)  Vgl.  Plettinck,    Karl  van  Mandor  (Gent  1896). 


Kederijkeis  iiiid  Lukasgilden. 


377 


burgundischen  Festen  ist  es  nicht  anders :  zu  jenv:;r  Hochzeit  Karl  des 
Kühnen  zu  Brügge  im  Jahre  1468  wurden  viele  Maler  aus  Tournai, 
Brüssel,  Antwerpen  und  andern  Städten  der  Niederlande  be- 
schäftigt, i)     Der  berühmteste  von   ihnen   ist  Hugo   van   der  Goes, 


Abb.  65.  Brüsseler  Lebende  Bilder:  Abimelecli  durch  einen  Steinwurf  getötet  (vgl.  S.  382). 

der  im  Jahre  1482  in  noch  jugendlichem  Alter  geistesgestört  in  der 
Zelle  eines  Klosters  bei  Brüssel  gestorben  ist;  in  seiner  Blütezeit 

1)  Wir  wissen  das  aus  den  erhajtenen  Rechnungen,  die  am  vollständigsten  veröffent- 
licht sind  bei  Busscher,  Recherche  sur  les  peinteurs  gantois  (1853),  S.  lOOff:  vgl. 
auch  Michiels.  Histoire  de  la  peinture  flamande,  2.  ed.  3    (Paris  1866),  S.  350 fL 


378  Personagia  und  Liikasgilden. 

war  er  Dechant  der  St.  Lukasgilde  zu  Gent.  Gerade  er  aber  hat 
nicht  bloß  bei  Gelegenheit  jenes  burgundischen  Hochzeitsfestes  seinen 
Pinsel  in  den  Dienst  der  dramatischen  Festmalereien  stellen  müssen; 
die  Genter  Stadtrechnungen  bezeugen  vielmehr,  daß  man  ihn  auch 
später  immer  wieder  bei  derartigen  Gelegenheiten  mit  Aufträgen  be- 
dacht hat,  und  er  ist  der  eben  schon  erwähnte  Künstler,  für  den 
die  Verbindung  mit  den  Rederijkers  direkt  bezeugt  ist^).  Das  mag 
uns  besonders  interessieren,  weil  wir  hier  nicht  bei  den  archi- 
valischen  Ermittlungen  stehen  zu  bleiben  brauchen,  sondern  weil 
wir  hier  einmal  an  eine  Stelle  kommen,  an  der  wir  den  Zusammen- 
hang zwischen  Theater  und  bildender  Kunst  direkt  beachten  können. 
Freilich  zunächst  nur  in  der  Weise,  daß  wir  den  Einfluß  des 
Theaters  auf  des  Meisters  Gemälden  zu  studieren  vermögen.  Ein 
glänzender  Beweis  für  diesen  Einfluß  scheint  mir  zunächst  das  in 
neuerer  Zeit  vom  Berliner  Museum  erworbene  Bild,  die  Anbetung  der 
Hirten.  Hier  sehen  wir,  genau  wie  auf  den  Schaugerüsten  der  Brüs- 
seler Handschrift,  am  rechten  und  am  linken  Bildrande  einen  zurück- 
gezogenen Vorhang,  der  hier  nur  dadurch  etwas  mehr  ins  Bild- 
kimstlerische  gezogen  wird,  daß  an  jeder  Seite  ein  Prophet  in  seine 
Falten  greift.  Aber  auch  davon  abgesehen  wird  man  geneigt  sein, 
einen  gewissen  Mangel  an  Einheitlichkeit  in  der  Komposition,  das 
bloße  Nebeneinanderrücken  innerlich  nicht  ganz  verbundener  Motive 
und  Gestalten  auf  die  Anlehnung  an  ein  wirklich  gestelltes  lebendes 
Bild  zurückzuführen.  Theaterelemente  aber  zeigen  sich  auch  sonst 
auf  den  wenigen  Bildern,  die  wir  von  Hugo  van  der  Goes  besitzen : 
so  ist  auf  den  „Sündenfall"  in  Wien  die  Schlange  als  ein  Mensch 
dargestellt,  den  man  in  das  theaterübliche  Drachenkostüm  gesteckt 
hat,  der  ruhig  auf  zwei  Beinen  steht  und  sich  neben  Adam  und 
Eva  an  den  Stamm  des  Erkenntnisbaumes  lehnt;  auf  dem  rechten 
Flügel  des  Florentiner  Triptychons  steht  die  Margarethe  auf  einem 
Höllenrachen,  der  ganz  und  gar  das  hölzerne  oder  papperne  mittel- 
alterliche Theaterrequisit  ist.  —  Welche  Künstler  nun  bei  unserm 
Brüsseler  Einzug  des  Jahres  1496  dekorative  Hilfe  geleistet  haben, 
läßt  sich  nicht  bestimmen.  Die  Leuchte  der  Brüsseler  Kunst,  der 
große  Roger  van  der  Weyden  ist  damals  schon  Jahrzehnte  lang 
tot,  und  wie  weit  man  an  seine  Schüler,  etwa  auch  an  seinen  Sohn 
Goswin  van  der  Weyden  zu  denken  hätte,  entzieht  sich  der  sicheren 
Feststellung;  die  Bilder  selbst  sprechen  ja  auch  durchaus  dagegen, 
daß  es  sich  um  Künstler  ersten  Ranges  gehandelt  hat.  2) 

1)  Vgl.  Busscher  S.   105. 

2)  Ein  paar  Namen  von  Brüsseler  Malern  des  Jahres  1497  erfahren  wir  durch  die 
Namensverzeichnisse  einer  fronnnen  Brüderschaft,  der  sie  angehörten  (mitgefeilt  von  J. 
T  h.  de  Raadt:  ASocArcheolBruxelles  (5,  S.  3ö7f.l:  Anton  van  Wouveringen,  Nicolas  de 
Landmetere,  Jean  Cai)i)uge  der  Jüngere,  Laurent  von  der  Heyden  (Weyden?).  Über 
Brüsseler  Plastiker  handelt  üestree,  Les  sculpteurs  Bruxellois  au  15.  et  16.  siecle 
(Brüssel   1888). 


Personasia  und  Liikasgilden. 


379 


Die  Brüsseler  Feste  sind  nun  auch  in  Holland  keineswetrs  die 
letzten  ihrer  Art,  und  erst  einer  gründlichen  Durchforschung  der 
in  Betracht  kommenden  Archive,  wie  man  sie  hier  für  unsere 
Zwecke  nicht  verlangen  darf,   wird  es  gelingen,   eine  vollständige 


Abb.  66.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Salonios  Vermählung. 

Geschichte  dieser  Feste  und  ihrer  theatralischen  Elemente  in  den 
Niederlanden  zu  geben.  Immerhin  läßt  sich  auch  jetzt  schon  einiges 
nachweisen.  Von  Personagien  erzählt  auch  ein  Gedicht,  das 
Philipps  Einzug  zu  Brügge  im  Jahre  1497  besingt').     Und  ferner: 

1)  Gedruckt :_  Belgisch    Museum  9,  S.   155  ff. 


380  JDiß  Brügger  Personagia  vom  Jahre  1515. 

als  im  Jahre  1508  Kaiser  Max  zusammen  mit  seiner  Tochter 
Margarethe  von  Österreich,  die  auch  jenen  Brüsseler  Einzug  mit- 
gemacht hatte,  und  seinem  Enkel,  dem  späteren  Karl  V.,  feierlich  in 
Gent  eingeholt  wurde,  da  waren  wiederum  Schaugerüste  mit  leben- 
den Bildern  (diesmal  allerdings  nur  vier)  auf  den  Straßen  auf- 
gestellt; wir  wissen  davon  eben  nur  diese  Tatsache  aus  archi- 
valischen  Aufzeichnungen,  es  ist  aber  bekannt,  daß  auch  von 
diesem  Einzug  eine  mit  Bildern  geschmückte  Darstellung  vorhanden 
gewesen  ist,  die  freilich  bis  jetzt  noch  nicht  wieder  hat  auftauchen 
wollen. ')  Dagegen  besitzen  wir,  wie  schon  erwähnt,  die  mit  vielen 
Bildern  gezierte  Beschreibung  des  Einzuges,  den  Karl  V.  1515  in 
Brügge  gehalten  hat.  Der  Text  rührt  her  von  dem  Hofhistorio- 
graphen  des  Königs,  Remy  Dupuys :  das  Buch  ist  gedruckt,  selt- 
samerweise nicht  in  den  Niederlanden,  sondern  in  Paris,  und  zwar 
bei  Gilles  de  Gourmond,  einem  Verleger,  zu  dessen  schwergelehrter 
Verlagsrichtung  diese  leichte  Ware  ganz  und  gar  nicht  paßte. 
Offenbar  ist  sie  nur  durch  einen  Zufall,  vielleicht  durch  irgend 
eine  persönliche  Beziehung  des  Autors  hierher  gekommen:  so 
werden  wir  ihr  und  speziell  ihrem  illustrativen  Teil  ruhig  nieder- 
ländischen Ursprung  und  somit  die  Authentizität  zusprechen  dürfen, 
die  sie  für  uns  zu  urkundlichem  Material  macht.  Gewiß  sind  diese, 
freilich  stark  stilisierten,  Holzschnitte  nach  Skizzen  angefertigt,  die 
mit  den  wirklichen  Darbietungen  zusammenhängen:  wo  Brügger 
Lokalverhältnisse  hineingezogen  sind,  scheinen  sie  mit  der  Wirk- 
lichkeit übereinzustimmen.  Die  neunzehn  Darstellungen  von  leben- 
den Bildern,  die  der  Druck  uns  zeigt,  stimmen  nun  in  mancher 
Beziehung  mit  der  Brüsseler  Art  noch  überein,  so  daß  wir  ihre 
Verhältnisse  weiter  unten  zur  Erläuterung  unserer  Zeichnungen 
werden  heranziehen  können;  anderseits  zeigt  sich  doch  schon  der 
Übergang  zu  einer  neuen  Art,  das  Eindringen  der  Renaissance- 
elemente: Triumphbogen  werden  errichtet,  und  statt  auf  die  ein- 
fachen Schaugerüste  werden  die  lebenden  Bilder  gern  irgendwohin  auf 
solche  größeren  Bauwerke  gestellt.  Die  Tendenz  dieser  lebenden 
Bilder  führt  ferner  vom  Theatralischen  immer  weiter  weg  zur 
bildenden  Kunst:  nur  wenige  wirkliche  Menschen  sind  an  ihnen 
noch  beteiligt,  meistens  werden  Puppen  benutzt,  die  aus  Holz  oder 
Wachs  gefertigt  sein  mögen;  an  die  Stelle  der  Vorhänge  sind  zur 
Deckung  des  Bildes  Türen  getreten,  die  ganz  wie  Altarbilder  von 
außen  bemalt  sind.  In  späteren  Jahren  ist  dann  der  Renaissance- 
charakter völlig  durchgedrungen,  und  das  rein  malerische  Prinzip 
hat  durchaus  den  Sieg  davon  getragen;  das  zeigt  sich  bei  dem 
Einzüge,  den  der  spanische  Philipp  1549  in  Antwerpen  gehalten 
hat.    Von    der   Beschreibung   dieses    Festes,    die    wir   durch    Gra- 


1)  Vgl.  Kervyii  de  Volkaer sl)ek,   .loyeuse  enfree  de   Maximilian  ä  (5and  (1850). 


Literarische  Erklärung  der  Brüsseler  fiilder. 


381 


pheus  (Scliryver)   erhalten   haben,   soll  hier  aber  weiter  nicht  die 
Rede  sein. 

Nachdem  wir  auf  solche  Weise  unsere  Brüsseler  Bilder  in  ihren 
allgemeinen  historischen  Zusammenhang  gerückt  haben,  bleibt  nur 
noch  übrig,  sie  im  besonderen  auf  ihre  literarischen,  malerischen 
und  theatralischen  Elemente  zu  durchmustern. 


«KT 


Abb.  67.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Rebeccas  Vermählung. 

Wir  beginnen  die  literarische  Erklärung  damit,  daß  wir 
feststellen,  welche  Gegenstände  überhaupt  hier  in  Brüssel  als 
lebende  Bilder  dargestellt  worden  sind.  Der  eine  große  Stoffkreis 
wird  gebildet  durch  das  alte  Testament.  Da  finden  wir  Tubal  als 
den  Erfinder  der  Musik,  dann  sehen  wir  Judith  (Abb.  63,  s.  S.  373) 


332  Di^  Stoftkreise  der  lebenden  Bilder. 

im  Begriff,  dem  Holofernes  das  Haupt  abzuschlagen;  es  folgen  weiter 
zwei  Situationen  aus  der  Geschichte  des  Tobias  (Abb.  64,  s.S.  375),  weiter 
wird  (Abb.  65,  s.  S.  377)  gezeigt  (nach  dem  Buch  der  Richter  9,53), 
wie  Abimelech  durch  den  Steinwurf  einer  Frau  getötet  wird,  die 
hier  merkwürdigerweise,  ohne  daß  die  Bibel  einen  Anhalt  böte,  den 
Namen  Thecvites  empfängt.  Auf  einem  andern  Bilde  (Abb.  66, 
s.  S.  379)  sehen  wir,  wie  Salomo  sich  mit  der  Tochter  des  Ägypter- 
königs vermählt;  weiter  wird  Michal  durch  Abner  dem  König 
David  zugeführt.  In  drei  Bildern,  auf  einem,  altarhaft  gestalteten, 
Schaugerüst  aber  wird  (Abb.  67,  s.  S.  381)  Rebeccas  Verlobung  ge- 
zeigt; ein  anderes  Gerüst  (Abb.  68,  s.  S.  383)  führt  in  zwei  Szenen 
Esther  vor  Ahasverus  vor ;  weiterhin  bringt  dann  die  Königin  von 
Saba  dem  König  Salomo  Geschenke  dar,  Debora  weiß  die  Krieger 
des  Barak  im  Kampfe  zu  begeistern  (Abb.  69,  s.  S.  385),  und  Jael 
schlägt  (Abb.  70,  s.  S.  387)  dem  Sisera  den  Nagel  durch  den  Kopf. 

Ein  zweiter  Stoffkreis  ist  dann  die  Geschichte.  Kaiser  Hein- 
rich gibt  seine  Tochter  Sophie  Gottfried  dem  Bärtigen  von  Brabant 
zur  Frau;  auf  einem  dreiteiligen  Schaugerüst  wird  die  Verlobung 
einer  spanischen  Königstochter  und  eines  Mailänder  Herzogssohns 
vorgeführt,  die  sich  vor  der  persönlichen  Bekanntschaft  in  die 
ihnen  vorgewiesenen  Portraits  verliebt  haben;  der  König  von  Gra- 
nada unterwirft  sich  der  Königin  Isabella  von  Kastilien,  der  Mutter 
der  nun  in  Brüssel  einziehenden  Johanna.  Die  meisten  Bilder  aber 
gehören  dem  Altertum  an.  Astyages  träumt,  daß  dem  Schoß  seiner 
Tochter  ein  Baum  entsprießt  (Abb.  71,  s.  S.  389).  Paris  läßt  (Abb.  72, 
s.  S.  391)  die  drei  Göttinnen  Revue  passieren.  Und  endlich  eine  merk- 
würdige Folge  von  berühmten  Frauen  des  Altertums,  von  denen 
jede  von  zwei  Dienerinnen  umgeben  auf  einem  Schaugerüst  sich  pro- 
duziert: Semiramis,  Tamaris,  Pantasilea  und  Jpolita ;  dazu  endhch  fast 
oder  ganz  unbekannte:  Deiphilis,Sinopis  (Abb.  73,  s.  S.  393),  Menelopa, 
Lampeto  und  Tenca.  Ein  typisches  Bild  dieser  Gattung,  mehr  von 
der  Seite  her  aufgenommen,  wird  (Abb.  74,  s.  S.  395)  unter  der  all- 
gemeinen Bezeichnung  tres  virgines  geboten. 

Schließlich  noch  zwei  Bilder,  die  zu  keinem  der  beiden  großen 
Zusammenhänge  gehören:  ein  Domiis  delicie  et  jociinditatis  (Abb.  75, 
s.  S.  397)  und  jenes  Bild  (Abb.  76,  s.  S.  399),  auf  dem  Lukas  die  heilige 
Jungfrau  malt. 

Die  Tendenz  bei  der  Auswahl  dieser  Stoffe  ist  anscheinend  die 
gewesen,  immer  etwas  zu  finden,  was  als  ein  Analogon  zu  der 
fröhlichen  Veranlassung  des  ganzen  Festes  gelten  kann,  was  sich 
irgendwie  auf  die  persönlichen  Verhältnisse  der  einziehenden  jungen 
Herzogin  ausdeuten  ließ.  Der  den  Bildern  beigegebene  lateinische 
Text  macht  in  allen  Fällen  auf  die  symbolische  Bedeutung  des  be- 
treffenden Bildes  aufmerksam.  Offenbar  ist  das  eine  Tendenz,  die 
für  die  bei  den  Fürsteneinzü<ren  aufiiestellten  lebenden  Bilder  stets 


Die  Sloffkreise  der  lebenden  Bilder. 


383 


in  Betracht  kam :  auch  fiir  die  Brügger  Veranstaltung  ist  sie  offen- 
bar maßgebend  gewesen,  wenngleich  sie  dort  nicht  so  aufdringhch 
Iiervortritt  und  niclit  so  gewaltsam  um  Jeden  Preis  durchgeführt  er- 
scheint.    Mit    welchen   Mitteln    die    Analogie    hier   in    Brüssel    zu 


Abb.  68.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Esther  vor  Ahasver. 


Stande  gebracht  oder  richtiger  bei  den  Haaren  herbeigezogen^wirdi 
dafür  mögen  zwei  jener  Textbeigaben  sprechen,  die  wir  ziemlich  bhnd- 
lings  herausgreifen.  Zum  ersten  Bilde  heißt  es:  Primo^ioc  scemate 
Representatur  Quam  vti  medio  sonantium  malleorurnudiilcem  nuisices 


384  D^^  Stbffkreise  der  lebenden  Bilder. 

melodiam  jubal  seu  tiibal  adinuenit.  .  .  Sic  Johanna  hijspanie  graui 
auctoritate  quam  in  triginta  patrias  accepit  mille  milium  animos  in 
vnam  pacis  accordantiam  adunabit  und  zum  letzten  Bilde:  Vti 
congratulantibus  angelis  sanctus  Lucas  ymaginem  beatissime  maiie 
depinxit  Sic  parenfibus  fatis  Rerum  conditor  Jahannam  hyspanie 
amplectandam  ymaginem  brabantie  aduexit.  Der  Zug  zur  Allegorie 
und  zum  Symbol  ist  ja  bekanntlich  ein  beherrschendes  Element  in 
dem  holländischen  Schrifttum  dieser  Jahrhunderte  und  besonders 
auch  in  den  literarischen  Leistungen  der  Rederijkers.  Aber  während 
dort  im  allgemeinen  die  Allegorie  direkt  hervortritt  dermaßen,  daß 
z.  B.  in  der  dramatischen  Literatur  allegorische  Gestalten  mit  Vor- 
liebe auf  die  Bühne  gestellt  werden,  ist  sie  hier  bei  den  Brüsseler 
Darstellungen  doch  nur  etwas  Künstliches,  nicht  von  vornherein 
die  Leistung  Bestimmendes.  Mit  Vorliebe  hat  man  Stoffe  gewählt, 
die  sich  entweder  auf  hervorragende  Taten  von  Frauen  oder  auf  Ver- 
lobung und  Heirat  beziehen;  von  dem  eigentlich  symbolischen  Sinn 
aber,  den  die  Bilder  haben  sollen,  hat  man  sich  schwerlich  bei  der 
Auswahl  leiten  lassen:  wenn  solche  Deutungen  erlaubt  sind,  wie 
sie  hier  geboten  werden,  kann  man  schließlich  jeden  beliebigen 
Stoff  mit  der  Hochzeit  und  dem  Einzug  der  Herzogin  Johanna  in 
Zusammenhang  bringen.  Die  Hauptaufgabe  war  entschieden  vielmehr 
die,  sich  in  erster  Reihe  auf  denjenigen  Stoffgebieten  zu  bewegen, 
die  für  alle  lebenden  Bilder  offenbar  die  üblichen  waren:  die  Ge- 
schichte und  das  alte  Testament.  Ganz  ebenso  ist  es  in  Brügge, 
und  hier  macht  der  Historiker  der  Festlichkeiten  sogar  direkt  auf 
den  Zusammenhang  zwischen  diesen  beide  Stoffgebieten  auf- 
merksam: car  ä  chascune  ou  la  plus  pari  des  histoires  faisant 
monstre  des  advenues  en  la  ville  de  Bruges  fiit  enioinct  ung  sem- 
blable  mistere  du  viel  testament  comme  sil  eust  este  figure  et 
signifiance  des  prosperite,  adversite  et  conduyte  dicelle  ville. 

Hier  wo  es  sich  darum  handelt,  Karl  V.  und  die  Stadt  Brügge 
zu  verherrlichen,  sind  die  historischen  Bilder  natürlich  anders  ge- 
wählt, und  auch  die  Vorführungen  aus  der  Antike,  aus  der  sich 
Cadmus,  Perseus,  Hercules,  Alexander  der  Große,  Romulus,  Traja- 
nus  und  Theodosius  produzieren,  haben  in  Brüssel  nicht  unmittel- 
bar ihres  gleichen;  dagegen  greift  man  zu  ein  paar  ähnlichen 
Stoffen  des  alten  Testaments:  neben  Jakobs  Abreise  von  La- 
ban, neben  Moses,  Josua  und  David  werden  in  Brügge  wie  in 
Brüssel  Esther  und  der  König  Salomo  gezeigt,  und  der  Traum 
des  Nebucadnezar,  wie  er  hier  sichtbar  gemacht  wird,  erinnert 
lebhaft  an  den  Brüsseler  Traum  des  Astyages.  An  einer  di- 
rekten allegorischen  Zugabe,  wie  sie  in  Brüssel  das  Domus 
delicie  bildet,  fehlt  es  auch  hier  nicht:  das  Glücksrad  wird 
als  lebendes  Bild  vorgeführt.  Jene  Nebeneinanderrückung  histo- 
rischer  und    alttestamentarischer   Hergänge    aber   führt    inis    auch 


Die  Stoffkreise  der  lebende»  Bilder  und  des  Dramas. 


385 


direkt  zum  allgemeineren  literarischen,  genauer  gesagt  dramalischen 
Zusammenhang.  Daß  zur  Versinnbildlichung  neutestamentlicher 
Hergänge  Szenen  aus  dem  alten  Testament  gezeigt  werden,  ist  eine 
bekannte  Eigentümlichkeit  des  mittelalterlichen  Dramas  überhaupt, 


Abb.  69.     Brüsseler  Lebende  Bilder;  Debora  feuert  die  Krieger  an. 

aber  auch  an  selbständigen  dramatischen  Arbeiten  aus  diesen 
beiden  Stoffkreisen,  dem  alten  Testament  und  der  Geschichte,  fehlt 
es  speziell  der  holländischen  Literatur  dieser  Zeit  nicht,  wenngleich 
weitaus  die  Mehrzahl  der  Leistungen  ins  neutestamentliche  Gebiet  und 


Herr  m  a  n  n  ,  Tlieater. 


25 


386  Diß  Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  des  Dramas. 

in  die  Welt  der  christlichen  Legenden  gehört.  Im  Ausgang  des  15.  Jahr- 
hunderts ist  inDeventer  ein  Spiel  von  David  undGohath  und,  was  uns 
in  unmittelbarste  Nähe  unserer  Brüsseler  Stoffe  führt,  ein  Ahasverus- 
Drama  aufgeführt  worden  i),  und  gewiß  stellen  die  zufälhg  darüber 
erhaltenen  archivalischen  Notizen  nur  einen  trübseligen  Rest  dar, 
aus  dem  wir  ganz  wohl  auf  das  einstige  Vorhandensein  von  weit 
mehr  derartigen  Dichtungen  schließen  dürfen ;  noch  ein  Jahrhundert 
später  bevorzugt  jener  Karl  van  Mander,  der  Rederijker  und  Maler 
zugleich  war,  diese  Stoffe  und  verfaßt  z.  B.  —  wieder  dürfen  wir 
an  den  Zusammenhang  mit  unsern  Brüsseler  Bildern  erinnern  —  ein 
Drama  von  der  Königin  von  Saba :  diese  späten  Leistungen  darf  man 
freilich  nicht  ohne  weiteres  in  die  alte  Tradition  hineinstellen,  weil 
ja  inzwischen  das  Schuldrama  auch  in  den  Niederlanden  den  Blick 
besonders  auf  die  Stoffe  des  alten  Testaments  gelenkt  hatte. 
Wichtiger  noch  ist  die  literarische  Parallele,  die  man  gerade  in  Hol- 
land zwischen  jenen  lebenden  Geschichtsbildern  und  vielfach  auf- 
geführten und  stellenweise  noch  erhaltenen  historischen  Dramen 
ziehen  kann;  es  sind  vor  allem  jene  abele  speien^  auf  die  wir 
bei  anderer  Gelegenheit2)  schon  aufmerksam  gemacht  hatten, 
jene  romantischen  Ritterdramen,  die  ganz  isoliert  stehend  in  der 
Weltliteratur  ihres  gleichen  nicht  haben.  Vom  14.  bis  tief  hinein  ins 
16.  Jahrhundert  haben  sich  derartige  Spiele  lebendig  erhalten^).  Daß 
es  sich  in  solchen  Dramen  wie  z.  B.  dem  „Esmoreit"  und  den 
Haimonskindern  nicht  um  wirklich  historische,  sondern  um  sagen- 
hafte Vorgänge  handelt,  weist  sie  nicht  aus  unserm  Zusammenhang 
hinaus:  denn  für  jene  Zeit  sind  diese  Dinge  natürlich  geschicht- 
liche Wirklichkeit.  Schon  unter  diesen  abele  speien  scheint  ein 
antiker  Stoff:  der  Stoff  der  Argonauten  aufzutauchen.  In  das 
gleiche  dramatische  Stoffgebiet  hatten  wir  schon  einmal  hinein- 
geleuchtet, als  wir  auf  die  dramatischen  Pantomimen  von  Jason 
und  von  Hercules  hinwiesen,  und  weitere  Zeugnisse  für  eine  dra- 
matische Ausnutzung  der  antiken  Sagenwelt  finden  wir,  wenn  wir 
den  Blick  richten  auf  ein  Verzeichnis  dramatischer  Spiele,  das 
nicht  in  den  Niederlanden,  sondern  in  Deutschland  entstanden  ist, 
an  einem  Orte  aber,  der  künstlerisch  durchaus  unter  dem  Einfluß 


1)  Vgl.  Creizenach  1-,  S.  344.  In  einem  aus  den  Kreisen  der  Rederijkers  stam- 
menden Gedicht  auf  die  festlich  begangene  Abreise  der  Margarethe  von  Oestereich  nach 
Spanien  (1497)  —  es  ist  gedruckt:  Belg.  Museum  9,  S.  149 ff.  —  findet  sich  die  fol- 
gende Stelle: 

Doe  meii  Hester  aen  Asiierus  knockte, 

Ell  was  noi/t  sulcken  jonste  perfect, — 

der  Vergleich    ist   wohl   durch   eine  Erinnerung    an  ein  zum   Preise   einer  modernen  Für- 
stin aufgestelltes  lebendes  Bild  von  Esthers  Triumph  dem  Dichter  nahegelegt  worden. 

2)  Vgl.  o.  S.  308  ff. 

3)  Creizenach  1-,  S.  367 i'f. 


Die  Stolfkreise  der  lebenden   Bilder  und  des  Draniiis. 


387 


des  benachbarten  niederländischen  Gebietes  steht:  in  Lübeck,  wo 
ja,  wie  die  Lübeci<er  Bibel  beweist,  auch  die  bildende  Kunst 
ganz  und  gar  in  die  Hände  niederländischer  Meister  gekommen  ist.  i) 
In    dem    berühmten   Verzeichnis   von    Aufführungen,    die    die    Lü- 


Abb.   70.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Siseras  Ermordung  durch  Jael. 

becker  Zirkelbrüder  im  15.  und  beginnenden  16.  Jahrhundert 
veranstaltet  haben,  finden  wir  nicht  nur  ein  alttestamentliches 
Drama,     dessen    Held     auch    auf    den     Brüsseler    Schaugerüsten 

1)  Vgl.  auch  W  a  1 1  h  e  r  :  IbVNiederdS.  6,  S.  12 ;    C  r  e  i  z  e  n  a  c  h  P,  S.  485. 

25* 


388  Verhältnis  der  lebenden  Bilder  zur  Malerei. 

erscheint:  Salomos  erste  Gerichte,  sondern  auch  ein  Spiel  von 
Jason  mit  dem  goldenen  Vließ  (1454),  von  Troja  und  dem 
hölzernen  Pferd  (1472)  und  endhch,  im  Jahre  1455,  ein  Drama,  das 
in  seiner  Stoffwahl  direkt  mit  einem  der  auffallendsten  Brüsseler 
Bilder  übereinstimmt:  Van  Paris  van  Troe  iinde  van  den  dreu 
nakeden  Juncfniwen^).  —  Aus  allen  dramatischen  Zusammenhängen 
heraus  führen  nur  jene  vielen  antiken  oder  antik  sein  sollenden 
Frauengestalten,  die  die  Brüsseler  auf  ihre  Schaugerüste  gestellt 
haben :  wenn  da  z.  B.  der  Menelope  nachgesagt  wird,  das  sie  cum 
sorore  ypolita  ingentia  arma  conficiens  totam  greciam  triumphan- 
tissime  subegit,  so  handelt  es  sich  bei  ihr  und  ihren  ähnlich  als 
Heldinnen  herausgeputzten  Genossinnen  offenbar  nicht  um  mythische 
Gestalten,  an  deren  tatsächliche  Existenz  die  Brüsseler  Rederijkers 
etwa  so  geglaubt  hätten,  wie  die  deutschen  Meistersinger  an  die 
fabelhaften  Stifter  ihrer  Kunst,  sondern  um  eine  freie  Erfindung, 
wie  sie  jenes  Prinzip  des  Wettbewerbes  erzwungen  hatte,  der  das 
Wesen  der  Leistungen  der  Rederijkers  überhaupt  und  speziell  bei 
einer  solchen  Gelegenheit  bestimmte;  in  so  viele  Städte  zog  die 
Fürstin  ein,  so  viele  berühmte  Vertreterinnen  ihres  Geschlechtes 
mußten  ihr  die  Rederijkers  vor  Augen  stellen :  der  gewiß  nicht 
kleine  Vorrat,  den  etwa  Boccaccios  Zusammenstellungen  berühmter 
Frauen  lieferten,  war  auf  solche  Weise  rasch  erschöpft,  und  so 
fabriziert  man  neue  Fabelwesen  oder  erfand  wenigstens  für  bloß 
dem  Namen  nach  überlieferte  Frauen  die  Heldentaten  frei  hinzu. 
Dem  Publikum  des  Jahres  1496  konnte  man  diese  Dinge  noch 
bieten,  bei  dem  Brügger  Einzug  des  Jahres  1515  findet  sich  Ähn- 
liches nicht  mehr:  inzwischen  hatte  in  den  Niederlanden  die  Re- 
zeption des  Humanismus  zu  wesentliche  Fortschritte  gemacht. 

Wenn  wir  nun  unsere  Bilder  nicht  nur  in  den  literarischen, 
sondern  auch  in  den  malerischen  Ort-  und  Zeitzusammenhang 
hineinzustellen  versuchen,  so  müssen  wir  auch  hier  zunächst  die  in 
den  kunstgeschichtlichen  Darstellungen  scharf,  fast  zu  scharf  be- 
tonte Tatsache  hervorheben,  daß  in  den  Niederlanden  das  Inter- 
esse der  bildenden  Künstler  wie  das  der  Dramatiker  sich  in  erster 
Reihe  auf  die  Stoffkreise  richtete,  die  in  unsern  Brüsseler  Bildern 
so  gut  wie  ganz  fehlen :  auf  das  neue  Testament  und  die  Legenden. 
Aber  wir  müssen  doch  bedenken,  daß  von  den  Leistungen,  die 
jene  Jahrhunderte  tatsächlich  geschaffen  haben,  nur  ein  ver- 
hältnismäßig kleiner  Teil  auf  uns  gekommen  sein  wird  und  daß 
namentlich  von  den  Arbeiten  der  geringeren  Künstler  das  Meiste 
zerstört  ist;  wir  betonten  aber  schon:  gerade  geringere  Künstler 
müssen   es  gewesen  sein,  die  gewöhnlich   fih*  die  dekorative  Aus- 


1)  Wehr  mann:    IhVNiederdS.   (i,  S.   4.  1444  wird  ein  Spiel  vom  (Uücksrad  auf- 
geführt:   zu  vergleichen  ist  das  Brügger  Bild. 


Verhältnis  der  lebenden  Bilder  zur  Malerei. 


389 


schmückung  der  Schaugerüste  herangezogen  wurden.  Im  übrigen 
aber  bieten  auch  die  wirklicth  auf  uns  gekommenen  Werke  der 
damahgen  niederländischen  Kunst  zwar  nicht  die  Gelegenheit,  irgend- 
wo direkt  einmal  ein  Bild   nachzuweisen,   das   einer  der  Brüsseler 


Abb.  71.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  der  Traum  des  Astyages. 

Dekorationskünstler  einfach  nachgebildet  hätte;  wohl  aber  vermögen 
wir  es  wahrscheinlich  zu  machen,  daß  es  auch  hier  an  Zusammen- 
hangen  nicht  fehlt.  Jenes  eine  Bild  aus  dem  Kreise  christlicher  An- 
schauung, das  in  Brüssel  1496  zu  sehen  war,  die  Szene,  wie  St.  Lukas  die 


390  Die  Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  der  Gemälde. 

Jungfrau  Maria  mit  dem  Kinde  malt,  ist  ein  in  der  niederländischen 
Kunst  beliebtes  Thema :  eine  berühmte  Darstellung  z.  B.  hat  Roger 
van  der  Weyden  geliefert;  freihch  sitzt  der  Maler  hier  noch  nicht 
wie  auf  dem  Brüsseler  Schaugerüst  an  einer  Staffelei,  die  dann 
erst  auf  den  Gemälden  des  16.  Jahrhunderts :  bei  Lanzelot  Blondeel, 
bei  Martin  de  Vos  auftaucht. i)  Wenn  auf  unserm  Bilde  nicht  nur 
Maria  mit  dem  Kinde  erscheint,  sondern  von  Engeln  umgeben 
ist  und  wenn  im  Hintergrunde  auch  die  Heilige  Cäcilia  an  einer 
Portativorgel  sitzend  sich  zeigt,  so  mag  das  auf  Memlingsche  Mo- 
tive zurückgehen:  auf  dem  berühmten  Antwerpener  Bilde  ist  die 
Darstellung  der  heiligen  Cäcilia  recht  ähnlich,  und  die  Stellung,  in 
der  Maria  mit  dem  Kinde  von  zwei  Engeln  flankiert  dasitzt,  findet 
sich  auf  einem  Bilde  Memlings,  das  im  Privatbesitz  zu  Glasgow  ist. 
Vor  allen  Dingen  aber  zeigt  ein  Gemälde  von  Gerard  David  (jetzt 
in  Ronen),  das  freilich  erst  im  Jahre  1509  den  Brügger  Karme- 
literinnen übergehen  wurde,  wo  wir  ganz  wie  hier  auf  jeder  Seite 
der  mit  dem  Kinde  auf  dem  Schoß  dasitzenden  Gottesmutter  einen 
musizierenden  Engel  treffen,  wie  geläufig  die  Motive  der  bildenden 
Kunst  jener  Zeit  sind  und  wie  leicht  es  für  den  Brüsseler  Deko- 
rateur war,  sie  für  das  lebende  Bild  zu  verwenden.  Aber  auch 
jene  beiden  Stoffkreise,  die  für  Schaugerüste  in  erster  Reihe  her- 
halten mußten :  das  alte  Testament  und  die  Geschichte,  w^erden  von 
der  bildenden  Kunst  keineswegs  so  ganz  vernachlässigt.  Schon 
Jan  van  Eyck  hat  auf  einem  Gemälde,  das  jetzt  der  Gräfin  Pour- 
tales  zu  Paris  gehört,  einen  der  Stoffe  dargestellt,  den  wir  in 
Brüssel  trafen:  die  Königin  von  Saba,  wie  sie  Salomo  Geschenke 
bringt.  Ein  anonymes  Bild  der  Brüsseler  Sammlung  Kardon,  das 
ebenfalls  dem  15.  Jahrhundert  angehört,  zeigt  in  zwei  Szenen  den 
gleichen  Hergang 2);  auf  beiden  Darstellungen  ist  die  Anordnung 
der  Brüsseler  Komposition  nicht  ganz  unähnlich.  Hugo  van  der 
Goes,  der  ja,  wie  wir  gesehen  haben,  dieser  Theatermalerei  be- 
sonders nahe  stand,  hat  in  einem  leider  verlorenen  Freskogemälde 
Abigail  bei  Davids  Werbung  vorgeführt  3) ;  von  seinem  Adam-  und 
Evabilde  war  schon  die  Rede,  und  das  erste  Menschenpaar  ist  auch 
von  Roger  van  der  Weyden  dargestellt  worden.  Diese  Liste  ließe 
sich  erweitern,  wenn  wir  den  Blick  noch  mehr  auf  Bilder  ausdehnen 
würden,  die  ohne  Zuweisung  an  einen  bestimmten  Meister  geblieben 
sind,  wie  z.B.  das  Berliner  Josephbild;  im  16.  Jahrhundert  tritt  die 
Neigung  für  Darstellungen  aus  dem  alten  Testament  dann  immer 
deutlicher  hervor:  nur  auf  Lukas  van  Leydens  Esther  mag  hier 
wegen    der   direkten    Übereinstimmung    mit    einem    der   Brüsseler 


1)  Bei  Gossaert  malt  er  an  einem  Pult. 

2)  Vgl.  den  Katalog  der    „Exposition  des  primitivs  flainmandos  et  d'arl  ancienno"  zu 
Brügge  1902,  der  mir  au(;h  sonst  wesentliche  Dienste  geleistet   hat. 

3)  Waiiters,   Hugo  van  der  Goes,   S.  9ff. 


Die  Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  der  Gemälde. 


391 


lebenden  Bilder  hingewiesen  werden.  In  der  Miniaturmalerei  vol- 
lends—  man  denke  etwa  an  die  köstlichen  „Heures  de  Turin"  —  spielen 
die  Motive  aus  dem  alten  Testament  eine  große  Rolle;  im  Brevier  Gri- 
mani  treffen  wir  die  Königin  von  Saba  vor  Salomo,  und  der  die  Madonna 


,    V£HV^  •     .IVHO.    ^p7tLL73[S^ 


Abb.  72.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  das  Urteil  des  Paris. 


mit  dem  Kind  malende  Lukas  hat  wie  auf  dem  Brüsseler  Bilde  den 
lagernden  Ochsen  zu  seiner  Rechten  und  sitzt  gar  schon  (im  Gegen- 
satz zu  den  Tafelbildern)  vor  der  Staffelei.  Aber  auch  die  Historien- 
malerei geht  nicht  ganz  leer  aus,  und  gerade  den  Zusammenhang, 


392  Die  Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  der  Gemälde. 

aus  dem  heraus  wir  verschiedene  der  Brüsseler  Personagia  er- 
klären können,  finden  wir  hier  wieder:  die  Neigung,  die  Gegen- 
wart durch  künstlerische  Darstellung  der  Vergangenheit  zu  feiern. 
So  hat  in  Brüssel  selbst  der  große  Roger  van  der  Weyden  das 
Rathaus  durch  jene  berühmten  Bilder  aus  der  Geschichte  eines 
sagenhaften  Erkenbald  geschmückt,  die  leider  durch  Feuer  zer- 
stört und  uns  nur  in  der  Nachbildung  der  burgundischen  Teppiche 
erhalten  sind;  so  hat  Jan  van  der  Meyre  für  Karl  den  Kühnen  die 
Gründung  des  Ordens  vom  Goldenen  Vließ  durch  Karls  Vater, 
Philipp  den  Guten,  in  einem  verschollenen  Gemälde  dargestellt,  so 
hat  Dierick  Bouts  zu  Loewen  z.  B.  Otto  den  Großen  vorgeführt. 
Auch  die  Antike  fehlt  nicht  ganz;  wir  wissen,  das  Gerard  van  der 
Meure  die  Lucretia  gemalt  hat,  und  Gerard  Davids  Urteil  des  Cam- 
byses  besitzen  wir  noch  heute.  Das  historische  Portrait  spielt  eine 
Rolle;  die  Miniaturen  kommen  hier  ebenfalls  in  Betracht i)  und 
ganz  besonders  die  Kunst  der  Teppichweberei,  in  der  Motive  aus 
der  Geschichte  neben  solchen  aus  dem  alten  Testament  bevorzugt 
werden.'^)  Überall  Spuren,  daß  die  Künstler  der  Personagia,  wenn 
sie  historische  und  namentlich  auch  antike  Stoffe  darstellen  wollten, 
gewiß  vielfach  an  vorhandene  Traditionen  malerischer  Art  sich  an- 
lehnen konnten. 

Besonders  interessant  ist  in  diesem  Zusammenhange  endlich 
jenes  Bild  Domiis  delicie  etjociinditatis  (Abb.  75,  s.  S. 397).  Allerdings : 
daß  es  sich  um  ein  Haus  und  nicht  um  einen  Garten  handelt,  ist 
einigermaßen  befremdend,  sonst  aber  stellt  sich  gerade  dieses 
lebende  Bild  ganz  sichtlich  in  einen  großen  Zusammenhang  inter- 
nationaler Art  hinein,  dem  im  15.  und  16.  Jahrhundert  eine 
ganze  Reihe  von  Leistungen  bildender  Künstler:  die  sogenannten 
Liebesgärten  angehören.  In  Italien  sind  es  Blätter  von  Boldini 
und  Robetta,  in  Deutschland  kommen  der  Meister  ES  und  der  sich 
eng  an  ihn  anlehnende  Meister  des  Hausbuches,  ferner  im  letzten 
Viertel  des  15.  Jahrhunderts  Wolf  Hammer,  später  im  16.  Hans 
Brosamer  und  Jost  Amman  in  Betracht,  in  Holland  endlich  der 
Meister  der  Liebesgärten  und  der  Meister  der  Sybille,  bis  hier  end- 
lich im  17.  Jahrhundert  ein  Gemälde  von  Rubens  die  ganze  Reihe 
beschließt.  Bis  auf  den  Italiener  Robetta  stehen  diese  Leistungen 
eigentlich  alle  in  einem  gewissen  Zusammenhang,  und  ihm  ordnet 
sich  deutlich  auch  unser  Brüsseler  lebendes  Bild  ein.  Wenn  hier 
im  Haus  der  Liebe  ein  Narr  erscheint,  so  treffen  wir  einen  solchen 
auch  im  Liebesgarten  des  Hausbuchmeisters,  bei  Hammer  und  bei 
Brosamer.    Wenn  wir   die   verschiedenen  Liebespaare  mit  Lesen, 


1)  Vgl.    z.   B.    die    illustrierte    Chronik    von    Flandern  :     Ms.    1307:5    der    Brüsseler 
Bibliothek. 

2)  Vgl.  die  Zusammenstellung  von  Donnet:   ASArchBruxellos  10 — 12. 


Die  Stoffkreise  der  lebenden  Bilder  und  der  Gemälde.  393 

Tanzen,  Musizieren,  Essen  und  Ruhen  beschäftigt  sehen,  so  sind 
diese  in  Brüssel  vereinigten  Motive  in  mehr  oder  weniger  grol.^er 
Vollständigkeit  auch  auf  den  übrigen  Bildern  nachzuweisen.  Von 
besonders  starker  Übereinstimmung  mit   unserer  Darstellung   aber 


Abb.  73.     Brüsseler  Lebende  Bilder:   „Sinopis". 

ist  ein  Blatt,  das  wir  bisher  noch  nicht  genannt  haben,  weil  es  dem 
Titel  nach  kein  Liebesgarten  zu  sein  scheint,  das  aber  tatsächlich 
doch  offenbar  sich  der  von  der  Überlieferung  für  die  Liebesgärten 
gebotenen  Motive,  wenn  auch  in  freischöpferischer  Kraft,  bedient.  Es 


394  Bildkünstlerische  Formprinzipien  bei  den  lebenden  Bildern. 

ist  die  Einfülirung  der  Magdalena  in  das  Weltleben  von  Lukas  van 
Leyden  (Bartsch  122 1).  Wie  auf  unserm  Bilde  finden  wir  hier 
ein  Mittelpaar:  einen  Mann,  der  die  Magdalena  führt,  und  so  sehr 
erinnert  ihre  Stellung  an  die  Beschäftigung  des  Tanzens,  um  die 
es  sich  bei  dem  Mittelpaar  des  Brüsseler  Bildes  handelt,  daß  die 
Darstellung  des  Lukas  van  Leyden  früher  geradezu  als  „Magda- 
lena beim  Tanz"  bezeichnet  worden  ist.  Wie  auf  dem  Brüsseler 
Bilde  sehen  wir  links  ein  Paar  ruhend  und  zwar  so,  daß  das  Haupt  des 
Mannes  im  Schoß  der  Frau  liegt,  und  rechts  eine  Gruppe,  die 
mit  Lesen  sich  die  Zeit  vertreibt;  auf  beiden  Bildern  im  Hinter- 
grunde den  Narren  und  einen  Pfeifer.  Daß  bei  Lukas  van  Leyden 
noch  andere  Motive  dazu  kommen,  die  sich  auf  unserm  Bilde 
nicht  finden,  tut  dem  Zusammenhang  keinen  Eintrag  und  ebenso- 
wenig der  Umstand,  daß  sein  Blatt  erst  aus  dem  Jahre  1519  her- 
rührt. Denn  hier  soll  natlh'lich  nicht  behauptet  werden,  daß  die 
beiden  Darstellungen  in  unmittelbarem  Zusammenhang  stehen, 
sondern  nur,  daß  der  Theaterkünstler  des  Jahres  1496  ganz  ähn- 
liche Motive  zu  seiner  Verfügung  hatte,  wie  sie  dann  mehr  als 
zwanzig  Jahre  später  ohne  jede  Verbindung  mit  dem  Theater 
Lukas  van  Leyden  benutzte^). 

Endlich  aber  läßt  sich  vielleicht  auch  von  solcher  Aufspürung 
verwandter  Motive  abgesehen  ein  Zusammenhang  unserer  Persona- 
gia  mit  den  Leistungen  der  bildenden  Kunst  andeuten.  Vielleicht 
vermögen  wir  auf  unsern  Abbildungen  Spuren  davon  aufzuzeigen, 
daß  beim  Stellen  der  lebenden  Bilder  hier  und  da  gewisse  formale 
Rücksichten  im  Spiel  gewesen  sind,  wie  sie  sonst  nur  für  die 
Schöpfungen  der  Bildkunst  tiefste  Bedeutung  haben.  Man  wird 
von  vornherein  nicht  erwarten,  hier  mehr  als  Spuren  und  Rudi- 
mente zu  finden,  schon  aus  dem  Grunde,  weil  ja  ganz  sicher 
in  Brüssel  fast  nur  untergeordnete  Künstler  am  Werke  gewesen 
sind;  auch  daß  solche  formalen  Tendenzen  nur  auf  einzelnen 
Abbildungen  sich  zeigen,  kann  nicht  befremden,  denn  sicherlich 
sind  nicht  sämtliche  Bilder  von  einem  und  demselben  Künstler 
gestellt  worden,  sondern  talentvolle  und  talentlose  sind  beschäftigt 
gewesen.     Manches  mag  auch  der  Zeichner  verdorben  haben. 

So  beobachten  wir  denn  auf  einigen  Bildern  eine  gewisse 
Symmetrie  im  Aufbau,  die  auf  bildkünstlerische  Veranlagung  oder 
Schulung  des  Anordners  schließen  läßt.  Es  kommt  z.  B.  vor, 
daß,  wenn  man  genau  zusieht,  die  Personen  in  konzentrischen  Halb- 
kreisen   aufgestellt   erscheinen;    oder   wir  finden,    sogar  auf  dem 


1)  übrigens  gibt  es  auch  ein  mit  dem  Stich  last  völlig  übereinstimmendes  Gemälde 
des  gleichen  Meisters. 

2)  So  ist  auch  das  Glücksrad,  das  1515  in  Brügge  vorgeführt  wurde  (vgl.  o.  S.  388, 
Anm.  1),  ein  beliebter  Gegenstand  der  bildenden  Kunst  —  vgl.  zuletzt  Weinhold,  Glücks- 
rad   und  Lebensrad:  Abhandlungen  der  Berliner  Akademie  1S92. 


Bildkünsflerische  Foriiii)rinzi|)ien  bei  den  lebenden   Bildern.  395 

verunglückten  Schlachtbilde  (Abb.  69,  s.  S.  385),  einen  gewissen 
Ansatz  zur  Herstellung  von  Richtungskontrasten,  die  von  einem 
Zentrum  aus  verlaufen.  Auf  kihistlerische  Schulung  weist  das 
Judithbild  (Abb.  63,  s.  S.  373),  u.  a.  durch   die  Art,  wie  die   zwei 


L>^ 


*^^?Ä 


Abb.   74.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  „tres  virgines". 

schlafenden  Wächter  als  Eckfiguren  gelagert  sind.  Es  kommt 
vor,  daß  für  die  einzelnen  Personen  die  Höhe  der  Standorte  ver- 
schieden gewählt  ist:  daß  die  vorderste  Gestalt  kniet,  die  zur 
nächsten  Reihe   gehörige  knieend    auf   einen    höheren   Platz    ver- 


396  Bildkünstlerische  Formprinzipien  bei  den  lebenden  Bildern. 

wiesen  ist,  während  noch  weiter  zurück  eine  Person  aufrecht  stellt. 
Auf  solche  Weise  gelingt  es,  Gruppen  zu  bilden.  Auf  bildkünst- 
lerische Tendenz  weist  auch  das  Bestreben,  wenigstens  die  Haupt- 
personen dem  Publikum  das  Gesicht  zukehren  zu  lassen  und  sie 
auf  solche  Weise  eben  als  Hauptpersonen  herauszuheben.  Ander- 
seits ist  hier  und  da  auch  für  die  Nebenpersonen  etwas  geschehen: 
sie  brauchen  nicht  immer  nur  hölzern  daneben  zu  stehen,  sondern 
es  wird,  wie  es  die  bildende  Kunst  auf  vorgerückterer  Stufe  zu 
tun  pflegt,  wenigstens  gelegentlich  der  Versuch  gemacht,  sie  in 
die  eigentliche  Handlung  einzuziehen,  sie  ein  Interesse  an  dem 
Hergang  bekunden  zu  lassen.  Auf  eine  gewisse  Stellungsdifferen- 
zierung ist  man  auch  sonst  aus;  das  zeigt  sich  besonders  auf  der 
langen  Reihe  der  berühmten  Frauen,  wo  die  Stellungen  der  Be- 
gleiterinnen zu  der  Hauptperson  wechseln;  anderseits  macht  sich 
gerade  hier  die  bloß  handwerksmäßige  Schulung  der  Anordner 
bemerkbar,  da  sämtliche  Anordnungen  schließlich  doch  auf  ein 
paar  Typen  zurückzuführen  sind.  Übrigens  sind  auch  die  besten 
unter  den  beteiligten  Künstlern  nicht  Künstler  genug,  um  das,  was 
sie  auf  solche  Art  zu  erreichen  beginnen,  nicht  durch  ganz  un- 
künstlerisches Verhalten  wieder  zu  zerstören,  vor  allen  Dingen 
dadurch,  daß  durch  die  Vorhänge  und  durch  die  die  Bühne  oben  und 
unten  begrenzenden  Leisten  rücksichtslos  [Stücke  des  Bildes  ab- 
geschnitten werden;  allerdings  soll  vielleicht  durch  solche  Über- 
schneidung bei  den  vielfach  vorgeführten  Massenszenen  der  Ein- 
druck einer  sich  weithin  fortsetzenden  Personenfülle  hervorgerufen 
werden.  Am  weitesten  entfernt  von  der  ganz  unkünstlerischen 
Art,  die  uns  nur  zu  oft  entgegentritt,  am  ausdrucksreichsten  in 
formaler  Hinsicht  ist  das  letzte  Bild :  das  Bild  mit  dem  heiligen  Lukas 
(Abb.  76, s.S. 399).  Hier  ist  Maria  mit  den  beiden  Engeln  in  ein  Dreieck 
konzentriert,  die  Einzelgruppe,  die  so  entsteht,  wird  im  Hintergrunde 
durch  die  heilige  Cäcilia  fortgesetzt,  der  heilige  Lukas  tritt  etwas 
zurück,  aber  in  die  ihm  sachlich  gebührende  Position  wird  er  da- 
durch gebracht,  daß  er  etwas  höher  gestellt  ist;  der  Kopf  der  Maria 
überschneidet  eine  zweite  Horizontale,  die  durch  das  Paneel  an 
der  Wand  geliefert  wird:  auf  solche  Art  wird  ein  Gegengewicht  gegen 
die  Vertikalen  gebildet,  die  sonst  das  Bild  sichtlich  beherrschen,  und 
eine  gewisse  Beruhigung  tritt  ein.  Der  eine  der  musizierenden 
Engel,  eine  Gestalt  also,  die  mit  dem  eigentlichen  Hergang  nichts 
zu  schaffen  hat,  wird  zu  ihm  dadurch  in  die  engste  Beziehung  ge- 
setzt, daß  er  sein  Flötenspiel  direkt  für  das  Christuskind  hervor- 
bringt, das  Maria  auf  dem  Schooß  hält.  Endlich  zeigt  auch  die 
Art  des  Faltenwurfes  an  den  Kleidern  der  sitzenden  Gestalten  hier 
eher  die  anordnende  Hand  eines  bildenden  Künstlers. 

Nachdem  wir  auf  solche  Weise  die  literarischen  und  malerischen 
Zusammenhänge  dieser  Brüsseler  Personagia  wenigstens  angedeutet 


Tlieatergeschiclitliche  Boiknituii'j  dor  lebenden  Bilder. 


397 


haben,  bleibt  noch  übrig,  ihre  eigentlich  theatergeschichtliche 
Bedeutung  zu  wih-digen,  und  bei  dieser  Gelegenheit  werden  wir 
nun  auch  von  den  Bildern    des    Lyoner  Terenz    wieder    zu    reden 


In. 


Qj^s/SMuca: 


Abb.  75.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  „Domiis  deliciae". 

haben,  um  derentwillen  in  erster  Reihe  wir  hier  von  jenen  Brüsseler 
Leistungen  gesprochen  haben.  Zunächst  die  Bühne.  Der  ganze 
Aufbau  des  Brettergerüsts  mit  seinem  Balkenwerk,  wie  er  auf 
unsern    Reproduktionen   deutlich  sichtbar  wird,   stimmt  ganz   und 


398  Bühnengerüst  und  Dekoration  der  lebenden  Bilder. 

gar  mit  dem  Bau  der  Terenzbühne  übereiii,  wie  er  auf  den  früher 
nachgebildeten  Szenen  des  Lyoner  Druckes  erscheint,  i)  Jedes  Ge- 
rüst trägt  eine  lateinische  Inschrift:  den  Namen  des  dargestellten 
Bildes.  Das  gleiche  Erläuterungsverfahren  war  nach  Dupuys'  Be- 
richt auch  1515  in  Brügge  noch  üblich,  ja  hier  waren  sogar  Spruch- 
bänder angebracht,  die  die  Reden  der  im  Bilde  vorgeführten  Per- 
sonen verzeichneten,  auch  das  ein  Symptom  dafür,  daß  die  ganze 
Brügger  Leistung  gegenüber  den  Brüsseler  Vorführungen  einen  ent- 
schiedenen Schritt  weg  vom  Theatralischen  zum  Bildkünstlerischen 
bedeutet.  Nachträglich  wird  uns  nun  eine  vorher  kaum  verständ- 
liche Stelle  in  den  „Praenotamenta"  des  Jodocus  Badius  begreiflich, 
aus  denen  heraus  wir  die  bei  der  Herstellung  des  Terenztheaters 
in  Badius  und  den  von  ihm  beratenen  Künstler  lebende  Theater- 
auffassung zu  erfassen  suchten:  Badius  berichtet,  auf  der  antiken 
Bühne  sei  jedes  Mal  der  Titel  des  aufzuführenden  Stückes  und  der 
Name  des  Verfassers  verzeichnet  gewesen.  Offenbar  hat  diese 
Sitte,  die  wir  hier  für  die  Brüsseler  Schaugerüste  feststehen  konnten, 
auch  bei  den  eigentlichen  dramatischen  Aufführungen  in  Flandern : 
bei  der  Darstellung  der  abele  speien  bestanden.  —  Das  Gerüst 
ist  mehrfach  durch  schmale  Scheidewände  in  zwei  oder  drei  Teile 
zerlegt,  in  denen  mehrere  Szenen  zugleich  gezeigt  werden  können ; 
vielleicht  war  auch  diese  Einrichtung  der  geteilten  Bühne  bei  der 
Aufführung  der  abele  speien  verwendet  worden,  die  das  gleich- 
zeitige Vorhandensein  mehrerer  Schauplätze  voraussetzen,  ohne 
daß  wir  doch  an  die  sonst  dafür  übliche  großartige  Inszenierung 
der  geistlichen  Dramen  denken  dürften.  2)  —  Vom  Vorhang  ist  schon 
die  Rede  gewesen^);  so  kommt  die  Frage  nach  der  Dekoration.  Hier 
beobachten  wir  eine  doppelte  Art  der  Einrichtung.  In  den  meisten 
Fällen  ist  auf  eine  Dekoration  im  modernen  Sinne  verzichtet  und 
nur  ein  Stoffhintergrund  geboten,  der  fast  immer  einfarbig  und 
zwar  meist  dunkel  sich  darstellt,  einmal  aber  auch  aus  großge- 
mustertem Zeuge  besteht;  genau  die  gleiche  Art  treffen  wir  in 
Brügge  wieder,  wo  mit  den  gemusterten  Stoffen  offenbar  ein  be- 
sonders großer  Luxus  getrieben  wird.  Auch  hier  können  wir  nach- 
träglich noch  einmal  auf  die  Beziehungen  dieses  Theaters  zur 
Malerei  hinweisen.  Auf  manchen  Gemälden  des  Jahrhunderts,  z.  B. 
auf  zwei  Madonnenbildern  des  Brüsselers  Roger  van  der  Weyden, 
von  denen  das  eine  in  Montpellier,  das  andere  zu  Paris  im  Privat- 
besitz sich  befindet,  treffen  wir  genau  den  gleichen  großgemuster- 
ten Stoffhintergrund;  nicht  unmöglich,  daß  der  Künstler  die  An- 
regung dazu  von  dem  Anblick  solcher  Personagia  empfangen  hat. 
Anderseits  ist  doch  für  manche   von  den  Brüsseler  Szenenbildern 

1)  Vgl.  be.sonders  Abb.  33,  S.  306. 

2)  S.  Creizenach  2,  S.  368. 

3)  S.  o.  S.  378. 


Dekoration  bei  den  lebenden  Bildern. 


399 


versucht,  eine  Dekoration  in  jetzigen  Sinne  zu  bieten:  eine  Zimmer- 
einrichtung, eine  Landschaft,  in  der  ein  Gebäude  sich  befindet,  das 
freihch,  da  es  niedriger  ist  als  eine  auf  ihm  stehende  Person,  mehr 
symbohschen  Charal<ter   hat,    einen  Felsen    oder   (auf   dem  Paris- 


Abb.   76.     Brüsseler  Lebende  Bilder:  Sankt  Lukas  malt  die  :\Iadonna. 

bilde)  einen  Garten  mit  einer  Fontäne.  Befremdend  ist  in  den 
meisten  dieser  Fälle  besonders  der  Umstand,  daß  auch  der  Boden 
mit  Rasen  bekleidet  erscheint.  Man  wird  zunächst  Bedenken  tragen, 
an  eine  panoramenartige  Malerei  zu  glauben,  wie  sie  dafür  not- 
wendig sein  würde;  doch  scheint  auch  die  Beschreibung  der  Brüsseler 


j^QQ  Kostüme,  Requisiten,  Beleuchtung  bei  den  lebenden  Bildern. 

Bilder  darauf  hinzuweisen,  daß  solche  Übergänge  aus  dem  Plasti- 
schen ins  Malerische  nicht  unmöglich  waren.  —  Auch  an  Requi- 
siten wird  für  diese  Bilder  nicht  wenig  erfordert;  haben  sie  doch 
für  das  niederländische  Drama  eine  so  große  Wichtigkeit,  daß  sie 
wenigstens  später  samt  den  Kostümen  sogar  eine  besondere  alle- 
gorische Bedeutung  haben  können  i).  Alle  möglichen  praktikablen 
Zimmergeräte  werden  angebracht:  Throne  in  verschiedenen  Aus- 
führungen, Betten,  Tische  mit  allerlei  Geräten,  ein  Kronleuchter 
an  der  Decke,  ein  Triptychon  an  der  Wand,  eine  Staffelei,  eine 
Portativorgel  und  andere  Musikinstrumente,  Fahnen,  Waffen  aller 
Art  und  anderes  mehr.  In  Brügge  treffen  wir  großenteils  andere 
Dinge,  aber  der  Thron  spielt  auch  hier  eine  besonders  große  Rolle, 
und  auch  an  Tieren  fehlt  es  nicht:  wenn  in  Brügge  dem  träumenden 
Nebukadnezar  allerlei  Tiere  des  Waldes,  darunter  auch  ein  Löwe 
erscheinen,  so  ist  in  Brüssel  dem  malenden  Lukas,  wie  auf  Bildern  nicht 
selten,  der  Ochse  beigegeben :  bestimmt  kein  wirkliches  Tier,  sondern 
eine  künstliche  Nachbildung.  Wenn  dagegen  auf  dem  einen  Esther- 
bilde ein  Hund  zu  den  Füßen  des  Thrones  liegt,  so  werden  wir 
hier  wohl  an  ein  wirkliches,  gut  abgerichtetes  Tier  denken  dürfen, 
denn  während  es  sich  in  jenen  andern  Fällen  um  Tiere  handelt, 
die  sachlich  erforderlich  oder  doch  sehr  erwünscht  waren,  haben 
wir  hier  eine  rein  malerische  Zugabe  vor  uns,  um  derentwillen 
man  gewiß  nicht  erst  den  Holzschnitzer  bemüht  hätte.  Dem  Stein,  mit 
dem  das  Weib  von  Thebez  dem  Abimelech  das  Haupt  zerschmettert 
(Abb.  65,  s.  S.  376),  sehen  wir  seinen  Requisitencharakter  deutlich  an; 
er  erinnert  an  die  im  mittelalterlichen  Drama  üblichen,  mit  rotem  Saft 
angefüllten,  steinfarbig  angestrichenen  und  leicht  zerbrechlichen 
Requisiten,  die  am  Kopfe  des  von  ihnen  getroffenen  Darstellers 
zerbarsten,  ohne  ihm  wehe  zu  tun,  und  den  Eindruck  hervorriefen, 
als  sei  das  Opfer  zu  Tode  verletzt  und  blutüberströmt.  —  An  die 
moderne  Bühne  mahnt  uns  endlich  noch  ein  Umstand,  der  der  Art 
mittelalterlicher  Vorführungen  völlig  widerspricht.  Die  großen 
geistlichen  Spiele  fanden  stets  bei  vollem  Tageslicht  statt,  die 
lebenden  Bilder  dieser  Schaugerüste  dagegen  stellten  sich  des 
Abends,  also  bei  künstlicher  Beleuchtung  dar.  Der  Umstand, 
daß  die  Teilnehmer  des  Festzuges  in  Brüssel  Lichter  in  den  Händen 
tragen,  daß  das  eine  besonders  kompliziert  gebaute  Schaugerüst 
(Abb.67,  s.S.  381),  auch  oben  mit  Kerzen  ausgeputzt  ist  und  daß  wir  eine 
derartige  Illumination  dann  auf  den  Brügger  Bildern  sehr  häufig  finden, 
beweist  an  sich  noch  nichts,  denn  anderwärts  scheint  es  gerade  für 
einen  besonders  raffinierten  Genuß  gegolten  zu  haben,  eine  der- 
artige Illumination  bei  Tage  anzustellen;  aus  dem  Berichte  des 
Dupuys  aber  geht  hervor,   daß  Karl  V.  abends   in  Brügge   einzog, 

1)  Creizenach  3,  8.450. 


Lebende  Bilder:  Beleuchtung,  Kostüme. 


401 


und  wenn  auch  der  Brüsseler  Berichterstatter  über  die  Zeit  des 
Einzuges  der  Johanna  schweigt,  so  genügt  doch  hier  jene  früher 
mitgeteilte,  im  übrigen  mehr  als  kärgliche  archivalische  Notiz,  um 
uns  darauf  aufmerksam  zu  machen,    daß    das  ganze  Fest  des  vri- 


Abb.   77.     Brügger  Lebende  Bilder:  Der  junge  König  Salonio  mit  seinem  Hofstaat. 

dachs  avondt   stattfand.     Von  der  Art  der  Bühnenbeleuchtung  ver- 
mögen wir  uns  freilich  eine  Vorstellung  nicht  zu  machen. 

Wir  kommen  zu  dem  schwierigsten  Punkte :  der  leidigen  Frage 
nach  dem  Kostüm.  Betrachten  wir  zunächst  hinsichthch  der  Trachten 


H  e  r  r  m  a  n  n  ,  Theater. 


26 


402 


Lebende  Bilder:  Kostüme. 


der  mitwirkenden  Personen  die  Brüsseler  Bilder  ganz  für  sich  allein, 
so  müssen  wir  von  vorn  herein  darauf  verzichten,  hier  bis  in  alle 
Einzelheiten    diese   Kleidung   vorzuführen.    Eine    Betrachtung   der 


Abb.  78. 
Brügger  Lebende  Bilder:  Moses  bringt  die  Tafehi,  Louis  de  Nevers  gibt  Brügge  Privilegien. 

von  uns  reproduzierten  Bilder  muß  die  Ergänzung  liefern,  obwohl 
gerade  sie,  die  nur  einige  von  vielen  auswählen,  nicht  imstande 
sind,  von  der  Buntscheckigkeit  des  gesamten  Kostüms  eine  völlig 
ausreichende  Vorstellung  zu  geben.  Wir  heben  hier  vielmehr  nur 
einige  Punkte  heraus,  die  eine  besondere  Aufmerksamkeit  verdienen. 


Leht^mle  Bilder:  Kostüme.  403 

und  namentlich  solche,    an  die  sich   auch   die    allgemeine  Kostüm- 
geschichte wohl  mit  Recht  vornehmlich  zu  halten   pflegt.     Das   ist 
vor  allem  die  Gestaltung  der  Frauenkopt'trachten  und  die  Behand- 
lung des  Schuhwerks.     Das  letztere   ist    hier  verhältnismäßig  ein- 
heitlich: wenn  wir  von  dem  einen  barfußgehenden  Tubal  absehen, 
tragen  alle  Männer  vorn  breite  Schuhe,  Knöchelstiefel  oder  Waden- 
stiefel; die   Frauenschuhe  sind   noch   mehr  spitz    gehalten.     Ganz 
uneinheitlich  dagegen  ist  die  Kopftracht  der  Frauen.     Am  meisten 
verwendet   sind  weiße   schleierartige  Kopftücher,   die   selten  noch 
mit  einem  das  Kinn  deckenden  Tuch  versehen   sind;   oft   dagegen 
ist  noch  über    dieses  Kopftuch    dem  Hinterkopf    eine  Mütze    oder 
eine  Krone  aufgesetzt.     Daneben  findet  sich  wohl   auch   die  Gold- 
haube mit  der  Perlstickerei  und  den  eigenartig  bis  auf  die  Wangen 
reichenden  Klappen;  auch  auf  sie  wird  wohl  noch  ein  Hut  gesetzt. 
Judiths  Magd  trägt  einen  Turban,  eine    phrygische  Mütze   kommt 
mehrfach  vor  und  einmal,  bei  der  Sinopis,  auch   der  Hennin.     Im 
übrigen  sind  diese  mehr  oder  weniger  fabelhaften  antiken  Frauen 
auch    mit   mehr    oder    weniger    seltsamen    Kopfbedeckungen,    mit 
hörner-,  halbmond-,  haken-  und  giebelartigen  Hüten  ausgestattet.  — 
Bei  den  Männertrachten  fallen  vornehmlich  die  vielen  Kragen  auf, 
unter  denen  die  meisten  blau    sind.     An    den   Frauentrachten    ist 
besonders  die  Gestaltung  der  Ärmel  beachtenswert  und  gar  nicht 
einheitUch.    Auf  der  einen  Seite  ganz  enge  Ärmel,  die  gelegentlich 
so  lang  sind,    daß  sie  einen  großen  Teil  der  Hand   mit   bedecken, 
und  daneben  ganz  weite  lang  herunterfallende  vorn  offene  Ärmel, 
aus  denen  die  Hand  wie  verloren  herausragt.  —  Nur  wenige  Männer 
oder  Frauen  tragen  Gürtel :  Abraham  und  David  und  ein  paar  von 
den  antiken  Frauen,    und  diese   wenigen  Gürtel    sind   ganz    dünn, 
nur  Lampeto   erscheint    mit    einem   großen    breiten  Wehrgehänge. 
Was  endlich  die  benutzten  Kleiderstoffe  betrifft,  so  beobachten  wir 
auch  hier  keine  Einheitlichkeit:    neben  ganz  glatten    Stoffen   sind 
groß-  und  buntgemusterte  vielfach  verwendet. 

Vergleichen  wir  dieses  Gesamtbild  nun  mit  den  entsprechenden 
Verhältnissen  der  Brügger  Bilder,  wo  uns  freilich  der  Mangel  an 
farbiger  Darstellung  von  vorn  herein  etwas  ungünstiger  stellt,  so  ist 
die  Einheitlichkeit  des  Schuhwerks  hier  eher  noch  größer:  fast  über- 
all breite,  vorn  förmlich  durch  eine  gerade  Linie  abgeschlossene 
Stiefel  oder  Schuhe.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Frauenkopftrachten 
ist  ebenfalls  sehr  reduziert,  und  einfache  Kopftücher  spielen 
eine  noch  größere  Rolle.  Im  übrigen  aber  ist  die  Ähnlichkeit  nicht 
gering:  auch  hier  ist  die  Männertracht  vielfach,  wenn  auch  nicht 
so  häufig,  durch  einen  Kragen  ausgezeichnei ;  auch  hier  finden  wir 
weite  und  enge  Frauenärmel  nebeneinander,  doch  so,  daß  die 
engen  entschieden  mehr  zurück  treten;  auch  hier  fehlen  die  Gürtel 
bis  auf  wenige  ganz  schmale  vollständig;  auch  hier  endlich  werden 

26* 


404  Lebende  Bilder:  Kostüme. 

auf  demselben  Bilde  Kleider  aus  glatten  und  aus  großgemusterten 
Stoffen  vorgeführt;  man  wird  vielleicht  sagen  können,  daß  die  ge- 
musterten nicht  mehr  so  in  den  Vordergrund  treten.  Im  großen 
und  ganzen  ist  eine  entschiedene  Verwandtschaft  der  in  Brüssel 
und  der  in  Brügge  verwendeten  Kostüme  nicht  zu  leugnen. 

Wenn  wir  dieses  in  den  lebenden  Bildern  vorliegende  Kostüm- 
material in  seiner  Gesamtheit  überblicken,  so  fällt  auf  der  einen 
Seite  die  ungemein  große  Buntscheckigkeit  auf,  in  andern  Punkten 
zeigt  sich  eine  nicht  minder  eigentümliche  Zwiespältigkeit  in  der 
Art,  wie  die  äußersten  Gegensätze  friedlich  neben  einander  stehen, 
und  um  so  merkwürdiger  ist  es  schließlich,  daß  es  all  dem  gegen- 
über wenigstens  in  einem  Punkte  an  einer  gewissen  Einheitlich- 
keit nicht  fehlt. 

Wie  vermögen  wir  diesen  Zustand  zu  erklären?  Einmal  mag 
es  sich  in  der  Hauptsache  einfach  darum  handeln,  daß  in  jener 
Buntscheckigkeit  und  Zwiespältigkeit  die  Kleidung  vor  uns  steht, 
die  tatsächlich  in  einer  Übergangszeit  getragen  worden  ist :  in  einer 
Periode,  in  der  neue  Moden  aufkommen,  in  der  aber  die  alten  noch 
nicht  ganz  verdrängt  sind.  Wenn  man  später  einmal  Bilder  aus 
der  Gesellschaft  unserer  unmittelbarsten  Gegenwart  betrachten  wird, 
werden  sich  dem  Beschauer  besonders  in  Hinsicht  der  Frauentracht 
ebenfalls  die  äußersten  Gegensätze  auf  demselben  Bilde  vereinigt 
zeigen.  Mit  Sicherheit  werden  wir  freihch  solchen  Wirklichkeits- 
verhältnissen der  damaligen  Epoche  nicht  nachzugehen  vermögen: 
welche  bürgerliche  und  höfische  Trachten  zu  Brüssel  im  Jahre  1496 
üblich  waren,  ist  nicht  festzustellen.  Eine  einzige  Brüsseler  Kleider- 
ordnung scheint  sich  ermitteln  zu  lassen,  aber  sie  stammt  schon 
aus  dem  Jahre  1385  und  kommt  also  für  unsere  Untersuchung 
nicht  mehr  in  Betracht,  i)  Wenn  wir  uns  auf  die  Darstellungen 
der  Kostümgeschichte,  wie  sie  heute  betrieben  wird,  verlassen 
können,  so  befinden  wir  uns  tatsächlich  in  Bezug  auf  die  europäische 
Tracht  überhaupt  damals  in  einer  großen  Auflösungszeit,  die 
die  äußersten  Gegensätze  nebeneinander  stellt  und  die  barocksten 
Formen  in  der  Kleidung  und  allen  ihren  Einzelheiten  zeitigt.  Aber 
freilich:  wie  weit  hier  nicht  das  doch  in  erster  Reihe  der  bildenden 
Kunst  entnommene  Material  in  seinem  Wirklichkeitswert  über- 
schätzt, wie  weit  hier  nicht  barocke  Neigungen  der  Künstler  allzu 
rasch  der  tatsächlich   existierenden  Mode   aufs  Konto  geschrieben 


1 )  Gedruckt  Belgisch  Museum  5,  S.  93  i'f.  Wenn  man  gelegentlich  iür  die  Nieder- 
lande „Coiffes  et  ornements  de  femmes  de  la  fin  du  15.  siecle"  auf  Grund  von  Porträts 
zusammengestellt  hat  (D.  van  Kellen,  Nederlands-Oudheden,  Amsterdam  1861,  PI.  7a), 
so  ist  das  dort  benutzte  Material  gar  zu  dürftig,  um  irgendwie  allgemeiner  verwendbar 
zu  sein.  Die  sehr  sorgsame  Arbeit  von  P.  Post,  Die  französisch-niederländische  Männer- 
tracht einschließlich  der  Ritterrüstung  im  Zeitalter  der  Spätgotik  1350—1475  (Halle,  Diss. 
1!)1()),  zielit   leider  den   Ausgang  des  .Jahrhunderts  nicht  mehr  iti   Bctrjicht.  . 


Lebende  Bilder:   Kostüme.  405 

werden,  läßt  sich  vorläufig  schwer  entscheiden.  Immerhin:  wenn 
wir  uns  an  das  unverdächtigste  Material  halten  und,  wenigstens 
in  der  niederdeutschen  Sphäre  bleibend,  etwa  die  Miniaturen  des 
Hamburger  Stadtrechts  vom  Jahre  1497  auf  ihre  Trachten  hin  prüfen, 
bei  denen  dem  Gegenstande  nach  am  ehesten  die  Wahrscheinlich- 
keit vorliegt,  daß  sie  unmittelbar  der  Wirklichkeit  nachgebildet  sind, 
so  treffen  wir  hier  zwar  nicht  im  mindesten  volle  Übereinstimmung 
mit  den  Brüsseler  Kostümen,  aber  doch  z.  B.  auch  jenes  Neben- 
einander von  engen  und  ganz  weiten  Frauenärmeln. 

Anderseits  könnte  es  sich  in  den  Brüsseler  Bildern  bei  dem 
engen  Zusammenhang  mit  der  Malerei,  den  wir  festgestellt  haben, 
auch  um  eine  einfache  Herübernahme  der  in  der  malerischen  Tra- 
dition gebräuchlichen  Trachten  handeln:  um  eine  Neuanfertigung 
von  Kostümen  für  die  lebenden  Bilder  ganz  nach  dem  Vorbild,  das 
vorhandene  Gemälde  und  Zeichnungen  boten.  Aber  auf  der  Jagd 
nach  solchen  künstlerischen  Vorbildern  kommt  man  in  die  grollte 
Bedrängnis.  Wieder  und  wieder  meint  man  bei  der  Durchmuste- 
rung der  großen  Leistungen  altniederländischer  Kunst  auf  der 
richtigen  Spur  zu  sein,  aber  über  die  Feststellung  von  vereinzelten 
Gleichheiten  oder  Ähnlichkeiten  kommt  man  doch  fast  nirgends 
hinaus.  Am  entschiedensten  tritt  uns  die  Verwandtschaft  hinsicht- 
lich der  Kostüme,  wie  mir  scheint,  auf  dem  großen  Triptychon  des 
sogenannten  Maitre  d'Outremont  entgegen,  das  im  Brüsseler  Museum 
verwahrt  wird  und  eine  Anzahl  von  Situationen  vom  Leidenswege 
Christi  darstellt.  Hier  treffen  wir  enge  und  weite  Ärmel  auf  dem- 
selben Bilde,  hier  finden  wir  großgemusterte  Stoffe  neben  glatten 
für  die  Kleider  verwendet,  hier  zeigen  die  Männerröcke  fast  durch- 
gängig Kragen,  hier  sind  durchaus  breite  Schuhe  und  Stiefel  ver- 
wendet, und  auch  die  Formen  der  Frauenhüte,  so  wie  sie  uns  auf 
den  Brüsseler  Bildern  entgegentraten,  erscheinen  hier  großenteils 
wieder,  wobei  hervorgehoben  werden  mag,  daß  der  Hennin  fehlt. 
In  andern  Punkten  treffen  wir  wieder  Abweichungen:  so  spielen 
hier  z.  B.  Gürtel  eine  weit  größere  Rolle  als  auf  den  Brüsseler 
Bildern.  Leider  aber  kommen  wir  auch,  selbst  wenn  wir  uns  mehr 
an  die  tatsächliche  Übereinstimmung  halten,  durch  diesen  Ver- 
gleich noch  nicht  sehr  weit,  denn  jenen  Maitre  d'Outremont  ver- 
mögen wir,  vorläufig  wenigstens,  weder  lokal  noch  temporal  sicher 
unterzubringen. ')  Und  ferner:  da  es  sich  hier  nur  um  einen  ein- 
zelnen Fall  handelt,  brauchte  die  Übereinstimmung  noch  immer 
nicht  auf  eine  Nachbildung  der  Theaterkostüme  nach  dem  Muster 
der  Leistungen  der  bildenden  Kunst  zurückzuführen  zu  sein,  sondern 


1)  Heibig,  Revue  de  Tart  chretien  1S98  S.  349  H.,  verlegt  das  Triptychon  in  das 
erste  Viertel  des  16.  Jahrhunderts  und  erklärt  es  für  brabantisch  oder  holländisch  mit 
etwas  niederrheinischem  Einfluß.  Anderseits  denkt  man  wohl  auch  an  Mostaert,  den  Hof- 
maler der  Margarethe. 


^Qg  Kostüme  der  lebenden  Bilder  und  des  Lyoner  Terenz. 

umgekehrt  könnte  ja  der  Maler  auch  Theatertrachten  übernommen 
haben. 

Nur  vermuten  können  wir  also,  daß  wir  in  diesen  Trachten 
der  lebenden  Bilder  von  allen  Elementen  etwas  vor  uns  haben  und 
daß  sich  dadurch  vor  allem  jene  Buntscheckigkeit  erklären  läßt. 
Neben  der  einfachen  Übernahme  von  Alltagskleidern,  die  wirkhch 
damals  gerade  im  Zeichen  der  Zwiespältigkeit  gestanden  haben 
werden,  Leistungen  der  Malerphantasie,  die  sich  besonders  gegen- 
über der  Aufgabe,  eine  Reihe  von  antiken  Frauengestalten  vor- 
zuführen, betätigt  haben  mag.  Hier  wird  man  also  auch  die  Kosten 
für  Neuanfertigungen  nicht  gescheut  haben.  Daneben  aber  hat 
man  sich  wohl  auch,  zumal  was  die  biblischen  Bilder  anlangt,  an 
das  vorhandene  Inventar  gehalten  und  Kostüme,  wie  sie  bei  den 
geistlichen  Aufführungen  üblich  waren,  bei  lebenden  Bildern  ver- 
wendet. Endlich  sind  wohl  neben  den  Alltagskleidern  auch  Trachten 
und  Trachtenteile  benutzt  worden,  wie  sie  bei  den  festlichen  Auf- 
zügen im  Schwange  waren.  So  stimmt  z.  B.  die  Form  eines  auf- 
fallenden Frauenhutes  auf  einem  der  antiken  Bilder  überein  mit  der 
Kopfbedeckung,  die  auf  jenem  damals  durch  Brüssels  Straßen  sich 
bewegenden  Aufzug  eine  Mohrin  trug;  auf  den  Brügger  lebenden 
Bildern  treffen  wir  wilde  Männer,  und  auch  solche  sind  im  De- 
zember 1496  durch  Brüssels  Straßen  gezogen,  wie  denn  die  An- 
legung derartiger  aus  Werg  gefertigten  Wilden-Männer-Kostüme 
ein  beliebter  Maskenscherz  der  Zeit  war.  Auf  solch  doppelte 
Weise:  durch  die  Verwertung  alter  Theatergarderobe  und  die  Be- 
nutzung von  Feierkleidern  und  Maskenkostümen  mag  sich  die  Vor- 
führung jedenfalls  längst  veralteter  Trachten  erklären,  die  auch 
in  jener  Übergangszeit  niemand  mehr  trug.  So  ist  tatsächlich  der 
Hennin,  den  wir  hier  sehen,  gewiß  damals  in  Brabant  nicht  mehr 
eine  lebendige  Mode  gewesen.  Die  Buntscheckigkeit  aber,  die  auf 
solche  Art  zustande  kam,  entsprach  dem  Zweck  der  ganzen  Ver- 
anstaltung gewiß  am  allerbesten.  Besonders  bemerkt  mag  endhch 
werden,  daß  die  Kostümierung  des  Engels  und  des  Teufels  durch- 
aus den  üblichen  Darstellungen  der  bildenden  Kunst  entspricht:  der 
Engel  trägt  ein  kuttenartiges  weißes  Gewand  mit  Ärmeln  und  Flügeln, 
die  hoch  über  den  Kopf  herüberragen  und  unten  tief  herunter- 
reichen, der  Teufel  hat  statt  der  Füße  und  Hände  vier  Krallen, 
ferner  rote  Augen,  einen  großen  Rachen  und  einen  langen  Schwanz. 

Und  wie  verhalten  sich  zu  diesem  Zustande,  bei  dessen  Erklärung 
wir  schließlich  leider  doch  im  Bereich  der  Vermutung  bleiben,  die 
Kostüme  des  Lyon  er  Terenz?  Ganz  gewiß  werden  wir  keine 
völlige  Übereinstimmung  fordern  dürfen,  denn  die  Aufgabe  war  hier 
eine  völlig  andere.  Die  vorzuführenden  Personen  gehören  hier  so 
ausschließlich  dem  Bürgerstand  an,  wie  es  sonst  bei  Leistungen  der 
bildenden  Künste    gewiß   nur  ausnahmsweise   damals  der  Fall  ist, 


Kostüme  des  Lyoner  Terenz.  407 

während  die  Brüsseler  Bilder  bis  in  die  höchsten  Kreise  hinauf- 
führen; und  während  hier  die  Vorführung  von  Frauen  beinahe  über- 
wiegt, treten  sie  in  den  terenzischen  Komödien  verhältnismäßig 
sehr  zurück.  Ans  dem  Rahmen  des  bürgerlichen  Lebens  fallen 
im  Ganzen  nur  wenige  terenzische  Gestalten :  der  Parasit  etwa  und 
dann  vor  allem  der  Sprecher  des  Prologs. 

Und  wirklich  ist  denn  auch  neben  einer  gewissen  Gleichheit,  die 
sich  nicht  nur  in  Einzelheiten,  sondern  auch  im  Gesammtcharakter 
der  Tracht  äußert,  die  auch  hier  wieder  sehr  buntscheckig  und 
barock  erscheint,  von  völliger  Übereinstimmung  nicht  die  Rede 
Die  Schuhe  allerdings  sind  hier  wie  dort  durchaus  breit,  aber  schon 
die  Frauenkopftrachten  unterscheiden  sich.  Der  Zug  zur  Mannig- 
faltigkeit tritt  auch  im  Terenz  deutlich  hervor,  und  an  einzelnen 
Übereinstimmungen  mangelt  es  nicht.  Aber  hier  bemerken  wir  als 
Haupttracht  jene  gestickte  Haube,  die  in  Brüssel  nur  gelegent- 
lich auftritt;  hier  fehlt  einerseits  der  Hennin  ganz,  und  von  den 
ganz  phantastischen  Kopfputzen  jener  lebenden  Bilder  ist  ander- 
seits nicht  die  Rede.  —  Die  Frauenärmel  sind  hier  durchaus  eng 
und  zum  Teil  wieder  überlang,  die  ganz  weiten  Ärmel  dagegen 
fehlen,  während  bei  den  Männerärmeln  die  Zwiespältigkeit  tatsächlich 
hervortritt.  Was  die  Stoffe  betrifft,  so  werden  wohl  helle,  dunkle 
und  gestreifte  unterschieden,  die  großgemusterten  aber  suchen  wir 
vergeblich.  Die  Männerkragen  dagegen  sind  wieder  vielfach  zu 
finden,  allerdings  fehlen  sie  auffallendervveise  in  einigen  Komödien 
ganz.  Die  Verwendung  von  Gürteln  ist  wenigstens  beim  männ- 
lichen Geschlecht  viel  stärker  als  auf  den  Brüsseler  lebenden 
Bildern.  —  Anderseits  zeigen  die  Terenzkostüme  einige  Eigen- 
tümlichkeiten, die  in  Brüssel  nicht  zu  finden  sind,  so  die  Ver- 
wendung von  Braguettes  an  den  Männerhosen,  —  auffallenderweise 
ist  sie  auf  die  Sklaven  beschränkt,  während  wir  sie  sonst  in  der 
bildenden  Kunst  2)  auch  bei  der  Darstellung  vornehmer  Personen 
treffen.  Der  Schnitt  der  Männertrachten  ist  viel  abenteuerlicher 
als  auf  den  Brüsseler  Bildern :  durch  allerhand  Auszackungen  sind 
da  seltsame  Formen  hergestellt,  und  das  Eigenartigste  ist  die 
von  Stück  zu  Stück  wechselnde  Tracht  des  Prologsprechers; 
namentlich  kommt  dabei  ein  Mantel  zur  Verwendung,  der  völlig 
aus  allem  herauszufallen  scheint,  was  uns  sonst  auf  niederlän- 
dischen Bildern  entgegentritt.  3) 

Fragen  wir  nun  auch  hier  wieder :  ist  das  einfache  Übernahme 
der  tatsächlich  damals  irgendwo  getragenen  Kostüme?  so  sind 
wir  für  die  Beantwortung  besonders  schlecht  gestellt,  weil  wir  mit 


1)  Vgl.  Alwin  Schultz  S.  93. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  Burgunder  Teppiche. 

3)  Der  immerhin  auffallende  große,  künstlich  drapierte  Mantel  der  Semiramis  aus  den 
Brüsseler  Vorführungen  des  Jahres  1496  ist  doch  wesentlich  anderer  Art. 


408  Kostüme  des  Lyoner  Terenz. 

noch  geringerer  Sicherheit  als  sonst  anzugeben  vermögen,  welchem  Ort 
der  Künstler  seine  Kostümeindrücke  verdankte.  Allerdings  können  wir 
zur  Kontrolle  hier  vielleicht  jenes  dem  ganzen  Werke  vorangestellte 
Theaterbild  heranziehen,  das  uns  ja  einen  gefüllten  Zuschaueraum  und 
außerdem  die  Bewohner  und  Besucher  der  fornices  vorführt.  In  der 
Tat  finden  wir  hier  zwar  nicht  alle  —  dazu  reicht  das  Material  nicht 
aus  —  aber  doch  viele  Eigentihnlichkeiten  der  Tracht  wieder,  die  uns 
auf  den  Szenenbildern  aufgefallen  sind.  Nur  ist  das  noch  kein  Be- 
weis für  die  reale  Existenz  dieser  Trachten,  denn  der  Künstler  könnte 
ja  auch,  um  das  Theaterpublikum  als  Zeitgenossen  jener  in  den 
Szenenbildern  vorgeführten  Personen  zu  charakterisieren,  ihm 
ebenfalls  das  nicht  schlechthin  mit  der  Wirklichkeit  übereinstim- 
mende Thaterkostüm  angezogen  haben.  Auch  hier  ist  es  wieder 
schwierig,  in  der  bildenden  Kunst  Leistungen  zu  finden,  die 
mehr  als  einzelne  Übereinstimmungen  in  kostümlicher  Hinsicht 
an  den  Tag  legen.  Etwa  so  nahe  wie  den  Kostümen  der  Brüsseler 
Bilder  die  Trachten  auf  jenem  Triptychon  des  Maitre  d'  Outre- 
mont  stehen  den  Terenzkostümen  die  Trachten,  welche  die  ja 
im  niederländischen  Stil  geschaffene  Lübecker  Bibel  des  Jahres 
1494  aufweist.  Die  Frauenärmel  halten  sich  auch  hier  im  Ganzen 
noch  in  der  engen  und  zum  Teil  überlangen  Art,  während  die  Männer- 
ärmel nicht  selten  bauschig  sind.  In  den  Kopfbedeckungen  beider 
Geschlechter  ist  vieles  ähnlich:  Kragen  und  Gihiel  sind  im  Ganzen 
gleich  behandelt.  Die  Braguettes  kommen  nicht  selten  vor,  aller- 
dings ohne  daß  jene  Beschränkung  auf  die  niedersten  Stände  sich 
geltend  machte,  und  vor  allem  endlich  ist  die  barocke  Gestaltung 
der  Männerkleider  dort  vielfach  sehr  ähnlich  wiederzufinden ;  der 
merkwürdige  Mantel  allerdings  fehlt  hier  völlig.  Breite  und  spitze 
Schuhe  finden  sich  noch  ziemlich  bunt  durcheinander. 

Auch  hier  werden  wir  im  Hinblick  auf  die  Buntscheckigkeit  und 
auf  die  Erklärung,  die  sich  uns  für  die  nicht  minder  große  Bunt- 
scheckigkeit der  Brüsseler  Bilder  aufgedrängt  hatte,  schließlich  viel- 
leicht vermuten  dürfen,  daß  eine  Mischung  zugrunde  liegt,  an  der 
auch  rein  Theatralisches  seinen  Anteil  hat.  Wenn  es  uns  vorher 
als  wahrscheinlich  erschien,  daß  damals  von  den  Frauen  ganz  enge 
und  ganz  weite  Ärmel  nebeneinander  getragen  wurden,  so  mag  der 
Umstand ,  daß  hier  im  Terenz  die  ganz  weiten  Ärmel  noch  völlig 
fehlen,  vieheicht  darauf  schließen  lassen,  daß  man  auf  der  Bühne, 
deren  Kostüme  der  Terenzillustrator  im  Sinne  hatte,  es  vermied, 
die  neuesten  Errungenschaften  der  Mode  vorzuführen ,  und  sich  an 
eine  vorhandene  Theatergarderobe  hielt,  die  solche  Extravaganzen 
noch  nicht  kannte.  Daß  im  Gegensatz  zu  aller  sonstigen  Bunt- 
scheckigkeit die  Brüsseler  Bilder  wie  die  Terenzilluslrationen  durch- 
aus die  ganz  modernen  breiten  Männerschuhe  zeigen,  wird  sich 
ebenfalls   aus  dem  lebendigen  Theatergebrauch  erklären:   die  Dar- 


Geberdcii   auf  <i(;n   lel)enden   Biklern   und  im   Lyonor  Terenz.  409 

steller  werden,  wenn  sie  sich  auch  sonst  umkleideten,  ihr  gewöhn- 
liches Schuhwerk  beibehalten  haben.  Endlich  jener  phantastische 
Mantel  des  Prologsprechers.  In  den  Niederlanden  scheint  er,  wie 
wir  schon  sahen,  seinesgleichen  nicht  zu  haben;  dagegen  treffen 
wir  ihn  bei  Dürer  und  zwar  auf  Bildern,  die  sicherlich  unter  italie- 
nischem Einfluß  entstanden  sind.  Wenn  wir  nun  auch  früher 
schon  einen  Zusannnenhang  jener  flandrischen  Bühne  mit  dem 
italienischen  Volkstheater  glaubten  ahnen  zu  dürfen,  so  mag  in 
diesem  Mantel  des  Prologsprechers  ebenfalls  ein  solcher  Rest  einer 
Anlehnung  an  die  fremden  Theaterverhältnisse  gefunden  werden 
dürfen. 

Es  bleibt  die  allerletzte  Frage :  liefert  unser  Material  uns  einen 
Anhalt  für  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  auf  dem  Theater  beim 
Vortrage  bestimmte  spezifisch  theatralische  Gesten  üblich  ge- 
wesen sind?  Von  vornherein  werden  wir  hier  die  Brüsseler 
Bilder  nicht  für  allzu  ergiebig  halten  dürfen.  Einerseits  nämlich 
wird  in  der  Anordnung  der  Gebärden  gerade  hier  wieder  die  male- 
rische Leistung  der  ganzen  Veranstaltungen  zu  ihrem  Rechte  ge- 
kommen sein:  die  Maler-Regisseure  werden  eine  Neigung  gehabt 
haben,  ohne  die  Rücksicht  auf  die  etwa  theaterüblichen  Gebärden 
die  Hände  der  Personen  so  anzuordnen,  wie  sie  es  von  den  Bildern 
her  gewohnt  waren.  Anderseits  verbot  der  Umstand,  daß  es  sich 
um  lebende  Bilder  handelt,  deren  Teilnehmer  in  der  gleichen  Situ- 
ation längere  Zeit  unbeweglich  zu  stehen  gezwungen  waren, 
die  Vorführung  transitorischer  Stellungen  durchaus.  So  ist  denn 
auch  wirklich  in  den  meisten  Fällen  hier  nichts  Besonderes  zu 
beobachten.  Mit  Vorliebe  haben  die  Regisseure  beiden  Händen  der 
mitspielenden  Personen  einen  Halt  gegeben:  sie  stützen  sich  auf 
Stöcke  oder  Waffen,  halten  irgend  einen  Gegenstand,  der  ein 
Herabhängenlassen  des  Armes  motiviert,  oder  die  Hände  sind  ganz 
versteckt  oder  wenigstens  gefaltet.  Gelegentlich  kommt  der  Affekt 
des  Entsetzens  in  der  Gestikulation  zum  Ausdruck:  auf  dem  Bilde 
der  Jahel,  wo  die  zuschauenden  Frauen  beide  Hände  in  einem  ge- 
wissen Abstand  voneinander  vor  der  Brust  erheben,  —  eine  ty- 
pische Bewegung,  die  in  der  bildenden  Kunst  häufig  genug  be- 
gegnet. Beim  Gelöbnis  hebt  Eleazar  die  eine  Hand ;  in  pathetischer 
Pose  halten  verschiedene  von  den  berühmten  Frauen  des  Alter- 
tums gleichfalls  die  eine  Hand  in  die  Höhe.  Den  Versuch,  die  ein- 
fache Sprechbewegung  anzudeuten,  findet  man  eigentlich  nur  ein- 
mal auf  dem  Bilde  tres  virgines ,  mid  hier  sind  ganz  wie  in  der 
nicht  individualisierenden  mittelalterlichen  Illustrationskunst  beide 
Hände  in  Aktion. 

Viel  interessanter  dagegen  ist  immerhin  das  Material  der  Lyon  er 
Terenzbilder.    Wir  vermögen  hier  symbolische  Gesten,  Affektbewe- 


4;[0  Geberden  im  Lyoner  Terenz. 

guiigen  und  endlich   die  einfache  Aktion  der  Arme  beim  Gespräch 
zu  unterscheiden. 

Die  Arme  nämhch  sind  es  vornehmhch,  in  deren  verschiedener 
Haltung  das  seelische  Leben  der  Personen  sich  kundtut;  viel  seltener 
lassen  sich  charakteristische  Eigentihulichkeiten  in  der  Haltung  der 
Hände  und  der  Finger  unter  scheiden.  Die  ermahnende  Person  hebt 
(Andria  II,  1)  den  Zeigefinger  hoch;  bittende  Personen:  Archillis 
(Andria  I,  4)  und  Clitipho  (Heaut.  V,  3)  halten  die  Hände  vor  der 
Brust  und  die  Fingerspitzen  wie  zum  Gebet  zusammengepreßt. 
Wichtiger  ist  die  einzige  Affektbewegung,  zu  deren  Darstellung  die 
terenzischen  Komödien  wiederholt  entschiedene  Veranlassung  geben: 
die  Gestikulation  der  Verzweiflung.  Die  typische  Stellung  ist  hier  die, 
daß  der  Verzweifelnde  seine  Hände  etwas  über  den  Kopf  zusammen- 
schlägt: Pamphilus  (Andr.  II,  5),  Chaerea  (Eun.  II,  3;  Abb.  39,  s.  o.  S. 
312),  Geta  (Phormio  V,  2);  nicht  ganz  so  hoch  hält  sie  Thraso  (Eun.  V, 
9 — 10);  Demea  (Adelphi  V,  1)  steht  so,  daß  wir  sehen:  er  will  die 
die  Hände  im  nächsten  Augenblick  zusammenschlagen.  Aeschinus 
(Adelphi  IV,  5)  hat  die  offenbar  vorher  gleichfalls  oben  zusammen- 
geschlagenen Hände,  ohne  sie  voneinander  zu  nehmen,  tief  herunter 
gesenkt.  Völlig  weichen  nur  Pythias  (Eun.  V,  2)  und  Simo  (Heaut.  V), 
3)  ab,  bei  denen  es  sich  offenbar  mehr  um  ein  Falten  der  Hände 
in  der  Höhe  des  Gesichts  handelt,  und  endlich  Davus  (Andr.  III,  4), 
der  in  seiner  Verzweiflung  sich  ganz  nach  vorn  übergebeugt  hat, 
so  daß  die  Haare  fast  den  Boden  berühren,  und  nun  in  dieser  Stel- 
lung mit  beiden  Händen  an  den  Haaren  reißt.  Immerhin:  die  zuerst 
charakterisierte  Gestikulation  ist  ziemlich  stereotyp,  und  das  fällt 
einigermaßen  auf,  weil  der  ganzen  Art  dieser  Kunstleistung  nach 
vielmehr  eine  durchaus  individualisierende  Art  der  Gebärdenbe- 
handlung zu  erwarten  wäre.  Der  Zug  des  Künstlers  dazu  zeigt 
sich  auch  gelegentlich  ganz  deutlich,  so  etwa  in  der  Darstellung 
des  Simo  (Adelph.  IV,  2),  der  die  Hand  ans  Kinn  legt.  Die  Illustra- 
tionen der  Lübecker  Bibel,  die  wir  sonst  dem  Lyoner  Terenz 
einigermaßen  nahe  rücken  durften,  weichen  hier  durchaus  ab.  Und 
auch  sonst  ist  in  der  spätmittelalterlichen  Kunst,  wie  wir  in  anderm 
Zusammenhange  (vgl.  o.  S.  233,  239)  darlegten,  dieses  Zusammen- 
schlagen der  Hände  über  dem  Kopf  als  Zeichen  der  Verzweiflung 
fast  niemals  von  der  starken  Bildwirksamkeit  wie  hier.  So  werden 
wir  immerhin  die  Möglichkeit  nicht  für  ausgeschlossen  halten,  daß 
der  Terenzillustrator  hier  tatsächlich  eine  typische  Theaterbewegung 
im  Sinne  gehabt  hat.  In  einem  ganz  andern  Zusammenhange: 
bei  der  Betrachtung  der  auf  der  deutschen  Meistersingerbühne 
des  16.  Jahrhunderts  üblichen  Gestikulation  haben  wir  sie  geradezu 
im  Mittelpunkt  der  Gebärdensteigerung  getroffen. ') 


1)  Vg!.  o.  S.  24fiff.,  255  f.;  s.  auch  ii.  S.  41  i). 


Geberden  im  Lyoner  Terenz.  411 

Viel  schematischer  noch  aber  als  diese  schließlich  doch  nur 
gelegentlich  auftauchende  Affektgeste  ist  im  Lyoner  Terenz  die 
eigentlich  auf  jedem  einzelnen  Bilde  vorgeführte  Bewegung  beim 
einfachen  Sprechen.  Es  im  höchsten  Maße  auffallend,  wie  hier  von 
ganz  wenigen,  völlig  verschwindenden  Ausnahmen  abgesehen 
immer  nur  die  eine  Hand  die  gewöhnliche  Rede  begleitet,  während 
die  andere  einfach  herabhängt  oder  einen  Teil  des  Gewandes  oder 
sonst  irgendetwas  festhält.  Der  Oberarm  pflegt  fest  am  Körper 
zu  liegen,  der  in  Bewegung  begriffene  Unterarm  dagegen  mit  ihm 
bald  einen  spitzen,  bald  einen  rechten,  bald  einen  stumpfen  Winkel 
zu  bilden.  Diese  Gestendarstellung  widerspricht  durchaus  dem, 
was  wir  in  der  Illustrationskunst  beobachten  können :  wo  hier  über- 
haupt eine  stereotype  Art  sich  zeigt,  pflegen,  wie  wir  das  schon 
öfter  betont  haben,  beide  Hände  in  Aktion  zu  treten.  Handelt  es 
sich  hier  also  um  eine  wirklich  auf  dem  Theater  übliche  Art  der 
Geste  beim  einfachen  Gespräch,  dürften  wir  annehmen,  daß  beim 
Vortrag  der  gewöhnlichen,  affektlosen  Reden  wenigstens  der 
niederländischen  Bühne  der  eine  Arm  des  Schauspielers  stets  in 
Ruhe,  der  andere  dagegen  in  einer  die  Hand  beständig  von  oben 
nach  unten  und  von  unten  nach  oben  führenden  Bewegung  ge- 
wesen ist?  Hat  der  Künstler,  der  für  Jodocus  Badius  arbeitete, 
diese  ihm  wohl  bekannte  Deklamationsbewegung  seines  heimat- 
lichen Theaters  auf  die  Darstellung  antiker  szenischer  Hergänge 
übertragen?  Auffallend  ist  es  immerhin,  daß  sein  Venetianer  Nach- 
ahmer, der  sich  sonst  so  getreu  an  ihn  anschließt,  die  strenge 
Durchführung  dieser  Gesprächsgesten  einigermaßen  verwischt  hat: 
er  hat  diesen  speziell  theatralischen  Charakter  seiner  Vorlage  nicht 
mehr  begriffen.  Es  gäbe  allerdings  noch  eine  andere  Erklärung. 
Im  klassischen  Altertum  heischt  es  die  gute  Sitte,  auf  der  Straße 
die  eine  Hand  im  Mantel  verborgen  zu  tragen  und  nur  die  andere 
zur  freien  Verfügung  zu  haben;  dieses  Prinzip  läßt  sich  bei  genauem 
Zusehen  wohl  auch  auf  den  Terenzbildern  des  Codex  Vaticanus 
oder  des  Codex  Parisinus  herauserkennen,  und  da  wir  annahmen, 
daß  Jodocus  Badius  einen  dieser  Codices  einmal  betrachtet  hat,  so 
könnte  ihm  jene  antike  Eigentümlichkeit  wohl  aufgefallen  sein,  und 
er  hätte  sie  dann  dem  von  ihm  beschäftigten  Künstler  zur  Ver- 
wertung auf  den  modernen  Terenzbildern  mitgeteilt. 

So  schließt  auch  die  letzte  Erörterung  dieser  ganzen  mehr  ab- 
bauenden als  aufbauenden  Untersuchung  mit  einem   „non  liquet*. 


Drittes  Kapitel : 

Illustrationen  zu  schweizerischen  Dramen. 

Gerold  Edlibach. 

Die  moderne  Reihe  setzt  in  Zürich  ein  und  zwar  nicht  mit 
einer  Dramenillustration  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  mit 
Bildern,  die  einem  gedruckten  Drama  beigegeben  wären,  sondern 
mit  einer  Leistung,  die  uns  in  gewissem  Sinne  an  jene  zuletzt  be- 
sprochenen Bilder  zu  den  Brüsseler  Aufführungen  erinnert:  mit 
Federzeichnungen,  die  ein  paar  Züricher  Spiele  aus  dem  letzten 
Viertel  des  15.  Jahrhunderts  vorführen.  Diese  Züricher  Abstam- 
mung erweckt  ein  günstiges  Vorurteil  für  die  reine  theatralische 
Wirklichkeit  des  hier  Vorgeführten:  die  Möglichkeit,  daß  es  sich 
wieder  in  erster  Reihe  um  eine  spezifisch  bildkünstlerische  Leistung 
handle,  ist  hier  von  vornherein  nicht  sehr  groß.  Denn  nur  sehr 
gering  ist  der  Anteil,  den  Zürich  damals  am  deutschen  Kunstleben 
hat.  Erst  im  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  lassen  sich  die  ersten 
Spuren  eines  eigenen  Buchdrucks  nachweisen,  und  irgendwie 
nennenswerte  Künstler  treten  vor  dem  ebenfalls  erst  im  16.  Jahr- 
hundert tätigen  Hans  Leu  kaum  auf.  Mag  man  auch  in  Rechnung 
ziehen,  daß  mancherlei  Werke  aus  dieser  Periode  zerstört  sein 
werden,  so  wird  sich  doch  aus  dem  Umstand,  daß  auch  der  regste 
Sammeleifer!)  von  der  Architektur  und  einigen  kunstgew^erklichen 
Leistungen  abgesehen  keine  irgendwie  beträchtlichen  Arbeiten  aus 
den  letzten  Jahrzehnten  des  15.  Jahrhunderts  hat  aufstöbern  können, 
der  Schluß  tun  lassen,  daß  damals  keine  oder  so  gut  wie  keine 
künstlerische  Tradition  bestanden  hat.  Einen  Anteil  hat  Zürich 
allerdings  an  denjenigen  künstlerischen  Leistungen,  durch  die  die 
Schweiz  überhaupt  damals  besonders  hervorragte,  und  sie  hat  ihn 
(hn-ch  eben  den  Maini,  dem  wir  die  hier  zu  behandelnden  theatra- 
lischen Zeichnungen  verdanken:  das  ist  das  Gebiet  der  Chroniken- 
ilhistration,    über   die    wir    neuerdings   besonders  gut  unterrichtet 

DLR.  Ralin,    Gesell,  d.  hild.  Künste   in  d.  Sclnveiz  von  den    ältesten    Zeiten    bis 
zum   Schluß  des  Mittelalters   (Zürieli   187(j). 


Die    Bildk-unst   in   Zürich.     Gerold   ?:dlii)ach.  413 

worden  sindi).  In  Bern  hat  diese  Kunst  ihr  Zentrum  und  feiert 
hier  seit  dem  Jahre  1470  in  den  meist  von  unbekannten  Künstlern 
herrührenden  Bildern  zu  Diebold  Schillintrs  Chroniken  ihre  eigent- 
lichen Triumphe,  die  besonders  seit  den  80er  Jahren  in  der  immer 
glänzenderen  Durchführung  des  spätgotischen  Realismus  zutage 
treten.  Anno  1486  hat  der  Rat  der  Stadt  Zürich  eines  dieser  Manu- 
skripte, Schillings  Beschreibung  der  Burgunderkriege,  von  der  Witwe 
des  Verfassers  angekauft. 

Um  die  gleiche  Zeit  aber  hatte  sich  in  Zürich  bereits  der  Mann, 
von  dem  wir  hier  zu  reden  haben,  Gerold  Edlibach,  mit  einer  ver- 
wandten Arbeit,  mit  Bildern  zu  seiner  1485  und  86  geschriebenen 
Züricher  Chronik  versucht,  die  freilich  trotz  eines  entschiedenen 
Zuges  zur  Wirklichkeit  hinter  den  besseren  Berner  Miniaturen  zu- 
rückbleiben. Den  Einfluß  dieser  Berner  Kunst  auf  Edlibach  zu 
untersuchen,  wird  aber  nicht  nötig  sein,  da  er  für  unsere  Theater- 
bilder kaum  in  Frage  kommt:  sie  gehören  schon  den  Jahren  1476 
und  1484  an. 

Gerold  Edlibach,  im  Jahre  1454  geboren,  seit  1473  als  Amtmann 
des  Einsiedler-Stiftes  in  Zürich  tätig,  seit  1480  im  Besitz  öffent- 
licher Ämter,  w^urde  im  Jahre  1489  durch  die  große  Züricher  Re- 
volution vom  Regiment  verdrängt,  ist  aber  bald  wieder  emporge- 
kommen und  in  hohen  Ehren  1530  gestorben'-). 

Hier  interessiert  er  uns  nur  in  seiner  Stellung  zur  Bildungs- 
geschichte seiner  Zeit;  da  tritt  uns  ein  Autodidakt  und  eifriger 
Sammler  entgegen,  wie  diese  Periode  so  manchen  aufzuweisen  hat: 
ein  Hartmann  Schedel  en  miniature,  nur  daß  ihm  der  Zug  zur 
humanistischen  Propaganda  abgeht.  Er  brachte  mit  allen  Mitteln 
eine  Bibliothek  zusammen :  indem  er  handschriftliche  oder  gedruckte 
Bücher  kaufte  oder  auch  mit  eigener  Feder  umfangreiche  Werke 
kopierte.  So  hat  er  schon  im  Jahre  1474  eine  Prosalegende  vom 
Heiligen  Georg  selbst  geschrieben  (Ms.  A  164  der  Stadtbibliothek 
in  Zürich)  und  im  Jahre  1498  ein  nicht  minder  umfangreiches 
Passionsbuch,  das  eben  dort  als  Ms.  B  288  bewahrt  wird.  Als 
Schriftsteller  hat  er  sich  durch  jene  schon  erwähnte,  übrigens  ziem- 
lich trockene  und  politisch  höchst  vorsichtige  Züricher  Chronik  be- 
tätigt: seine  eigene  Handschrift  bildet  jetzt  in  Zürich  das  Ms.  A  75^). 
Ein  Element  aber  eignet  diesen  Arbeiten,  dem  bei  Hartman  Schedel 
nichts  entspricht:  Edhbach  hat  seine  Handschriften,  die  Chronik 
nicht  nur,  sondern  auch  das  Georgsbuch,  die  Passion  und  anderes 
eigenhändig   mit   Bildern    ausgestattet.     Auch   auf  diesem  Gebiete 


1)  J.  Zemp,    Die  schweizerischen  Bilderchroniken  und  ihre  Architekturdarstellungen 
Zürich  1897. 

2)  Vgl.  Wyss:  ADB.   5,  S.  646 f. 

3)  Ich  durfte  sämtliche  drei  Manuskripte  durch   die  Güte  der  Direktion  der  Züricher 
Stadtbibliothek  in  Berlin  benutzen. 


414 


Edlibachs  Zeichnungen  zu  Zürcherischen  Aufführungen. 


Abb.  79 — 80.     Gerold  Edlibachs  Federzeichnungen 

aber  ist  Edlibach  durchaus  Autodidakt,  Dilettant,  ein  Mann,  der 
einen  gewissen  Blick  für  die  Erscheinungen  des  Lebens  besitzt, 
der  auch  wohl  naiv  dem  Einfluß  berufsmäßiger  Kunst,  zumal  dem 
des  süddeutschen  Holzschnitts  unterliegt  und  in  solchem  Sinne 
seinen  Naturalismus  stilisiert.  Aber  die  hier  zu  behandelnden 
Arbeiten  sind  doch  so  naiv,  daß  wir  jene  Beeinflussung  nicht  zu 
berücksichtigen  brauchen,  und  zumal  die  Entwicklung  seines  Farben- 
sinnes, die  sich  in  den  genannten  Leistungen  deutlich  beobachten 
läßt,  zu  erforschen,  tut  um  so  weniger  not,  als  unsere  theatralischen 
Bilderzeichnungen  ausnahmsweise  ohne  Farben  dargeboten  werden  i). 


1)  Man  könnte  auf  den  Gedanken  kommen,  daß  ein  Mann,  der  nachgewiesener- 
maßen das  Bild  öffentlicher  Aufführungen  mit  der  Feder  festzuhalten  versucht  hat,  in 
seinen  Bildern  zu  Christi  Leidenssjeschichie  sich   habe  durch   die  öffentlichen  l'assionsauf- 


Edlibachs  Zeichnungen  zu  Zürcherischen  Auffiihruns^en. 


415 


^v^  *^fr-< 


j-^Vp" 


zu  dem  Spiel  von  den  zehn  Altern  (Zürich  1484(. 

Diese  beiden  Zeichnungen,  die  wir  hier  (Abb.  79 — 80)  reprodu- 
zieren!), befinden  sich  in  dem  jetzigen  Cod.  98  der  Fürstlichen  Biblio- 

führungen  beeinflussen  lassen.  Doch  zeigte  eine  Untersuchung  des  oben  genannten  Manuskripts 
von  1498,  daß  daran  kaum  zu  denken  ist :  die  meisten  dieser  Bilder,  Abendmahl,  Fuß- 
waschung, Ölberg,  Geißelung,  Dornenkrönung,  Kreuztragung,  Kreuzigung,  Beweinung,  Auf- 
erstehung usw.  stehen  durchaus  rein  im  Bann  der  üblichen  Darstellungen  durch  die  bil- 
dende Kunst.  Aber  auch  bei  den  übrigen  Bildern,  die  z.  T.  Szenen  zeigen,  welche 
von  den  Malern  und  Zeichnern  sonst  kaum  vorgeführt  werden,  ist  wohl  von  einer  Nach- 
bildung dramatischer  Szenen  nicht  die  Rede  :  sie  spielen  alle  im  vollständig  geschlossenen 
Innenraum.  Auffallend  ist  nur  das  erste  Bild,  die  Vertreibung  der  Wucherer  aus  dem 
Tempel:  hier  befinden  wir  uns  nämlich  draußen  vor  dem  Tempel  (bei  dessen  Darstellung 
Edlibach  seiner  auch  sonst  zu  beobachtenden  Neigung  für  die  Vorführung  vor*  Architektur 
die  Zügel  schießen  läßtj,  während  die  bildende  Kunst  sonst  uns  in  das  Innere  des  Tem- 
pels zu  führen  pflegt. 

1)  Leider  ist  die  erste  der  beiden  Zeichnungen  durch  Wasser  stark  beschädigt  worden ; 


I 


^-[g  Edlibachs  Zeichnung  des  Zehnalterspiels. 

thek  zu  Donaueschingen  1),  dessen  Hauptinhalt  eine  im  Jahre  1464  ge- 
schriebene Kopie  des  Schachgedichts 2)  von  Konrad  von  Ammen- 
hausen bildet;  Edhbach  hat  dahinter  eine  Reihe  von  Ausdrücken 
aus  dem  Rotwelschen  und  eine  Prosafassung  der  Geschichte  vom 
Meliböus  geschrieben.  Nicht  nur  wegen  dieses  Inhalts  ist  die  Hand- 
schrift von  der  Wissenschaft  mehrfach  beachtet  worden,  sondern 
auch  wegen  mancher  illustrativer  Beigaben,  unter  denen  nament- 
hch  die  Abbildungen  von  schweizerischen  Burgen  wiederholt  repro- 
duziert worden  sind.  Dagegen  ist  das,  was  auf  den  letzten  drei  Seiten 
der  Handschrift  sich  befindet,  eben  unsere  theatergeschichtlich 
wichtigen  Federzeichnungen,  bisher  nur  gelegentlich  erwähnt 
worden  3). 

Die  erste  Zeichnung  bezieht  sich  auf  eine  Darstellung  des 
Spieles  von  den  zehn  Altern,  das  in  der  Geschichte  des  deutschen 
Dramas  wiederholt  auftaucht  und  von  dem  auch  wir,  wenn  wir 
von  Pamphilus  Gengenbach  reden,  noch  zu  handeln  haben  werden. 
In  Zürich  ist  es  offenbar  nicht  eigentlich  als  Drama,  sondern  in 
einer  Art  Umzug  gespielt  worden;  von  solchen  für  die  Geschichte 
des  Theaters  jedenfalls  wichtigen  Zwischengattungen  ist  schon 
früher  bei  der  Erörterung  der  Brüsseler  Bilder  gesprochen  worden. 

Nach  den  oben  gegebenen  Erörterungen  über  den  Stand  der 
bildenden  Kunst  in  Zürich  und  über  den  Dilettantismus  des  Zeich- 
ners werden  wir  von  vornherein  erwarten  dürfen,  hier  wirklich 
ein  Theaterbild  vor  uns  zu  haben.  Wie  in  den  Illustrationen  zu 
seiner  Chronik  kommt  es  Edlibach  darauf  an,  einen  tatsächlichen 
Hergang  zu  verewigen,  und  vor  allem  der  Umstand,  daß  der  Zeichner 
zu  jeder  Gestalt  den  Namen  dessen  fügte,  der  bei  jenem  Umzüge 
die  betreffende  Rolle  gespielt  hat,  erlaubt  uns  die  Annahme,  daß 
wir  es  hier  mit  kaum  stilisiertem  Naturalismus  zu  tun  haben.  Wohl 
hat  das  Motiv  von  den  zehn  Altern,  wie  wir  später  sehen  werden, 
auch  seine  rein  künstlerische  Tradition,  aber  dem  Nichtkünstler  lag 
doch  die  Einordnung  seiner  Darstelhmg  in  diese  Tradition  bei 
weitem  nicht  so  nahe  wie  etwa  die  Anlehnung  seiner  Passions- 
bilder an  die  gebräuchlichen  Vorführungen  der  bildenden  Kunst, 
die  auch  dem  Dilettanten  fort  und  fort  vor  Augen  kamen.  In 
der  Tat  stimmt  seine  Zeichnung  denn  auch  eigentlich  nur  mit  einem 
einzigen  der  weiter  unten  zusammengestellten  künstlerischen  Motive 


die  Kunstanstalt  von  Meisenbach,    Riffarth  &  Co.  in  Beilin-Schönoberfi    hat    mit   der  Feder 
an  einigen  Stellen  vorsichtig  nachgeholfen.    Die  Reproduktionen  sind  stark  verkleinert. 

1)  Die  Direktion  hat  sie  mir  in  liebenswürdiger  Weise  auf  längere  Zeit  zu  meiner 
Benutzung  nach  Berlin  gesandt. 

2)  F.  Kluge,  Wörterbücher  des  Rotwelschen  Bd.  1,  S.  l'J  meint  offenbar,  die  Abschrift 
rühre  von  Edlibach  selbst  her;  das  ist  schon  darum  unwahrscheinlich,  weil  E.  im  Jahre  der 
Herstellung  erst  10  Jahre  alt  war,  und  wird  durch  das  Bild  der  Schriflzüge  vollends  widerlegt. 

3)  Bei  Meyer  v.  Knouau:  Anz.  f.  Schweiz.  Altertumskunde  1870  S.  202 f. ;  bei 
Baeciilold,  Geschichte  d.  deutsch.  Litt,  in  der  Schweiz  1892,  Anni.  S.  70  und  bei  Zemp  S.  71. 


Edlibachs  Zeichnung  des  Zehnalterspiels.  417 

Überein:  der  dreißigjährige  Mann  wird  als  Krieger  dargestellt; 
ferner  findet  sich  Edlibachs  Scheidung,  daß  die  Vertreter  der  Lebens- 
alter von  zehn  bis  fünfzig  bartlos,  der  von  sechzig  bis  hundert 
bärtig  dargestellt  sind,  auf  den  Bildern  der  Kathedrale  zu  Amiens 
wieder.  Aber  solche  Übereinstimmung  mag  ganz  wohl  Zufall  sein. 
So  werden  wir  uns  wenigstens  über  das  theatralische  Kostüm  bei 
solchen  Fastnachtsspielaufführungen  aus  unserer  Zeichnung  orien- 
tieren dürfen ;  leider  nicht  über  Weiteres,  vor  allen  Dingen,  da 
es  sich  um  stummen  Aufzug  handelt,  nicht  über  die  theatralische 
Gebärde.  Edlibachs  Notiz  meldet:  Anno  Domini  uff'  die  pfaffen 
iiasnach    jm     1484   jar  sind  diese   abgemelte  personnen    mit  ein 

andren  jn  hutzenwifS  gangen „Jn  Butzenwiß"":  man  wird 

geneigt  sein,  dabei  an  irgendeine  Vermummung,  sei  es  des  Ge- 
sichts durch  eine  Maske,  sei  es  des  Körpers  durch  eine  besondere 
Kleidung  zu  denken.  Unsere  Bilder  zeigen  nun  aber,  daß  eigent- 
liche Masken  jedenfalls  nicht  verwendet  worden  sind;  es  bliebe 
nur  die  Frage,  ob  jene  Vertreter  der  Lebensalter  Sechzig  bis  Hundert 
vielleicht  mit  künstlichen  Barten  versehen  worden  sind.  Das  wird 
sich  endgültig  feststellen  lassen,  wenn  wir  etwa  einmal  über  das 
wirkliche  Alter  der  Vertreter  der  einzelnen  Rollen  unterrichtet 
werden  und  also  sehen  können,  ob  die  höheren  Lebensalter  von 
bejahrten  Männern  gespielt  worden  sind:  wie  Edlibachs  Chroniken- 
bilder zeigen,  pflegen  damals  die  älteren  Leute  fast  durchaus  Vollbarte 
zu  tragen  i).  Vorläufig  läßt  sich  nur  sagen,  daß  das  vorgeführte  Alter 
mit  dem  wirklichen  Alter  der  Spieler  nicht  übereinzustimmen 
brauchte,  dennEdlibach  selbst  spielt  den  Zwanzigjährigen,  während  er 
1484  doch  schon  dreißig  Jahre  zählte,  und  der  Darsteller  des  Zehn- 
jährigen ist  offenbar  ebenfalls  ein  Erwachsener  gewesen.  Aber 
auch  um  die  Verwendung  besonders  eigenartiger,  vermummender 
Kostüme  kann  es  sich  nicht  gehandelt  haben ;  die  Trachten  der  zehn 
Darsteller  stimmen  vielmehr  durchaus  mit  den  damaligen  Züricher  Ko= 
stümen  des  Alltags  überein 2);  lediglich  die  etwas  merkwürdige  Tracht 
des  Zwanzigjährigen  mit  der  großen  Schleife  läßt  sich  nicht  nach- 
weisen. Besonders  interessant  aber  ist  es,  daß  der  Dreißigjährige, 
der  Ritter,  nicht  etwa  in  voller  ritterlicher  Rüstung,  sondern  auch 
nur  in  der  gewöhnlichen  bürgerlichen  Gewandung  erscheint  und 
daß  sein  Ritterstand  lediglich  durch  Helm  und  Hellebarde  symbo- 
lisch angedeutet  wird.  So  wird  man  jene  Worte  jn  Butzenwiß 
also  wohl  nicht  durch  „in  einer  Vermummung"  sondern  nur  allgemein 
„in  einem  Fastnachtsspielaufzug"  übersetzen  dürfen.  Die  Haupt- 
sache in  der  ganzen   Ausstattung  aber  ist  der  Umstand,  daß  jede 


1)  Vgl.  Zemp  S.  72 

2)  Um  sich  davon  zu  überzeugen,  mag  man  die  für  diesen  Zweck  ausreichenden,  für 
kunstgeschichtliche  Betrachtung  ungenügenden  Proben  Edlibachscher  Zeichnungen  in 
Usteris    Ausgabe  der  Chronik  (1486)  heranziehen. 

H  e  r  r  m  a  n  n ,  Theater.  27 


418 


Edlibachs  Zeichnung  zu  Brunners  Fastnachtspiel. 


Person  eine  Stange  hält  mit  einer  flatternden  Fahne,  deren  Inschrift 
das  Lebensalter  des  Trägers  kennzeichnet.  Schwierigkeiten  macht 
nur  der  Engel,  der  das  Ganze  beschließt;  hier  fehlt  der  Schau- 
spielername, und  hier  ist  auch  (etwa  durch  die  Schuld  jener  Wasser- 
flecke?) die  Art  der  etwaigen  theatralischen  Verwendung  der  Fahne 
mit  ihrer  Inschrift  nicht  deutlich.  Möglich  also,  daß  es  sich  hier 
um  eine  rein  zeichnerische  Ergänzung  handelt. 

Das  zweite  Bild  aber  (Abb.  81)  zeigt  uns  nicht  einen  doch  nur  halb 


Abli.  81.     Edlibachs  Federzeichnung  zu  Brunners  Fastnachtspiel. 


dramatischen  Umzug,  sondern  offenbar  den  Schluß  eines  richtigen 
Fastnachtspiels,  dessen  von  Edlibach  genannter  Verfasser  „Brunner 
de  Zofingen"  freilich  sonst  nicht  bekannt  ist.  Hier  ist  nicht  etwa 
eine  Illustration  zu  einem  epischen  Gedicht  gegeben,  denn  die  aus 
den  Spruchbändern  zusammenzustellenden  Reden  der  Personen  folgen 
aufeinander,  ohne  daß  irgendwo  ein  episches  „darauf  sprach  der 
Nächste"  zu  ergänzen  wäre,  und  auch  der  Umstand,  daß  die  Reim- 
paare am  Schlüsse  des  Ganzen  durch  einen  Dreireim  abgelöst 
werden,  weist  in  die  gleiche  Richtung.  Der  Schauplatz  ist  ein 
wirkliches  Zimmer  mit  einer  Tür,   einem   Ofen    und   einem   großen 


Edlihaclis  Zeicliiuing  zu   Bruiiners   Fastnaclitsijiel.      P.  Gen(reiil)acli.  419 

Tisch,  um  den  von  drei  Seiten  die  handelnden  Personen  herum- 
sitzen. Rund  herum  ist  das  zuschauende  Pubhkum  zu  denken,  nur 
die  vierte  Seite  bleibt  frei,  die  Seite  der  Tür,  durch  die  soeben  der 
Jäger  hereintritt.  Für  die  Trachten  der  Personen  gilt  wieder  das- 
selbe, was  vorhin  beim  Spiel  von  den  zehn  Altern  gesagt  ist:  alle 
diese  Gewänder,  auch  die  kurzen  Mäntelchen,  ferner  auch  das 
große  Hörn  des  Jägers  und  seine  hohen,  oben  umgekrempelten 
Stiefel  lassen  sich  auf  Edlibachs  Chronikenbildern  nachweisen; 
nur  der  Schnitt  des  Wamses  bei  den  Schmausenden  weicht  etwas 
ab,  aber  auch  hier  kann  es  sich  um  eine  bei  der  Herstellung  der 
Chronikbilder  schon  aus  der  Mode  gekommene  Züricher  Alltags- 
tracht handeln:  man  kann  diesen  Schnitt  auf  den  unserm  Fast- 
nachtsspiel von  1476  zeitlich  näherstehenden  St.  Georgsbildern 
Edlibachs  (1474)  nicht  selten  wiederfinden.  Was  endlich  die  Be- 
wegungen anlangt,  so  ist  es  ganz  auffallend,  wie  alle  diese  ruhig 
miteinander  sprechenden  Personen  nur  den  einen  Arm  agieren 
lassen,  während  wir  auf  ganz  analogen  Bildern  der  Edlibachschen 
Chronik,  bei  der  Darstellung  von  Tischszenen  also,  die  Redenden 
oft  auch  beide  Arme  bewegen  sehen  und  auch  ganz  individuali- 
sierende Gesten  treffen.  Wir  hatten  schon  in  einem  ganz  andern 
Zusammenhange  (S.  411)  Grund  zu  der  Annahme  zu  haben  geglaubt, 
daß  die  typische  Theatergeste  bei  der  einfachen  Rede  in  einem 
Auf- und  Abbew^egen  des  einen  Armes  bestanden  hat:  durch  diese 
Edlibachschen  Zeichnungen  wird  jene  Hypothese  vielleicht  einiger- 
maßen bestätigt. 

P  a  m  p  h  i  1  u  s  G  e  n  g  e  n  b  a  c  h. 

Von  Zürich  haben  wir  uns  nach  Basel  zu  wenden  und  einen 
Zeitraum  von  etwa  dreißig  Jahren  zu  überspringen,  wenn  wir  auf 
die  nächste  uns  hier  interessierende  Leistung  treffen  wollen  :  die 
Zeit,  in  welche  die  bedeutsamsten  Schöpfungen  auf  dem  Gebiet  der 
Terenzbilder  fallen,  geht  hinsichtlich  der  Illustration  deutscher  Dra- 
men völlig  leer  aus.  Und  auch  eine  direkte  Beziehung  zwischen 
jenen  Züricher  und  den  nun  zu  besprechenden  Baseler  Arbeiten 
existiert  nicht.  Zwar  beginnt  die  Baseler  Reihe  merkwürdigerweise 
mit  Bildern  zu  einem  Drama,  das  den  gleichen  Stoff  behandelt,  den 
uns  Gerold  Edlibachs  Federzeichnungen  vorgeführt  hatten.  Aber 
über  diese  Stoffgleichheit  hinaus  scheinen  keinerlei  dramatische, 
theatralische  oder  zeichnerische  Zusammenhänge  zu  bestehen.  Aus 
der  kunstarmen  Zeit  Edlibachs  führen  uns  die  Illustrationsreihen 
zu  den  drei  dramatischen  Arbeiten  des  Baselers  Pamphilus  Gen- 
genbach und  damit  in  eine  Periode  reger  und  bedeutsamer  Kunst- 
entfaltung. Freilich  besitzen  wir  noch  keine  eigene  Untersuchung, 
die  uns  die  Leistungen  des  Baseler  Holzschnitts  in  ihrer  besonderen 


^20  Der  Baseler  Holzschnitt  und  die  Gengenbachsche  Offizin. 

Entwicklung  und  in  allen  wichtigen  Einzelarbeiten  im  Zusammen- 
hange vorführte.  Und  ob  das  Surrogat,  das  uns  Haendckes  Betrach- 
tung der  malerischen  und  zeichnerischen  Kunst  Basels  im  16.  Jahr- 
hundert bieten  kann,  wirklich  ausreicht,  wage  ich  nicht  endgültig 
zu  entscheiden.  Er  beobachtet,  wie  hier  Schongauers  Einfluß  durch 
die  Anlehnung  an  Dürer  abgelöst  wird,  wie  dann  aber  die  Schule 
des  Mannes,  der  über  die  beiden  Meister  hinausstrebend  eben  an- 
fing, einen  eigenen  Stil  zu  gewinnen,  die  Schule  des  Urs  Graf  vor 
ihrer  eigenthchen  Entfaltung  durch  den  alles  bezwingenden  Ein- 
fluß des  jüngeren  Hans  Holbein  vollständig  geschlagen  wurde. 
Kleinere  und  größere  Einflüsse  scheinen  hier  in  diesem  Bilde  doch 
zu  fehlen;  vor  allem  ist  es  seltsam,  daß  Ambrosius  Holbein  voll- 
ständig mit  Stillschweigen  übergangen  ist.  Eine  wirklich  ab- 
schheßende  Monographie  wird  wohl  nur  einem  kunsthistorisch 
geschulten  Lokalforscher  gelingen. 

Für  die  rein  bibliographische  Seite  unserer  Untersuchung,  für 
die  Möglichkeit,  die  Leistungen  der  einen  in  Betracht  kommenden 
Druckerei  in  ihrer  Gesamtheit  zu  überblicken,  ist  durch  das  große 
Werk  von  Heitz  und  Bernouilli^)  trefflich  vorgearbeitet.  Immer- 
hin aber  läßt  sich  leicht  zeigen,  daß  die  Stürme  des  16.  und  17. 
Jahrhunderts  auch  von  den  Drucken,  die  aus  der  Offizin  des  Dich- 
ters Pamphilus  Gengenbach  hervorgegangen  sind,  vieles  vernichtet 
haben,  so  daß  wir  immer  darauf  gefaßt  sein  müssen,  nur  mit 
Trümmern  zu  arbeiten :  wiederholt  treffen  wir  in  Gengenbachschen 
Drucken  Holzschnitte,  die  nicht  zu  dem  Inhalt  passen,  sondern  le- 
diglich als  Buchschmuck  verwendet  sind,  —  solche  Bilder  setzen 
die  sonst  nicht  mehr  nachweisbare  Existenz  von  Druckwerken 
voraus,  für  die  sie  ursprünglich  einmal  geschaffen  worden  sind; 
auch  der  Umstand,  daß  nachträghch,  nach  dem  Abschluß  jener 
bibliographischen  Zusammenstellung,  noch  hier  und  da  Leistungen 
der  Gengenbachschen  Druckerei  auftauchen-^),  weist  in  die  gleiche 
Richtung.  Immerhin  besitzen  wir  soviel  Arbeiten  des  Druckers 
Gengenbach,  die  mit  Holzschnitten  geziert  sind,  daß  wir  erkennen 
können:  eine  ganze  Anzahl  der  Baseler  Künstler  jener  Zeit  hat  in 
seinem  Auftrage  gearbeitet;  nur  die  modernste  Richtung,  die  Hol- 
beinsche  Schule,  scheint  er  nicht  mehr  beschäftigt  zu  haben. 

Anderseits  hat  Gengenbach  auch,  nach  dem  Usus  der  Zeit,  aus 
andern  Druckereien  Holzstöcke,  namentlich  Zierleisten  und  der- 
gleichen gekauft,  und  der  ganze  Illustrationsbetrieb  gewinnt  bei 
ihm  in  sofern  etwas  Fabrikmäßiges,  als  namentlich  in  der  späteren 
Zeit   auf  die   oben  angedeutete  Art  viele  Werke  mit  Holzschnitten 


1)  B.  Haendcke,   Die    Schweizerische  Malerei    im    16.  Jahrhundert    (Aarau    1893) 
S.  3  ff. 

2)  Baseler  Buchdruckerzeichen  (Straßburj^  1895). 

3)  Vgl.  S.  Singer.  ZDA.  45,  S.  153. 


Gengenbachs  Spiel  von  den  zeliii   Altern.  421 

ausgestattet  werden,  die  kaum  noch  irgend  etwas  mit  ihrem  Inhalt 
zu  schaffen  haben.  Dagegen  hat  Gengenbach  seine  drei  eigenen 
dramatischen  Werl<;e  offenbar  hoch  genug  gestellt,  um  für  sie  voll- 
ständig neue  Illustrationen  anfertigen  zu  lassen. 

Das  erste  von  diesen  Werken  ist,  wie  schon  bemerkt,  das  Spiel  von 
den  zehn  Altern.  Über  die  Entstehungszeit  dieser  dramatischen 
Revue  sind  die  Forscher  bisher  nicht  einig  geworden.  Auf  dem 
Titelblatt  des  Originaldruckes  steht  nämlich:  Hie  findt  man  die 
zehen  alter  nach  gemainen  laufft  der  wält  mit  vyl  schönen  hysto- 
rien  begri/ffen,  vast  lieplich  zu  läsen  vnd  zu  hören.  Und  sind  dyse 
alter  von  wort  zu  wort  nach  Inhalt  der  matery  vnd  anzaigung  der 
figuren  gespilt  worden  Im  XV'  Jor  vff  der  herren  fastnacht  von  et- 
lichen ersamen  vnd  geschickten  Burgeren  eir  loblichen  stat   Basel. 

Im  XV"  Jor:  das  heißt  natürlich  zunächst  nichts  anderes  als:  „im 
Jahre  1500";  aber  die  ältere  Anschauung,  die  das  Spiel  nun  darum 
wirklich  in  das  Jahr  1500  verlegt,  ist  schon  darum  nicht  zu  halten, 
weil  das  Stück  Anspielungen  auf  historische  Vorgänge  späterer 
Jahre  enthält;  ein  neuerdings  hervorgetretener  Versuch,  diese  alte 
Datierung  zu  retten'),  ist  durchaus  gescheitert.  Seit  Goedeke  setzt 
man  das  Spiel  ins  Jahr  1515,  indem  man  das  c  hinter  XV  als 
einen  Druckfehler  für  o  ansieht,  also  Jm  XV'  Jor  liest  und  aas 
als  eine  Abkürzung  für  „im  1515  ten  Jahre"  betrachtet.  Dem  hat 
in  neuester  Zeit  Bolte  -)  widersprochen.  Jene  Abkürzung  15  statt 
1515  hält  er  darum  für  unwahrscheinlich,  weil  auf  dem  Titelblatt 
von  Gengenbachs  nächstem  Drama,  das  im  übrigen  jene  oben  zi- 
tierten Worte  fast  buchstabengetreu  wiederholt,  zu  lesen  ist  Jm 
XV"  vnd  XVII':  jenes  c  der  „Zehn  Alter'^  ist  also  kein  Druck- 
fehler, die  Sache  wird  sich  vielmehr  so  verhalten,  daß  hinter  dem 
XF",  das  die  Zahl  des  Jahrhunderts  angibt,  durch  ein  Versehen 
des  Druckers  die  nun  noch  folgende  Ziffer  ausgefallen  ist.  Bolte 
sieht  keinen  Grund,  der  uns  zwänge,  gerade  auf  das  Jahr  1515  zu 
raten;  er  möchte  sich  vielmehr  gern  für  das  Jahr  1511  entschließen, 
weil  in  diesem  Jaiire  nach  einer  zufällig  erhaltenen  urkund- 
lichen Notiz  ein  „Fastnachtspiel  der  Baseler  Druckergesellen"  statt- 
gefunden hat,  das  ihm  mit  dem  Drama  des  Druckers  Gengenbach 
identisch  zu  sein  scheint.  So  sehr  ich  aber  den  ersten  Teil  seiner 
Beweisführung  billige,  so  wenig  vermag  ich  mich  dem  zweiten  an- 
zuschließen. Jene  Identität  wird  schwerlich  anzunehmen  sein,  da 
Druckergesellen  kaum  als  „ehrsame  und  geschickte  Bürger"  werden 


1)  A.  Kl  a  SS  er t,  Mitt.  über  die  Michelstädter  Kircheubibliothek  (Programm  Michel- 
stadt 1902)  S.  17;  dagegen  Bolte,  Jörg  Wickram  Werke  Bd.  5  (1903),  S.  20ff.  und  30. 
Herr  Professor  Klassert  war  so  freundlich,  mich  schon  vor  dem  Erscheinen  der  Bolte- 
schen  Einleitung  in  einem  ausführlichen  Schreiben  über  die  Unrichtigkeit  seiner  Hypo- 
these aufzuklären. 

2^  a.  a.  0.  S.  20  f. 


422 


Die  Holzschnitte  zu  Gengenbachs  Zehnalterspiel. 


bezeichnet  werden  können.  Wir  werden  vielmehr  uns  wohl  auch 
jetzt  noch  am  besten  für  das  Jahr  1515  entscheiden;  denn  auf 
diese  Art  ist  jener  Ausfall  der  sog.  Minderzahl  am  einfachsten 
zu  erklären:  der  Setzer  glaubte,  als  er  die  erste  XV  gesetzt  hatte, 
auch  schon  die  zweite  erledigt  zuhaben.  Der  Druck  des  Werkes 
wird  vielleicht  erst  in  die  Jahre  1516  oder  17  fallen,  weil  es  sonst 
auffallend  wäre,  daß  die  datierten  Nachdrucke  —  nur  ein  unda- 
tierter ist  etwas  älter  —  erst  mit  dem  Jahre  1518  einsetzen. 


X.JotfinMnf! 


Al)b.  82.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zehnjährigen. 

Nichts  mit  der  Aufführung  hat  der  Titelholzschnitt  des  Büch- 
leins zu  tun ;  er  zeigt  zwei  Engel  mit  einem  Spruchband,  die  einen 
Schild  mit  dem  Baseler  Wappen  halten.  Dann  aber  folgen,  abge- 
sehen von  einem  kleinen,  die  Vorrede  eröffnenden  Bildchen,  das 
einen  Einsiedler  mit  Stab  und  Rosenkranz  darstellt,  zehn  größere 
Holzschnitte  i):  in  der  Art,  daß  jedesmal,  wenn  eine  neue  Person  zu 
sprechen  anhebt,  ein  neues  Bild  geboten  wird  (Abb.  82 — 91).  Die 
Illustrations weise  ist  also  szenenmäßig,  und  da  auch  das  Format 
der  Holzschnitte  an  das  für  die  Terenzbilder  üblich  gewordene  er- 
innert, so  könnte  man  vielleicht  an  eine  bewußte  Nachahmung  der 
Terenzillustrationen  denken,  an  denen  ja  auch  Basel  einen  gewissen 
Anteil  hatte. 


1)  Hier  in  Originalgröße  nach  dem  Berliner  Exemplar  wiedergegeben;  auf  dem  Bilde 
ties  Hiuidciljährigen  ist  leider  der   Ko])!'  zerstört. 


Der  Meister  des  Zelinalterspiels. 


423 


Den  Künstler,  der  diese  Szenenbilder  geschaffen  hat,  ver- 
mögen wir  nun  leider  nicht  mit  Namen  zu  bezeichnen.  Aber  ganz 
fremd  bleibt  er  uns  doch  nicht,  denn  in  einigen  andern  Gengen- 
bachschen  Büchern  lassen  sich  Holzschnitte  von  seiner  Hand  nach- 
weisen: in  der  kleinen  Horaz- Ausgabe^)  findet  sich  hinten  ein 
Holzschnitt,  der  einen  heiligen  Bischof  mit  dem  Krummstab  dar- 
stellt, wie  er  in  ein  Haus,  richtiger  eine  offene  Halle,  hineingeht, 
auf  deren  Plattform   drei   Frauen  sitzen,  unter  ihnen  die  mittelste 


XX.JormiJjiingling 


Abb.  83.     P.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Zwanzigjährigen. 

am  Spinnrocken :  dieses  Blatt  rührt  bestimmt  von  dem  Meister  der 
„Zehn  Alter"  her.  Das  gleiche  gilt  von  einem  Holzschnitt,  der 
Gengenbachs  Bearbeitung  von  Kisteners  Jakobsbrüdern  am  Schluß 
beigegeben  ist  und  die  heilige  Familie,  im  Hintergrunde  Gott  Vater  mit 
dem  Heiligen  Geist  darstellt;  weiter  von  einem  seltsamen  Bilde,  das 
ganz  sinnloserweise  auf  der  Rückseite  des  Titelblattes  der  von  Gen- 
genbach herausgegebenen  antimurnerischen  „Novella"  abgedruckt 
Tst  und  einen  wohlgekleideten  Jüngling  vorführt,  der  am  Ufer  eines 
Flusses  sitzt  und  schreibt,  während  ein  im  Vordergrunde  stehender 
Priester  ihn  auf  die  Dreieinigkeit  hinweist,  die  am  Himmel  zwischen 


1)  Horatius    epodon;    libri   Eiusdem    de  arte  poetica,    Basel,  Juni  1518,  -t».      Ich   be- 
nutze das  mir  freundlichst  übersandte  Exemplar  der  Stadtbibliothek  zu  Frankfurt  a.  M. 


4^24  Dsr  Meister  des  Zehnalterspiels. 

Sonne  und  Mond  erscheint.  Vielleicht  sind  auch  einige  kleinere  Holz- 
schnitte in  den  „Sieben  Altern"  (1521,  fol.  c6a  und  p4b)  und  in  dem 
Kalender  auf  das  Jahr  1521  (fol.  H4bff.:  die  vier  Temperamente 
und  der  Aderlaß)  von  demselben  Künstler  hergestellt.  Das  Wort 
Künstler  darf  man  freilich  eigentlich  kaum  auf  ihn  anwenden:  er 
hat  etwas  Ungefüges,  ohne  irgendwelche  Größe  zu  besitzen,  und  ein 
gewisser  naiver  Schongauerismus,  der  gelegentlich  hervortritt,  bringt 
erst   recht  einen  unkünstlerischen  Gegensatz  zutage.     Die  Art  vor 


Abb.  84.     P.  Gengenbach,  Zelin  .\lter :  Der  Einsiedler  mit  dem  Dreißigjährigen. 

allem,  wie  er  die  Hände  gestaltet,  und  die  recht  sinnlose  Weise  seines 
Faltenwurfs  sprechen  mehr  für  einen  Dilettanten.  Fast  wäre  man 
geneigt,  auf  Pamphilus  Gengenbach  selbst  zu  raten;  wir  haben 
freilich  kein  Zeugnis  dafür,  daß  er  nach  dem  Beispiel  mancher  andern 
Buchdrucker  sich  auch  als  Illustrator  versucht  hat.  Aber  die  Be- 
obachtung —  die  freilich  noch  an  einem  größeren  Material  nachzu- 
prüfen wäre,  als  es  hier  zur  Verfügung  steht  — ,  daß  Arbeiten 
dieses  Illustrators  in  Drucken  anderer  Baseler  Offizinen  nicht  auf- 
tauchen, möchte  vielleicht  jene  Hypothese  als  nicht  so  unmöglich 
erscheinen  lassen.  Würde  sie  sich  bestätigen,  so  höbe  sich  natürlich 
von  vornherein  der  theatergeschichtliche  Wert  unserer  zehn  Bilder: 
denn  der  Verfasser  des  Werkes  würde  am  ehesten  auf  die  Wieder- 
gabe  der  lebendigen   Aufführung  Bedacht  genommen  haben  und 


Die  Tradition  der  Zehnalter-IUuslrationen. 


425 


würde   anderseits  als  Dilettant  am  weitesten  von  dem  fälschenden 
Zwange  rein  zeichnerischer  Tradition  entfernt  geblieben  sein. 

Der  Verdacht  nämlich,  daß  es  sich  bei  diesen  Bildern  nicht 
um  eine  Wiedergabe  des  Theatralischen,  sondern  um  eine  wesent- 
lich illustrative  Leistung  handle,  ist  in  diesem  Fall  besonders  nahe- 
liegend, wo  ein  Gegenstand  in  Betracht  kommt,  der  von  der  bil- 
denden Kunst  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  mit  Vorliebe  darge- 
stellt worden  ist.    Mit  Benutzung  älterer  Hinweise  i)  läßt  sich  eine 


XLjorStilflan 


^Abb.  85.     P.  Geiigeiibacli,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Vierzigjährigen. 

stattliche  Liste  von  Bilderken  zusammenstellen,  die  die  zehn  Lebens- 
alter des  Mannes  vorführen2);  auch  sie  wird  keineswegs  vollständig 
sein,  aber  sie  vermag  doch  wohl  die  Gesamttradition  darzustellen, 
in  der  wir  unsern  Illustrator  finden  müßten,  wenn  er  seine  Auf- 
gabe wesenthch  vom  Standpunkt  der  Bildkunst  erfaßt  hätte. 
Es  handelt  sich  da  um  folgende  Darstellungen: 

1.  Skulpturen  am  Südportal  der  Kathedrale  von  Amiens  („Portail 
de  la  Vierge  doree"),  13.  Jahrhundert. 

2.  Die  Holzschnitte  des   sog.   Meisters  von  1464  (Niederrhein): 
Passavant,  Feintre-Graveur   2,  S.  25. 


DVgl.ZacherundMatthias,     ZDPh.  23,  S.  401  f.;  Bolte    a.  a.  0.  S.  XVIIl.  Anm.  1. 
2)   Von    Darstellungen,   die    die  Zahl  der  Lebensstufen  be.schränken  und  von  Vorfüh- 
rungen der  zehn  Altersstufen  des  Weibes  wird  hier  natürlich  Abstand  genommen. 


426 


Die  Tradition  der  Zehnalter-lllustrationen. 


3.  Einzelblatt  von  1482  (Ulm?):  Weigel-Zelstermann ,  Die  An- 
fänge der  Druckerkunst  1,  S.  330  f. 

4.  Italienisches  Einzelblatt  (Anfang  des  16.  Jahrhunderts):  Berlin, 
Königl.  Kupferstichkabinett. 

5.  Skulpturen  in  der  St.  Annakirche  zu  Annaberg  in  Sachsen, 
vollendet  1525:  Photographien  und  Beschreibung,  z.  T.  nach  älteren 
Zeichnungen,  in  der  „Beschreibenden  Darstellung  der  älteren  Bau- 
und  Kunstdenkmäler  des  Königreichs  Sachsen"  4.  Heft:  R.  Steche, 
Amtshauptmannschaft  Annaberg  (Dresden  1885),  S.  23  ff. 


L.jporioolgfrl)on 


Abi).   86.     P.  Gengeiibach,  Zeliii  Alter:  Der  Einsiedler  mit   dem  Fünfzigjährigen. 

6.  Einzelblatt  vom  Jahre  1540;  von  Passavant  3,  S.  381  fälsch- 
lich Holbein  zugeschrieben  (Augsburgisch  ?  Vermutung  Weltmanns): 
Berlin,  Königl.  Kupferstichkabinett  (Über  ein  Nürnberger  Exemplar : 
ZDPh.  23,  S.  405). 

7.  Holzschnitte  des  Meisters  mit  dem  Zeichen  1.  R.:  Passavant 
4,  S.  335:  Sachsen,  zweite  Hälfte  des  16.  Jh.) 

8.  Holzschnitte  des  Tobias  Stimmer  (um  1570);  vgl.  G.  Hirth, 
Kulturgeschichtliches  Bilderbuch  3,  S,  1369  f. 

9.  Balthasar  Jenichen,  Serie  von  Holzschnitten  (um  1580):  Berlin, 
Königl.  Kupferstichkabinett. 

10.  De  Necker,  Stamm-  oder  Gesellenbüchlein  (Wien  1579):  Be- 
schreibung ZDPh.  23,  S.  406. 


Theatersinii  der  Bilder  zum  Zelinalterspiel.     Lokales. 


427 


11.  Nicolaiis  de  Bruyn,  Holzschnitte  (um  KiOO):  Berlin,  Königl. 
Kupferstiehkabinett. 

12.  Abbildung  derer  VIII  Hertzoge  (Zeit?):  Beschreibung  ZDPh. 
23,  S.  407f. 

Wir  behandeln  nun  die  Frage  nach  dem  Vorhandensein  wirk- 
licher Theaterelemente  in  den  Holzschnitten  des  Gengenbachschen 
Druckes  im  einzelnen  und  fragen  zunächst  nach  der  Darstellung 
des   Lokalen.     Da   fällt    es   nun   sofort  sehr  auf,  daß  unsere  Holz- 


LX.Jorabfion 


Abb.  87.     P.  Gengeubach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Sechzigjährigen. 

schnitte  keinerlei  landschaftlichen  Hintergrund,  auch  nicht  Gras 
und  Kräuter  am  Boden  zeigen ,  sondern  daß  die  Personen  der 
Handlung  auf  einem  gedielten  Fußboden  stehen.  Das  widerspricht 
der  rein  bildkünstlerischen  Tradition  durchaus  (denn  die  wenigen 
Blätter,  die  eine  sogenannte  'Brücke'  zeigen,  weisen  doch  zu  einer 
derartigen  Dielung  keinen  Ansatz  auf),  es  widerspricht  auch  den 
übrigen,  oben  'S.  423  f.)  aufgezählten  Bildern  des  anonymen  Künstlers, 
der  sonst  immer  landschaftliche  oder  Zimmerhintergründe  verwendet. 
Da  wir  nun  wissen,  daß  die  öffentlichen  Schauspiele  gern  auf 
einem  Bretterpodium  abgehalten  wurden,  wird  die  Vermutung  sich 
wohl  halten  lassen,  daß  der  Künstler  hier  tatsächUch  versucht  hat, 
den  Anblick,  den  die  wirkliche  Bühne  bot,  im  Bilde  wiederzugeben. 
Freilich  ist  es  merkwürdig,  daß  jene  Dielung  auch  auf  das  durchaus 


428 


Theatersinn  der  Bilder  zum  Zehnalterspiel.     Lokales. 


untheatralische  Titelbild  mit  den  beiden  Engeln  übernommen  ist 
und  daß  bei  der  Szene  des  Fünfzigjährigen  im  Hintergrunde  Sonne 
und  Mond  am  Himmel  erscheinen;  hier  mag  eine  Reminiszenz  des 
Künstlers  an  jenen  oben  beschriebenen  Holzschnitt  aus  der  „Novella" 
vorliegen,  der  dann  freilich  wesentlich  älter  sein  müßte  als  der  Druck, 
in  dem  er  erscheint,  humerhin  aber  werden  wir  berechtigt  sein, 
tatsächlich  für  unsere  Rekonstruktion  der  Aufführung  in  lokaler  Hin- 
sicht von  den  zehn  Szenenbildern  auszugehen  und  auch  die  Stellung 


LXX.^oxMnUtlhtxmt 


Abb.  S'5.     F.  Gengenbach,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Siebzigjährigen. 


der  Personen  auf  den  Bildern  für  eine  Nachbildung  ihrer  Stellung 
auf  dem  Baseler  Theater  anzusehen.  Da  erscheint  nun  der  Um- 
stand beachtenswert,  daß  der  Einsiedler,  der  sich  mit  den  Ver- 
tretern der  zehn  Lebensalter  der  Reihe  nach  unterhält,  auf  den 
Bildern  immer  links  steht,  während  der  andere  Teilnehmer  des 
Gesprächs  auf  der  rechten  Seite  sich  befindet.  Unmöglich  also 
kann  es  sich  um  einen  Bühnenaufbau  handeln,  der  jenen  „Brücken" 
nachgebildet  wäre  und  die  ersten  fünf  Lebensalter  stufenweise 
von  links  nach  rechts  oben  aufsteigend,  die  übrigen  dann  wieder 
nach  rechts  unten  absteigend  gruppiert  zeigte,  so  daß  also  der  Ein- 
siedler herumkletternd  zu  jedem  Einzelnen  hätte  herantreten 
müssen.i) 


1)  Das  ist  die  Vermutung   von  Baechtold,  Gesch.    d.  deutsch.  Lit.   in  der  Schweiz, 


S.  277. 


Theatersinn  der  Rihier  zum  Zehnalterspiel.     Lokales. 


429 


Viel  richtiger  ist  Boltes  Anschauung  ^j:  „ein  Einsiedel  schreitet 
die  Reihe  der  zehn  Vertreter  der  Lebensalter  ab,  die  gleich  den  Figuren 
eines  Bilderbogens  auf  dem  Gerüste  nebeneinander  aufgestellt  sind, 
und  knüpft  mit  jedem  ein  Gespräch  an.''  Aber  ganz  korrekt  scheint 
auch  sie  mir  nicht  zu  sein;  ich  meine  vielmehr,  daß  jedesmal  der 
Betreffende,  mit  dem  der  Einsiedler  sich  unterreden  will,  einen 
Schritt  aus  der  Reihe  der  Genossen,  in  die  er  vorher  eingeordnet 
ist,  dem  Einsiedler  entgegen  tut-  oder  getan  hat:  sonst  müßten  wir 

LXXX.jotBttmltmtt 


Abb.  by.     P.  Gengenbacb,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Achtzigjährigen. 

auf  den  Bildern  jedesmal  im  Hintergrund  die  ganze  Reihe  der  noch 
folgenden  Männer  erbUcken,  während  doch  immer  nur  der  eine 
Sprecher  zu  sehen  ist.  Auch  ist  eine  derartige  Absonderung  des 
Einen  aus  dem  großen  Haufen  durchaus  notwendig,  damit  auch  die 
ferner  stehenden  Zuschauer  erkennen  konnten,  mit  w^em  der  Ein- 
siedler sich  gerade  unterhielt.  —  Solcher  Ausnutzung  der  Bilder 
scheint  allerdings  noch  ein  Umstand  zu  widersprechen:  im  V.  64 
des  Spiels  heißt  es  von  den  zehn  Personen :  Wie  sie  dan  nach 
ain  ander  ston,  während  das  letzte  Bild  den  Hundertjährigen  auf 
einem  Ruhebette  liegend  zeigt.  Indessen  wird  man  den  Ausdruck 
stehen  wohl  so  genau  nicht  genommen  haben,  und  auch  die 
Worte    des    Greises    (V.  794j:    Min   füs   wend   mich   auch   nümme 


1)  a.  a.  0.  S.  XIX. 


430 


Bilder  zum   Zehnalterspiel:  die  Attribute  der  Darsteller. 


tragen  können  doch  ganz  gut  als  eine  Erklärung  für  den  Um- 
stand verwendet  werden,  daß  er  liegt  und  dem  Einsiedler  als  Ein- 
ziger nicht  entgegen  gehen  kann.  Im  ganzen  findet  sich  in  lokaler 
Hinsicht  also  kein  Widerspruch  zwischen  dem  Text  und  dem  hier 
angenommenen  Theatersinn  der  Holzschnitte. 

Und  auch  die  Behandlung  des  zweiten  Punktes,  die  Betrach- 
tung der  Attribute,  die  den  sprechenden  Personen  auf  den  Bildern 
beigefügt  sind,  führt  uns  darauf,  daß  wir  hier  viel  eher  als  sonst- 


X€.JjoniÖfrhinöfrf|jott 


Abb.  90.     P.  Gengenbacli,  Zehn  Alter:  Der  Einsiedler  mit  dem  Neunzigjährigen. 

WO  an  eine  Nachbildung  der  theatralischen  Wirklichkeit  denken 
dürfen.  Denn  ganz  deutlich  stellt  sich  heraus,  daß  der  Künstler 
frei  ist  von  dem  Zwange  der  zeichnerischen  Tradition.  Die  wich- 
tigsten Attribute  nämlich,  die  den  Vertretern  der  zehn  Lebensalter 
auf  'all  den  oben  aufgeführten,  rein  bildlichen  Darstellungen  bei- 
gegeben sind,  sind  Tiere:  Kalb  und  Bock  und  Löwe  und  Wolf  und 
Stier  und  Katze  usw.');  nirgends  fehlen  sie,  sogar  bei  de  Bruyn 
nicht,  der  doch  sonst  das  Thema  zur  Darstellung  einer  Reihe  in 
sich  vollständig  geschlossener  Genrebilder  benutzt  hat.  Theatra- 
lisch konnten  diese  Tiere  natürlich  nicht  vorgeführt  werden,  und 
so  spricht  es  ganz  deutlich  für  den  Theatersinn   der  Gengenbach- 


1)  über  diese  volkskundlich  sehr  interessanten   Beziehungen   haben    zuletzt     Zaclier 
und  Matthias  a.  a.  O.  gehandelt. 


Bilder  zum   Z(>lni.ilt('rs|)iel :  dio  Attril)iile  tier  I);irsteller. 


431 


sehen  Bilder,  daß  sie  liier  fehlen,  gerade  so  wie  wir  sie  auf  jener 
Edhbachschen  Handzeichnung  des  alten  Züricher  Spiels  nicht  ge- 
troffen haben.  Und  höchst  bezeichnend:  auf  den  Bildern,  die  der 
Augsburger  Nachdruck  des  Gengenbachschen  Stückes  enthält,  sind 
die  Tiere  wieder  beigegeben ;  hier  fehlt  das  Verständnis  für  die  theatra- 
lische Bedeutung  der  Illustrationen,  und  die  rein  bildmäßige  Tra- 
dition erweist  sich  alsbald  wieder  als  übermächtig.  Auch  die 
sonstigen  Attribute,   durch  die  die  einzelnen  Lebensalter  charakte- 

(E.^/ornungnoOöirgot 


P.  Gengenbach,  Zehn  AUer:  Der  Emsiedler   luil   dem  Hunderljähiigen. 


risiert  werden,  zeigen  sich  auf  den  Gengenbachschen  Bildern  unab- 
hängig vom  Zwange  der  bildenden  Kunst.  Es  bestand  keine  ab- 
solute Einförmigkeit;  aber  eine  gewisse  stereotype  Art  in  der  Aus- 
stattung verschiedener  Lebensalter  liegt  doch  vor,  wenngleich  es 
an  Abweichungen,  namentlich  an  einem  Austausch  der  Attribute 
unter  den  Nachbarn  nicht  ganz  fehlt.  So  erhält  das  zehnjährige 
Kind  ein  Spielzeug,  zuerst  einen  Kreisel,  später  ein  Steckenpferd; 
der  Zwanzigjährige  trägt  den  Falken  auf  der  Faust,  der  Dreißig- 
jährige ist  ein  Soldat,  der  Vierzigjährige  ein  Feldherr,  der  Sechzig- 
jährige hat  die  Geldtasche,  der  Siebzigjährige  den  Rosenkranz. 
Mit  beinahe  keinem  dieser  Hauptcharakteristika  stimmen  die  Gen- 
genbachschen Bilder  überein:   wir   finden  weder  das  Kinderspiel- 


432  Bilder  zum  Zehnalterspiel:  Attribute,  Maske,  Kostüme. 

zeug,  noch  den  Falken,  noch  den  Rosenkranz,  noch  das  Soldaten- 
tum  des  Dreißig-  und  Vierzigjährigen;  wohl  aber  treffen  wir  selb- 
ständige Attribute,  die  zu  dem  Wortlaut  oder  dem  Sinn  der 
Reden  stimmen,  die  Gengenbach  seinen  Personen  in  den  Mund 
legt.  Der  Zehnjährige  hat  schon  den  Würfelbecher,  der  Vierzig- 
jährige eine  Blume,  der  Siebzigjährige  schmückt  sich  mit  Ringen, 
der  Neunzigjährige,  der  kinder  spott,  trägt  eine  Rute  zur  Abwehr 
der  Höhnenden.  Ein  Zusammengehen  mit  der  Haupttradition  finden 
wir  eigentlich  nur  beim  Sechzigjährigen,  der  auch  auf  dem  Gengen- 
bachschen  Bilde  mit  der  Geldtasche  ausgestattet  ist;  das  trifft  aber 
in  diesem  Falle  durchaus  mit  dem  Inhalt  des  Spiels  und  damit 
wohl  auch  mit  der  Darstellung  auf  dem  Theater  zusammen,  da  der 
Sechzigjährige  als  der  typische  Geizhals  charakterisiert  wird.  Ähn- 
lich steht  es  mit  dem  loseren  Zusammenhang  zwischen  dem  Bilder- 
typus und  der  Darstellung  des  Neunzigjährigen  in  Gengenbachs 
Druck:  die  Rute  entspricht  einigermaßen  dem  spottenden  Kinde, 
das  die  Zeichner  bisweilen  dem  Alten  beigeben,  aber  auch  hier 
braucht  man  nicht  einen  rein  bildmäßigen  Zusammenhang  anzu- 
nehmen. Endlich  stimmt  das  Attribut  des  Dreißigjährigen  bei  Gen- 
genbach mit  demjenigen  überein,  das  der  Steinmetz  von  Anna- 
berg seinem  dreißigjährigen  Manne  in  die  Hand  gegeben  hat:  es 
ist  der  emporgehobene  Becher;  aber  einmal  fällt  die  Annaberger 
Darstellung  ihrerseits  ganz  aus  der  Tradition  heraus,  und  ander- 
seits entspricht  Gengenbachs  Darstellung  durchaus  einer  im  Text 
(V.  275)  gegebenen  Situation :  Ein  frischen  trunck  den  bring  ich 
dir  sagt  der  Dreißigjährige  zum  Einsiedler.  Auch  hier  also  werden 
wir  wieder  an  das  Streben  des  Baseler  Künstlers  nach  Wieder- 
gabe der  wirklichen  Aufführung  glauben  dürfen;  übrigens  zeigt 
sich  zum  zweiten  Male,  daß  jener  Künstler  des  Augsburger  Nach- 
drucks mehr  in  die  rein  bildmäßige  Tradition  hinsichtlich  der 
Attribute  sich  einzuordnen  sucht. 

So  dürfen  wir  nun  schon  mit  einiger  Sicherheit  auch  in  der 
Beantwortung  der  noch  übrigen  Fragen  einen  gewissen  Theater- 
sinn der  Baseler  Bilder  voraussetzen.  In  bezug  auf  die  Wahl 
der  Maske,  d.  h.  die  Frage:  bärtig  oder  unbärtig  scheint  eine 
Tradition  in  der  bildenden  Kunst  nicht  zu  bestehen,  und  das  Gleiche 
gilt,  soweit  ich  sehen  kann,  von  den  Kostümen.  Wir  müßten  hier 
also  zunächst  wieder  die  andern  Holzschnitte  des  gleichen  Meisters 
heranziehen,  um  zu  sehen,  ob  die  Kleider,  die  er  dort  verwendet, 
mit  denen  übereinstimmen,  die  wir  auf  den  Bildern  zu  dem  Spiel 
von  den  zehn  Altern  treffen :  eine  solche  Übereinstimmung  würde 
einen  spezifisch  theatralischen  Sinn  der  Kostüme  auf  unsern  Holz- 
schnitten ja  ziemlich  ausschließen.  Leider  aber  ist  zur  Durchfüh- 
rung eines  solchen  Vergleiches  nur  wenig  Material  vorhanden,  da 
jene  andern  Bilder  vorzugsweise  Frauen  und  Geistliche  vorführen. 


Bilder  zum  Zehnalterspiel:  Kostüme  und  Gesten.  433 

Immerhin  mag  man  bemerken,  daß  zwischen  dem  Rest  und  den 
Bildern  der  „Zehn  Alter"  abgesehen  von  einigen  Kopfbedeckungen 
nur  in  einem  Fall  eine  größere  Ähnlichkeit  herrscht:  das  Kostüm 
des  vierzigjährigen  Mannes  ist  dem  des  Schreibers  auf  dem  Holz- 
schnitt der  „Novella"  sehr  nahe  verwandt. 

Ebenso  steht  uns  leider  das  Material  fiir  die  Untersuchung  der 
letzten,  hinsichtlich  des  Kostüms  noch  aufzuwerfenden  Frage  nicht 
in  genügendem  Umfange  zu  Gebote:  um  zu  unterscheiden,  ob  die 
Figuren  etwa  einfach  in  die  damals  zu  Basel  üblichen  Gewänder 
gekleidet  sind,  fehlen  unserer  Untersuchung  die  in  Basel  bewahrten 
Handzeichnungen  dortiger  Meister  aus  dem  zweiten  Jahrzehnt  des 
16.  Jahrhunderts;  hier  müssen  wir  uns  mit  den  wenigen  aus  da- 
maliger Zeit  erhaltenen  Porträts  und  den  auch  nicht  allzu  er- 
giebigen Skizzen  begnügen,  die  Hans  Holbein  im  Jahre  1515  in 
sein  Exemplar  des  Erasmischen  „Encomium  moriae"  gezeichnet  hat. 
Soweit  wir  uns  nach  diesen  wenigen  Bildern  ein  Urteil  erlauben  dürfen, 
stimmen  die  Kleider  der  „Zehn  Alter"  nicht  mit  den  damals  üb- 
lichen Baseler  Trachten  überein;  nur  das  Gewand  des  Vierzig- 
jährigen hat  auch  hier  wieder  eine  einigermaßen  ähnliche  Ent- 
sprechung.ij  Im  übrigen  haben  die  Trachten  etwas  entschieden 
Altertümliches;  so  gleicht  z.  B.  der  Anzug  des  Zwanzigjährigen  ziem- 
lich der  Jünglingstracht,  die  wir  auf  den  Terenzbildern  des  aus- 
gehenden 15.  Jahrhunderts  beobachtet  haben.  Zur  Gewißheit  ver- 
mögen wir  diese  Hypothese  nicht  zu  erheben;  aber  es  ist  ja  auch 
an  sich  nicht  unwahrscheinhch,  daß  die  Kostüme  für  die  Auf- 
führungen lange  Jahre  hindurch  in  Verwendung  bheben,  da  sie  nur 
wenig  abgenutzt  wurden,  und  daß  auf  solche  Art  eine  größere 
Altertümlichkeit  in  die  Theatertracht  kam.2) 

Wenn  wir  also  in  allen  diesen  Beziehungen  einen  wirkhchen 
Theatersinn  der  Gengenbachschen  Holzschnitte  glauben  behaupten 
zu  dlh'fen,  so  lockt  schließlich  auch  der  letzte  Punkt,  den  wir  noch  zu 
erörtern  haben,  die  Behandlung  der  Handbewegungen,  zu  einer 
ähnhchen  Auffassung.  Hier  handelt  es  sich  nicht  sowohl  um  die 
Darstellung  der  Vertreter  der  verschiedenen  Lebensalter,  obwohl  auch 
bei  ihnen  die  stereotype  Art,  in  der  sie  die  rechte  Hand  mit  oder 
ohne  das  ihnen  zugewiesene  Attribut  erhoben  halten,  einigermaßen 
auffällt;  hier  ist  es  vielmehr  der  Einsiedler,  dessen  wechselnde 
Gesten  wirkhch  dem  Theater  abgesehen  zu  sein  scheinen.  Zu- 
nächst ist  man  versucht,  die  ungewöhnUche  Größe  dieser  Gesten 
theatrahsch  auszudeuten:  die  Notwendigkeit,  die  Ausdrucksbe- 
wegungen für  jeden  Zuschauer  auf  dem  gewiß  nicht  kleinen  Schau- 
platz sichtbar  zu  machen,  konnte  leicht  eine  Steigerung  auch  der 

1)  Es  findet  sicli  auf  dem  Bilde  S.  12  der  G.  G.  Becherschen  Ausgabe  des  Enco- 
mium  moriae  (Basel   1780). 

2)  Vgl.  auch  oben  S.  406. 


H  e  r  r  m  a  n  n ,  Theater. 


28 


434  Bilder  zum  Zehnalterspiel:  Gesten.     Der  „Nollhart". 

einfachen  Handbewegungen  bis  ins  Unnatürliche  zur  Folge  haben. 
Hier  mahnt  aber  doch  unsere  Betrachtungswelse,  die  immer  die 
übrigen  Leistungen  des  gleichen  Künstlers  heranzuziehen  sucht, 
zur  Vorsicht:  jene  merkwürdig  weit  ausholenden  Bewegungen  näm- 
lich finden  wir  auch  auf  andern  seiner  Holzschnitte  wieder,  denen 
bestimmt  keinerlei  theatralischer  Sinn  innewohnt.  Etwas  anderes 
aber  bleibt  auffallend  und  ist  wohl  nicht  rein  durch  zeichnerische 
Gewohnheit  zu  erklären:  ohne  daß  es  der  Sinn  des  Textes  ver- 
langte, zerfallen  die  Gebärden  des  Einsiedlers  deutlich  in  zwei 
Teile,  von  denen  jeder  fünf  Bilder  (15—50  und  60—100)  umfaßt. 
Auf  den  ersten  fünf  Holzschnitten  agiert  der  Einsiedler  immer  nur 
mit  einer  Hand :  rein  demonstrierend  gegenüber  dem  Zehn-  und 
dem  Fünfzigjährigen,  mit  anteilnahmevollem  Zureden  im  Gespräch 
mit  dem  Jüngling;  dem  Text  entsprechend  macht  er  gegenüber 
dem  Dreißigjährigen  die  heftig  abwehrende  Gebärde  lebhafter  Ent- 
rüstung, während  im  Gespräch  mit  dem  Vierzigjährigen  nur  eine 
ruhige  Sprechbewegung:  der  Arm  ganz  gesenkt  zur  Anwendung 
kommt.  Auf  den  folgenden  Bildern  dagegen  sind  die  beiden  Hände 
des  Einsiedlers  in  Aktion:  dem  Sechzigjährigen  gegenüber  schlägt  er 
beide  Hände  auseinander,  als  ob  er  sie  dann  wieder  oben  in  der  Luft 
zusammenschlagen  wollte,  sichtlich  die  Gebärde  des  Entsetzens;  auf 
die  Rede  des  Siebzigjährigen  rauft  er  mit  beiden  Händen  sein  Haar,  ob- 
wohl seine  Reden  eigentlich  gar  nicht  nach  Verzweiflung  klingen.  Im 
Dialog  mit  dem  Achtzigjährigen  senkt  er  beide  Hände  langsam 
nach  unten,  auf  dem  nächsten  Bild  bekreuzigt  er  sich,  um  endlich 
beim  Anblick  des  Hundertjährigen  die  Hände  zu  falten.  Auch  in 
diesen  beiden  letzten  Fällen  gibt  der  Inhalt  des  Dialogs  zu  solchen 
Handbewegungen  eigenthch  keine  Veranlassung.  Wenn  man  nun 
bedenkt,  daß,  wie  wir  in  einem  andern  Teil  dieser  Untersuchungen 
(S.  247  f.)  gesehen  haben,  das  Zusammenschlagen  der  Hände  über 
dem  Kopf,  das  Haarraufen,  das  „Sich  Gesegnen"  und  das  Händefalten 
typische  Schauspielerbewegungen  des  16.  Jahrhunderts  gewesen 
sind,  so  werden  wir  wohl  die  Vermutung  wagen  dürfen,  daß  es 
Gengenbachs  Illustrator  darauf  angekommen  ist,  eben  diese 
typischen  Theatergesten  auf  seinen  Bildern  anzubringen. 

Es  fragt  sich  nun,  ob  wir  zu  einem  ähnlich  positiven  Ergebnis 
gelangen  werden,  wenn  wir  gegenüber  den  Illustrationen  zu  dem 
nächsten  Gengenbachschen  Drama  die  gleiche  kritische  Methode 
anwenden.  Das  ist  der  „Nollhart",  jenes  seltsame  Drama  der  Pro- 
phezeihungen,  dessen  tiefster  Sinn  literarhistorisch  noch  immer 
nicht  zur  Genüge  erklärt  ist.  Wie  das  Titelblatt  angibt,  ist  das 
Stück  zur  Herrenfastnacht  des  Jahres  1517  gespielt^),   und  vermut- 


1)  Warum  Creizenach  3,  S.  240  1515  angibt,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 


Ambrosius  Holbeins  Holzschnitte  zum  „Nollhart".  435 

lieh  ist  auch  der  Druck  im  gleichen  Jahre  besorgt  worden :  die  Typen 
sind  mit  den  von  Gengenbach  um  diese  Zeit  verwendeten  durch- 
aus identisch,  und  das  Wasserzeichen  des  Papiers  stimmt  mit  dem 
der  „Alda"  vom  Jahre  1517  überein.  Ein  ungleich  größerer 
Künstler  als  der,  der  für  die  „Zehn  Alter"  gearbeitet  hat,  hat  die 
neunzehn  Holzschnitte  zum  „Nollhart"  geschaffen,  von  denen  der 
des  Titelblatts  mit  seinen  wappenhaltenden  Landsknechten  für  uns 
wieder  sofort  ausscheidet.  Dieser  Meister  ist,  was  die  Literatur- 
geschichte bisher  merkwürdigerweise  übersehen  hat,  kein  geringerer 
als  Ambrosius  Holbein;  Woltmannsi)  Ansetzung  wird  durch  stilisti- 
sche Vergleichung  mit  sicher  beglaubigten  Bildern  durchaus  be- 
stätigt. Ambrosius  Holbein  kann  die  Aufführung  des  Spieles,  dessen 
Druck  zu  illustrieren  er  beauftragt  wurde,  ganz  wohl  mit  ange- 
sehen haben:  am  24.  Februar  des  Jahres  1517  bereits  wurde  er  in 
die  Baseler  Malerzunft  „Zum  Himmel"  aufgenommen,  eben  in  den 
Tagen  also,  in  denen  der  „Nollhart"  zu  Basel  gespielt  wurde. 

So  könnten  wir  also  vielleicht  auch  hier  hoffen,  in  den  Holz- 
schnitten ein  Abbild  der  wirklichen  Aufführung  vor  uns  zu  haben, 
und  manches  scheint  dafür  zu  sprechen,  daß  es  sich  in  der  Tat  so 
verhält.  Der  Umstand,  daß  die  Gruppe  der  Fragenden  stets  auf 
der  rechten  Seite,  die  der  Antwortenden  dagegen  auf  der  linken 
Seite  der  Bilder  steht,  könnte  darauf  deuten,  daß  der  Meister  nicht 
rein  zeichnerische  Rücksichten  bei  der  Anordnung  seiner  Figuren  hat 
walten  lassen.  Und  noch  auffallender  ist  es,  daß  die  meisten  der 
Fragenden  nicht  allein  auftreten,  wie  es  die  bloße  Lektüre  des 
Textes  würde  vermuten  lassen,  daß  vielmehr  der  Papst  von  einem 
Kardinal  und  einem  Herold,  der  Kaiser  von  einem  Herold  und 
einem  vornehmen  Herrn,  der  König  von  Frankreich  wiederum  von 
zwei  Gestalten  geleitet  werden,  daß  neben  dem  Erzbischof  von 
Mainz,  der  allein  redet,  die  Erzbischöfe  von  Köln  und  Trier  stehen, 
über  die  der  Druck  nichts  angibt,  daß  ebenso  der  allein  sprechende 
Pfalzgraf  bei  Rhein  neben  den  andern  drei  weltlichen  Kurfürsten 
erscheint.  Das  könnte  der  Künstler  sehr  wohl  von  dem  wirklichen 
Bühnenbild  übernommen  haben,  da  es  auf  dem  Theater  ja  nahe 
lag,  die  vornehmen  Herren  nicht  allein  auftreten  zu  lassen,  son- 
dern sie  zur  Veranschaulichung  ihres  Ranges  mit  einem  Gefolge 
oder  mit  ihren  Standesgenossen  zu  versehen. 

Etwas  Zwingendes  aber  haben  solche  Argumente  bei  genauem 
Zusehen  ganz  und  gar  nicht.  Jene  strikte  Scheidung  der  Personen 
in  eine  rechtsstehende  Gruppe  der  Fragenden  und  eine  linke  der 
Antwortenden  wird  wohl  auf  eine  Nachahmung  der  Holzschnitte 
der  „Zehn  Alter"  zurückzuführen  sein,  deren  Druck  auch  sonst  dem 
„Nollhart"  äußerlich  zum  Vorbilde  dient,  um  so  mehr,  als  der  erste,  der 


1)  Holbein  und  seine  Zeit,  2.  Aufl.  Bd.  2,  S.  211  ff. 

28* 


436 


Die  NoUhartholzschnitte  im  bildkünstlerischen  Zusammenhang. 


auf  der  linken  Seite  erscheint,  hier  wie  dort  ein  Einsiedler  mit  dem 
Rosenkranz  ist.  Die  Beiordnung  von  nicht  unmittelbar  gegebenen 
Gestalten  aber  läßt  sich  auch  rein  künstlerisch  erklären,  wenn 
wir  andere,  zweifellos  theaterfremde  Leistungen  des  Ambrosius 
Holbein  zum  Vergleich  heranziehen :  auf  dem  berühmten  Bilde  der 
Insel  Utopia,  auf  seiner  Darstellung  von  Lucretias  Tod  (1517),  auf 
seinen  Beiträgen  zur  Illustration  der  Murnerschen  „Gouchmat"  läßt 
sich  das  immer  wieder  beobachteten.  Aber  sogar  noch  deutlicher 
vermögen  wir  zu  zeigen,  daß  es  sich  bei  dieser  Personalvermehrung 
nicht   um    etwas    Theatralisches   handelt,    und    zwar   durch    einen 


Abb.  92.    P.  Gengenbach,  Der  Nollhart:  Der  Bruder  mit  dem  König  von  Frankreich. 


Nachweis,  der  auch  sonst  für  die  Auffassung  dieser  Holbeinschen 
Bilder  von  Wichtigkeit  ist.  Der  Künstler  hat  nämlich  nicht  unab- 
hängig gearbeitet,  sondern  sich  an  die  Holzschnitte  eines  älteren 
Buches  angelehnt,  mit  dem  auch  der  Text  des  Spieles  irgendwie 
im  Zusammenhang  steht.  Dieses  Buch  ist  Johannes  Lichtenbergers 
„Practica",  und  zwar  kommt  höchst  wahrscheinlich  die  Ausgabe  in 
Betracht,  die  in  Straßburg  1499  gedruckt  worden  ist.^)  Hier  erscheint 
(Bl.  A8a)  der  Auskunft  suchende  Papst  ebenfalls  nicht  allein,  son- 
dern mit  seinen  Kardinälen,  ebenso  (Bl.  E  2a)  der  Kaiser  mit  meh- 
reren Begleitern,  weiter  (Bl.  C  8b)  drei  Bischöfe  statt  eines  in  einer 


t)  Exemplar  in  Berlin,  Kgl.  Bibl.  Incun.  2549.  Daß  der  I  n halt  dieser  Lichtenberger- 
schen  Practica  irgendwie  mit  Gengenbachs  Spiel  zusammenhängt,  ist  auch  schon  Goe- 
deke  aufgefallen  (Pamphilus  Gengenbach  S.  fiOfif.). 


Die  Nollhartholzschnitte  im  l)ii(ikiiiistleri.sclien  Zusammenhang.  437 

der  Holbeinschen  besonders  ähnlichen  Darstellung  usw.:  hier  ge- 
wann also  Holbein  die  Anregung,  nun  fast  überall  die  Personen 
des  Dramas  mit  Begleitern  auszustatten,  wozu  er  auch  sonst  schon, 
wie  wir  sahen,  rein  künstlerisch  geneigt  war.  Merkwürdig  bleibt  nur 
ein  Umstand:  daß  dem  Papst,  dem  Kaiser,  dem  König  von  Frankreich 
(vgl.  Abb.  92)  und  dem  „Venediger"  auch  ein  Herold  mit  dem  be- 
treffenden Wappen  beigegeben  ist:  wir  haben  gesehen,  daß  in 
Hans  Sachsschen  Stücken  der  König  gern  „mit  seinem  Herold"  auf- 
tritt, und  so  könnte  man  in  dieser  Beigabe  allenfalls  auch  bei  Hol- 
bein den  Rest  einer  wirklichen  Theaterreminiszenz  erblicken.  An- 
derseits aber  weist  der  Umstand,  daß  die  Zahl  der  Begleiter  nicht 
gleich  bleibt,  sondern  daß  z.  B.  der  Kaiser  auf  einem  Bilde 
mit  zwei  Begleitern,  auf  dem  nächsten  nur  mit  einem  erscheint, 
wiederum  mehr  auf  rein  bildkünstlerische  Erwägungen:  Raumfüllung 
u.  dgl.  hin.  Indem  wir  aber  auf  solche  Weise  die  Nollhartbilder 
ganz  besonders  deutlich  in  einen  theaterfremden  Zusammenhang 
hineinsetzen  konnten,  werden  sie  uns  nun  weiter  dadurch  vollends 
verdächtig,  daß  wir  im  Gegensatz  zu  den  „Zehn  Altern"  land- 
schaftlichen Vorder-  und  Hintergrund  treffen,  der  ständig  wechselt, 
auch  dort,  wo  der  Ort  der  Handlung  unmöglich  verändert  sein  kann. 
Auch  hier  ist  also  wieder  rein  künstlerisches  Interesse  in  Frage 
gekommen. 

Zu  einem  gleich  negativen  Ergebnis  gelangen  wir,  wenn  wir  uns 
um  die  Attribute  der  vorgeführten  Personen  bemühen;  besonders 
deuthch  wird  das  an  der  Gestalt  der  Sibylla.  Die  hier  (Abb.  93,  S.  438) 
beigegebene  reizvolle  Darstellung  ihres  Gesprächs  mit  dem  Papst ') 
zeigt  sie  mit  einem  eigentümlichen  Attribut  ausgestattet :  sie  hält 
in  der  erhobenen  linken  Hand  einen  Stern.  Die  Frage  ist  also, 
ob  wir  aus  unserm  Bilde  schließen  dürfen,  daß  sie  so  auch  1517 
auf  den  Baseler  Brettern  vorgeführt  worden  ist.  An  sich  ist  die 
Verwendung  eines  Sterns  im  Zusammenhange  mit  der  Sibylle  nicht 
befremdend:  es  handelt  sich  offenbar,  obwohl  das  aus  dem  Text 
nicht  hervorgeht,  um  die  Sibylle  von  Tibur,  die  der  Legende  nach 
dem  Kaiser  Augustus  die  Geburt  des  Heilands  ankündigte  und  da- 
bei auf  den  Stern  hinwies,  der  im  Augenblick  ihrer  Prophezeiung 
am  Himmel  sich  zeigte.  Diesen  Stern  aber  ihr  in  die  Hand  zu 
geben,  bleibt  doch  ein  eigentümliches  Verfahren.  Tatsächlich 
können  wir  sonst  in  der  bildenden  Kunst  diese  Eigentümlichkeit 
kaum  wiederfinden;  die  gewöhnliche  Darstellung  ist  die,  daß  Au- 
gustus vor  der  Sibylle  kniet;  sie  aber  weist  mit  erhobener  Hand 
gen  Himmel,  wo  entweder  der  Stern  oder  Maria  mit  dem  Kinde 
in  Wolken  sich  zeigen.  So  ist  es  in  der  Darstellung  des 
„Meisters   mit   dem   Namen  Jesu",    in  dem  großen  Holzschnitt  auf 


1)  Ebenso  wie  Abb.  92  nach  dem  Berliner  Exemplar  in  Originalgröße. 


438 


Die  Darstellung  der  Sibylle. 


Blatt  327  a  des  „Gros  Mistere  du  vieil  testament  par  personages 
joue  ä  Paris  (Paris,  J.  Petit  um  1500)i),  wo  dann  auch  in  den  fol- 
genden zwölf  kleinen  Sibyllenbildern  keine  einzige  einen  Stern, 
die  Tiburtinische  aber  eine  große  Hand  trägt,  und  in  dem  Nürnbergi- 
schen „Schatzbehalter"  vom  Jahre  1491.  Aber  auch  da,  wo  wir  die 
Darstellung  der  Sibylle  auf  dem  mittelalterlichen  Theater  kon- 
trollieren können,  trägt  sie  keinen  Stern  in  der  Hand:  weder  in 
dem  Prophetenspiel  aus  Ronen  2),  wo  es  von  ihr  nur  heißt  Coro- 
nata  et  miiliebri  habitii  ornata,    noch    in    dem  ebenfalls    in  Ronen 


Abb.  93.     P.  üengenbach,  Der  NoUhart :  Papst  und  Sibylle. 


1474  aufgeführten  Weihnachtsspiel,  wo  die  betreffende  Bühnenan- 
weisung eine  wörtliche  Übersetzung  aus  den  „Vaticinia  XII  Sibil- 
larum"  bietet,  in  denen  es  heißt:  Sibilla  Tiiburtina  annorum  XX, 
veste  rubea  induta,  desuper  ad  collum  pellem  hyrcinam  per  scapulas 
habens,  capillis  discopertis,  brevem  in  manu  tenens;  auf  diesem 
Brief  sollen  die  Worte  stehen:  Nascetiir  Christus  in  Bethleemß) 
Und  auch  im  deutschen  Drama  finden  wir  das  Gesuchte  nicht; 
im  Benediktbeurer  Weihnachtsspiel  tritt  die  Sibylle  ebenfalls  auf, 
und  da  sagt  die  szenische  Anweisung -i):     Tercio  loco  Sibylla  gesti- 


1)  Ich  benutzte  das  Exemplar  der  Universitätsbibliothek  zu  Bern. 

2)  Vgl.  Sepet,  Les  prophetes  du  Christ  (Paris  1878)  S.  44. 

ai  Rolhsciiild,  Le  mistere  du  vieil  testament  (i  (18911,  S.  LXVillf. 

4)  Froning,   Das  Drama  des  Mittelalters    S.  878. 


Die  Darstelluiifr  der  Sibylle.     Die  „Goiichmat".  439 

culose  procedat,  qiie  inspiciendo  stellam  cum  gesto  mobili  cantet." 
Daß  dieser  Stern  nicht  auf  ihrer  Hand,  sondern  irgendwo  in  der 
Höhe  erscheint,  geht  aus  den  folgenden  Szenen  mit  Deutlichkeit 
hervor.  Haben  wir  also  hier  auf  dem  Holbeinschen  Bilde  wirklich 
eine  Eigentümlichkeit  der  Baseler  Aufführung?  Jener  Hinweis 
auf  die  Benutzung  der  Holzschnitte  zu  Lichtenbergers  Practica 
durch  Ambrosius  Holbein  gibt  die  Antwort  in  negativem  Sinne. 
Die  in  dem  Straßburger  Druck  befindliche  Darstellung  der  Si- 
bylle, die  Holbein  freilich  aus  dem  Plumpen  ins  Graziöseund  Künst- 
lerische erhoben  hat,  zeigt,  daß  es  sich  um  einfache  Herübernahme 
einer  Eigentümlichkeit  der  Vorlage  handelt,  die  keinenfalls  mit  dem 
Theater  etwa  zu  schaffen  hat.^)  Ein  ähnlicher  Nachweis  liei^e  sich 
für  die  Attribute  der  hl.  Brigitte  führen.2)  Endlich  scheint  ein  be- 
sonders deutliches  Symptom  dafür,  daß  es  dem  Künstler  nicht 
darauf  ankam,  hinsichtlich  der  Attribute  die  Wirklichkeit  der  Auf- 
führung nachzubilden,  in  der  Tatsache  hervorzutreten,  daß  der  Papst 
einmal  mit  einem  Buch  in  der  Hand,  auf  zwei  andern  Bildern  da- 
gegen ohne  dasselbe  vorgeführt  wird. 

Das  dritte  und  letzte  Gengenbachsche  Drama,  dessen  Druck 
mit  Illustrationen  versehen  ist,  ist  die  „Gouchmat";  ihre  Bilder  sind 
in  Könneckes  großem  Bilderatlas  zur  Geschichte  der  deutschen 
Nationalliteratur  reproduziert. 

Auch  hier  muß  unserer  theatergeschichtlichen  Untersuchung 
die  Feststellung  des  Datums  vorangehen,  das  dem  chronologisch 
nicht  näher  gekennzeichneten  Druck  zukommt.  Die  Meinung,  daß 
das  Drama  ins  Jahr  1516  gehöre,  also  dem  „Nollhart"  vorausgehe, 
scheint  noch  immer  nicht  aus  der  Welt  geschafft,  obwohl  Baechtold  3) 
längst  auf  das  Richtige  hingewiesen  hat.  Eine  bestimmte  Stelle  des 
Werkes  richtet  sich  gegen  einen  Astrologen  und  Praktikenmacher 
jener  Zeit,  Lorenz  Fries;  die  bekämpfte  Schrift  ist  im  November  1520 
verfaßt,  und  Fries'  Gegenangriff  erfolgte  im  Jahre  1524:  zwischen 
diese  beiden  Termine  also  muß  Gengenbachs  ^iGouchmat"  fallen. 
Baechtold  entscheidet  sich  für  1521  wegen  der  Anspielung  auf  eine 
in  dieses  Jahr  gehörige  Schrift  von  Virdung;  er  betont  ganz  mit 
Recht,  daß  sie  schon  darum  nicht  vor  den  „Nollhart"  fallen  kann,  weil 


1)  Wenn  wir  dann  in  den  30er  Jahren  des  16.  Jahrhunderts  auf  einem  einzelnen 
kleinen  Holzschnitt  des  Meisters  Wönsam  von  Worms  (Berlin,  Kgl.  Kupferstichkabinett) 
auch  die  Sibylle  mit  dem  Stern  und  zwar  für  sich  allein  dargestellt  finden,  so  handelt 
es  sich  vermutlich  um  eine  Arbeit,  die  sich  unmittelbar  an  unsere  Lichtenberger-Hol- 
beinsche  Tradition  anschließt. 

2)  Über  Brigittenbilder:  Heiig  a  Brigittas  Uppenbarelser  utgifna  af  G.  E.  Klem  ming  5 
Stockholm  1883/4,  S.  265ff.)  und  Flavigny,  Sainte  Brigitte  (Paris  1892)  S.  Xlf ;  We ige  1- 
Zestermann  a.  a.  0.  S.  71.  193. 

3)  Gesch.  d.  deutsch.  Lit.  in  der  Schweiz.   S.  279  f. 


440  Dis  Bilder  der  „Gouchmat"  und  ihr  Ursprung. 

sie  ihm  gegenüber  einen  dramatischen  Fortschritt  bedeutet;  er  hätte 
auch  den  Fortschritt  in  Gengenbachs  allgemeiner  Bildung  betonen 
können,  den  die  „Gouchmat"  bekundet.  Jene  Ansetzung  ins  Jahr 
1521  aber  läßt  sich  noch  entschiedener  sichern  und  genauer  be- 
stimmen, sobald  wir  das  Holzschnittmaterial  mit  zur  Kritik  heran- 
ziehen: der  Drucker  Gengenbach  hat  die  Illustrationen  seiner 
Gouchmat  ziemlich  sinnlos  als  Buchschmuck  späterer  Erzeugnisse 
seiner  Offizin  verwendet,  und  das  erste  Mal  geschieht  das  in  den 
berühmten  Drucken  der  „15  Bundesgenossen"  von  Eberlin  von 
Günzburg,  deren  erste  Nummer  im  Januar  1521  erschienen  ist.i) 
Die  „Gouchmat"  ist  also  älter:  das  Drama  muß,  wenn  wir  den  Ter- 
minus ante  quem  non:  November  1520  mit  berücksichtigen,  zur 
Fastnacht  1521  aufgeführt  und  unmittelbar  hinterher  gedruckt 
worden  sein.  2) 

Diese  so  notwendig  gewordene  Verlegung  des  Druckes  in  die 
20  er  Jahre  aber  erschwert  uns  die  weitere  Untersuchung  ungemein, 
da  es  vorläufig  kaum  möglich  ist,  die  Baseler  Holzschnittleistung 
in  dieser  Periode  auch  nur  einigermaßen  zu  überblicken.  Wer 
war  der  Künstler,  der  die  Illustrationen  zur  „Gouchmat"  hergestellt 
hat?  Könnecke  nennt  Hans  Holbein  den  Älteren,  aber  er  gibt 
dafür  keine  Gründe  an^),  und  es  wird  auch  schwer  sein,  diese  Hy- 
pothese einleuchtend  zu  machen,  da  wir  keinerlei  Holzschnitte  von 
Hans  Holbein  zum  Vergleich  besitzen  und  da  auf  seinen  Gemälden 
nicht  das  geringste  an  diese  Gouchmatbilder  erinnert.  Rührten 
sie  wirkhch  von  ihm  her,  so  würden  sie  schon  dadurch  hin- 
sichtlich der  theatergeschichtlichen  Werte  stark  verdächtig  werden, 
da  uns  nichts  zu  der  Annahme  berechtigt,  Holbein  habe  sich  in 
dieser  freilich  ganz  dunklen  letzten  Periode  seines  Lebens  in  Basel 
aufgehalten.  Wir  müssen  also  diesmal  darauf  verzichten,  andere, 
nicht -theatralische  Bilder  des  gleichen  Meisters  zur  Kontrolle  dieser 
Dramenillustrationen  heranzuziehen,  und  auch  nach    einer   künst- 

1)  Vgl.  J.  Eberlin  von  Günzburg,  Ausgew.  Schriften  her.  v.  L.  Enders.  Bd.  1  (Halle 
1896),  S.  IV. 

2)  Die  ältere  Datierung  1516  stützt  sich  wohl  auf  die  Beobachtung,  daß  die  Bilder 
auf  dem  Titelblatt  der  „Gouchmat",  auf  dem  die  Geschichte  von  vier  Liebesnarren  durch 
Ambrosius  Holbein  dargestellt  sind,  sich  auch  auf  datierten  Drucken  Gengenbachs  vom  Jahre 
1517:  der  Alda  des  Guarini  und  dem  Epodon  des  Horaz,  finden.  Indessen  zwingt  uns 
nichts  zu  der  Annahme,  daß  Holbein  diese  vier  Darstellungen  direkt  für  die  Illustration 
der  „Gouchmat"  geschaffen  habe,  an  deren  Ausstattung  er  sonst  nicht  beteiligt  ist;  er 
mag  sie  für  irgendeinen  andern,  vielleicht  verlorenen  Druck  der  Gengenbachschen 
Werkstatt  geliefert  haben,  angeregt  offenbar  durch  eine  Stelle  in  Gengenbachs  „Zehn 
Altern",  wo  eben  diese  vier  Liebesnarren  Salomon,  Aristoteles,  Vergil  und  Simson  neben- 
einander gestellt  wurden  (Vers  360  ff.).  Ein  paar  Jahre  später  hat  Gengenbach  dann  diese 
älteren  Stöcke  für  das  Titelblatt  seiner  „Gouchmat"  recht  passend  nochmals  verwenden 
können. 

;M  Ich  habe  mich  zweimal  brieflich  an  Herrn  Geh.  Rat  K.  mit  der  Bitte  um  Mit- 
tellunj^  seiner  Gründe  gewendet,  aber  keine  Antwort  erhalten. 


I)i(>   Bilder  der  „Ooiicliriiat" 


441 


lerischen  Vorlage  für  das  ganze  Werk,  wie  wir  sie  z.  B.  beim  „Noll- 
hart"  getroffen  haben,  werden  wir  hier  wohl  vergeblich  suchen. 

Auch  sind  es  diesmal  nicht  wie  bei  den  älteren  Dramen  voll- 
ständige Situationsbilder,  die  dem  Text  beigegeben  sind;  abgesehen 
von  sehr  vielem  arabeskenartige  Buchschmuck,  den  Gengenbach 
vermutlich  schon  früher  verwendet  oder  von  einer  andern  Druckerei 
übernommen  hat,  sind  für  die  Ausstattung  vielmehr  lediglich  iso- 
lierte Bilder  der  einzelnen  auftretenden  Personen  geboten:  Venus, 
ihr  Hofmeister,  der  Narr,  Circis  und  Palestra  und  neben  dieser 
Herrin  und  ihrem  Hofgesinde  die  Opfer  der  Liebesnarrheit,  diese 
allerdings  in  zwei  Gestalten:  erstlich  wenn  sie 
in  voller  Pracht  der  Venus  nahen,  und  dann 
wenn  sie  gerupft  und  geknickt  von  dannen  ziehen 
müssen.  So  treffen  wir  den  Jünghng,  den  Ehe- 
mann, den  Kriegsmann,  den  Doktor  und  den  alten 
Gouch.  Freilich,  die  beiden  Bilder  des  alten  Gouchs 
wollen  nicht  recht  zueinander  passen,  und  vom 
Jüngling  ist  zunächst  hier  nur  ein  Bild  da,  das  ihn 
in  vollem  Schmuck  zeigt  und  das  für  beide  Situ- 
ationen verwendet  wird;  der  Künstler  hatte  offen- 
bar beide  Stöcke  richtig  abgeliefert,  und  der  eine 
war  nur  verlegt  worden:  er  taucht  dann  später 
1523  in  einem  Druck  der  „Novella",  in  dem  eine 
ganze  Reihe  der  Gouchmatbilder  ohne  jeden  Sinn 
verwendet  werden,  mitten  unter  den  andern  auf,i) 
und  danach  wird  er  hier  (Abb.  95  und  96,  S.  442) 
zusammen  mit  dem  ersten  Bilde  des  Jünglings  zur 
Ergänzung  der  Könneckeschen  Reihe  reprodu- 
ziert'-^). Es  folgen  dann  noch,  wieder  nur  in  je 
einer  Gestalt,  die  Personen  der  letzten  Hauptszene  des  Dramas: 
Bauer  und  Bäuerin  und  endlich,  was  Könnecke  nicht  sagt,  noch 
ein  Mönch  mit  dem  Gouch vogel  auf  der  Schulter. 

Dieses  letzte  Bild  (Abb.  97,  S.  443)  zeigt  eigentlich  schon,  daß  die 
Bilder  zur  „Gouchmat"  keinen  spezifisch  theatralischen  Charakter 
haben:  denn  dieser  Mönch  tritt  im  Stücke  nicht  auf,  sondern  der  Hof- 
meister erwähnt  nur  im  Epilog,  daß  Mönche  und  Pfaffen  auch  gerne 
auf  die  Gouchmat  gingen.  Immerhin  bliebe  noch  die  Möglichkeit, 
daß  hier  nur  ausnahmsweise  einmal  eine  allgemeine  Illustration 
sonst  rein  theatralischen  Bildern  sich  gesellt  hätte.  Aber  unser 
Verdacht  steigt,  wenn  wir  das  erste  der  kleinen  Bilder,  Venus  mit  dem 
Cupido,  betrachten  (vgl.  Abb.  94).  Zwar  tritt  auch  Cupido  redend  auf, 
aber  eben  deswegen  kann  der  Künstler  bei  der  Darstellung  dieses 


Abb.  94.      P.   Gengen- 
bach, Gouchmat :  Venus 
mit  Cupido. 


1)  Er  steht  auch  in  der  Gengenbachschen  Schrift  „Von  drien  Christen",  bl.  B  2a. 

2)  Nach  den  Berliner  Exemplaren  in  Originalgröße ;   ebenso  Abb.  94  und  97. 


442 


Die  Bilder  der  „Gouchmat". 


kleinen  nackenden  Knaben  mit  der  Binde  und  dem  gespannten  Bogen 
kein  Abbild  der  theatralischen  Wirklichkeit  beabsichtigt  haben :  nicht 
die  Nacktheit  spricht  dagegen,  denn  dreißig  Jahre  später  schreibt 
noch  Hans  Sachs  ausdrücklich  vor,  daß  der  Liebesgott  nackt  zu 
erscheinen  habe;  wohl  aber  ist  es  unmöghch,  daß  ein  so  kleiner 
Cupido,  beinahe  ein  Säugling,  auf  die  Bühne  getreten  sei.  Dagegen 
ist  die  Zusammenstellung  der  Venus  mit  dem  noch  ganz  kindlichen 
Liebesgott  in  der  bildenden  Kunst  der  Zeit  behebt:  bei  Lukas 
Cranach,  bei  Dürer,  bei  Beham,  bei  Brosamer  tritt  sie  uns  ent- 
gegen, und  aus  solcher  Tradition  muß  der  anonyme  Künstler  der 
„Gouchmat"  geschöpft  haben.  Eine  andere  Gelegenheit ,  die  ein- 
zelnen Gestalten  mit  der  künstlerischen  Überlieferung  des  gleichen 
Motivs  zusammenzuhalten,  liegt  leider  nicht  vor.i) 


Abb.  95  und  96.     P.  Gengenbach,  Gouchmat :  der  Jüngling  vor  und  nach  dem  Liebesspiel. 


Es  bleibt  also  nur  noch  die  Möglichkeit,  die  Gestalten  des  Künst- 
lers mit  den  Worten  des  Textes  zu  vergleichen,  auf  die  doch  die 
Aufführung  Rücksicht  genommen  haben  muß.  Und  auch  da  finden 
sich  bedenkliche  Abweichungen.  So  heißt  es  z.  B.  von  dem  Jüng- 
ling V.  318,  er  trüge  Rock  hosen  mantel  und  auch  Dägen  (vgl. 
auch  V.  367);  nachher  wird  ihm  angelegt  (v.  352)  ein  zerrissen 
hembd  und  zween  bletzt  hosen.  Ein  Blick  auf  unsere  Bilder  aber 
zeigt,  daß  sie  diesen  Forderungen  doch  nicht  recht  entsprechen. 
Nach  V.  501  f.,  511  f.,  535  soll  der  Ehemann,  wenn  er  auf  den  Plan 
tritt,  einen  Rock,  Ringe  an  den  Fingern  und  einen  Säckel  tragen, 
nachher  mit  einer  alten  Joppe,  Bettlerschüssel,  Wasserkrug  und 
Bettlerstab   ausgerüstet   sein.      Auch  hier  geben  die  Bilder  wieder 

l)  Die  illustrierten  Apuleius-Ausgaben,  an  die  man  für  die  Doktorepisode  denken 
könnte,  bieten  nichts. 


Die  Bilder  der  „Goiicliinat". 


443 


manches  von  dem  Verlangten,  anderes  dagegen,  darunter  besonders 
auffallend  der  Säckel ,  ist  nicht  zu  finden.  Ähnlich  liegt  das 
Verhältnis  auch  für  Kriegsmann,  Doktor  und  alten  Gouch,  kurz,  bei 
allen  Gestalten,  bei  denen  uns  der  Dialog  die  Kontrolle  des  Kostüms 
und  der  Attribute  ermöglicht.  Das  Aufsetzen  der  Gouchfeder,  das 
V.  930  und  1102  geboten  wird,  suchen  wir  vergebens. 

Umgekehrt  bieten  die  Bilder  uns  hier  und  da  zuviel,  so  daß 
wir  an  der  Möglichkeit  der  theatralischen  Durchführung  des  be- 
treffenden Kostümwechsels  zweifeln  müssen,  der  ja 
doch  in  ganz  kurzer  Zeit  und  vor  den  Augen  des 
Publikums  zu  erfolgen  hat.  So  wenn  der  Edelmann 
als  Bettler  nun  mit  einem  kranken  und  umwundenen 
Bein  vorgeführt  wird,  wenn  der  Kriegsmann  ganz 
überflüssigerweise  auf  dem  zweiten  Bilde  andere 
Hosen  trägt  und  vor  allem,  wenn  der  Doktor  ganz 
und  gar  in  einen  Esel  verwandelt  wird :  obwohl  hier 
(V.  965)  der  Narr  mit  zur  Bewerkstelligung  des  Um- 
kleidens  herangezogen  wird,  kann  es  sich  schwerlich 
um  mehr  als  eine  bloße  Andeutung  des  Eseltums 
durch  Eselsohren  und  Eselsschwanz  gehandelt 
haben.  Offenbar  sind  wir  hier  vielmehr  ganz  auf 
dem  Gebiete  der  nichttheatralischen  Illustration. 
Der  Künstler  soll  z.  B.  einen  Bettler  darstellen  und 
stattet  sein  Elend  infolgedessen  recht  sinnfällig 
mit  dem  lappenumwickelten  Bein  aus.  Dabei  läßt 
es  sich  nicht  verkennen,  daß  er  ziemlich  auf- 
merksam den  Text  des  Dramas  gelesen  und  manche  Andeutung 
des  Dialogs  für  Attribute  und  Kostüme  verwertet  hat. 

Im  ganzen  ist  aber  unter  den  Attributen  nichts,  was  auf  eine 
spezifisch  theatralische  Bedeutung  schließen  ließe  und  den  Illustra- 
tionen etwa  eines  epischen  Gedichtes  fremd  geblieben  wäre.  Auch 
daß  Venus  hier  Szepter  und  Krone  trägt,  wird  kaum  besonders 
auffallen,  wenn  wir  diese  Ausstattung  auch  nicht  gerade  wie  die  des 
Liebesgottes  in  der  Bildkunst  sonst  nachzuweisen  vermögen. i) 
Und  auch  das  Kostüm  hat  im  allgemeinen  nichts  besonders  Auf- 
fallendes. Der  ganze  Anzug  des  Jünglings  findet  sich  fast  genau 
wieder  in  den  Bildern  des  Baselers  Hans  Franck  zu  Geiler  von 
Kaisersberg,  Brösamlin  vffgelesen  von  Joh.  Pauli  (Straßburg  1517 
bl.  79a),  nur  der  Hut  ist  anders;  einen  ziemlich  gleichen  Hut  aber 
hat  der  neben  dem  jungen  Manne  stehende  Krämer.  Die  gefalteten 
Röcke,  wie  sie  Venus  und  Circe  tragen,  finden  wir  in  Holbeins 
Zeichnungen  zu  Erasmus'  Narrenbuch;  auch  die  Darstellung  des 
Narren  und  des  Ehemanns  hat  hinsichtlich  des  Kostüms  hier  man- 
ches Analogon.     Den  eigenartigen  Kopfschmuck  der  Venus    sehen 

1)   Vgl.  z.  B.  auch  den  Amor  im  Straßburger  Horaz  von  1498  fol.  XXIV  b. 


Abb.  97.     P.  Gengen- 
bach, Gouchmat. 


444  D'6  Bilder  des  Gouchmat.     Niklas  Manuel. 

wir  auf  dem  Bilde  der  Ceres  in  der  deutschen  Übersetzung  des 
Erasmischen  „Enchiridion",  die  im  Jalire  1521  in  Basel  bei  Curio  ge- 
druckt worden  ist.  Kurzum,  es  zeigt  sich  eine  Verwendung  des 
Zeitkostüms,  die  wir  in  den  Illustrationen  jener  Jahre  und  jener 
Gegend  so  allgemein  antreffen,  daß  wir  ihr  auf  unsern  Bildern 
keinen  speziell  theatralischen  Sinn  beilegen  dürfen.  Einzig  und 
allein  die  Darstellung  des  Hofmeisters  ist  merkwürdig,  und  soviel  ich 
urteilen  kann,  ohne  ein  Seitenstück  in  der  bildenden  Kunst  jener  Zeit. 
Im  übrigen  aber  müssen  wir  den  theatergeschichtlichen  Wert 
der  Gouchmatbilder  bestreiten. 

Niklas  Manuel. 
Von  Zürich  und  Basel  kommen  wir  nun  nach  Bern  und  damit 
zu  ein  paar  Bildern,  deren  Ursprung  gerade  bei  unserer  Art  der 
Betrachtung  von  eigentümlichem  Reiz  ist ;  erst  ganz  am  Ende  des 
Jahrhunderts  kehrt  die  gleiche  Situation  auf  Tobias  Stimmers  Zeich- 
nungen zu  seiner  Comedia  wieder.  Der  Urheber  der  Bilder  und 
der  Verfasser  der  zugehörigen  dramatischen  Dichtungen  ist  näm- 
lich ein  und  dieselbe  Person  und  auf  beiden  Gebieten  ein  Künstler 
von  Rang.  Freilich:  Niklas  Manuel  Deutsch  ist  den  größeren  Teil 
seines  Lebens  hindurch  lediglich  Bildkünstler  gewesen,  erst  in  den 
letzten  Jahren  führte  er  auch  die  Feder;  so  möchte  man  ohne  Wei- 
teres an  eine  Übermacht  des  Bildkünstlerischen  in  jenen  Dar- 
stellungen glauben  und  wenig  geneigt  sein,  auch  theatralische  Ele- 
mente in  ihnen  zu  suchen;  anderseits  aber  hat  Manuel  der  Fast- 
nachtschwankdichter zweifellos  gerade  zum  reinen  Theaterspiel 
lebendige  Beziehungen.  Es  wird  also  notwendig  sein,  auch  den 
beiden  Blättern,  um  die  es  sich  hier  handelt,  mit  den  gewohnten 
kritischen  Erwägungen  gegenüberzutreten,  Anno  1522  vff  der 
alten  Faßnacht,  d.  h.  am  5.  März  wurde  zu  Bern  Manuels  kurzer 
Faßnachi  schimpff  gespielt,  in  dem  zwei  Bauern  sich  über  den 
in  zwei  Aufzügen  vorgeführten  Gegensatz  zwischen  Christus 
und  dem  Papst  tendenziös  unterhalten;  im  Mai  1524  wurde  das 
Spiel  zusammen  mit  dem  viel  längeren  vom  Papst  und  seiner 
Priesterschaft,  das  eine  Woche  vor  jenem  uff  der  Herren  Faßnacht 
zur  Aufführung  gekommen  war,  unter  die  Presse  gegeben.  Dieser 
erste  Druck i)  enthält  so  wenig  wie  seine  Nachfolger 2)  etwas  für 
unsere  Zwecke,  denn  die  beiden  Bauern  Fläiwe  Pflug  und  Rüede 
Vogelnest,  die  da  vor  dem  Anfang  des  kürzeren  Spiels  von  zwei 
gesonderten  Holzstöcken  abgedruckt  sind,  sind  solche  Dutzend- 
ware,   daß    sie    unmöglich    als    Abbildungen   zweier  Darsteller  be- 

1)  Ich  durfte  das  Exemplar  der  Weimarer  Bibliothek  durch  die  Freundlichkeit  der 
Direktion  hier  in  Berlin  benutzen. 

21  Bibliofrraphie  l)ei  J.  Baechtold,  N.  Manuel  (Frauenield  1878)  S.  CXLlff.  Er- 
gänzungen und  Berichtigungen  bei  F.  Burg,  Dichtungen  des  Niclaus  Manuel:  Neues  Berner 
Taschenbuch  auf  d.  .1.   1897,  S.  1  —  136;  bes.  S.  12]  ff. 


„Des  Papsts  und  Cliristi  Gegensatz":  Spiel  und  Zeichnung. 


445 


trachtet  werden  können;  an  die  Autor- 
schaft Manuels  wird  niemand  glauben, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  er  über- 
haupt fast  gar  nicht  für  den  Holzschnitt 
gearbeitet  zu  haben  scheint.  Das  Mate- 
rial unserer  kritischen  Betrachtung  kann 
vielmehr  nur  die  hier  (Abb.  98)  zum 
erstenmal  vervielfältigte  Federzeichnung 
seini),  die  als  unzweifelhaftes  Eigentum 
Manuels  durch  sein  Handzeichen  oder  Mo- 
nogramm freilich  nicht  nachgewiesen  wird, 
aber  so  deutlich  seine  Art  zeigt,  daß  sie 
ihm  noch  niemand  abgesprochen  hat. 

„Manuel  illustrierte  15242)  sein  Spiel 
selbst",  so  sagt  der  Herausgeber  Baechtold 
mit  Bezug  auf  unsere  Zeichnung'^).  So 
ganz  unbestritten  wie  die  Zuweisung  des 
Blattes  zu  Manuels  Arbeiten  werden  wir 
indessen  diese  Erklärung  nicht  hinnehmen 
können ;  der  Nachweis  ihrer  Unrichtigkeit 
aber  würde  das  Blatt  völlig  aus  dem  Zu- 
sammenhang unserer  Betrachtung  heraus- 
rücken. Tatsächlich  ist  ja  1524,  nach  mehr- 
maliger Umarbeitung  des  Textes,  die 
Drucklegung  der  beiden  Spiele  erfolgt; 
aber  für  diesen  Druck  ist  die  Zeichnung 
schwerlich  bestimmt  gewesen,  denn  die 
erste  Auflage  ist  gerade  so  wie  fast  alles, 
was  Manuel  selbst  unter  die  Presse  ge- 
geben hat,  in  Oktavformat  gehalten;  die 
Zeichnung  dagegen  wäre  auch  für  einen 
Quartdruck  noch  bei  weitem  zu  groß,  und 
an  eine  wesentliche  Verkleinerung  bei 
der  Übertragung  in  den  Holzschnitt  wird 


f- 


\)  Sie  befindet  sich  in  der  Kupferstichsammhing 
der  Erlanger  Universitätsbibliothek  unter  der  Signatur 
IE  7;  unsere  Reproduktion  (Originalgröße)  geht  auf  eine 
Aufnahme  von  F.  Steffen  in  Erlangen  zurück.  Baechtold 
p.  CXXXVIl  gibt  eine  irreführende  Beschreibung;  besser, 
wenn  auch  nicht  völlig  einwandfrei,  die  Angaben 
von  Haendcke,  Nikolaus  Manuel  Deutsch  als  Künstler 
<Frauenfeld  1889)  S.  95. 

2)  Diese  Zahl  steht   auf   der  Sänfte   des  Papstes. 

3)  Ebenso  Vögel  in  in  Baechtolds  Ausgabe  S. 
CXX;  bei  Haendcke,  S.  95,  heißt  es  von  der  Zeich- 
nung gar,  daß  sie  „das  Titelbild  zu  Manuels  Dichtung 
bildete". 


.*;; 


4 


1a 


446  "Des  Papsts  und  Christi  Gegensatz" :  Spiel  und  Zeichnung. 

man  angesichts  der  so  schon  minimalen  Größe  der  Einzel- 
heiten in  der  Zeichnung  nicht  denken.  So  bhebe  nur  die  Mög- 
lichkeit, daß  sie  nicht  für  einen  Druck,  sondern  für  eine  Hand- 
schrift angefertigt  ist;  und  daß  wir  uns  mit  einer  solchen  An- 
nahme nicht  bloß  auf  dem  Boden  reiner  Hypothese  befinden, 
zeigt  das  gleich  weiter  heranzuziehende  Manuskript  des  „Ablaß- 
krämers"  v.  J.  1525:  dies  enthält  ebenfalls  eine  Manuelsche  Zeich- 
nung und  hat  großes  Format. 

Dieser  äußeren  Möglichkeit  aber  entspricht  zunächst  keine 
innere  Wahrscheinlichkeit.  Bei  einigermaßen  genauem  Zusehen 
zeigt  sich  nämlich,  daß  Zeichnung  und  Dichtung  eigenthch  gar 
nicht  dasselbe  darstellen.i)  Auf  der  Zeichnung  werden  gerade  wie 
auf  einem  Doppelbild  inL.Cranachs„Passional  Christi  undAntichristi" 
der  hoffärtige  Aufzug  des  Papstes  und  Christi  demütiger  Einzug 
in  Jerusalem  einander  entgegengesetzt;  die  heihge  Stadt  ist  auf  Ma- 
nuels Bild  durch  den  biblischen  Palmbaum  angedeutet  und  durch 
das  Kleiderausbreiten  der  begrüßenden  Bürger,  während  bei  Cra- 
nach  der  Moment  vor  dem  Einzug  gewählt  und  durch  das  offene 
Stadttor  gekennzeichnet  ist.  Daß  das  Fastnachtspiel  durch  das 
gleiche  CranachschePassional  angeregt  ist,  soll  gewiß  nicht  geleugnet 
werden;  aber  hier  spielt  die  Szene  auf  der  Gasse  zu  Bern  oder 
doch  einer  Stadt  des  16.  Jahrhunderts,  hier  gibt  es  keinen  Palmbaum 
und  keine  kleiderbreitenden  Bürger;  daß  der  in  Jerusalem  ein- 
reitende Christus  im  Spiel  nicht  gemeint  sein  kann,  geht  auch  daraus 
hervor,  daß  er  hier  nach  der  Bühnenbemerkung  vff  sinem  houpt  die 
dörnin  krön  trägt,  während  die  Zeichnung  ihm  nur  die  Strahlenkrone 
gibt.  Gehen  wir  ferner  umgekehrt  von  der  Situation  des  Spieles 
aus,  so  wie  sie  uns  durch  die  szenischen  Anweisungen  des  Textes 
erkennbar  werden  soll,  so  läßt  sich  freilich  nicht  verkennen,  daß 
sie  uns  zu  einer  völligen  Deutlichkeit  nicht  verhelfen.  Vff  einer 
syten  der  gassen  reitet  der  Herr,  und  hinter  ihm  schreitet  sein 
bresthaftes  Gefolge,  vff  der  anderen  syten  reyt  der  Bapsi  mit 
seinem  Kriegszug  —  wo  stehen  da  die  beiden  Bauern,  die  einzigen 
redenden  Personen?  Doch  wohl  zwischen  den  beiden  sich  anein- 
ander vorbeibewegenden  Zügen  —  aber  wo  war  ein  Platz,  auf  dem 
sie  zwischen  den  Zügen  sichtbar  blieben  ?  Standen  sie  auf  einem 
erhöhten  Gerüst?  oder  sind  die  Zuschauer  nur  an  den  Fenstern  und 
auf  den  Dächern  gewesen?  Das  wird,  wie  gesagt,  aus  dem  Spiele 
selbst  nicht  klar  —  aber  das  eine  ist  jedenfalls  deutlich,  daß  die 
Anordnung  keinesfalls  so  gewesen  sein  kann,  wie  die  Zeichnung 
sie  zeigt:  hier  ist  für  die  beiden  Sprecher  überhaupt  kein  Platz, 
hier  ziehen  die  beiden  Züge  nicht  aneinander  vorbei,  sondern  aufein- 


1)  Der  Vergleich  wird  da(hirch  erschwert,  daß  wir  nicht  mehr  die  Originalfassung  des 
Spiels  besitzen,  sondern  nur  die  stark  verändernde  Umarbeitung  v.  J.  1524  und  ein  bei 
Burg  S.  55  bis  (il  gedrucktes  F'ragment  einer  Zwischenfassung  v.  J.   1523. 


„Des  Papsts  und  Christi  Gegensatz":  Spiel  und  Zeichnung.  447 

ander  los,  und  völlig  unfaßbar  bleibt  es,  sobald  man  an  eine  tat- 
sächliche Raumnachahmung  denkt,  wie  die  beiden  Christus  huldi- 
genden Bürger  an  ihren  Platz  gekommen  sind:  das  kann  keiner 
theatralischen  Wirklichkeit  entsprechen.  Die  Widersprüche  zwischen 
Bild  und  Spiel  häufen  sich,  sobald  wir  die  Vergleichung  im  einzelnen 
fortsetzen.  Das  Bild  läßt  die  armen  blinden,  lamen  und  mancher- 
lei; bresthaftigen,  die  die  szenische  Bemerkung  vorschreibt,  völlig 
vermissen;  Petrus,  der  alt  glatzet  fischer  ist,  wie  aus  der  Frage 
des  einen  Bauern  hervorgeht,  bei  der  Aufführung  direkt  neben 
Christi  Esel  geschritten,  —  auf  der  Zeichnung  befindet  er  sich 
mitten  unter  den  Jüngern,  und  diese  folgen  dem  Herrn  hier  nicht 
schreitend  im  Zuge,  sondern  bilden  hinter  ihm  eine  stehende  Gruppe, 
das  Gesicht  zum  Teil  völlig  von  Christus  abgewandt.  Und  ähn- 
lich widerspruchsvoll  auf  der  andern  Seite:  im  Spiel  reyt  der  Bapst 
im  hämisch  und  mit  grossem  kriegßziig,  und  auch  von  seinem 
Gefolge  hören  wir  Genaueres  durch  die  in  ihrem  Anfang  leider  ver- 
stümmelte szenische  Anweisung,  die  die  fragmentarisch  auf  uns 
gekommene  Handschrift  der  der  gedruckten  Fassung  vorausliegenden 
Umarbeitung  d.  J.  1523  bietet  i):  och  Cardinal,  bischoff  und  pfaffen 
in  harnesch  und  hochen  pferden  geritten  mit  kiirisser  strodiotten 
och  Carthonen  j  schlangen  und  ander  feld  geschützt,  huren  vh  hüben 
drömeten  pfiffen,  wie  man  zii  feld  zucht  mit  dross  vnd  paner 
das  die  gassen  erbidmet.  Nicht  nur  sehen  wir  von  diesem  Ge- 
folge auf  dem  Bilde  gar  nichts,  statt  dessen  vielmehr  nur  eine 
Anzahl  der  im  Spiel  nicht  genannten  schweizerischen  Landsknechte, 
sondern  vor  allem:  der  Papst  ist  hier  nicht  im  Harnisch,  sondern 
im  geisthchen  Ornat  und  reitet  auch  nicht,  sondern  wird  in  einer 
Sänfte  getragen. 

Nach  alledem  erscheint  es  durchaus  zweifelhaft,  ob  wir  das 
Recht  haben,  einen  so  nahen  Zusammenhang  zwischen  Bild  und 
Spiel  zu  behaupten,  wie  es  bisher  geschehen  ist.  Es  mag  sich  bei 
der  Zeichnung  um  eine  im  Grunde  selbständige  Arbeit  handeln,  die 
nur  im  Grundmotiv  mit  dem  älteren  Spiel  oder  richtiger  zunächst 
mit  dem  Cranachschen  Werk  zusammenhing,  das  zu  dem  Spiel  die 
Anregung  gegeben :  die  einzige  antipapistische  Zeichnung  Manuels 
aus  dieser  Zeit  wäre  es  nicht.2)  Das  eigentümliche  Format  der 
Zeichnung  macht  vielleicht  die  Vermutung  nicht  ganz  unwahr- 
scheinlich, daß  sie  eine  Skizze  zu  Fresken  darstellen  könnte,  die 
im  Dienste  der  Architektur  verwendet  werden  sollte;  solche  Haus- 
verzierungen hat  Manuel  ja  öfter  hergestellt  und  auch  bei  ihnen 
seiner  Neigung  zum  Tendenziösen  die  Zügel  schießen  lassen. 

Immerhin :     dem     Künstler    mußte    bei    dieser    Arbeit    unbe- 


1)  Burg  a.  a.  0.  S.  55. 

2)  Vgl.  Haendcke  S.  96{.;  Vögelin  S.  LXXVI. 


448  „Des  Papsts  und  Christi  Gegensatz":  Spiel  und  Zeichnung. 

dingt  sein  nicht  lange  vorher  verfaßtes  und  eben  damals  mehrfach 
von  ihm  überarbeitetes  Fastnachtspiel  im  Sinne  liegen,  und  so 
kommen  wir  leicht  auf  den  Gedanken,  daß  ihm  bei  der  Herstellung 
der  Zeichnung  Erinnerungen  an  die  Aufführung  des  Spiels  ge- 
kommen und  auf  solche  Art  durch  unser  Blatt  überliefert  sein 
könnten.  Aber  auch  für  eine  solche  Annahme  läßt  sich  die  Un- 
haltbarkeit  nachweisen.  Gedichtet  ist  das  Spiel  jedenfalls 
zwischen  dem  Juni  1521  —  denn  damals  frühestens  kann  Manuel 
Cranachs  Passional  in  die  Hände  bekommen  habend)  —  und  An- 
fang Dezember  des  gleichen  Jahres  —  denn  der  Papst,  der  mit 
einem  kriegerischen  Gefolge  im  Harnisch  einherreitet,  kann  nur 
Leo  X.  sein,  der  wenigstens  als  Kardinal  noch  hoch  zu  Roß  im 
Schlachtgetümmel  gewesen  ist,  während  seine  Nachfolger  fried- 
liche Leute  waren2);  Leo  X.  aber  ist  am  1.  Dezember  nach  ganz  kurzer 
Krankheit  gestorben.  Aufgeführt  jedoch  wurde  das  Spiel,  wie  schon 
erwähnt,  zu  Bern  am  5.  März  1522,  und  damals  befand  Manuel  sich 
als  Feldschreiber  im  französischen  Sold  in  Italien^);  er  hat  die  Auf- 
führung also  nicht  mit  angesehen  und  demnach  keine  Erinnerungen 
an  die  Inszenierung  in  seine  Zeichnung  hinübernehmen  können. 

Es  bleibt  also  nur  ein  letzter  Schlupfwinkel  für  den,  der  das 
Vorhandensein  theatralischer  Elemente  auf  der  Zeichnung  behaupten 
will:  er  muß  annehmen,  daß  Manuel  seine  theatralische  Phantasie 
mit  in  Tätigkeit  gesetzt,  auf  die  Vorstellung  hingedeutet  habe, 
die  er  sich  von  der  Aufführung  seines  Spieles  machte.  Aber  auch 
dafür  ist  kaum  ein  Anhalt,  ganz  abgesehen  von  den  wesentlichen 
Unterschieden  zwischen  Spiel  und  Bild,  die  oben  schon  nach- 
gewiesen wurden.  Denn  so  ziemlich  alles,  was  wir  hier  sehen,  läßt 
sich  rein  aus  bildkünstlerischen  Elementen  erklären.  Zunächst  aus 
dem  Zusammenhang  mit  andern  bildnerischen  Darstellungen,  der 
ja  bei  einem  so  anlehnungsfrohen  Künstler  wie  Manuel  besonders  in 
Betracht  zu  ziehen  ist.  Gewiß  hat  er  zunächst  Cranachs  Passional 
wieder  vorgenommen:  die  dem  Papstzuge  voranschreitenden 
Schweizer  stammen,  wenn  auch  die  Ausgestaltung  im  einzelnen  selb- 
ständig ist,  von  dem  nämlichen  Holzschnitt,  der  einst  die  Anregung 
zu  dem  Fastnachtspiel  gegeben  hatte ;  der  Zug  selber  aber  mußte,  wie 
wir  sahen,  jetzt   ohne   kriegerischen   Grundcharakter,    vornehmlich 


1)  Erschienen  ist  das  Passional  Ende  Mai:  Kawerau  in  der  Weimarer  Lutheraus- 
gabe 9  (1893),  S.  689. 

2)  So  zeigt  denn  auch  unsere  Zeichnung  v.  J.  1524  den  Papst  nicht  mehr  als 
Krieger,  sondern  in  einem  Aufzuge,  in  dem  man  ihn  noch  heutigentags  darstellen 
könnte. 

3j  Ende  Januar  bis  Ende  April;  s.  Baechtold  S.  XXVlllt.  Es  geht  also  auch  nicht  wohl 
an,  mit  Creizenach  (3,  S.  256)  die  Berner  Aufführung  zu  den  wenigen  belegbaren 
Fällen  zu  zählen,  in  denen  „ein  Maler  bei  der  Inszenierung  von  Fastnachtspielen  in 
hervorragender  Weise  beteiligt"  war. 


Manuels  Zeichnun{r  und  die  bildkünstlerische  Tradition.  449 

ohne  das  Reiten  des  Kirchenfürsten  gebildet  werden,  und  so  ent- 
nahm Manuel  das  neue  Grundmotiv  der  Sänfte,  in  der  der  Papst 
mit  dem  Krummstab  in  der  Hand  von  links  nach  rechts  getragen 
wird,  einem  vorangehenden  Cranachschen  Holzschnitt,  nur  daß  er 
zu  Trägern  nicht  wie  Cranach  Geistliche,  sondern  Schweizer  ver- 
wendete. Aber  auch  der  Zug  Christi  ist  von  Cranach  abhängig 
und  zwar  wiederum  von  dem  zunächst  in  Betracht  kommenden 
Bilde.  Von  hier  stammt  des  Heilands  scharf  nach  links  profilierte 
Gestalt,  die  mit  der  Gloriole  ums  Haupt  auf  dem  Esel  sitzt  und 
segnend  die  eine  Hand  hebt,  von  hier  aber  auch  jener  Haufe  der 
Jünger  hinter  dem  Herrn.  Daß  sie  nicht  im  Zuge  folgen,  sondern 
sich  miteinander  unterhalten,  wobei  mehrere  Christus  den  Rücken 
kehren  und  zwar  namentlich  ein  Alter,  der  geradeso  wie  der  eine 
Greis  bei  Manuel  hart  neben  dem  Esel  steht,  ist  bei  Cranach  inner- 
hch  wohlbegründet:  denn  hier  wartet  der  ganze  Zug  offenbar 
einen  Augenblick,  ehe  er  sich  durch  das  Tor  in  die  Stadt  begibt; 
bei  Manuel  ist  diese  Anordnung  ziemlich  sinnlos,  da  bei  ihm  der  Zug 
sich  ja  in  voller  Entfaltung  innerhalb  der  Stadt  befindet :  hier  han- 
delt es  sich  um  keine  Theaterphantasie,  sondern  lediglich  um  eine 
recht  äußerliche  Herübernahme  der  Cranachschen  Gruppierung. 
Es  stimmen  nun  schon  bei  Cranach  wesentUche  Züge  mit  der  in  der 
bildkünstlerischen  Tradition  des  Stoffes  herrschenden  Auffassung 
überein,  sowohl  solche,  die  Manuel  verschmäht  —  z.  B.  die  Ver- 
legung der  Szene  unmittelbar  ans  Tor  der  Stadt  (Schongauer, 
Dürer"^  Meister  J.  A.,  Meister  M.  J.,  Altdorfer,  Schäufelin,  Penz  u.a.) 
und  die  Beigabe  eines  Eselfohlens  zu  der  Esehn  (Meister  J.  A.)  — , 
wie  solche,  die  Manuel  übernimmt:  das  scharfe  Profil,  die  Gloriole, 
die  Segensgebärde,  die  Anordnung  der  Jünger  hinter  Christus  zu 
einer  stehenden  Gruppe,  lauter  Züge,  die  sich  alle  z.  B.  in  Dürers 
Kleiner  Passion  (um  1510)  finden;  aber  auch  in  den  Zutaten,  die 
Manuel  bietet,  ohne  daß  er  sie  von  Cranach  übernommen  haben 
könnte,  ist  die  bildkünstlerische  ÜberHeferung  mächtig.  So  zeigt 
z.  B.  Dürer  die  Gestalt  des  Bürgers,  der  sich  unmittelbar  vor  der 
Eselin  niederbückt,  um  ein  Gewand  auf  den  Boden  zu  breiten, 
und  neben  ihr  steht,  wie  bei  Manuel,  ein  anderer  Bürger  aufrecht 
und  grüßt  den  Herrn  mit  einer  Devotionsgebärde;  im  Hintergrund 
wächst  bei  Dürer  wie  bei  Manuel  ein  Palmenbaum,  von  dem  eben 
ein  Zweig  abgerissen  wird.  Kurz,  Manuel  erscheint  in  allen  Mo- 
tiven so  an  die  rein  bildnerische  Tradition  gebunden,  daß  sich 
hier  nichts  wird  fürs  Theater  in  Anspruch  nehmen  lassen.  Aber 
auch  das  endlich,  was  ihm  gegenüber  solcher  Einstellung  in  die 
Überlieferung  eigentümlich  zugehört,  ist  offcxibar  ganz  von  den  Ge- 
setzen seines  bildkünstlerischen  Schaffens  bedingt:  die  friesartige 
Anordnung  des  Ganzen  —  man  findet  sie  in  den  Silberstift-  und 
Weißstiftzeichnungen  seiner  beiden  „Schreibbüchlein"  immer  wieder 

29 

H  e  r  r  in  a  II  n  ,  Theater. 


450  Manuels  „Ablaßkrämer". 

durchgeführt  i)  —  und  die  Anordnung  der  Figuren ;  so  stellt  er  z.  B. 
links  hinler  die  Sänfte  des  Papstes  Personen  seines  Gefolges,  die 
gerade  wie  die  Jünger  hinter  Christus  nicht  marschieren,  sondern 
stehen,  indem  sie  die  Gesichter  einander  zuwenden,  und  bringt  in 
die  Mitte  des  Ganzen  eine  Figur,  die  zwischen  den  beiden  Auf- 
zügen vermittelt :  einen  Schweizer,  der  durch  seine  Tracht  zu  dem 
Papstaufzuge  gehört,  der  aber  keine  Hellebarde  führt  wie  seine 
Genossen,  sondern  ein  Becken  hochhält  und  sich  dadurch  mit  den 
beiden  Christus  huldigenden  Bürgern  zu  einer  den  Bhck  von  ganz 
oben  nach  ganz  unten  lenkenden  Gruppe  zusammenfügt.  Und  so  ist  in 
der  ganzen  Zeichnung  kein  einziges  Element,  das  wir  auch  nur 
für  einen  Abglanz  theatermäßiger  Anschauung  in  Anspruch  nehmen 
könnten. 

Wenn  wir  hiervon  vornherein  den  engen  Zusammenhang  von  Bild 
und  Dichtung  leugnen  mußten,  so  ist  das  bei  der  zweiten  in  Be- 
tracht kommenden  Zeichnung  Manuels,  bei  seinem  „Ablaßkrämer", 
ganz  anders:  sie  ist,  wie  schon  erwähnt,  in  der  vom  Dichter  her- 
rührenden Niederschrift  seines  Spiels  zu  finden  und  bildet  hier  das 
Titelbild  (Abb.  99). 2)  Die  Dichtung  zerlegt  sich  in  vier  Szenen:  in  der 
ersten  hat  der  Ablaßkrämer  Richardus  Hinterlist  ein  Gespräch  mit 
dem  Bauern  Bertschi  Schüchdenbrunnen,  dem  Bettler  Steffen  Gigen- 
stern  und  drei  Weibern ,  Zilia  Nasentutter,  Anne  Suwrüssel  und  Trine 
Filzbengel  —  er  will  sie  zum  Ablaßkauf  bringen,  sie  werfen  ihm 
seine  alten  Betrügereien  vor;  in  der  zweiten  Szene  gehen  sie  vom 
Wort  zur  Tat  über  —  sie  ziehen  ihn  am  Seile  hoch  und  „strecken" 
ihn,  um  ihn  durch  diese  Folterqual  zum  Bekenntnis  seiner  Schänd- 
lichkeiten zu  bringen,  und  er  gesteht  auch,  aber  nicht  genug,  so 
daß  sie  ihn  in  der  dritten  Szene  noch  einmal  hochziehen,  wobei 
ihm  ein  viertes  Weib,  Agnes  Ribdenpfeffer,  Steine  an  die  Füße 
hängt,  um  die  Qual  zu  erhöhen,  —  nun  bekennt  er  den  Peinigern 
alles,  unter  denen  noch  drei  Weiber,  Tüchtle  Kröstüchle,  Hiltgart 
Kuttelpfeffer  und  Adelheid  Stifelhirne  erscheinen;  schließlich  nehmen 
sie  ihm  sein  Geld  und  teilen  es,  wobei  der  Bettler  das  Über- 
schüssige erhält.  Das  Bild  gehört,  wie  man  sieht,  zu  der  dritten 
Szene,  in  der  die  Peinigung  des  Streckens  durch  die  Beschwerung 
der  Füße  erhöht  wird. 


1)  Zwei  Schreibbüchlein  des  Nikiaus  Manuel  Deutsch  von  Bern,  her.  v.  P.  Gang- 
Berlin   1909). 

2)  Bl.  2;  auf  Bl.  3  beginnt  der  Text.  Die  Zeichnung-  ist  S.  451,  und  zwar  in  Original- 
größe, zum  erstenmal  veröffentliclit,  nach  einer  Aufnalune,  die  das  Atelier  H.  Vöilger  in 
Bern  hergestellt  hat.  Für  freundliche  Vermittlung  bin  ich  der  dortigen  Stadtbibliothek 
sehr  zu  Dank  verpflichtet,  in  defen  Besitz  sich  die  Handschrift  jetzt  als  Ms.  Hist.  Helv. 
XVi.  159  befindet.  Bis  vor  kurzem  -war  sie  Eigentum  zweier  Fräulein  Manuel  in  Bern; 
Herr  Prof.  Dr.  F.  Vetter  hat  die  große  Güte  gehabt,  seine  Bleistiftkopie  der  M.schen 
Zeichnung  s(!hr  lange  Zeit  in  meinem  Besitz  zu  lassen. 


Manuels  Zeichnung  zum  „Ablaßkrämer". 


451 


Abb.  99.     N.  Manuel,  Federzeichnung:  Der  Ablaßkrämer. 


29* 


452  Der  „Ablaßkrämer",  ursprünglich  Theaterstück,  später  Dialog. 

Dürfen  wir  in  dieser  Zeichnung  nun  Aufführungselemente 
suchen?  Man  würde  diese  Möghchkeit  ausschheßen,  wenn  man 
den  „Ablaßkrämer"  von  vornherein  gar  nicht  für  ein  Theaterstück,  ja, 
nicht  für  ein  Drama,  sondern  für  einen  bloßen  Dialog  im  Stile 
jener  damals  viel  gepflegten  Kampfliteratur  erklärte,  in  dem  also 
nur  aus  formalen  Gründen  Rede  und  Gegenrede  geboten  wird.  In 
Manuels  nächstem  Werk,  der  1526  gedruckten  „Barbali",  ist  das 
sicher  der  Fall;  Manuel  selbst  bezeichnet  es  auf  dem  Titelblatt  als 
Ein  gespräch.  An  sich  ist  es  gewiß  nicht  unmöglich,  daß  der 
„Ablaßkrämer"  von  1525  schon  zu  dieser  Gattung  der  Gespräche  ge- 
hört, aber  man  kann  das  nicht  mit  der  Erklärung  beweisen :  „wäh- 
rend die  vorerwähnten  zwei  Spiele  sehr  reichlich  mit  Bühnenan- 
weisungen ausgestattet  sind,  fehlen  diese  beim  Ablaßkrämer  gänz- 
hch."i)  Sie  sind  im  Gegenteil  hier  mindestens  ebenso  reichlich 
wie  dort  vertreten;  nur  im  Anfang  allerdings  fehlt  beim  „Ablaß- 
ki-ämer"  jede  szenische  Bemerkung.  Das  aber  wird  so  zusammen- 
hängen, daß  der  Verfasser  im  J.  1525  seine  ursprüngliche  Arbeit 
nachträglich  ebenso  wie  die  beiden  Papstspiele  stark  überarbeitet 
und  namentlich  eine  viel  ausführlichere  Eingangszene  hinzugefügt 
haben  muß ;  als  Landvogt  in  dem  kleinen  Erlach  aber  hat  er  nun- 
mehr schwerlich  an  eine  wirkliche  Aufführung  gedacht,  und  so  ist 
die  theatralische  Situation  im  Anfang  unerläutert  geblieben.  Das 
Werkchen  vor  seiner  Überarbeitung  aber  war  zweifelsohne  ein 
richtiges,  für  die  Aufführung  bestimmtes  Theaterstück,  dessen 
Thema  der  jetzige  Vers  509  in  den  Worten  des  Ablaßkrämers  an- 
gibt: Der  tüfel  het  mich  ander  die  wiber  tragen!  Eine  richtige 
Fastnachtspielrevue  also  mit  einem  Zentrum :  der  Ablaßkrämer,  der 
unter  die  rabiaten  Weiber  gerät  —  es  sind,  wie  wir  aus  der  jetzt 
verwischten  Form  doch  noch  herausrechnen  können,  die  typi- 
schen sieben  Weiber  gewesen — ^):  sie  strecken  ihn,  nehmen  ihm 
das  Geld  ab  und  geben  den  Überschuß  dem  in  der  letzten  Szene 
auch  des  jetzigen  Manuskripts  noch  namenlosen  Bettler.  Dies 
drastische  kleine  Spiel,  von  dem  sich  in  den  kurzen  Reden  der  zu- 
letzt  auftretenden  Weiber  noch  einige  Reste  erhalten  haben,  hat 
Manuel  nun,  um  längere  Ausführungen  über  den  Ablaß  geben  zu 
können,  sehr  stark  beeinträchtigt:  er  hat  den  Bettler  auch  schon 
in  die  früheren  Szenen  des  Stückes  gebracht,  indem  er  ihm  aus  dem 
am  Ende  der  Handschrift,  das  am  meisten  Reste  des  alten  enthält, 
einmal  stehengebliebenen  ursprünglichen  Namen  des  Ablaßkrämers 
Rychardiis  Gygenstern  von  HinderlisO)  den  Namen  Gygenstern 
zuweist,     und    er     hat     ihm     ferner     in    dem     Bauern    Bertschi 


1)  Creizenach  3,  S.  257. 

2)  Man    vergleiche    etwa    das    spälmiltelalierliche    Spiel    von  den  sieben  Weibern: 
Creizenach   1 '■',  S.  410. 


Die  Zeiclinung  zum  untheatralischen  Dialog  gehörig.  453 

Schüchdenbrunnen  einen  männlichen  Genossen  gegeben.  Auf  sol- 
che Art  ist  aber  der  Charakter  des  Weiberspiels  ganz  verwischt, 
und  die  durch  den  Bauern  erzwungenen  Bekenntnisse  des  Ablaß- 
krämers über  seine  intimen  Erlebnisse  mit  Bäuerinnen  haben  in 
diesem  Milieu  etwas  völlig  Sinnloses.  Die  erste  Fassung  aber 
hatte  auch  einen  Zug  gehabt,  der  speziell  erfunden  war,  um  die 
Aufführung  zu  ermöglichen;  er  ergibt  sich  aus  der  szeni- 
schen Bemerkung,  die  auch  jetzt  noch  in  Manuels  Handschrift 
steht,  vor  dem  Beginn  des  ersten  „Streckens" 2);  Sie  namend  in 
gemeinlich  und  schlugend  in  zu  der  erden  mit  kellen,  kunklen, 
schüren;  und  ein  alt  bös  wib  lü  ff  dar  zu  mit  einer  rostigen 
alten  hallenbarten,  und  bundend  im  hend  und  füess,  zugend 
in  an  einem  seil  hoch  vf  in  aller  wis,  form  und  gestalt,  wie  man 
ein  mörder  streckt  .  .  Diese  Hellebarde,  die  ja  ziemlich  drei  Meter 
lang  sein  kann,  ist  offenbar  eingeführt  worden,  um  bei  der  Auf- 
führung das  Aufziehen  und  Strecken  des  armen  Sünders  zu  ermög- 
hchen:  um  die  Barte  sollte  das  Seil  gelegt  werden,  an  das  der  Dar- 
steller des  Krämers  mit  seinen  gefesselten  Händen  gebunden  werden 
mußte,  und  ein  paar  von  den  Frauendarstellern  hatten  den  fest 
auf  den  Boden  gepflanzten  Hellebardenschaft  und  das  andere  Ende 
des  Seils  zu  halten.3) 

Unsere  Zeichnung  aber  gehört  offensichtlich  nicht  zu  der  ersten 
Fassung,  die  für  die  Aufführung  einmal  bestimmt  gewiesen  war, 
wenngleich  eine  solche  sich  hier  nicht  wie  bei  den  Papstspielen 
belegen  läßt,  sondern  zu  der  Überarbeitung  des  Jahres  1525. 
Der  Charakter  des  Weiberspiels  tritt  gar  nicht  mehr  hervor:  abgesehen 
von  dem  Volkshaufen,  der  nichts  deutlich  Feminines  an  sich  hat, 
und  dem  hängenden  Richardus  sind  drei  Weiber  (Zilia  Nasentutter, 
Anne  Suwrüssel  und  vorn  rechts  Agnes  Ribdenpfeffer)  und  zwei 
Männer  (der  Bauer  und  der  Bettler)  zu  sehen.  Die  Hauptsache 
aber  für  unsern  Zusammenhang  ist  die:  Manuel  hat  seit  der  Zeit  der 
Abfassung  des  ursprünglichen  Spiels  den  theatralischen  Sinn  der 
Hellebarde  vöUig  vergessen;  so  hält  hier  Zilia  Nasentutter  die  Waffe 
in  der  Hand,  ebenso  wie  Frau  Suwrüssel  einen  Ablaßbrief  (nicht  die 
vor   v.  193   genannten    grosse  kellen),    Richardus  Hinterlist    aber 


1)  vor  V.  509:    vgl.  Baechtold  im  Apparat  zu  seiner  Ausgabe  S.  417. 

2)  Vor  V.  284. 

3)  Gerade  diese  szenische  Bemerkung  zeigt  uns  besonders  deutlich  die  Naht  der 
beiden  Fassungen:  während  hier  in  dem  übernommenen  Rudiment  der  Urfassung  ein 
alt  bös  wib  mit  der  Hellebarde  erst  da  zu  läuft,  ist  die  Frau  in  der  Bearbeitung  schon 
lange  Zeit  auf  der  Bühne  und  am  Dialog  stark  beteiligt,  denn  schon  vor  v.  53  steht: 
Die  pürin  Zilia  Nasentutter  mit  der  rostigen  Hallenbarten :  Manuel  hat  also  gerade 
dieser  Figur  bei  der  nachträglichen  Vergrößerung  der  ersten  Szene  eine  besonders  be- 
deutende Rolle  gegeben,  dann  aber  verabsäumt,  die  Bühnenanweisung  entsprechend  zu 
verändern. 


454  Augustin  Fließ  und  Jakob  Ruof. 

hängt  an  einem  Seile,  das  seinerseits  an  einem  völlig  imaginären 
Halt  befestigt  sein  muß :  irgendeine  Belehrung  über  die  Inszenie- 
rung erhalten  wir  von  hieraus  nicht.  Im  übrigen  vermag  das  Bild 
etwas  spezifisch  Theatralisches  überhaupt  nicht  zu  zeigen:  der  Ort 
hat  gewiß  nichts  mit  einem  wirklichen  Aufführungsplatz  gemein, 
die  Gewänder  sind  die  des  Alltags,  und  die  wenigen  Gebärden 
haben  nichts  Besonderes.  Höchstens  könnte  es  dem  Betrachter 
auffallen,  daß  der  Stein,  der  dem  Hinterlist  an  die  Füße  gehängt 
werden  soll,  nicht  wie  ein  wirklich  so  benutzter  Stein  aussieht, 
d.  h.  mit  Stricken  umbunden  ist,  sondern  eher  an  ein  großes  Ge- 
wicht gemahnt,  das  oben  eine  Ose  zum  Einhängen  hat:  so  erinnert 
er  einigermaßen  an  ein  Theaterrequisit.  Im  übrigen  aber  ist  die 
ganze  Anlage,  die  hier  auch  nicht  jenen  friesartigen  Charakter  der 
andern  Zeichnung  hat,  wohl  bestimmt,  dem  Betrachter  als  ein 
Stück  Wirklichkeit  gegenüberzutreten.  Es  wird  wohl  so  sein:  der 
„Ablaßkrämer",  ursprünglich  ein  richtiges  Theaterspiel,  ist  bei  der 
Überarbeitung  ganz  zum  Literaturdialog  geworden;  der  Verfasser 
hat  dem  doch  wohl  eigentlich  als  Vorlage  für  den  Drucker  ge- 
dachten Manuskript  ein  Titelbild  beigegeben  nach  dem  Vorbild 
der  zahlreichen  Drucke  von  Reformationsdialogen  jener  Zeit,  die 
mit  realistischen  Titelholzschnitten  ausgestaltet  sind,  so  wie  z.  B. 
auch  die  späteren  Auflagen  von  Manuels  'Barbali';  und  so  wenig 
wie  auf  solchen  Holzschnitten  wird  man  auf  unserer  Zeichnung 
nach  theatralischen  Elementen  suchen  dürfen. 

Augustin  Frieß  und  Jakob  Ruof. 

Bei  den  zuletzt  gebotenen  Untersuchungen  deutscher  Dramen- 
illustrationen waren  es  durchaus  die  Verfasser  der  Dramen,  auf 
deren  Tätigkeit  wir  auch  die  Bilder  zurückzuführen  hatten ;  nur  in 
einem  Fall  war  der  Autor  der  Dramen  zugleich  auch  der  Verleger 
gewesen.  Indem  wir  uns  nun  dem  letzten  Kreis  von  Dramenillu- 
strationen zuwenden,  dem  unsere  Betrachtung  zu  gelten  hat,  haben 
wir  es  hinsichtlich  der  Anregung  zur  Beigabe  von  Bildern  wieder 
in  erster  Reihe  mit  derjenigen  Persönlichkeit  zu  tun,  die  wir  bei 
der  Behandlung  der  Illustrationen  zu  antiken  Dramen  fast  immer 
in  die  vorderste  Reihe  zu  stellen  hatten:  mit  dem  Verleger.  Denn 
wir  treten,  indem  wir  uns  jenem  letzten  Kreise  nähern,  in  das 
fünfte  Jahrzehnt  des  16.  Jahrhunderts  ein,  und  inzwischen  ist  — 
wohl  nach  dem  Vorbilde  der  besonders  im  vorhergehenden  Jahr- 
zehnt viel  auf  den  Markt  gebrachten  neulateinischen  Komödien 
und  Tragödien  —  auch  das  deutsche  Drama,  das  bis  dahin  mit  der 
eigentlichen  Leseliteratur  wenig  oder  nichts  zu  schaffen  gehabt 
hatte,  endlich  ebenfalls  ein  Gegenstand  buchhändlerischen  Betriebs 
geworden. 


Buchausstattunff  und  Theater  in  Zürich.  455 

Unsere  Betrachtung  führt  uns  noch  einmal  zurück  an  den  Ort, 
von  dem  wir  ausgegangen  waren:  nach  Zürich.  Hier  hatte  zwar 
der  Buchdruclc  verhältnismäßig  spät  begonnen,  und  in  seinen  we- 
nigen Leistungen  spielt  der  Holzschnitt  keine  sonderlich  große 
Rolle.  Dann  aber  in  den  zwanziger  Jahren  setzt  besonders  die 
Tätigkeit  der  Firma  Christoph  Froschauer  imponierend  ein  und 
hält  sich  das  ganze  16.  Jahrhundert  hindurch  auf  bemerkenswerter 
Höhe.  Und  hier  wird  gleichzeitig  auch  der  Holzschnitt  für  die 
künstlerische  Ausschmückung  der  Druckwerke  wieder  herange- 
zogen, zumal  für  den  immer  wiederholten  Druck  der  deutschen 
Bibel:  Holbeinsche  Stöcke  werden  wenigstens  leihweise  erworben 
und  benutzt,  und  gute  Kopisten  und  Schüler  Holbeins  sind  uner- 
müdlich im  Dienste  des  Buchdruckes  tätig.  Neben  geschickten 
Meistern  auch  eine  nicht  kleine  Anzahl  von  geringeren  Vertretern 
holzschneiderischer  Kleinkunst:  einen  charakteristischen  Gesamt- 
eindruck solcher  Züricherischen  Leistung  kann  man  sich  verschaffen, 
wenn  man  die  von  Froschauer  im  Jahre  1547  hergestellte  Aus- 
gabe von  Stumpfs  Weltchronik  zur  Hand  nimmt. 

Anderseits  war  die  dramatische  Aufführung,  die  in  Zürich  von 
jeher  viel  gepflegt  worden  war,  auch  im  16.  Jahrhundert  nicht  ein- 
geschlafen; ja,  gerade  hier  hatten  Drama  und  Theater  nach  den 
ersten  zehn  literaturarmen  Jahren  der  Reformationsstürme  einen 
neuen  Aufschwung  genommen.  Hier  treffen  wir  den  unbekannten 
Verfasser  des  Spiels  „Vom  reichen  Mann  und  armen  Lazarus**, 
dessen  Aufführung  im  Jahre  1529  die  erste  Leistung  des  protestan- 
tischen Theaters  im  deutschen  Süden  bedeutet,  dann  Heinrich  Bullinger 
und  Jörg  Binder,  ferner  den  Bearbeiter  der  Birckschen  „Susanna", 
dessen  Name  nicht  bekannt  ist,  der  aber  schwerlich  mit  einem  der 
übrigen  Züricher  Dramatiker  identifiziert  werden  kann,  und  endlich 
den  fruchtbaren  Jakob  Ruof.  Die  Firma  Froschauer  hat  zunächst 
für  diese  dramatischen  Schöpfungen  kein  sonderliches  Interesse: 
nur  Binders  Verdeutschung  des  „Acolastus"  ist  bei  ihr  im  Jahre 
1535  gedruckt,  und  von  einer  künstlerischen  Ausstattung  ist  in 
dieser  Ausgabe  nicht  die  Rede. 

Im  Jahre  1540  aber  setzt  in  Zürich  die  Tätigkeit  einer  neuen 
Firma  ein,  der  einzigen  offenbar,  die  neben  Froschauer  überhaupt 
als  eine  Druckerei  größeren  Stils  in  Betracht  kommt.  Ihr  Inhaber 
ist  Augustin  Frieß,  und  dieser  Frieß  hat  nun  die  Herausgabe 
deutscher  Dramen  und  ihre  Ausstattung  mit  Holzschnitten  geradezu 
zu   seiner   geschäftlichen  Spezialität   gemacht 2).     Wieso    er  dieser 


1)  Vgl.  F.  S.  Vögelin,  Die  Holzschneidekunst  in  Zürich  im  16.  Jahrhundert :  Neu- 
jahrsblätter der  Stadtbibliothek  in  Zürich   1879  —  1884. 

2)  Es  ist  natürlich  nicht  leicht,  für  diese  letzte  Behauptung  eine  ganz  sichere  Grund- 
lage zu  bieten,  denn  bekanntlich  fehlt  es  für  die  Feststellung  deutscher  Drucke  aus  dieser 
Zeit  im  Gegensatz  zu  denen  der  vorangehenden  Perioden  an  allen  bibliographischen  Hilfs- 


456  Erste  Periode  der  Dramenausstattung  bei  A.  Frieß. 

Spezialität  sich  zugewendet  hat,  wird  sich  schwer  entscheiden 
lassen :  das  Interesse  des  eingeborenen  Zürichers  für  die  dramatisch- 
theatrahsche  Aufführung  kann  die  Veranlassung  nicht  gewesen 
sein,  denn  Frieß  ist  keineswegs  aus  Zürich  gebürtig:  er  heißt  eigent- 
lich Augustin  Mellis,  stammt  aus  Franeker  in  Westfriesland  (daher 
der  angenommene  Name  Frieß)  und  hat  erst  im  Jahre  1538  das 
Bürgerrecht  erlangt.  Das  im  Züricher  Stadtarchiv  aufbewahrte 
Original  des  Bürgerbuches  sagt  darüber:  Amjustyn  Jörg  Mellis  sun 
vonFranncken  ussWestfryessland,  ist  zu  eynem Bürger uffgenommen 
umb  XX  R  guldin,  die  hat  er  hezalt  iinnd  den  Bürger  Eyd  ge- 
schworen. Sambstags  nach  Invocavit  anno  etc.  1538^).  Vielleicht 
handelt  es  sich  von  vornherein  um  eine  Nachahmung  der  Praxis 
des  Buchdruckers  J,  Frölich  in  Straßburg.  Daß  Frieß  späterhin 
von  ihm  gelernt  hat,  werden  wir  alsbald  festzustellen  haben.  Mög- 
lich wäre  es  aber  an  sich  auch,  daß  die  Anregung  von  einem  dra- 
matischen Autor  gekommen  ist,  denn  unter  den  drei  Drucken  von 
Dramen,  die  Frieß  in  seinem  ersten  Arbeitsjahr  unter  die  Presse 
gegeben  hat,  befinden  sich  zwei  von  dem  schon  genannten  Züri- 
cher Dramatiker  Jakob  Ruof. 

Diese  zwei  haben  allerdings  bereits  wenigstens  Titelholzschnitte 
und  scheinen  somit  nicht  die  allerersten  Leistungen  gewesen  zu 
sein,  da  wir  sonst  mit  Rücksicht  auf  den  dritten  Druck  nochmal 
einen  Rückschritt  zu  völliger  Ausstattungslosigkeit  annehmen 
müßten.  Vermutlich  hat  dieser  dritte  Druck  die  Priorität:  die  erste, 
freilich  schon  überarbeitete  Ausgabe  jenes  für  das  protestantische 
Theater  so  bedeutsamen  Spiels  „Vom  reichen  Mann  und  armen 
Lazarus"  aus  dem  Jahre  1529^). 

Aber  auch  die  beiden  Drucke  Ruofscher  Dramen,  des  „Job"  3) 
und  des  „Joseph"  4),  sind  trotz  ihrer  beiden  Titelholzschnitte  kein 
für  unsere  Zwecke  interessantes  Material.  Offenbar  ist  bei  ihrer 
Herstellung  der  Verfasser  unbeteiligt:  auf  den  Titelblättern   wird 


mittein.  Immerhin  aber  ließ  sich  mit  freundlicher  Hilfe,  zumal  der  Züricher  Stadtbiblio- 
thek, eine  größere  Liste  von  Frieß  gedruckter  Werke  zusammenstellen;  daß  sie  nicht 
allzu  unvollständig  ist,  kann  man  dem  Umstand  entnehmen,  daß  eine  Umfrage  bei  allen 
größeren  Schweizer  Bibliotheken,  in  denen  doch  zunächst  die  Existenz  Frießscher  Arbeiten 
vermutet  werden  kann,  keine  Ergänzungen  lieferte.  Die  reichhaltigste  Liste  hat  bisher 
Bolte  gegeben:  Wickrams  Werke  5,  S.  LXV.  Ich  stelle  hier  diejenigen  Drucke  zusammen, 
die  weder  dramatische  Texte  bringen  noch  Holzschnitte  enthalten  und  die  daher  oben  im 
Text  nicht  herangezogen  werden:  1.  Catechismus  1541.  2.  Catechismus  1545.  3  Joh. 
Hoper,  An  Answer  unto  mylord  of  wynthesters  booke  intytlyd  a  detection  of  the  deuyls 
Sophistrye.  1547.     4.  Joh.  Hoper,  A  declaration  of  Christ  and  his  offyce.  1547. 

1)  Diese   Ermittlung   verdanke    ich   der  Güte   des  Herrn  Stadtarchivars  Dr.  J.  Häne 
in  Zürich. 

2)  Exemplar    in    München,    Hof-    und    Staatsbibliotlu'k.     In    Zürich    noch   ein   Druck 
ohne  Jahr. 

3)  Exemplar  ebenfalls  in  München. 

4)  Exemplar  in  Zürich,  Stadlbil)liothek. 


Erste  und  zweite  Periode  dei  Dramenaustlattung  bei  A.  Frieß.  457 

ebensowenig  wie  auf  dem  des  Lazarusspiels  der  Name  des  Dich- 
ters genannt;  es  handelt  sich  vielmehr  auch  hier  um  eine  Speku- 
lation des  Verlegers,  der  wohl  mit  dem  Druck  solcher  in  neuerer 
Zeit  zu  Zürich  gespielter  Dramen  ein  gutes  Geschäft  zu  machen 
hoffte.  Zu  dem  Gedanken,  derartige  Drucke  mit  Titelbildern  zu  ver- 
sehen, kann  er  ganz  gut  auch  durch  früher  erschienene,  in  gleicher 
Weise  ausgestattete  Dramendrucke  gekommen  sein:  am  nächsten 
hegt  es,  an  die  Fastnachtspiele  des  Niklas  Manuel  zu  denken, 
dessen  nichttheatralischen  Dialog  „Barbali"  Frieß  —  wir  wissen 
freilich  nicht  wann  —  mehrfach  und  zwar  ebenfalls  unter  Bei- 
fügung eines  Titelholzschnittes  gedruckt  hat;  aber  auch  z.  B.  die 
Nürnberger  „Susanna"  vom  Jahre  1534  und  der  Wittenberger  Druck 
des  Knaustschen  Spieles  von  Kain  und  Abel  aus  dem  Jahre  1539 
sind  in  solcher  Weise  ausgestattet.  So  wenig  aber  wie  bei  allen 
diesen  Ausgaben  haben  bei  den  beiden  ersten  von  Frieß  veran- 
stalteten Drucken  Ruofscher  Dramen  die  Titelholzschnitte  einen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Theater:  das  Bild  für  den  „Job",  das  den 
Dulder  auf  dem  Misthaufen,  daneben  sein  Weib  und  rechts  die  be- 
rittenen Räuber  mit  ihrem  Raube  zeigt,  ist  ein  Nachschnitt  des 
einen  Hiob-Holzschnittes  aus  der  Froschauerschen  Bibel,  und  das 
Joseph-Bild,  das  den  Verkauf  des  Helden  an  die  Kaufleute  vor- 
führt und  das  sicher  von  einem  der  für  Froschauer  tätigen  Künst- 
ler herrührt  1),  erweist  sich  schon  durch  die  künstlerisch  dominie- 
rende Vorführung  eines  Kamels  als  vöUig  theaterfremd. 

In  eine  neue  Epoche  seiner  Bedeutung  für  die  Dramenillu- 
strationen tritt  Frieß  dann  durch  die  schon  erwähnte  Anlehnung 
an  die  Tätigkeit  des  Straßburger  Kollegen  Jakob  Fröhch  ein: 
wann  die  erste  Anlehnung  erfolgt  ist,  läßt  sich  leider  nicht  aus- 
machen, da  die  betreffenden  Frießschen  Drucke  undatiert  sind,  — 
jedenfalls  aber  in  der  ersten  Hälfte  der  40er  Jahre.  Auf  solche 
Art  scheint  die  rein  innerschweizerische  Entwicklung  hier  durch 
eine  außerschw^eizerische  Leistung  unterbrochen  und  in  neue  Wege 
gelenkt  zu  sein.  Sehen  wir  aber  genau  zu,  so  zeigt  sich,  daß  im 
Grunde  doch  auch  hier  das  Schweizerische  dominiert:  denn  der 
Straßburger  Jakob  Frölich  ist  seinerseits  wieder  nur  ein  Nach- 
ahmer des  Druckers  und  Dramatikers  Pamphilus  Gengenbach  aus 
Basel.  Wie  das  erste  hier  in  Betracht  kommende  elsässische  Drama 
rein  dichterisch  genommen  eine  Umarbeitung  des  Gengenbachschen 
Spiels  von  den  zehn  Altern  darstellt  —  sie  ist  1531  von  Jörg  Wick- 
ram verfaßt  — ,  so  ist  die  Ausstattung  des  Straßburger  Druckes 
vom  Jahre  1534  mit  ihrer  durchgeführten  Illustration  der  einzelnen 
Szenen    auf    eine   starke  Benutzung  der  Leistung  des  Druckers 


1)  Vgl.  Vögel  in   S.  63.     V.  kennt  übrigens  überhaupt  nur  zwei  bei  Frieß  gedruckte 
Werke  mit  Illustrationen. 


458  A.  Frieß  als  Nachahmer  des  Straßburger  Druckers  Frölich. 

Geiigenbach  zurückzuführen.  Im  einzelnen  kann  von  diesen  Straß- 
burger Biklern  hier  die  Rede  nicht  sein,  wo  wir  es  nur  mit 
schweizerischen  Dramenilkistrationen  zu  tun  haben.  Auch  nicht 
von  der  an  sich  interessanten  Frage,  ob  bei  der  Herstellung  illu- 
strierter Ausgaben  der  Wickramschen  Dramen  der  Verfasser  oder 
der  Verleger  die  entscheidende  Anregung  gegeben  hat,  und  ebenso- 
wenig endlich  von  dem  für  die  theatergeschichtliche  Erörterung 
wichtigen  Problem,  ob  Wickram,  der  ja  bereits  als  „selbstgemachter 
Maler",  als  ein  arger  Dilettant  freilich,  bekannt  ist,  auch  an  der 
Herstellung  der  Illustrationen  zu  seinen  Dramen  tätig  gewesen  ist. 
Eine  eingehende  Betrachtung  dieser  Bilder  von  dem  hier  stets  ge- 
wählten Standpunkt  aus  würde  jedenfalls  ergeben,  daß  im  Gegen- 
satz zu  dem  Gengenbachschen  Original  die  Szenenbilder  der  Wick- 
ramschen Bearbeitung  kaum  etwas  mit  dem  wirklichen  Theater  zu 
tun  haben;  nur  der  Herold  mag  vielleicht  das  Kostüm  zeigen,  das 
er  bei  der  Kolmarer  Aufführung  des  Werkes  vom  Jahre  1531  ge- 
tragen hat.  Wenigstens  führt  darauf  der  Umstand,  daß  er  vorn  auf 
zwei  Brustschilden  das  Kolmarer  Wappen  zeigt,  zu  dessen  Ver- 
wendung ein  lediglich  nach  der  Phantasie  arbeitender  Straßburger 
Illustrator  doch  keine  sonderliche  Veranlassung  gehabt  hätte. 

Frieß'  Anlehnung  an  Frölich  setzt  nun  geradezu  mit  einer 
neuen  Ausgabe  der  Wickramschen  „Zehn  Alter"  ein;  für  sie  läßt 
er  auch  die  Bilder  des  Frölichschen  Druckes  nachschneiden  i). 
Daß  diese  Nachschnitte  ein  theatergeschichtliches  Interesse  nicht 
beanspruchen  können,  versteht  sich  nach  dem  Gesagten  von  selbst. 
Das  Gleiche  gilt  von  der  durch  Frieß  ebenfalls  veranstalteten  Aus- 
gabe von  Wickrams  „Narrengießen" -),  der  die  Frölichsche  Aus- 
gabe des  Jahres  1538  samt  einigen  der  dort  gegebenen  Holz- 
schnitte zugrunde  liegt.  Aber  nicht  nur  im  unmittelbaren  An- 
schluß an  Frölich  arbeitet  die  Frießsche  Druckerei,  sie  läßt  sich 
vielmehr  auch  darin  von  ihm  anregen,  daß  sie  das  von  Frölich 
bei  der  Herstellung  des  Druckes  von  Wickrams  „Treuem  Eckart" 
eingeschlagene  Illustrationsverfahren:  die  Verwendung  von  Holz- 
schnitten, die  zu  andern  Texten  gehören,  auf  eine  von  ihm  selb- 
ständig unternommene  Dramenillustration  überträgt.  Frieß  gibt 
nämlich  das  alte,  anonym  erschienene.  Urner  Spiel  vom  Wilhelm 
Teil  zum  erstenmal  heraus'^)  und  illustriert  es,  indem  er  außer 
zwei  abgenutzten  Schnitten,  die  einen  König  und  einen  Landsknecht 
darstellen,   hier   aber  zwei  Herolde  bedeuten  sollen,  den  Kolmarer 

1)  Dieser  Druck  ist  nicht  erhalten.  Bolte  aber  in  seiner  eben  angeführten  Aus- 
gabe von  Wickrams  Werken  hat  Bd.  5,  S.  XXXU  die  Existenz  einer  solchen  Ausgabe  aus  dem 
Vorkommen  der  zugehörigen  Nachschnitte  in  andern  Frießschen  Drucken  mit  vollem  Recht 
erschlossen 

2)  Exemi)lar  in  Zürich,  Stadll)il)!ioth('k. 

3)  Exemplar  in  Basel,  Universitätsbibliothek. 


Dritte  und  vierte  Periode  der  Frießschen  Dramenausstallung,  459 

Herold  des  Wickramschen  Spiels  benutzt  und  ferner  das  Bild  der 
Apfelschul^szene,  mit  der  er  ursprünglich  das  bei  ihm  erschienene 
Lied  vom  Wilhelm  Teil  ausgestattet  hatte  ').  Auch  dieser  Druck  des 
Teildramas  hat  somit,  trotz  seiner  Illustrationen,  kein  theaterge- 
schichtliches Interesse. 

Eine  dritte  Periode  in  Frieß'  gesamter  Tätigkeit  —  die  für  uns 
wichtigste  —  kommt  offenbar  dann  im  Jahre  1545  dadurch  zustande, 
daß  nunmehr  ein  dramatischer  Dichter  die  Führung  übernimmt. 
Es  ist  der  wiederholt  genannte  Jakob  Ruof.  Dieser  hat  zu  Neu- 
jahr des  Jahres  1545  seine  neue  Bearbeitung  des  oben  erwähnten, 
nicht  lange  vorher  von  Frieß  gedruckten  Urner  Tellspiels  in  Zürich 
aufführen  lassen  und  gibt  diese  Bearbeitung  nun  bei  Frieß  heraus 2). 
Daß  der  Druck  im  Auftrage  des  Autors  erfolgt,  geht  mit  Sicher- 
heit daraus  hervor,  daß  das  Titelblatt  nicht  nur  seinen  Namen, 
sondern  auch  sein  Wappen  trägt.  Der  Druck  ist  illustriert,  und  es 
handelt  sich  nun  nicht  mehr  um  ein  bloßes  Titelbild,  nicht  mehr 
um  Nachschnitte  anderswo  hergestellter  Originale,  nicht  um  eine 
kimimerliche  Zusammenstellung  schon  gedruckter  und  gar  nicht  recht 
passender  Holzschnitte,  diesmal  ist  vielmehr  die  ganze  Reihe  von 
Bildern,  die  der  Druck  aufweist,  eigens  für  ihn  hergestellt  worden. 
Es  folgt  in  einem  ähnlichen  Stil  eine  neue  Auflage  des  Ruofschen 
„Job"  3).  An  die  Stelle  des  einen  Titelbildes  ist  auch  hier  eine 
ganze  Folge  von  Illustrationen  getreten,  die  eigens  für  das  Drama 
geschaffen  sind.  Daran  schheßt  sich  die  Urausgabe  des  1545  ver- 
faßten Ruofschen  Passionsspieles  Das  Lyden  vnsers  Herren  Jesu 
Christi i).  Hier  ist  freilich  die  Ausstattung  schon  viel  kärglicher 
ausgefallen,  und  einige  Holzschnitte  werden,  ohne  daß  es  recht 
paßte,  zweimal  benutzt.  Endlich  gehört  in  diese  Periode  wohl  noch 
der  Druck  des  schon  erwähnten,  von  einem  unbekannten  Züricher 
Dichter  nach  Birck  bearbeiteten  Susannadramas  0):  auch  hier  eine, 
wenn  auch  nicht  sehr  lange,  Reihe  für  diesen  Druck  gearbeiteter 
Bilder;  zur  Vorführung  des  Heroldes  ist  hier  freilich  wieder  der 
aus  den  „Zehn  Altern"  stammende  Holzschnitt  Frölich-Wickramscher 
Herkunft  verwendet. 

Eine  völlige  Rückkehr  zu  jener  durch  Frölich  inspirierten 
früheren  Art  bedeutet  dann  die  letzte  Züricher  Zeit  des  Druckers 
Frieß.  Nicht  nur  ahmt  er  ihn  wieder  direkt  nach,  indem  er  eine, 
allerdings  nur  mit  einem  Titelbilde  versehene,  Ausgabe  der  von  Frö- 


1)  Exemplar  in  München ,  Hof- und  Staatsbibliothek.  Das  Bild  s.  u.  Abb.  103,  S. -463. 
Ebenso  hat  er  seinen  Druck  des  Liedes  auf  die  Schlacht  von  Novara  (Exemplar  in  Bern, 
Stadtbibliothek)   mit  einem  Holzschnitt  geschmückt. 

2)  Exemplar  in  München,  Hof-  und  Staatsbibliothek. 

3)  Exemplar  ebendort. 

4)  Exemplar  z.  B.  in  Berlin,  Kgl.  Bibliothek. 

5)  Exemplar  in  Berlin. 


j^QQ  Vierte  Periode  der  Frießschen  Dramenausstattung. 

lieh  wiederholt  gedruckten  „Griseldis"  Petrarcas  in  Wyles  Über- 
setzung!) und  einen  auch  die  zahlreichen  Illustrationen  nachahmen- 
den Druck  des  von  Salzmann  verdeutschten  „Octavian"  veran- 
staltet, den  Frölich  1548  unter  die  Presse  gegeben  hattet),  sondern 
er  wendet  sich  auch  in  der  Ausstattung  von  Dramen  wieder  dem 
alten  Stoppelprinzip  zu.  Die  Ausgabe  des  Binderschen  „Acolastus"  3) 
benutzt  den  Herold  aus  dem  Ruofschen  Teil  und  hat  im  übrigen 
nur  auf  dem  Titelblatt  4  winzige  Holzschnitte,  die  nicht  einmal 
dem  Text  des  Dramas,  geschweige  denn  seiner  Aufführung  nahe 
stehen.  Ein  wahres  Musterbeispiel  der  Stoppelwirtschaft  aber  ist 
der  Druck  des  Hechlerschen  Spiels  „Alte  Weiber  jung  zu  schmie- 
den" 4),  das  im  Bernischen  Utzisdorf  1540  gespielt  worden  war. 
Hierfür  ist  nur  das  Titelbild,  die  eigentliche  Schmiedeszene,  neu  ge- 
schnitten, ^  diese  Szene  wird  im  Spiel  selbst  aber  gar  nicht  vor- 
geführt. Die  übrigen  Bilder  sind  ein  buntes  Ragout  aus  allerlei 
älteren  Frießschen  Schmausen:  u.  a.  aus  den  „Zehn  Altern",  aus 
dem  „Job"  und  aus  einer  sonst  nicht  bekannten  Ausgabe  des 
Liedes  vom  „Hürnen  Seyfried",  die  Frieß  offenbar  vorher  auch 
veranstaltet  hattet);  wo  diese  Bilder  in  irgendeinem  Punkte  dem 
Inhalt  des  Hechlerschen  Spiels  gar  zu  sehr  widersprachen,  sind 
die  betreffenden  Partien  des  Holzschnittes  von  dem  Stock  entfernt. 
Dieser  wurde  dadurch  natürlich  für  anderweitige  Verwendung  un- 
brauchbar: ein  Zeichen  dafür,  daß  Frieß  sich  nicht  länger  diesem 
Zweig  seines  Verlages,  der  Herstellung  illustrierter  Ausgaben  er- 
zählender und  namentlich  dramatischer  Werke,  zuzuwenden  beab- 
sichtigte. Tatsächlich  muß  er  etwa  im  Jahre  1550  Zürich  verlassen 
haben :  1551  finden  wir  ihn  in  Straßburg,  in  der  Stadt  also,  in  der 
sein  früheres  Vorbild,  die  Firma  Frölich  immer  noch  im  alten  Sinne 
arbeitete.  Er  hat  ihr  hier  aber  keine  weitere  Konkurrenz  gemacht, 
sondern  sich  ganz  andern  Geschäftszweigen,  so  namentlich  der 
Herstellung  spanischer  Drucke  zugewendet,  auf  die  er  vielleicht 
irgendwie  durch  Beziehungen  zu  seiner  niederländischen  Heimat 
gekommen  ist  6). 

Übersehen  wir  nun  noch  einmal  seine  ganzen  Züricher  Tage,  so 
ergibt  unsere  Betrachtung  bereits,  welche  seiner  Leistungen  wir 
ohne  weiteres  fih'  unsere  Zwecke  ausscheiden  können:  die  ersten 
Anfänge  und  die  beiden  Perioden,  in  denen  er  nach  Frölichschem 


1)  Exemplar  in  Berlin. 

2)  Exemplar  in  Breslau,  Stadtbibliothek. 

3)  Exemplar  in  Zürich,  Stadtbibliothek. 

4)  Exemplar  in  Basel,   Univei'.silälsbibliothek. 

5)  Sie  kommt  also  als  neues,  bisher  nicht  benutztes  Material  zu  meinen  Erörterungen 
über  die  Bilder  des  Seyfriedsliedes :  ADA.  45,  S.  64 ff.  und  zu  Golthers  Behandlung  des 
gleichen  Stoffes  in  der  zweiten  Auflage  seines  Neudruckes  (Halle  1912)  hinzu. 

6)  Die  Titel  bei  Heitz,   Elsässische  Rüchormarken  (StralMiurg  1S!)2),  S.  XXIV  u.  72. 


Augustin  Frieß  und  Jakob  Ruof.  461 

Vorbilde  arbeitete,  haben  zwar  allerlei  Illustrationen,  aber  keine 
Leistungen  gebracht,  in  denen  wir  einen  besonderen  theatralischen 
Sinn  suchen  dürften.  Es  kommt  also  nur  die  mittlere  Periode,  die 
Zeit  der  engen  Verbindung  mit  dem  Dramatiker  Ruof  für  genauere 
Untersuchungen  in  Betracht. 

Hier  ist  zunächst  in  der  Tat  von  vornherein  der  Gedanke  nicht 
auszuschließen,  daß  in  die  Illustrationen  hinein  sich  Reminiszenzen 
an  die  Aufführung  der  Dramen  gedrängt  haben.  Die  Herausgabe 
der  Texte  war,  wie  wir  sahen,  auf  Veranlassung  des  Autors  er- 
folgt; so  mag  er  auch  der  Herstellung  der  Illustrationen  nicht 
fern  gestanden  haben.  Anderseits  aber  hat  er  an  der  Aufführung 
seiner  Werke  den  lebhaftesten  Anteil  genommen:  das  brauchen 
wir  nicht  nur  zu  vermuten,  sondern  können  es  wenigstens  für  ein 
Werk,  freilich  keines  von  denen,  deren  Drucklegung  Frieß  besorgt 
hat,  auch  beweisen:  bei  der  Darstellung  seines  Spiels  „Von  des 
Herrn  Weingarten"  im  Jahre  1539  ist  er  als  Äctor  d.  h.  als  Re- 
gisseur tätig  gewesen ').  Aber  selbst  wenn  Ruof  sich  nicht  um  die 
Herstellung  der  Bilder  gekümmert  und  die  Zeichner  zur  Berück- 
sichtigung der  lebendigen  Aufführung  veranlaßt,  sondern  die  Aus- 
stattung des  Buches  ganz  dem  Drucker  überlassen  haben  sollte,  so 
ist  es  doch  wenigstens  nicht  ausgeschlossen,  daß  dieser  dabei  auf 
eine  Heranziehung  des  theatraUschen  Elementes  hingewirkt  haben 
könnte:  wenigstens  kann  er  nicht  nur  die  Aufführung  des  „Teil"  im 
Jahre  1545,  sondern  auch  die  des  „Job"  im  Jahre  1535  mitange- 
sehen haben,  denn  da  er  1538  das  Bürgerrecht  erhielt,  hat  er  sich 
gewiß  schon  jahrelang  vorher  in  Zürich  aufgehalten.  In  der  Tat 
sind  denn  auch  die  Holzschnitte  zum  „Teil"  und  zum  „Job"  an 
derjenigen  Stelle,  zu  der  jeder  sich  wendet,  der  die  wichtigsten 
bildlichen  Beigaben  zu  den  Hauptwerken  der  deutschen  National- 
literatur kennen  lernen  will:  in  Könneckes  Bilderatlas  mit  dem 
Bemerken  veröffentlicht  worden,  daß  man  sich  die  Aufführung 
der  Dramen  ganz  ähnlich  der  auf  den  Holzschnitten  gebotenen  Dar- 
stellung vorstellen  könne;  auch  die  Vorführung  von  Kahn  und 
Pferden  im  „Teil"  stehe  solcher  Annahme  nicht  im  Wege,  da 
die  Züricher   Aufführungen  im  Freien  stattgefunden  hätten. 

Solche  Auffassung,  deren  Richtigkeit  für  die  Erschließung  wich- 
tigen theatergeschichtlichen  Materials  von  der  größten  Bedeutung 
wäre,  hält  nun  aber  leider  einer  nüchternen  Prüfung  in  der  Haupt- 
sache nicht  Stich.  Betrachten  wir  zunächst  das  Ruof  sehe  Teil  spiel, 
so  verbietet  im  Grunde  schon  die  nächstliegende  Feststellung  die 
Vermutung,  daß  der  Züricher  See  in  die  Aufführung  eingeschlossen 


1)  Schweizerische  Spiele  des  16.  Jahrhunderts  bearbeitet  von  J.  Bächtold  3  (Zürich 
1893),  S.  310. 


462 


Die  Aufführung  des  Ruofschen  Teilspiels. 


und  dadurch  auch  auf  die  Holzschnitte  gekommen  sei.  Wie  das 
Titelblatt  des  Frießschen  Druckes  mitteilt,  ist  die  Aufführung  zu 
Neujahr  des  Jahres  1545  von  statten  gegangen  und  kann  also 
unmöglich  im  Freien  und  unter  Benutzung  des  Sees  erfolgt  sein; 
wir  werden  vielmehr  an  eine  Vorstellung  im  geschlossenen  Raum 


Abb.  100.     J.  Ruof,  Teil  (Frieß),  Erstürmung  der  Burg  Sarnen. 


Abb.   101.     J.  Ruof,  Teil  (Frieß).  Apfelschuß. 


denken  müssen,  von  deren  Anlage  wir  uns  freilich  nicht  so  leicht 
einen  Begriff  werden  machen  können.  Aber  nehmen  wir  selbst 
an,  es  habe  dann  noch  in  der  schönen  Jahreszeit  eine  Wiederholung 
stattgefunden,  diese  sei  ins  Freie  verlegt  worden  und  für  die  Dar- 
stellung der  Szenen  auf  dem  Urner  See  habe  nuni  das  lebendige 
Wasser  benutzt.  Auch  dann  können  unsere  Holzschnitte  unmöglich 
das  Bild  der  Aufführungslokalität  wiedergeben.  Denn  sie  bieten  den 
Blick  auf  den  See  und  dahinter  liegende  hohe  Berge  (vgl.  Abb.  101), 


Die  Bilder  in  P'rieß"  Druck  des  Ruofschen  Tellspiels. 


463 


so  wie  auch  die  Bilder  der  auf  dem  Wasser  selbst  spielenden  Szenen 
hohe  Berge  im  Hintergrund  zeigen.  Derartige  Landschaften  können 
die  Zuschauer  der  Züricher  Tellaufführung  unter  keinen  Umständen 
vor  Augen  gehabt  haben.    Denn  die  öffentlichen  Aufführungen  zu 


Abb.   102.     J.  Stumpf,  Weltchronik  (Froschauer).     Apfelschuß. 


Abb.  103.     Teilenlied  (Frieß).     Apfelschuß 

Zürich  haben,  soweit  uns  unser  Material  belehrt,  ausnahmslos  auf 
dem  Münsterhof,  dem  freien  Platz  östlich  vom  Frauenmünster, 
stattgefunden.  Dieser  Platz  reicht  allerdings  an  einer  Seite  ans 
Wasser,  so  daß  sich  dieses  allenfalls  in  die  Aufführung  einbe- 
ziehen  heßi);    aber    dieses    Wasser   ist    nicht    der    See,    sondern 

1)  Sehr  wahrscheinlich   ist   solche   Einbeziehung   überhaupt    nicht:     das  Ufer  steigt 


464  Diß  Bilder  zu  Ruots  Hiobdrama. 

nur  die  Limmat,  und  am  andern  Ufer  waren  keine  Berge,  son- 
dern nur  das  Großmünster,  die  Wasserkirche  und  einige  Häuser  zu 
sehen.  Es  handelt  sich  viehnehr  bei  der  Lokaldarstehung  der 
Holzschnitte  um  eine  gänzlich  untheatralische  Benutzung  der  heimat- 
lichen Landschaftsstaffage,  die  in  der  Züricher  Holzschneidekunst 
dieser  Zeit  auch  auf  Bildern,  die  mit  Drama  und  Theater  gar  nichts 
zu  schaffen  haben,  so  in  der  schon  angeführten  Froschauerschen 
Ausgabe  der  Stumpf  sehen  Weltchronik,  nicht  selten  erscheint;  frei- 
lich wird  es  nicht  leicht  möglich  sein,  den  „Künstler",  der  die  recht 
rohen  Bilder  zum  „Teil"  angefertigt  hat,  mit  einem  der  sonst  in 
Ziu'ich  beschäftigten  Zeichner  und  Holzschneider  zu  identifizieren. 
Auch  abgesehen  von  jenen  Hintergründen  aber  ist  die  ganze  Bilder- 
folge offenbar  Illustration  der  gewöhnlichsten  Art  und  behandelt 
den  dramatischen  Text  gerade  so,  als  ob  eine  epische  Erzählung 
vorläge.  Es  ist  nicht  erst  nötig,  daß  hier  der  Versuch  gemacht 
wird,  die  Einrichtung  der  Bühne  für  das  Teilspiel  zu  rekonstruieren 
und  danach  zu  sagen,  daß  die  auf  den  Holzschnitten  vorgeführten 
räumlichen  Anordnungen  ihr  unmöglich  entsprechen  können;  es  ge- 
nügt, den  Blick  etwa  auf  die  Darstellung  der  „hohlen  Gasse"  und  die 
der  Erstih'mung  der  Burg  Sarnen  (Abb.  100,  S.  462 1))  zu  richten,  welch 
letztere  in  Könneckes  Wiedergabe  der  Bilder  stillschweigend  über- 
gangen ist.  Wie  wenig  im  Prinzip  unsere  Darstellungen  von  den 
Illustrationen  zu  rein  epischen  Werken  sich  unterscheiden,  wird 
am  besten  deutlich,  wenn  wir  neben  das  Bild  zum  Apfelschuß  im 
Ruof sehen  Teilspiel  (Abb.  101,  S.  462)  das  den  gleichen  Hergang  vor- 
führende Bild  aus  Stumpfs  Chronik  (Abb.  102,  S.  463)  und  jenes  dem 
Frießschen  Druck  des  Liedes  vom  Teil  beigegebene,  wiederum  den 
Apfelschuß  vorführende  Titelbild  stellen  (Abb.  103,  S.  463). 

An  zweiter  Stelle  kommen  die  Bilder  des  Jobdramas  in  Be- 
tracht. Von  vornherein  ist  hier  die  Aussicht  auf  unmittelbare 
Theaterwirklichkeit  etwas  geringer,  denn  seit  der  Aufführung  des 
Dramas  sind  bei  der  Herstellung  des  Druckes  ungefähr  zehn  Jahre 
verflossen  —  wenigstens  ist  außer  der  durch  Stumpfs  Chronik  be- 
zeugten Vorstellung  vom  Jahre  1535  in  der  Überlieferung  von 
keiner  andern  Aufführung  die  Rede  2).     Die  unmittelbare  Theater- 


vom  Münsterhof  aus  derart  an,    daß  man  das  Wasser  nur  von  den  hölieren  Stockwerken 
einiger  günstig  gelegenen  Häuser  übersehen  kann. 

1)  Dieser  Holzschnitt  und  alle  ihm  folgenden  sind  in  Originalgröße  gegeben. 

2)  Daß  es  sich  in  der  Jobvorstellung  des  Jahres  1535  gerade  nm  das  Ruofsche 
Drama  gehandelt  hat,  ist  bei  Stumpf  nicht  ausdrücklich  gesagt,  und  Blun tschüs  Angabe 
aus  dem  Jahre  1742  braucht  nur  auf  einer  Kombination  zu  beruhen;  eine  Identifikation 
wird  sich  indessen  wohl  dadurch  rechtfertigen  lassen,  daß  Ruofs  Drama  seiner  Ent- 
stehung nach  sicherlich  der  Mitte  der  30  er  Jahre  angehört :  da  es  im  (Jegensatz  zu  allen 
übrigen  Ruofschen  Werken  ohne  Akteinteilung  ist,  ist  es  offenbar  seine  älteste  Arbeit. 
Sciion  in  dem  1539  entstandenen  Spiel  vom  Weingarten  des  Herrn  ist  die  Akteinteilung 
zu  finden. 


Die  Bilder  zu  Ruofs  Hiobdraina.  465 

Wirklichkeit  der  Jobbilder  wird  auch  dadurch  sofort  etwas  mehr 
in  Frage  gestellt,  daß  sie  im  Gegensatz  zu  den  Tellholz- 
schnitten  nicht  alle  unmittelbar  für  die  Ausstattung  des  Dramen- 
druckes hergestellt  sind :  wenigstens  stammt  das  Bild  des  Teufels 
Runtzifal  aus  dem  Frießschen  Druck  der  Wickramschen  „Zehn 
Alter"  und  ist  seinerseits  nur  eine  getreue  Nachbildung  des  be- 
treffenden Holzschnittes  in  Frölichs  Straßburger  Ausgabe.  Als 
völlig  untheatralisch  erweisen  sich  ferner  beim  ersten  Blick  das  Bild 
von  Satans  Gespräch  mit  Gott  (Abb.  104,  S.  466),  bei  dem  der  letztere 
in  der  üblichen  Darstellung  in  den  Wolken  thronend  erscheint,  und 
das  Bild,  auf  welchem  die,  im  Drama  übrigens  gar  nicht  unmittelbar 
vorgeführte,  Vernichtung  der  Habe  Jobs  vorgeführt  wird :  nicht  nur 
sehen  wir  hier  ein  brennendes  Dorf,  wie  es  unmöglich  auf  dem 
damaligen  Theater  gezeigt  werden  konnte,  sondern  zwischen  Brand- 
und  Raubszene  fließt  ein  Fluß  i).  Auf  den  übrigbleibenden  Bildern 
findet  sich  wiederum  der  landschaftliche  Hintergrund  mit  Seen  und 
Bergen,  den  die  Zuschauer  auf  dem  Münsterhof  unmöglich  erblickt 
haben  können.  Eher  könnte  man  an  die  theatralische  Realität  der 
sonst  auf  diesen  Bildern  dargestellten  Örtlichkeiten  glauben.  Die 
große  Halle,  in  der  Jobs  Kinder  schmausen  (Abb.  105,  S.  467),  würde 
vielleicht  dem  Aufbau  eines  solchen  Hauses  auf  der  Marktplatzbühne, 
in  das  die  Zuschauer  von  allen  Seiten  hineinsehen  können  müssen, 
einigermaßen  entsprechen:  denn  die  einzige  Andeutung  einer 
Wand  mit  Fenstern  findet  sich  nur  nach  der  Wasserseite  hin,  an 
der,  bei  der  Aufführung  auf  dem  Münsterhof,  vielleicht  gar  keine 
Zuschauer  gestanden  haben.  Leider  aber  ist  die  Halle  Jobs  und 
seiner  Freunde  ein  geschlossenes  Interieur,  in  das  der  Blick 
von  außen  unmöglich  hereindringen  kann  (Abb.  106,  S.  468),  und 
bei  einer  zweiten  Darstellung  desselben  Hauses  (Abb.  107)  ist 
zwar  die  Anordnung  der  Tafel  die  gleiche  geblieben,  das  Zimmer 
selbst  aber  sieht  wieder  wesentlich  anders  aus  2),  und  mit  dieser 
Feststellung  werden  wir  wohl  auch  die  Hoffnung  aufgeben  müssen, 
in  der  Darstellung  der  andern  Halle  ein  Abbild  der  theatralischen 
Wirklichkeit  zu  sehen.  Auch  die  beiden  Bilder,  die  den  Misthaufen 
vorführen  (Abb.  108/9,  S.  469f.)  —  wir  haben  ihn  uns  jedenfalls  als 
den  eigentlichen  Mittelpunkt  des  theatralischen  Schauplatzes  vorzu- 
stellen —  zeigen,  ganz  abgesehen  von  der  einmal  vorgeführten  Juxta- 
position  auf  dem  einen  Schnitt,  in  lokaler  Beziehung  einen  unlös- 
lichen Widerspruch.  Und  so  ergibt  sich,  daß  auch  die  Jobbilder 
uns  keine  Vorstellung  von  dem  Schauplatz  zu  gewähren  vermögen. 


1)  Diese  Bilder  hat  Könnecke  nicht  wiedergegeben. 

2)  Könnecke     hat    diese     zweite    Darstellung      des     Jobhauses    wiederum     fort- 
gelassen. 

Herr  mann,    Theater.  30 


466 


Die  Bilder  zu  Ruofs  Passionsspiel. 


Noch  weiter  treten  endlich  die  beiden  letzten  Drucke,  die  der 
mittleren  Periode  der  Frießschen  Tätigkeit  angehören,  von  vorn- 
herein vom  Theatralischen  zurück.  Ruofs  Passionsspiel  ist  bei 
der  Drucklegung  offenbar  noch  nicht  aufgeführt  worden i).  Die 
ausführUche  Vorrede  erklärt  vielmehr,  daß  der  Druck  zu  Auffüh- 
rungen anregen  wolle;  es  könnte  sich  also  bei  den  Illustrationen 
im  besten  Falle  um  die  Fiktion  einer  erst  zu  veranstaltenden  Dar- 
stellung handeln.  Bei  genauerer  Betrachtung  zeigt  sich  aber,  daß 
wir  es  bei  den  Bildern  dieses  Druckes  vollends  nur  mit  einem, 
diesmal  schon  recht  dürftig  gewordenen,  Buchschmuck  ganz  un- 
theatralischer Art  zu  tun  haben.  Das  Szenenbilderprinzip  ist  ganz 
aufgegeben :  das  sehr  umfangreiche,  zweitägige  Spiel  ist  im  ganzen 


Abb.  104.     J.  Ruof,  Job  (Fries),  Satans  Gespräch  mitGott. 

—  von  den  Heroldsbildern  abgesehen  —  mit  acht  Bildchen  ge- 
schmückt, unter  denen  noch  dazu  zwei  nur  wenig  sinnvolle  Wieder- 
holungen sind.  Es  ist  ferner  gar  nicht  ausgeschlossen,  daß  die 
übrigen  sechs  gar  nicht  einmal  alle  für  diesen  Druck  direkt  her- 
gestellt, sondern  wie  die  Werke  der  vorhergehenden  und  der 
nächstfolgenden  Frießschen  Periode  irgendwoher  zusammengerafft 
sind.  Bei  zweien  von  den  sechs  Bildern  läßt  es  sich  geradezu 
nachweisen:  das  eine  ist  eine  astronomische  Darstellung,  die  mit 
dem   Text   nur   in    einem   ganz   losen    Zusammenhang    steht,    das 


1)  Bluntschli,  Memorabilia  Tisuricensia  (Zürich  1742)  S.  96  berichtet:  Anno  1544 
spielten  die  Lateinerknaben  auf  dem  Münsterhof  zu  Zürich  eine  Comedi  über  das  Leyden 
Christi.  Hier  kann  es  sich  aber  nicht  um  das  Ruofsche  Spiel  gehandelt  haben,  das  nach 
der  Angabe  des  Druckes  erst  1545  gespielt  worden  ist.  Oilenbar  hat  der  Dichter  durch 
sein  Werk  jenes  vorher  gespielte  Drama  ausstechen  wollen,  wie  er  dem  älteren  Teilspiel 
vorher  seine  Bearbeitung  des  gleichen  Dramas  entgegengesetzt  hat. 


Die  Bilder  zu  Bircks  „Susanna'' 


467 


andere,  das  Bild  der  Ölbergszene,  ein  Gegenschnitt  nach  Dürers 
Kupferstichpassion.  Auch  für  die  noch  verbleibenden  vier  Bilder 
—  sie  rühren  nicht  von  wirkHchen  Künstlern  her;  bei  zweien  ist 
die  Hand  eines  sonst  für  Froschauer  arbeitenden  Meisters  un- 
verkennbar —  läßt  sich  unschwer  zeigen,  daß  kein  besonders  enger 
Zusammenhang  zwischen  der  bildhchen  Darstellung  und  Ruofs  Text 
besteht;  mit  dem  Theater  hat  das  Ganze  keinesfalls  etwas  zu 
schaffen.  Das  Gleiche  gilt  auch  von  den  künstlerisch  sehr  rohen 
Holzschnitten  des  Susannadruckes:  die  Zahl  der  Bilder  ist  hier 
etwas  größer  —  es  sind,  abgesehen  von  dem  Bilde  des  Kolmarer 
Herolds,  fünf.  Aber  das  Szenenbildprinzip  ist  auch  hier  nicht  durch- 
geführt.   Die  Gerichtszenen  sind  eine  üble  Nachahmung  der  ganz 


Abb.  105.     J.  Ruof,  Job  (Fließ).     Halle  der  Kinder  Jobs. 


untheatralischen  Gerichtsszenen  aus  dem  Passionsspiel,  und  die 
Darstellung  im  einzelnen  steht  sogar  mit  dem  gedruckten  Text  so 
entschieden  im  Widerspruch,  daß  man  an  eine  Übereinstimmung 
mit  dem  gesehenen  Bilde  der  Aufführung  unmöglich  denken  kann. 
Für  eine  Berücksichtigung  des  Theatralischen  scheint  vielleicht  der 
Umstand  zu  sprechen,  daß  Susanna  in  der  Badeszene  bekleidet  er- 
scheint, —  man  könnte  annehmen,  daß  bei  der  Vorstellung  aus 
Gründen  der  Dezenz  die  Entschleierung  nicht  vorgeführt  worden  sei. 
Tatsächlich  aber  läßt  sich  das  Gleiche  auf  manchen  Susannendar- 
stellungen der  bildenden  Kunst,  z.  B.  bei  Lukas  von  Leyden  nach- 
weisen, —  auch  hier  haben  wir  also  keinerlei  theatralische  Aus- 
beute. 

Eine  letzte  Hoffnung  bleibt  übrig.  Wenn  auch  nach  den  eben 
gebotenen  Ermittlungen  alle  diese  Holzschnitte,  selbst  auch  die  der 
zuletzt  betrachteten  Gruppe,  für  die  Darstellung  des  theatrahschen 

30  * 


468 


Die  Kostüme  der  Ruof-Frießschen  Holzschnitte. 


Raumes  nichts  hergeben,  so  könnten  sie  doch  vielleicht  etwas  bieten 
für  die  Kostüme,  die  bei  den  Aufführungen  der  Ruof sehen  Stücke 
verwendet  wurden,  und  für  die  Gebärdensprache  der  Darsteller. 
Aber  auch  diese  Hoffnung  erweist  sich  bei  näherem  Zusehen  als 
irrig.     Für    die    theatralische    Gebärde    liefern    die    Bilder   schon 


Abb.  100.     J.  Ruof,  Job  (P'rieß).     Job  in  seiner  Halle  beim  Schmaus. 


Abb.   107.     J.  Ruof,  Job  (Frieß).     Job  empfängt  die  schlimmen  Nachrichten. 

deswegen  kein  Material,  weil  auf  ihnen,  mit  Ausnahme  etwa  der 
Schreckensmeldung  auf  Abb.  107,  bezeichnende  Gesten  kaum  zu 
sehen  sind.  Und  das  Kostüm  weicht,  wenn  wir  es  mit  den  Trachten 
auf  nicht  dramatischen  Züricher  Holzschnitten  vergleichen,  in 
keinem   charakteristischen  Punkte   von   ihnen   ab.    Ein  Umstand 


Die  Kostüme  der  Ruof-Frießschen  Holzschnitte. 


469 


allerdings  könnte  zunächst  die  Meinung  erwecken,  daß  für  das 
Theaterkostüm  hier  doch  etwas  zu  holen  sei.  Auf  den  Bildern  des 
Jobdruckes,  die  den  Helden  in  seinem  Elend  auf  dem  Misthaufen 
darstellen  fAbb.  108  u.  109i,  wird  er  uns  nackt  gezeigt,  und  der 
ganze  Körper  ist  mit  Flecken  bedeckt,  die  den  Aussatz  kenn- 
zeichnen sollen.  An  sich  braucht  nun  freilich  noch  nicht  ange- 
nommen zu  werden,  daß  auf  dem  Theater  tatsächlich  Jobs  Nackt- 
heit und  Aussatz  vorgeführt  worden  seien.  Hans  Sachsens  Hiob- 
drama  bietet  in  der  Beziehung  keinen  sichern  Anhalt:  als  sein 
Hiob  die  Bühne  betritt,  um  sich  auf  den  Misthaufen  zu  setzen, 
schreibt  die  szenische  Bemerkung  nur  vor,  daß  er  an  zweijen 
Krücken  kommt,    und  als   er  dann  später    nach    der  Versöhnung 


Abb.  108.     J.  Ruof,  Job   (Frieß).     Job  von  Teufeln  gequält;  Job  und  sein  Weib. 

mit  Gott  wieder  auf  der  Szene  erscheint,  heißt  es:  gehet  ein, 
wol  gekleidt,  woraus  mehr  hervorzugehen  scheint,  daß  sein  Elend 
vorher  durch  ein  ärmliches  Gewand  angedeutet  war.  In  Ruofs  an 
szenischen  Bemerkungen  so  armem  Spiel  finden  wir  in  dieser  Hin- 
sicht gar  keine  Angaben.  Immerhin  ergibt  sich  aus  dem  ge- 
sprochenen Text,  daß  er  vor  den  Augen  des  Publikums  seine  ICleider 
ablegt,  und  so  kann  er  sehr  wohl  unter  ihnen  jene  „Leibkleider" 
getragen  haben,  deren  theatralische  Verwendung  wir  in  anderm 
Zusammenhange  (o.  S.  116)  erwähnt  haben.  Es  läßt  sich  aber 
auch  der  direkte  Nachweis  liefern,  daß  gerade  Hiob  auf  der  Bühne 
des  16.  Jahrhunderts  in  solchem  Leibkleide  und  mit  den  er- 
wähnten Aussatzflecken  vorgeführt  worden  ist.  In  dem  an  the- 
atergeschichtlich wichtigen  Szenenanweisungen  auch  sonst  so 
reichen  Jobdrama  des  J.  Narhamer  vom  Jahre  1546  heißt  es  ffol. 
Cia)  ausdrücklich:  Do  gehen   beide  Teuffei  zu  Job,  .  .  .  zihen  ihn 


470 


Die  Kostüme  der  Ruof-Frießschen  Holzschni'te. 


aus  I  So  steht  denn  Job  auff  I  und  hat  ein  gemolt  Leinenkleidt 
am  Leib  I  wie  das  bletericht  wer.  Ebenso  wird  er  wohl  auch 
auf  Ruofs  Bühne  dargestellt  worden  sein;  also,  wird  man 
schließen ,  berücksichtigen  die  dem  Frießschen  Druck  beigege- 
benen Holzschnitte  in  bezug  auf  das  Kostüm  die  theatralische 
Wirklichkeit.  Dieser  Schluß  wäre  aber  doch  voreilig;  denn  wir 
haben  ja  hier,  wo  unsere  Betrachtung  ergeben  hat,  daß  diese  Holz- 
schnitte im  großen  und  ganzen  durchaus  rein  bildkünstlerischen 
Charakter  haben,  zuvörderst  die  Frage  zu  beantworten,  ob  es  sich 
in  dem  einen  zunächst  scheinbar  abweichenden  Punkte  nicht  etwa 
um  etwas  auch  in  der  bildenden  Kunst  durchaus  Übliches  handelt. 
Und  tatsächlich  zeigt  sich,  daß  zwar  keineswegs  überall  auf  den 
Jobdarstellungen  der  Held  mit  den  Aussatzflecken  vorgeführt  wird; 


Abb.  109.     J.  Riiof,  Hiob  (Frieß).     Hiob  und  seine  Freunde. 


wir  finden  sie  aber  z.  B.  bei  Dürer  und  auf  zwei  Holbeinschen 
Holzschnitten,  auf  deren  einem  Job  sogar  auch  wie  in  dem  Frieß- 
schen Druck  mit  übereinander  geschlagenen  Beinen  dasitzt:  hier 
wird  es  sich  wohl  um  unmittelbaren  Zusammenhang  handeln,  da 
unter  den  Züricher  Künstlern  der  Einfluß  Holbeins  im  allgemeinen 
sehr  stark  ist.  Job  kann  also  bei  der  Aufführung  auf  dem 
Münsterhofe  sehr  wohl  ganz  so  ausgesehen  haben,  wie  ihn  die 
Frießsche  Illustration  zeigt;  aber  das  ist  eine  zufällige  Überein- 
stimmung, und  sie  beweist  nichts  für  den  theatralischen  Charakter 
der  sonstigen,  hier  dargestellten  Kostüme.  Und  ganz  ähnlich  steht  es 
mit  der  Ausstaffierung  der  Teufel,  die  den  Job  strafen  i). 

1)  Doch  rüclven  diese  Teufelsl<ostüme  (Abb.  108)  schon  thu-uni  noch  etwas  weiter 
von  der  Thealerwirklichlieit  ab,  weil  zwar,  wie  wir  sehen  werden  (u.  S.  495),  die  Tier- 
klauen 7Aun  Theaterl<ostüm  des  Teufels  gehören,  die  Vogel  b  eine  aber  kaum  darstellbar  sind. 


Die  Heroldsbilder  und  ihr  theatergescliichtlicher  Wert. 


471 


Wenn  wir  somit  durch  diese  Einstellung  der  Frießschen  Drucke 
in  den  kunstgescliichtlichen  Gesamtzusamnienhang  auch  bei  den 
Bildern  zu  Ruofs  Dramen  zu  einem  in  theatergeschichtlicher  Be- 
ziehung völlig  negativen  Resultat  kommen,  so  nehmen  wir  von 
diesem  allgemeinen  Urteil  zwei  Holzschnitte  aus.  Es  sind  die 
beiden  Heroldsbilder,  die  zuerst  in  dem  Druck  des  Ruofschen  Teil- 
spiels zu  finden  sind  und  die  dann  im  Passionsdrama  noch  ein- 
mal erscheinen,  während  der  Job  ')  nur  das  erste  bietet.  Zu  diesen 
beiden  Bildern  (Abb.  110  u.  111)  steht  offenbar  der  Autor  in  einer 
besonders  nahen  Beziehung:  sie  wird  schon  dadurch  deutlich,  daß 
der  Knabenherold  des  zweiten  einen  mit  Ruofs  Wappen  geschmück- 
ten Schild  trägt,  und  es  ist  ferner  sehr  auffallend,  daß  beide 
Bilder  offenbar  nicht  von  derselben  Hand  herrühren,  die  die  ganz 


Abb.   110.     J.  Ruof,  Teil  (Frieß).     Herold  und  Actor. 


untheatralischen  Holzschnitte  für  das  eigentliche  Tellspiel  herge- 
stellt hat:  hier  ist  ein  Künstler  von  einem  immerhin  etwas  höheren 
Range  an  der  Arbeit  gewesen;  endlich  besteht  eine  sehr  auffallende 
Ähnlichkeit  zwischen  diesen  beiden  Holzschnitten  und  den  zwei 
ersten  Zeichnungen  in  der  Handschrift  des  Ruofschen  Spiels  „Der 
Weingarten  des  Herrn"  (s.  u.  Abb.  116,  S.  483),  zu  deren  Herstellung, 
wie  wir  gleich  sehen  werden,  der  Verfasser  entschieden  in  ganz 
enger  Beziehung  gestanden  haben  muß.  So  liegt  es  von  vorn- 
herein nahe,  für  diese  Bilder,  die  ja  auch  nicht,  wie  die  übrigen 
Holzschnitte,  einen  Vorgang  epischen  Charakters,  sondern  etwas 
spezifisch  Theatralisches,  nämlich  die  Erscheinung  der  Prolog- 
sprecher, vorzuführen  haben,  eine  Berücksichtigung  der  theatra- 
lischen Realität  anzunehmen.  Freilich,  nach  einem  Abbild  der  Auf- 
führungslokalität dürfen  wir  auch  hier  nicht  suchen :  um  eine  Be- 


1)  Und  später  der  Bindersche    ^Acolastus". 


472 


Die  Kostüme  der  Heroldsbilder. 


rücksichtigung  der  eigentlichen  Vorstellung  kann  es  sich  auch 
schon  darum  nicht  handeln,  weil  auf  beiden  Bildern  mehrere 
bürgerlich  gekleidete  Personen  zu  sehen  sind,  die  mit  der  Auf- 
führung gar  nichts  zu  tun  haben ;  so  nahe  aber,  daß  es  mit  aufs  Bild 
gekommen  wäre,  kann  das  Publikum  den  Prologsprechern  unmög- 
lich gekommen  sein,  und  so  könnte  man  höchstens  an  die  Wieder- 
gabe einer  Art  Generalprobe  denken,  bei  der  auch  Unbeteihgte 
ganz  in  die  Nähe  der  Darsteller  gelangt  wären.  Der  Hintergrund 
ist  durchaus  der  übliche:  eine  Landschaft,  wie  sie  die  Zuschauer 
keinesfalls  gesehen  haben  können;  und  zu  einer  Beobachtung  der 
Gebärde  bieten  die  Bilder  keine  Gelegenheit:  die  Sprecher  haben 
auf  beiden  Bildern  die  Hände  nicht  frei,  und  der  Text  der  Prologe 


Abb.  111.     J.  Ruof,  Teil  (Frieß).    Knabenherold,  Actor  und  Publikum. 

gibt   auch   keine   Gelegenheit,   den   Zustand  der  Seele  zu  körper- 
lichem Ausdruck  zu  bringen. 

Wohl  aber  dürfen  wir  theatralische  Wirklichkeit  hier  für  das 
Kostüm  annehmen.  Jener  schon  erwähnte  Schild  mit  dem 
Wappen  des  Verfassers  ist  etwas  so  Eigenartiges,  daß  man  ihn 
bei  einer  vom  Dichter  selbst  veranlaßten  bildlichen  Darstellung  um 
so  weniger  für  ein  bloßes  Phantasiegebilde  halten  wird,  als  dieser 
Dichter  zugleich  jedenfalls  auch  Regisseur  bei  der  Aufführung  ge- 
wesen ist.  Auch  der  Heroldsstab,  der  überall  die  gleiche  Form  hat, 
entspricht  sicherlich  der  Realität  der  Aufführung.  Ferner  aber 
fällt  im  Gegensatz  zu  der  vorher  gemachten  Beobachtung,  daß  die 
Kostüme  der  sonstigen  Dramenillustrationen  sich  von  denen  der 
gleichzeitigen  Züricher  Bilder  nicht  wesentlich  unterscheiden,  das 
Kostüm  des  Herolds  ganz  aus  dem  Alltäglichen  heraus  und  stimmt 
in  seiner  phantastischen  Art,  ohne  daß  eine  völlige  Identität  vor- 
läge, doch  im  Gesamtcharakter  so  sehr  mit  den  Trachten  der 
Herolde  in  den  Weingartenzeichnungen  überein,  daß  wir  auch  hier 


Herold  und  Actor.  473 

sicher  sind,  es  mit  der  Wiedergabe  eines  wirklichen  Theatergebildes 
zu  tun  zu  haben;  bei  dem  Knabenherold  des  zweiten  Bildes  ist 
wenigstens  die  Kopfbedeckung  ganz  anders  als  die  Hüte  und 
Mützen  der  gewöhnlichen  Züricher  Illustrationen.  Dieser  Ermittlung 
scheint  freilich  eines  zu  widersprechen.  Die  modernen  Beschrei- 
bungen dieser  Bilder i)  sprechen  immer  von  zwei  Herolden,  und 
tatsächlich  sind  auf  den  Holzschnitten  ebenso  wie  auf  der  ent- 
sprechenden Zeichnung  der  Weingartenhandschrift,  abgesehen  von 
den  Nebenpersonen,  zwei  Männer  zu  sehen.  Wenn  die  bisher  hier 
noch  nicht  behandelte  zweite  Gestalt,  die  einen  Stab  in  der  einen 
und  ein  aufgeschlagenes  Buch  in  der  andern  Hand  hält,  wirklich 
einen  Herold  darstellte,  so  wäre  die  vorgetragene  Behauptung  von 
dem  theatralischen  Charakter  des  Heroldskostüms  hinfällig;  denn 
diese  zweite  Gestalt  trägt  die  gewöhnliche  Züricher  Bürgertracht. 
Tatsächlich  kann  es  sich  hier  aber  gar  nicht  um  zwei  Herolde 
handeln,  denn  in  keinem  der  Ruof sehen  Dramen  treten  zwei  er- 
wachsene Herolde  auf;  im  Tellspiel  und  im  „Weingarten"  nimmt 
vielmehr  nach  dem  ersten  Herold  ein  Knabe  als  zweiter  Herold 
das  Wort,  und  für  ihn  ist  denn  auch  an  beiden  Stellen  ein  be- 
sonderes Bild  beigegeben.  Wer  aber  ist  die  zweite  Gestalt  auf 
dem  ersten  Bild?  Sie  stimmt  auf  den  Holzschnitten  des  Tell- 
druckes  mit  der  Darstellung  in  der  Handschrift  merkwürdig  genau 
überein,  ja  sogar  eine  gewisse  Porträtähnlichkeit,  wenigstens  in  der 
Anlage  des  Bartes,  wird  sich  erkennen  lassen.  Und  so  scheint  mir 
nur  eine  Erklärung  möglich  zu  sein.  Diese  zweite  Gestalt  ist  kein 
Herold,  sondern  der  „Actor",  d.  h.  der  Regisseur,  und  da  die 
Weingartenhandschrift 2)  an  der  Spitze  des  Personenverzeichnisses 
ausdrücklich  die  Angabe  macht:  Actor  M.  Jacob  Rüff,  kann  es 
sich  auch  auf  den  Holzschnitten  wohl  nur  um  den  Dichterregisseur 
handeln.  Wir  kommen  hier  also  schließlich  doch  zu  einer  theater- 
geschichtlich sehr  interessanten  positiven  Ermittlung.  Der  Regisseur 
steht  bei  den  Aufführungen  mit  auf  der  Szene,  vor  allem  offen- 
bar, um  die  Rolle  des  Souffleurs  zu  spielen:  er  hat  das  aufge- 
schlagene Buch  in  der  Hand  und  ist  auf  solche  Weise  in  jedem 
Moment  in  der  Lage,  den  Darstellern,  wenn  sie  stecken  bleiben, 
nachzuhelfen.  Bei  den  endlos  langen  Ansprachen,  die  der  erwach- 
sene Herold  und  der  Knabenherold  zu  halten  haben,  ist  ein  solches 
Nachhelfen  besonders  nötig,  und  so  kommt  es,  daß  der  Regisseur 
hier  mit  auf  die  Bilder  gekommen  ist;  denn  auch  auf  dem  Bilde 
des  Knabenherolds  fehlt  er,  wenigstens  im  Teildruck,  nicht.  Wer 
sich  zu  dieser  Erklärung  nicht  entschließen  kann,  der  muß  schon 
jene    andere,    oben    beiläufig    aufgestellte    Theorie    vertreten,    daß 


1)  Könnecke  S.  92;  Schweizerische  Schauspiele  3,  S.  305. 

2)  Schweizerische  Schauspiele  3,  S.  310. 


474  Die  Zeichnungen  zu  Ruofs  Weingartenspiel. 

diese  ersten  Bilder  sich  auf  die  Generalprobe  beziehen:  daß  hier 
der  Regisseur  neben  den  Prologsprecher  gestellt  werden  kann,  ist 
wohl  nicht  befremdend. 

Die   Reihe  der    schweizerischen  Dramenillustrationen,    die    im 
ausgehenden  15.  Jahrhundert  durch  Züricher  Handzeichnungen  er- 
öffnet worden  war,  wird  nun  in  der  Mitte   des   16.  Jahrhunderts 
ebenfalls  durch   Züricher  Handzeichnungen  beschlossen.    Es  han- 
delt sich  um  die  Handschrift  eines  Dramas,  dessen  Text  auf  Grund 
ihres   Wortlautes    neuerdings    herausgegeben    und    deren   theater- 
geschichthche  Bedeutung  durch  die  Veröffentlichung  verschiedener 
ihrer  zahlreichen  Illustrationen  betont  worden  ist:    um  das  Manu- 
skript  von   Jakob    Ruofs    zweitem    Drama:    „Der  Weingarten    des 
Herrn".     Immerhin    bleiben  wir   mit   den   in    der  Handschrift  ent- 
haltenen Zeichnungen  in  dem  zuletzt  behandelten  Zusammenhang, 
da  der  Verfasser  des  Werkes  ja  der  gleiche  ist,  zu  dessen  Arbeiten 
die    für    unsere    Frage    wichtigsten    Holzschnitte    der    Frießschen 
Druckerei    angefertigt    waren.       Anderseits    aber   treten    wir,    in- 
dem   wir    nun   von    den  Zeichnungen   in   dieser  Handschrift   han- 
deln,  auf    einen   Boden,    der   eine    stärkere    theatergeschichtliche 
Ernte     verspricht.       Denn     während    wir    in     den    Holzschnitten 
der  Frießschen   Offizin    erst   nach   langem   Suchen    einige    wenige 
Elemente  herausfanden,  die  mit  einer  gewissen  Sicherheit  auf  die 
wirkliche    Aufführung    zurückgeführt    werden    konnten,    gibt    das 
Manuskript  alsbald  verschiedene  Anhaltspunkte  dafür,  daß  wir  hier 
mit  entschiedenem  Recht  nach  theatergeschichthchen  Bestandteilen 
suchen  dürfen.    So  ist  offenbar  gleich  die  erste  Höllendarstellung i) 
mehr  als  ein  Element  der  gewöhnlichen  Bücherillustration:  hinter 
dem  Tierrachen,  der  dem  Beschauer  zunächst  entgegentritt,  erhebt 
sich  eine  Bretterbude,  aus  der  ein  Teufel  hervorlugt;  sie  trägt,  wie 
man  sehen  kann  (vgl.  Abb.  112,  S.  478),  durchaus  nichts  Bildkünstle- 
risches an  sich  und  vermag  die  Phantasie  des  Betrachters   gewiß 
in    der  Ausmalung   der   hinter   dem   Rachen   sich   bergenden  Höl- 
lenqualen   nur   zu   beschränken,    nicht    aber   ihr   neuen    Stoff   zu 
geben,  —  kein  Zweifel,   diese  Bude  ist  nur   aufs  Bild  gekommen, 
weil   in   den  Aufführungen  der  Höllenrachen  so  dargestellt  wurde. 
Man    hat   weiter   darauf   aufmerksam    gemacht,    daß   die  wenigen 
in  dem   Drama   auftretenden  Frauen:  die  beiden  Mägde,  die  z.  B. 
auf   Zeichnung    15—17    der   Wyßschen    Zählung    erscheinen,    ent- 
schieden männliche  Gesichter  tragen,  und  hat  das  als  ein  Symptom 
dafür  in  Anspruch   genommen,   daß  der  Zeichner   die  tatsächliche 
Darstellung  berücksichtigt  hat,   bei  der  auch  die  Frauenrollen  von 

1)  Nr.  9  der  Zählung  in  der  Ausgabe  des  Weingartenspicls  von  Wyß.  Leider  sind 
die  von  W.  gebotenen  Bilderbeschreibungen  teilweise  recht  ungenau,  irreführend  oder  ge- 
radezu falsch. 


Die  Entstehungsgeschichte  der  HandschriFt.  475 

Männern  gespielt  worden  sind;  auch  dieses  Argument  läßt  sich 
hören,  obwohl  wir  freilich,  um  sieher  zu  gehen,  andere  Frauendar- 
stellungen des  gleichen  Künstlers  daneben  legen  müßten:  der 
männliche  Schnitt  jener  Gesichter  könnte  ja  auch  auf  ein  künst- 
lerisches Unvermögen  des  Zeichners  zurückzuführen  sein.  Sehi- 
bemerkenswert  ist  ferner  die  entschiedene  Übereinstimmung  der 
Heroldsbilder  in  der  Handschrift,  auf  denen  auch  der  Dichter- 
regisseur vorgeführt  wird,  mit  jenen  Holzschnitten  des  Ruofschen 
Teilspiels,  die  uns  als  unanzweifelbare  Zeugen  einer  wirklichen 
Aufführung  galten,  und  so  sind  es  auch  die  Bilder  der  Handschrift, 
wenn  man  nicht  etwa  annehmen  will,  daß  diese  nur  durch  eine 
rein  illustrative  Nachbildung  jener  Holzschnitte  zustande  gekommen 
seien.  Weiter  sind  diese  Zeichnungen  von  vornherein  weniger  der 
theaterfremden  Anlehnung  an  entsprechende  Leistungen  der  bilden- 
den Kunst  verdächtig,  weil  es  sich  hier  nicht  wie  im  „Hiob"  und  im 
Teilspiel  um  Stoffe  handelt,  die  in  der  bildenden  Kunst  schon  eine 
so  entschiedene  Tradition  besaßen,  daß  der  Zeichner  von  Dramen- 
illustrationen in  manchen  Szenen  ohne  weiteres  einigermaßen  in 
diese  Tradition  hineingedrängt  wurde.  Das  Gleichnis  vom  „Wein- 
garten des  Herrn"  ist  von  den  Bildkünstlern  überhaupt  kaum  und 
jedenfalls  schwerhch  vor  diesen  Züricher  Zeichnungen  gestaltet 
worden. 

Aber  indem  wir  so  zugeben  müssen,  daß  der  Zeichner  irgend- 
wie sich  dessen  bewußt  wurde,  er  habe  den  Text  einer  Aufführung 
zu  illustrieren,  ist  damit  doch  noch  nichl  bewiesen,  daß  er  ganz 
oder  teilweise  ein  Abbild  der  wirklichen  Aufführung  bot,  die  Ruofs 
Drama  nach  den  Mitteilungen  des  Titelblattes  am  26.  Mai  1539  er- 
lebt hat.  Zur  Lösung  der  damit  aufgeworfenen  Frage,  von  deren 
Entscheidung  es  natürlich  auch  abhängt,  ob  wir  eine  sehr  starke 
Berücksichtigung  des  Theatralischen  werden  annehmen  müssen, 
können  wir  nur  gelangen,  wenn  wir  über  die  Entstehungsgeschichte 
der  Handschrift  ins  Klare  kommen. 

Ohne  Frage  stimmt  es  uns  zunächst  für  die  Annahme  einer 
nahen  Beziehung  zwischen  der  Aufführung  und  der  Illustration  des 
Dramas  günstig,  daß  wir  erkennen:  die  Handschrift  steht  im  näch- 
sten Verhältnis  zu  dem  Autor  selbst,  sie  ist,  wie  sich  aus  der  Über- 
einstimmung ihrer  Schrift  mit  dem  links  oben  im  Deckel  eingetra- 
genen Namen  M.  Jacob  Raff  erkennen  läßt,  von  dem  Dichter  selbst 
geschrieben!),  und  er  hat  überall  den  Platz  für  die  Illustrationen 
freigelassen. 

1)  Wieso  Wyß  S  140  erklärt,  die  Handschrift  sei  nicht  Ruofs  Autograph,  vermag 
ich  nicht  zu  begreifen.  Die  Notiz  W.  s.  freilich:  „Auf  der  Innern  Seite  des  Deckels  steht: 
M.  Jacob  Riiff.  Ex  Libris  Andres  Kuncklerij  sangallensis.  Emptus  Constantiae  Anno  1597 .  . .", 
könnte  die  Meinung  erwecken,  daß  die  Handschrift  ja  gar  nicht  von  Ruof  geschrieben 
sein  kann,  weil  dieser  1597   schon  lange  tot  war.     Tatsächlich  aber  heben  die  Worte  Ex 


^'^Q  Die  Entstehungsgeschichte  der  Handschrift. 

Die  Frage  ist  nun  weiter,  in  welche  Zeit  wir  die  Entstehung 
der  Handschrift  zu  verlegen  haben.  Das  Weingartenspiel  ist,  wie 
erwähnt,  im  Jahre  1539  aufgeführt  worden;  so  liegt  es  gewiß  am 
nächsten,  anzunehmen,  daß  damals  auch  die  Handschrift  entstan- 
den sei.  Diese  Feststellung  wäre  insofern  von  großer  Wichtigkeit, 
als  wir  damit  einerseits  die  Zeichnungen  als  den  unmittelbaren 
Niederschlag  des  theatrahschen  Erlebnisses  oder  wenigstens  als 
eine  sehr  frische  Erinnerung  in  Anspruch  nehmen  könnten  und 
als  anderseits  der  ganze  Gedanke  der  durchgeführten  Dramenillu- 
strationen nicht  auf  den  Drucker  Frieß,  sondern  auf  den  Autor 
Ruof  zurückgeführt  werden  müßte.  Indessen  schon  der  letztge- 
nannte Umstand  macht  die  Datierung  der  Handschrift  in  das  Jahr 
1539  von  vornherein  unwahrscheinlich:  wir  haben  vorher  fest- 
gestellt, daß  der  Drucker  Frieß  in  eigener  Entwicklung  und  in  An- 
lehnung an  den  Straßburger  Drucker  Frölich  auf  die  Ausschmückung 
der  Dramen  mit  einer  größeren  Anzahl  von  Illustrationen  gekom- 
men ist.  Bei  genauerem  Zusehen  zeigt  sich  dann  aber  weiter,  daß 
der  früheste  Termin  für  die  Entstehung  auch  nicht  das  Jahr  1540 
sein  kann,  von  dem  in  dem  gereimten  Vorwort  die  Rede  ist  —  da- 
mit wäre  in  den  beiden  oben  genannten  Beziehungen :  zur  Auffüh- 
rung und  zum  Drucker  ja  auch  nichts  Entscheidendes  geändert  — 
sondern  eine  wesentlich  später  liegende  Zeit.  In  jenem  Vorwort 
spricht  Ruof  von  dem  auf  die  Aufführung  folgenden  Jahre  als  von 
derjenigen  Zeit,  deren  Ertrag  an  Wein  und  Früchten  gewisser- 
maßen die  Güte  seiner  theatralischen  Weinpflanzung  offenbaren 
könnte;  er  spricht  aber  von  diesem  Jahr  1540  offenbar  als  von 
einer  ebenfalls  längst  vergangenen  Zeit: 

Jm  jaar,  do  man  hat  flertzgi  zeltt, 

koiifft  man  wyn,  brot  vmb  ringes  geht. 

der  best  und  aller  kostlichst  wyn 

jm  selben  jaar  ist  gwachsen  gsyn, 

auch  fit  deß  selb,  ein  großer  nutz, 

mitt  allen  fruichten  ein  vberfluß. 

dann  jn  dem  sumer  was  so  heiß, 

daß  ich  nitt  dänck,  kein  jaar  noch  weiß, 

jn  dem  kein  rägenn  syg  gesin, 

ald  minder  wätter  gfallen  jn, 

als  in  dem  jaar  mit  allen  fruichten. 
Endlich  weist  auch  der  Charakter  der  Zeichnungen  selber  auf 
eine  etwas  spätere  Periode;  am   ehesten  erinnern  sie  etwa  an  die 


Libiis  .  .  .  völlig  neu  an  und  rülircn  von  einer  ganz  andern,  jüngeren  Hand  her,  und  so- 
lange nicht  durch  die  Auffindung  eines  andern  Ruofschen  Autographen  —  für  mich  ist 
in  den  Züricher  Archiven  nach  Ruofschen  Manuskripten  vergeblich  gesucht  worden  — 
gezeigt  worden  ist,  daß  jene  Nanienseintragung  nicht  von  dem  Dichter  seihst  vorgenonnnen 
worden  ist,  müssen  wir  doch  wohl  ihre  Eigenhändigkeit  behaupten. 


Entstellung  der  Handschrift.  Untbeatralische  Elemente  der  Zeichnungen.  477 

ersten  Zeichnunoren  in  Frieß'  Druck  der  Historie  von  Octavian,  die 
ja  erst  am  Ende  der  40  er  Jahre  entstanden  sind.  VermutHch  aber 
denken  wir  noch  besser  an  das  nächste  Jahrzehnt,  in  die  Zeit, 
als  Frieß  von  Zürich  fortgezogen  und  Ruof  genötigt  war,  zu  dem 
Verleger  Froschauer  überzugehen.  Da  dieser,  wie  der  Druck  des 
Ruof  sehen  Adamdramas  zeigt,  nicht  geneigt  war,  solchen  Aus- 
gaben dramatischer  Werke  Illustrationen  beizugeben,  entschloß  sich 
Ruof  wohl,  von  seinem  noch  ungedruckten  Weingartenspiel  wenig- 
stens eine  schön  illustrierte  Handschrift  herzustellen.  Daß  sie 
nicht  bestimmt  war,  mit  ihren  Bildern  die  Vorlage  für  einen  Druck 
herzugeben,  so  daß  also  die  Zeichungen  zur  Grundlage  für  den 
Holzschnitt  hätten  dienen  sollen,  zeigt  wohl  nicht  nur  das  Format 
des  Manuskriptes,  das  in  stattlichem  Quart  gehalten  ist,  während 
alle  die  Züricher  Dramendrucke  das  übliche  knappe  Oktav  haben, 
sondern  besonders  der  Umstand,  daß  die  einzelnen  Zeichnungen 
nicht  wie  es  für  den  Druck  nötig  gewesen  wäre,  von  gleichem 
Format,  sondern  vielmehr  ganz  verschieden  groß  sind.  Ein  ter- 
minus  post  quem  non  ist  das  Jahr  1558:  denn  da  ist  Jakob  Ruof 
gestorben. 

Durch  die  so  gewonnene  Datierung  ergibt  sich  jedenfalls  das 
Eine  mit  Sicherheit,  daß  wir  es  nicht  mit  einer  in  unmittelbarster 
zeitlicher  Nähe  der  wirklichen  Aufführung  gewonnenen  Fixierung 
der  Theaterverhältnisse  zu  tun  haben  können,  sondern  im  günsti- 
gen Fall  nur  mit  einer  ganz  späten,  gewiß  vielfach  schon  getrüb- 
ten Erinnerung  oder  aber  auch  nur  mit  dem  Versuch,  bei  der  Illu- 
stration des  Dramas  einigermaßen  darauf  Rücksicht  zu  nehmen, 
wie  eine  Aufführung  ungefähr  ausgesehen  haben  würde.  Es  wird 
sich  jedenfalls  also  auch  nicht  um  die  Theaterverhältnisse  der 
dreißiger,  sondern  um  die  der  fünfziger  Jahre  des  16.  Jahrhunderts 
handeln.  Ein  bewußtes  Streben,  das  wirkhche  Bild  einer  Inszenie- 
rung und  nichts  als  dieses  zu  bieten,  liegt  jedenfalls  nicht  vor;  ja, 
der  Künstler  ist  sichtlich  hie  und  da  einmal  auch  geradezu  ins  Un- 
theatralische verfallen.  So  strahlt  auf  mehreren  Bildern  (vgl.  z.  B. 
u.  Abb.  112,  119,  120)  um  das  Haupt  des  Vaters  und  des  Sohnes 
der  Heihgenschein  —  ein  rein  illustratives  Mittel  und  wohl  ge- 
wählt, um  dem  Betrachter  der  Zeichnungen  die  beiden  Gestalten, 
die  sich  in  ihrer  Tracht  kaum  herausheben,  als  göttlich  zu  kenn- 
zeichnen. Auf  dem  Titelbild,  das  freilich  eine  eigentliche  Situation 
des  Dramas  überhaupt  nicht  darstellt i),  erscheint  oben  in  den 
Wolken  Gott  Vater  in  theatralisch  völlig  undarstellbarer  Art,  —  es 
ist  rein  zeichnerische  Zugabe:  im  Text  kommt  eine   derartige  Er- 


1)  Es  ist  bei  Wyß  S.  141  ganz  falsch  erklärt:  die  links  stehenden  Gestalten  sind 
nicht  „Papst  und  Kardinal,  zwei  Herolde",  sondern  Vater  und  Sohn  sowie  Titus  und 
Vespasianus. 


478 


Theatralisches:  der  Schauplatz. 


scheinung  Gottes  überhaupt  nicht  vor.  Anderseits  aber  haben  die 
im  Beginn  dieser  Erörterung  zusammengestellten  Momente  ergeben, 
daß  eine  gewisse  Berücksichtigung  des  Theatralischen  in  den  Bildern 
doch  vorliegen  muß,  und  so  werden  wir  ihre  Gesamtheit  nun  noch 
daraufhin  zu  prüfen  haben,  in  welchen  Punkten  etwa  Aufführungs- 
elemente mit  auf  die  Zeichnungen  gelangt  sind.  Wie  gewöhnlich 
kommen  Schauplatz,  Kostüm  und  Gebärden  in  Frage. 

Daran,    daß   der  Zeichner   auch   das   theatralische   Wesen*^des 
Schauplatzes   mit   herangezogen  haben    könnte,   darf  man  hier 


Abb.  112.     J.  Ruof,  Weingartenspiel,  Höllenrachen  zu  Akt  2  (Wyß  N.  9). 

jedenfalls  eher  als  bei  den  Holzschnitten  der  Frießschen  Drucke 
denken;  denn  jener  Hochgebirgshintergrund,  der  dort  sofort  den 
nicht-theatralischen  Charakter  offenbarte,  fehlt  hier  vollständig. 
Anderseits  aber  ist  hier  nicht  wie  auf  den  Lyoner  Terenzbildern 
und  auf  den  Holzschnitten  zu  Gengenbachs  Spiel  von  den  zehn 
Altern  ein  bretternes  Podium  abgebildet;  der  Boden,  auf  dem  die 
Personen  schreiten,  ist  vielmehr  mit  Gras  und  Kräutern  bedeckt 
und  zeigt  gelegentlich  auch  eine  leichte  Erhebung,  —  Dinge,  die 
wohl  kaum  für  den  Münsterhof  zutreffen,  auf  dem  1589  das  Wein- 
gartenspiel  dargestellt   worden    ist.     Daß  wir  in  der  Höllendarstel- 


Die  Hölle. 


479 


lung'),  die  dem  Anfang  des  zweiten  Aktes  beigegeben  ist  (Abb. 
112,  S.  478),  die  Nachbildung  eines  wirl<lichen  Dekorationsstücl^es 
vor  uns  haben,  wurde  schon  oben  betont;  daß  der  Künstler  aber 
nicht  unter  allen  Umständen  eine  solche  Abbildung  des  Theater- 
wirklichen  geben  wollte,  zeigt  das  Bild  der  Hölle  aus  dem  vierten 
Akt  (Abb.  113):  der  bretterne  Verschlag,  den  man  eigentlich  auch 
hier  sehen  müßte,  fehlt  an  dieser  Stelle;  ja,  ein  Vergleich  der  beiden 
Darstellungen  bestätigt  jene  chronologisch  gestützte  Annahme,  daß 
der  Künstler  kein   sicheres  Erinnerungsbild   an   die   theatralischen 


Abb.   113.    J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Höllenrachen  zu  Akt  i  (AVjiS  N.  53). 

Gebilde  von  der  Aufführung  her  in  der  Seele  getragen  haben  kann: 
die  beiden  Rachen,  in  deren  Bild  der  Hölleneingang  erscheint,  sind 
einander  nicht  gleich,  und  es  ist  ja  ferner  nicht  außer  Acht 
zu  lassen,  daß  die  Hölle  auch  auf  Gemälden  und  Holzschnitten, 
die  sicher  nichts  mit  dem  Theater  zu  tun  habend),  wie  früher 
so    auch    noch    im    16.  Jahrhundert,    z.    B.    bei   L.    Cranach    und 

1)  Die  Reproduktionen,  sämtlich  in  Originalgröfäe,  sind  nach  Aufnahmen  des  Photo- 
graphen H.  Lobers  in  Berlin  gegeben :  durch  die  Güte  der  Bibliotheksleitung  durfte  ich  die 
St.  Galler  Handschrift  wiederholt  hier  in  Berlin  benutzen.  —  Zur  Ergänzung  sind  die  bei 
Könnecke  S.  92  f.  wiedergegebenen  Zeichnungen  heranzuziehen. 

2)  Vgl.  aber  auch  die  Höllenrachen  auf  Foucquets  dem  Theatralischen  so  nahe 
stehender  Apolloniaminiatur. 


480 


Nichttlieatralischer  Charakter  der  Darstellungen  des  Weingartens. 


J.  Wächtlin,  als  gewaltiger  Tierrachen  dargestellt  wird.  Das  gleiche 
Verhalten  dem  Lokal  gegenüber:  ein  gewisses  Bemühen  bei  der 
Wiederkehr  derselben  Situation,  die  örtlichen  Verhältnisse  gleich- 
artig zu  gestalten,  anderseits  aber  doch  eine  Differenz  in  manchen 
Einzelheiten,  die  nicht  übersehen  werden  kann,  zeigt  auch  die 
Situation  des  Spiels,  in  der  es  sich  um  eine  besonders  charakte- 
ristische Bühnenanlage  gehandelt  haben  muß:  die  Darstellung  des 


^•^^  ik^J" 


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Abb.   114.     J.  Ruof,  Wintergartenspiel.     Titelzeiclmung  (Wyß  N.   1). 


Weingartens  selbst.  Wenn  man  Abbildung  114  und  Abbildung  115 
(S.  480/1)  nebeneinanderlegt,  erkennt  man,  daß  namentlich  in  der 
Anlage  der  Fenster  des  Hauses  und  des  Turmes,  die  in  den 
Weingarten  eingeschlossen  sind,  zwar  eine  annähernde,  aber 
durchaus  keine  völlige  Gleichheit  erzielt  worden  ist.  Aber  auch 
abgesehen  von  solchen  Differenzen  der  beiden  Bilder,  die  an  der 
theatralischen  Wirklichkeit  der  dargestellten  Anlage  zweifeln  läßt, 
gibt  die  Vorführung  des  Weingartens  in  diesen  Zeichnungen  über- 
haupt sehr  zu  denken.  Die  Art,  in  der  der  Schauplatz  des  Wein- 
gartenspiels  —   durchaus    nach    mittelalterlicher  Weise   —   einge- 


Niclittheatralischer  Charakter  der  Darstellungen  des  Weingartens. 


481 


richtet  gewesen  sein  muß,  läi^t  sicli  nach  den  Anforderungen,  die 
der  Text  an  die  Lage  der  einzelnen  Standorte  der  Personen  und 
ihre  Wege  zwischen  diesen  einzehien  Standorten  stellt,  durchaus 
erschließen.  Wir  geben  hier  (S.  482)  einen  Situationsplan,  ohne  den 
Versuch  zu  machen,  die  von  uns  rekonstruierte  Anordnung  im 
einzelnen  zu  begründen.  In  nebensächlichen  Punkten  mag  das 
Eine  oder  Andere  anders  gewesen  sein,  als  es  auf  unserer  Plan- 
skizze erscheint;  in  der  Hauptsache  und  im  besondern  in  der  Lage 


Abb.   115.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Weingarten  zu  Akt  2  (WyßN.  19). 

des  Weingartens  wird  schw^erlich  ein  Irrtum  vorliegen.  Und  da 
zeigt  sich  nun,  daß  wir  zwar  an  dem  Mangel  einer  Tür  in  dem 
auf  den  Zeichnungen  dargestellten  Zaun  keinen  Anstoß  zu  nehmen 
brauchen,  denn  diese  Tür  kann  nicht  dem  Turm  gegenüber,  son- 
dern nur  an  einer  der  Seiten  gelegen  haben,  die  nicht  mit  auf  die 
Bilder  gekommen  sind.  Völlig  unbegreifhch  aber  ist  die  ganze  Existenz 
des  Hauses,  das  außer  dem  Turm  in  den  Weingarten  mit  einbe- 
zogen ist.  Weder  die  Dichtung  selbst  noch  ihre  biblische  Quelle, 
die  beide  nur  den  Turm  erwähnen,  noch  endlich  irgendeine  thea- 
tralische Notwendigkeit  rechtfertigen  die  Aufnahme  dieses  Hauses; 
und  mitten   auf  dem  Münsterhof,   auf  dem   der  Weingarten,  nach 


Herrmann,  Theater. 


31 


482 


Nichttheatralischer  Charakter  der  Darstellungen  des  Weingartens. 


allen  Seiten  hin  frei,  aufgebaut  gewesen  sein  muß,  hat  schwerlich 
ein  solches  Haus  gestanden;  die  alten  Stadtpläne  geben  auch  nicht 
die  geringste  Veranlassung  zu  einer  entsprechenden  Annahme.  Es 
bleibt  nur  eine  Erklärung:  der  Zeichner  hat  an  einer  andern 
Stelle  des  Manuskriptes,  in  der  szenischen  Bemerkung  hinter  Vers 
2843,  gelesen :  Jetz  gond  die  dry  jns  haß  und  hat  es  für  nötig  ge- 
halten, seine  Erinnerung  an  diese  Erwähnung  eines  Hauses  auf  den 
beiden  einzigen  Bildern,  die  eine  nennenswerte  Darstellung  des 
Lokalen  boten,  durch  die  Aufnahme  dieses  gänzlich  deplazierten 
Hauses  zu  betätigen.    So  ergibt  sich,  daß,  wie  gewöhnlich,  so  auch 


vr„„i,i 

Engel    Vater    Sohn 

1 

Baumeister 

Himmel 

Handbub    ||                       | 

Moses 
Aaron 

.2 

CS 

> 

C 

CO 

3 
H 

Tür 

Hausknecht 

Batt.  Carli 

Propheten 

Arbeitsplatz 

c^anl  Weingarten 

Schmaus  u. 
Musik 

Apostel 

Kriegsleute 
des  Vespasian 

U 

Turm 

Markt 

Kriegsleute 
des  Titus 

Landsknechte 

Büchsen- 
schützen 

Hölle 

hier  für  die  Vorstellung  des  eigentlich  lokalen  Elements  nichts  ge- 
lernt werden  kann;  jene  Hölle,  deren  theatralische  Wirklichkeit  wir 
oben  betont  haben,  macht  die  einzige  Ausnahme. 

Wesenthch  günstiger  liegen  die  Dinge  in  bezug  auf  die  Ko- 
stüme. Daß  hier  auch  Alltagstrachten  erscheinen,  die  von  den  im 
gewöhnlichen  Leben  verwendeten  in  keiner  Weise  abweichen,  braucht 
nicht  Wunder  zu  nehmen:  Bauern,  Rebleute,  Landsknechte,  Büchsen- 
schützen usw.  mußten  natürlich  in  ihrer  üblichen  Gewandung 
vorgeführt  werden,  wenn  ihr  Beruf  den  Zuschauern  deutlich  wer- 
den sollte;  auch  die  Tracht  der  vornehmeren  Personen:  des  Vaters, 
des  Sohnes,  des  Baumeisters,  des  Nachbarn,  unterscheidet  sich 
wohl  kaum   von   der  landesüblichen;    nur   in   den  Beigaben:    der 


Die  Kostüme  der  Weingartenzeichnungen. 


483 


Kopfbedeckung,  dem  Schwert  scheint  etwas  Fremdartiges,  Phan- 
tastisches speziell  auf  das  Konto  der  Aufführung  zu  setzen  zu  sein. 
Auf  Grund  so  geringfügiger  Einzelheiten  aber  würde  man  noch 
nicht  behaupten  können,  daß  dem  Zeichner  irgendeine  Erinnerung 
an  theatralische  Eindrücke  vorgeschwebt  hat;  der  Mangel  einer 
völhgen  Gleichmäßigkeit  des  Kostüms  bei  der  wiederholten  Vor- 
führung derselben  Personen  weist  überdies,  wie  wir  Ähnliches 
auch  beim  lokalen  Element,  z.  B.  bei  der  Hölle,  beobachtet  haben, 


Abb.   116.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Herold  und  Aktor  im  Vorspiel  (Wyß  N.  3). 


darauf  hin,  daß  der  Zeichner  schwerlich  die  Erinnerung  an  ganz 
bestimmte  Kostüme  im  Kopf  gehabt  hat.  Das  Gleiche  gilt  auch 
von  der  Darstellung  des  Heroldskostüms,  das  dreimal  verschieden 
erscheint,  obwohl  es  sich  doch  in  allen  drei  Fällen  um  den  gleichen 
Herold  handelt.  Anderseits  ist  aber  trotz  aller  solcher  Abweichun- 
gen doch  der  Grundcharakter  der  Heroldstrpcht  jedesmal  fast  der- 
selbe und  so  ganz  aus  dem  Alltäglichen  herausfallend,  daß  wir  hier 
schwerlich  auf  müßige  Phantasievorstellungen  des  Zeichners  wer- 
den  schließen   dürfen,   sondern  gewiß  anzunehmen  haben,  daß  er 

31* 


484 


Die  Heroldskostüme. 


Abb.   117.     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Herold  und  Aktor  am  Ende  (Wyß  N.    75.) 


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Abb.   118.     ,1.  Riiof,  Weingartenspiel.     Herold  als  Epilog  (Wyß  N.  7«. 


Heroldskostüme,     üeislliclie  Verkleidung.  485 

den  Stil,  in  dem  die  Theaterherolde  in  der  Mitte  des  16.  Jahr- 
hunderts gekleidet  zu  sein  pflegten,  wenn  auch  jedesmal  in  einer 
andern  Ausprägung,  auf  seinen  Illustrationen  wiedergegeben  hat. 
Daß  der  Zeichner  wirkliche  Theaterkostüme  im  Kopf  hatte,  dafür 
spricht  auch  die  Darstellung  des  Titus  und  des  Vespasianus,  wie 
sie  schon  auf  dem  Titelbilde  der  Handschrift  (Abb.  114,  o.  S.  480) 
sich  findet:  sie  erscheinen  im  ritterlichen  Harnisch,  wie  sie  denn 
im  Text  des  Dramas  durchaus  auch  nur  als  Ritter,  nicht  aber  als 
römische  Kaiser  bezeichnet  werden;  auf  dem  Haupte  aber  tragen 
sie  die  Krone,  eine  Reminiszenz  vermuthch  an  die  Art,  wie  der 
Dichterregisseur  sie  ausstaffiert  hatte,  der  als  ein  Gelehrter  ent- 
schieden wußte,  daß  jene  beiden  auf  dem  römischen  Thron  ge- 
sessen haben,  und  der  sie  infolgedessen,  einer  an  anderer  Stelle 
dieses  Buches  i)  nachgewiesenen  Theatertradition  gemäß,  ständig 
mit  der  Krone  auf  dem  Haupt  herumgehen  Ueß. 

Ferner   weist    auch    eine  charakteristische  Kennzeichnung  der 
Personen,   die   im  übrigen   die  Tracht  der  Wirklichkeit,    nicht  die 
besondere  Tracht  der  Bühne  tragen,   auf  die  Berücksichtigung  des 
Theaters  hin;  ja,  sie  kann  sogar  als  ein  Symptom  dafür  erscheinen, 
daß  der  Zeichner  eine  Erinnerung  an  die  wirkUche  Aufführung  des 
Jahres  1539  im  Kopf  gehabt  hat.    Der  Verfasser  schreibt  nämlich 
von  dem  Moment  an,  wo  die  im  Weingarten  beschäftigten  Personen 
zu  offener  RebeUion  gegen  den  Besitzer  vorgehen,   vor,    daß   die 
ganze  Besatzung  des  Weingartens  —  zu  völliger  Verdeutlichung  des 
tendenziös  reformatorischen  Sinnes,  den  das  Spiel  enthält  —  geist- 
liche Tracht  anlegen.     Carli  gebietet  (v.  1929 ff.): 
leg  Jeder  an  ein  geistlich  Meid! 
sol  vwer  kry  vnd  zeichen  sin, 
damitt  ein  ieder  könne  fin 
den  anderen  kännen  wohl  vnd  recht 
vnd  das  ir  all  sind  mine  knächt, 
und  in  der  am  Schluß  des  Aktes  folgenden  szenischen  Bemerkung 
heißt  es  ausdrücMich:  Jetz  sond  sij  all  jnn  thurn  gon  vnddiekutten 
anlegen.    Danach  sollte  man  annehmen,   daß  die  ganze  Besatzung 
auf  den  folgenden  Bildern  als  Mönche  und  Nonnen  erscheinen.   Tat- 
sächlich aber  sehen  wir  nur  drei  von  ihnen  in  völlig  geisthchem 
Gewand:   Batt  als  Papst,  Carh  als  Kardinal  und  Hanns  01t,  den 
Satan,  als  Bischof;   die  übrigen  Personen  tragen  nur  eine  schmale 
Stola  über  ihrem  gewöhnlichen  Gewand;  die  Landsknechte  haben 
außer  der  Stola  noch  eine  Art  kapuzenförmiger  Kopfbedeckung  2). 
Dieses    Verschmähen     der    völligen    Einkleidung     ins     geistliche 
Gewand  hat  offenbar  seinen   sehr  guten  theatralischen  Sinn:    die 

1)  S.  115,  120  f. 

2)  Vgl.  die  Reproduktion  bei  Könnecke  S.  93,  Abb,  11. 


486  Geistliche  Verljleidung. 

Zuschauer  würden  die  einzelnen  Figuren,  wenn  sie  alle  ins  Mönchs- 
und Nonnenkleid  geschlüpft  wären,  nicht  mehr  haben  auseinander- 
halten, ja  sie  auch  nicht  von  den  Abgesandten  des  Vaters,  den 
Propheten,  die  ebenfalls  geistlich  gekleidet  sind,  deutlich  haben 
unterscheiden  können,  während  durch  die  Verwendung  der  Stola 
alle  Forderungen  erfüllt  werden;  Papst-,  Kardinals-  und  Bischofs- 
gewand dagegen  sind  so  charakteristisch,  daß  sie  zur  Genüge  von 
den  übrigen  sich  abheben,  —  bei  Hanns  01t,  dem  Bischof,  kommen 
außerdem  noch  als  besonderes  Kennzeichen  die  Teufelsfüße  dazu, 
die  unter  dem  geistlichen  Kleide  sichtbar  bleiben.  Es  fragt  sich 
nur  das  Eine:  müssen  wir  wirklich  annehmen,  daß  der  Zeichner 
sich  bei  dieser  Vorführung  des  Kostüms  an  die  Inszenierung  des 
Jahres  1539  erinnert  oder  von  dem  Dichterregisseur  auf  diese  Art 
der  Inszenierung  aufmerksam  gemacht  worden  ist,  oder  ist  es  viel- 
leicht möglich,  daß  er  sich  aus  andern  als  den  oben  genannten 
Stellen  des  Textes  selber  ausreichende  Anhaltspunkte  für  jene 
Charakteristik  der  Kostüme  gewinnen  konnte.  Eine  Stelle  des 
vierten  Aktes  (v.  3192  ff.)  scheint  allerdings  einen  wichtigen  An- 
halt bieten  zu  können.  Hier  charakterisiert  der  Prophet  Hoseas 
dem  Vater  zunächst  die  Kriegsknechte  und  dann  die  übrigen  In- 
sassen des  Weingartens  in  folgender  Weise: 

ein  seltsam  kry  hands  gnoWien  an, 

darby  man  dbiiben  kännen  kan. 

ein  ieder  ob  dem  rock  antreit 

ein  kappenzippfel  angeleit, 

damitt  sich  dluren  hand  bekleidi. 

nach  fürstlicher  art  und  herligkeit 

da  eir  dem  bapst  sich  halt  verglicht; 

jch  gloiib,  der  tiiffel  hab  jnn  gwicht; 

der  ander  ist  glich  eim  Cardinal, 

das  ander  fölckli  jn  der  wal 

jst  münchen  und  den  pf äffen  glich. 
Immerhin  muß  man  aber  bemerken,  daß  hier  eigentlich  nur 
auf  die  Ausstattung  der  Landsknechte  mit  dem  kappenzippfel, 
nicht  auf  die  der  gesammten  Besatzung,  die  nur  die  Stola 
trägt,  hingewiesen  wird,  und  ferner,  daß  die  Stelle  auch  keinen 
Anhaltspunkt  dafür  gibt,  den  Satan  vollständig  als  Bischof  aus- 
zustaffieren: die  szenische  Bemerkung  hinter  v.  2333  gibt  ihm 
nur  den  bischoffstab  in  die  Hand,  und  endlich:  da  die  ersten 
Zeichnungen  der  charakterisierten  Art  lange  vor  den  oben  ange- 
führten Worten  Hoseas  sich  finden,  so  müßte  man,  wenn  man 
an  gar  keine  theatrahsche  Erinnerung  des  Zeichners  oder  des 
ihn  beratenden  Dichters  denken  wollte,  annehmen,  der  Illustrator 
habe,  ehe  er  an  die  Durchführung  seiner  Zeichnungen  ging,  ein 
sehr  eindringendes  Studium  des  Textes   im  Interesse  der  Behand- 


Propheten  und  Apostel 


487 


lung  der  Kostüme  vorgenommen.  Die  Möglichkeit  einer  Erinne- 
rung an  die  theatralische  Wirklichkeit  wird  jedenfalls  nicht  ganz 
von  der  Hand  zu  weisen  sein. 

Es  bleiben  endlich  die  Kostüme  übrig,  die  mit  den  Trachten 
des  Alltags  schon  darum  nichts  zu  tun  haben  können,  weil  ihre 
Träger  nicht  wie  die  übrigen  Personen  auch  als  Gestalten  des 
wirklichen  Lebens  aufgefaßt  werden  können:  die  Propheten,  die 
Apostel,  die  Engel  und  die  Teufel.  Betrachten  wir  zuerst  die  Ge- 
wandung der  Propheten  und  der  Apostel,  so  mag  es  als  minder 
wichtig  erscheinen,  daß  sie  zwar  einen  entschieden  geistlichen  Cha- 


Abb.   119.     J.  Ruof,  Weingartenspiel,     Vater  mit  drei  Propheten  (Wyß  N.  26). 

rakter  tragen,  aber  sichtlich  von  der  üblichen  Tracht  der  zeitge- 
nössischen Geistlichen  abweichen:  die  Propheten  und  die  Apostel 
durften,  wie  vorher  schon  angedeutet  wurde,  von  den  Zuschauern 
nicht  mit  den  Geistlichen  des  16.  Jahrhunderts  verwechselt  werden, 
wenn  nicht  der  ganze  Sinn  der  antikirchlich  gedachten  Aufführung 
verloren  gehen  solltei).  Bemerkenswerter  ist  das  offenkundig  vorhan- 

1)  Die  Tracht  hat  dabei  natürlich  ausgesprochen  geistlichen  Charakter,  mit  wirklicher 
geistlicher  Gewandung  des  10.  Jh.  aber  ließ  sie  sich  trotz  der  Heranziehung  des  ausge- 
zeichneten Werkes  von  J.  Braun,  Die  liturgische  Gewandung  (Freiburg  1907)  nicht  in 
Zusammenhang  bringen.  Am  ehesten  erinnern  die  Propheten  noch  an  gleichzeitige  Dia- 
kone:  vgl.  den  Holzschnitt  bei  J.  A.  Lonicer,  Stand  vnd  Orden  Der  H.  Römischen 
Catholischen  Kirchen  (Frankfurt  a.  M.  1585),  fol.  B  LH. 


488 


Proplieten  und  Apostel. 


dene,  wenn  auch  nicht  ganz  rein  in  allen  einzelnen  Zeichnungen  durch- 
geführte Bemühen,  die  Propheten  und  die  Apostel  auch  unter  ein- 
ander durch  die  Tracht  zu  unterscheiden.  Es  ist  für  den  tiefsten 
Sinn  des  Dramas  von  der  größten  Bedeutung,  daß  das  Bewußtsein 
des  Zuschauers  diese  beiden  Arten  der  Boten  Gottes  immer  ausein- 
ander hält.  Jene  sind  die  ersten  Hilfstruppen  des  Herrn,  deren 
Tätigkeit  aber  den  vom  Teufel  verführten  Menschen  gegenüber  sich 
nicht   als  erfolgreich  erweist.     Die   andern  dagegen  sind    die,    mit 


Abb.   120.     J.  Riiof,  Weingartenspiel.     Vater  mit  den  Aposteln  (Wyß  N.  62). 

deren  Hilfe  schließlich  doch  das  Reich  Gottes  auf  der  ganzen  Erde 
aufgerichtet  wird.  So  muß  es  einen  besonderen  Habitus  prophe- 
talis  geben,  dessen  Existenz  auf  der  mittelalterlichen  Bühne  uns 
auch  schon  in  anderm  Zusammenhang  entgegen  getreten  ist ')  und 
der  auch  rein  äußerlich  die  Propheten  von  den  Aposteln  unter- 
scheidet. Wenn  man  die  beiden  Gruppenbilder  der  Propheten  und 
der  Apostel,  die  wir  hier  (Abb.  119  und  Abb.  120)  reproduzieren,  mit 
einander  vergleicht,  so  zeigt  sich,  daß  die  Propheten  offenbar  durch 
ein  im  einzelnen  wieder  verschieden  gearbeitetes  ärmelloses  Über- 


1)  Vgl   o.  S.  116. 


Die  flngel. 


489 


gewand  charakterisiert  sind,  während  die  Apostel  einen  mit  Pelz 
verbrämten  Mantel  tragen;  ob  zu  dem  verschiedenen  Schnitt  und 
dem  verschiedenen  Stoff  auch  eine  Verschiedenheit  in  der  Farbe 
getreten  ist,  vermögen  wir  leider  auf  Grund  unserer  unkolorierten 
Zeichnungen  nicht  auszumachen.  Jedenfalls  wird  man  betonen 
dürfen,  daß  der  Zeichner  offenbar  auch  in  diesen  Punkten  das 
wirkliche  Theater  einigermaßen  zu  berücksichtigen  gesucht  hat. 
Auch  für  die  Darstellung  der  Engel  wird  sich  nachweisen 
lassen,  daß  der  Zeichner  die  Art  ihrer  Vorführung  auf  dem  Theater 
und  zwar  im  besondern  bei  der  Aufführung  des  Ruofschen  Spiels 
im  Auge  gehabt  haben  muß.  Denn  von  der  in  der  bildenden 
Kunst  gebräuchlichen   Charakteristik    des   Engelstypus  i)    weichen 


Abb.  121.    J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Engel  Raphael  (Wyü  N.  55). 

die  beiden  Zeichnungen  unserer  Handschrift,  die  den  Gabriel  2)  und 
den  Raphael  (Abb.  121)  vorführen,  in  wesentlichen  Momenten  ab. 
Hier  finden  wir  nicht  das  Kostüm,  in  dem  der  Engel  auch  auf  den 
Gemälden  des  16.  Jahrhunderts  in  den  nördlichen  Ländern  gewöhn- 
lich zu  erscheinen  pflegt  und  in  dem  ihn  auch  die  Holzschnitte, 
z.  B.  die  in  unserm  Falle  besonders  nahe  hegenden  illlustrierten 
Züricher  Bibeln,  dem  Betrachter  vor  die  Augen  stellen,  nämlich 
das  geistliche  Gewand,  und  ebensowenig  die  antike  Gewandung, 
die  die  Renaissancekunst  allmählich  an   die  Stehe  der  geisthchen 


1)  Vgl.  H.  Mendelsohn,    Die  Engel  in  der  bildenden  Kunst  (Berlin   1907).  Das  Ver- 
hältnis zum  Theater  wird  hier  leider  kaum  gestreift. 

2)  Bei  Könnecke  S.  92,  Abb.  6. 


490  Engel  in  der  Bildkunst  und  auf  dem  Theater. 

Tracht  zu  setzen  wagt,  sondern  wir  erblicken  ein  Phantasiekostüm, 
das  freilich  in  gewissem  Sinne  seine  Herkunft  aus  dem  geistlichen 
Kleid  noch  erkennen  läßt,  das  sich  aber  anderseits  auch  entschieden 
von  ihm  unterscheidet,  namentlich  in  seinem  unteren  Teil,  wo 
unter  dem  tunikaartigen  Gewände  die  kurzen  Beinkleider  der 
Darsteller  noch  zum  Vorschein  kommen.  Auch  die  Anordnung 
der  Flügel  weicht  wesentlich  von  der  gewöhnlichen  Art  ab,  die  wir 
auf  deutschen  Bildern  bis  tief  ins  16.  Jahrhundert  hinein  treffen. 
Statt  spitzer,  aufgeplusterter,  nach  oben  gerichteten  Flügel  mit  un- 
ruhigem Profil  finden  wir  hier  starke,  in  sich  geschlossene,  nach 
unten  gerichtete  Fittiche,  ähnlich  wie  sie  der  Engel  auf  der  Edli- 
bachschen  Zeichnung  und  der  Raphael  auf  der  Tobiasdarstellung 
der  Brüsseler  lebenden  Bilder  aufweisen  i).  Jene  gezackten  Fittiche 
wären  auf  dem  Theater  gar  zu  leicht  beschädigt  worden,  diesen 
schweren  Flügeln  sieht  man  ihre  Solidität,  ihre  Bühnenbrauchbar- 
keit sehr  wohl  an.  Auf  theatralische  Wirklichkeit  im  Gegensatz 
zu  den  rein  bildkünstlerischen  Gepflogenheiten  der  Gemälde  und 
der  Schwarzweißkunst  deutet  endlich  auf  den  Zeichnungen  der 
Weingartenhandschrift  auch  die  Behandlung  der  Füße  hin:  dort 
werden  diese  entweder  nackt  dargestellt,  oder  sie  sind  durch  das 
lange  Gewand  verdeckt;  hier  dagegen  sehen  wir  das  übliche 
Schuhwerk,  das  die  Personen  der  übrigen  Bilder  auch  tragen. 

Neben  solchen  entschiedenen  Abweichungen  fehlt  es  freilich 
auch  nicht  an  Zügen,  in  denen  die  Engelsdarstellungen  unserer 
Zeichnungen  mit  der  gewöhnlichen  Vorführung  in  der  bildenden 
Kunst  zusammentreffen.  Das  ist  schon  darin  der  Fall,  daß  die 
Engel  in  der  Handschrift  als  Jünglinge  vorgeführt  werden,  wie 
das  um  diese  Zeit  doch  auch  in  der  bildenden  Kunst  noch  als  das 
Normale  erscheint.  Wir  sehen  ferner,  daß  die  Flügel,  aus  denen 
die  Fittiche  in  der  Weingartenhandschrift  bestehen,  sich  aus  Pfauen- 
federn zusammensetzen:  auch  das  ist  ein  Zug,  der  in  der  bilden- 
den Kunst,  namentlich  des  15.  Jahrhunderts,  sehr  beliebt  ist.^) 
Wenn  endlich  der  Engel  Gabriel  in  der  Handschrift  auf  dem  Kopf 
ein  Kreuzchen  trägt,  so  ist  auch  das  nicht  ohne  Seitenstück  in  der 
bildenden  Kunst:  auf  manchen  Bildern  treffen  wir  Engel,  die  als 
Kopfschmuck  ein  Band  oder  einen  Reif  haben,  an  dem  sich  ein 
kleines  Kreuz  befindet.  Indessen  dürfen  wir  hier  hervorheben, 
daß    die  Bilder,    die    den  Kreuzschmuck  zeigen,    in  einer  ganz  an- 


1)  Abb.  64,  S.  375  u.  Abb.  SO,  S.  415.  Die  beiden  Engel  auf  dem  Brüsseler  Liikas- 
hild  (Abb.  76,  S.  399)  haben  keine  Flügel,  offenbar,  um  nicht  mit  ihnen  zu  viel  von  den 
übrigen  Figuren  zu  verdecken. 

2)  Anderswo  sind  bei  theatralischen  Vorrührungcn  die  Engelsflügel  vergoldet,  so  1496 
in  Dresden  (Richter:  NASächsG.  4,  S.  112)  oder  mit  goldenen  Flammen  verziert:  1572 
in  Lüneburg  (Expeditus  Schmidt  S.  17). 


Ensel  in  der  Bildkiinsl   und  auf  dem  Theater.  491 

dern  Gegend:  in  den  Niederlanden  und  den  Rlieinlanden,  zu  finden 
sind,  und  ferner,  daß  als  Kopfschmuck  der  Engel  auf  den  Bildern 
der  eigentlichen  deutschen  Renaissance  mit  Vorliebe  der  frische 
Kranz  verwendet  wird. 

Wichtiger   aber  ist  es,  zu  betonen,   (hiß  im  Grunde   das  Vor- 
handensein jener  Übereinstimmungen  mit  der  bildenden  Kunst  gar 
nicht  gegen  die  theatralische  Realität  unserer  Zeichnungen  spricht. 
Es  ist  ja  von  vornherein  verständlich,  daß  gerade  in  der  Ausstat- 
tung der  Engel  Theater-  und  Bildkunst  nicht  zu  weit  voneinander 
abweichen  dürfen,  ja   daß  das  Zusammentreffen  noch  über  solche 
Züge,  wie  wir  sie  hier  als  gleichartig  erkannt  haben,  hinausgehen 
muß.    Die  Darstellung  so  heiliger  Gestalten,  wie  die  Engel  es  sind, 
muß  auf  allen  Gebieten  etwas  Gleichartiges  haben,  darf  nicht  der 
Phantasie  des  einzelnen  Meisters  und  des  Volkes  zu  beliebiger  Aus- 
gestaltung überlassen  werden,  während  bei  der  Darstellung  des  Un- 
heiligen, des  Teufels,  schon  viel  eher  die  Einbildungskraft  sich  frei 
betätigen  kann.    Auf  dem  alten  Theater  gibt  es,  genau  genommen, 
offenbar  nur  eine  Normal-Engeltracht.     In   den  Bühnenrodeln   der 
Luzerner  Osterspiele  vom  Jahre  1545  heißt  es  in  bezug  auf  die  Tracht 
der  Engel  einfach  nur,  sie  sollen  auftreten  wie  engel  sond  cleijt  syn : 
man  kennt  also  nur  eine  Art  der  Kostümierung,  die  im  Grunde  jede 
Willkür    ausschließt,   und  auch  in  den  Luzerner  Anw^eisungen  des 
Jahres  1583  ist  in  bezug  auf  die  eigentliche  Tracht  wiederum  nur 
von  Engelskleidung  und  Zierd  die  Rede;  lediglich  die  Farbe:  wyss 
wird  hier  noch  besonders  hervorgehoben.     Auch  aus  dem  Fehlen 
irgend    welcher  Kostümvorschriften    für   die  Engel    in    den   Hand- 
schriften der  spätmittelalterlichen  Spiele  hat  man  den  Schluß  gezogen, 
daß  die  Regisseure  hier  über  die  Kostüme  ganz  und  gar  nicht  im 
Zweifel  sein  konnten.i)     Die  Tracht  aber,  um  die  es  sich  handelt, 
kann,  genau  wie  auf  den  Bildern,  immer  nur  die  geistliche  Tracht 
gewesen  sein.    Wenn  sie  uns  auf  den  Bildern  erst  seit  dem  13.  Jahr- 
hundert entgegentritt,  während  die  Osterfeiertexte  sie  schon  früher  vor- 
schreiben, werden  wir  wohl  nicht  irre  gehen,  w  enn  wir  annehmen, 
daß  in  diesem  Fall  wie  in    so    manchem   andern  das  Theater   hier 
die  ursprüngliche  Anregung  geboten  hat,  daß  die  Bildkünstler  die 
Erscheinung    des    Engels    in   den    liturgischen    Osterspielen    nach- 
geahmt   haben.    Wir  verstehen    auch   hier  auf  dem  Theater   den 
Ursprung   der    ganzen  Erscheinung    am    ehesten:    sie    stammt  aus 
jenen  ältesten  Zeiten,    wo  die  Ausstattung  noch  mit  den  allerein- 
fachsten  Mitteln  betrieben  wurde  und  wo  daher  in  der  Rolle  der 
Engel  die  mit  ihr  betrauten  jungen  Kleriker  lediglich  im  schlichten 
weißen  geisthchen  Gewand  vor  die  Augen   des  Publikums   traten. 


1)  P.  Heinze,    Die    Engel    auf    der    mittelalterlichen    Mysterienbühne    Frankreichs 
Diss.  Greifswald  1905,  S.  19. 


492  Engel  und  Teufel  auf  dem  Theater. 

Auf  die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  den  Engehi  der  Bildkunst  und 
denen  des  Theaters  weist  auch  jene  Darstehung  der  Brüsseler 
lebenden  Bilder:  hier  finden  wir  auf  Raphaels  Haupt  sogar  jenes 
kreuzgeschmückte  Diadem,  das  die  Engel  auf  den  Gemälden  jener 
Gegend  zu  tragen  pflegen,  —  man  muß  dabei  freilich  den  Um- 
stand nicht  vergessen,  daß  bei  den  Brüsseler  Vorführungen  Maler 
als  Regisseure  tätig  gewesen  sind.  Eine  Annäherung  des  Theaters 
an  die  Gepflogenheiten  der  Bildkunst  treffen  wir  auch  auf  der 
Luzerner  Bühne  des  Jahres  1583,  sowohl  was  das  Haupt  wie  was 
die  Füße  der  Engel  betrifft:  neben  dem  Crütz  und  den  Bärlin  auf 
dem  Kopf,  einem  Schmuck  also,  der  etwa  der  Auszierung  des  Ga- 
briel in  der  Weingartenhandschrift  entspricht,  werden  auch  Kräntze 
verlangt,  und  es  heißt  ferner:  vnden  an  Füssen  gemalet  Strumpf 
mit  Solen,  aus  ob  sij  barfuß  giengen.^)  Im  übrigen  aber  ist  hier 
in  dem  katholischen  Luzern  das  alte  geistliche  Theatergewand  der 
Engel  beibehalten;  in  der  stark  antikatholischen  Züricher  Wein- 
gartenaufführung  konnte  man  es  so  wenig  brauchen  wie  den  sonst 
wohl  theaterüblichen  Bischofshut^)  in  unserer  Handschrift.  So 
dürfen  wir  die  Zeichnung  der  Engel  wohl  durchaus  als  theatralische 
Wirklichkeit  in  Anspruch  nehmen. 

Besonders  interessant  endlich  sind  die  Teufelsbilder,  die  wir 
hier  sämtlich  wiedergeben  (Abb.  122/5,  S.  493  f.,  dazu  Abb.  112/3, 
S.  478  f.),  weil  sie  uns  ein  besonders  charakteristisches  und  mannigfal- 
tiges Bild  der  wirklichen  Theaterteufel  offenbaren.  Die  starke  Berück- 
sichtigung der  tatsächlichen  Aufführung,  wie  sie  uns  in  bezug  auf 
das  Kostüm  in  den  Zeichnungen  entgegen  getreten  ist,  wird  uns 
ohne  Weiteres  der  Annahme  geneigt  machen,  daß  wir  es  gerade 
auch  bei  den  Teufeln  mit  einer  Wiedergabe  der  Theaterkostüme 
zu  tun  haben.  Immerhin  aber  wird  es  sich  empfehlen,  auch  hier 
mit  der  äußersten  Vorsicht  vorzugehen  und  zunächst  einmal  zu 
fragen,  was  wir  denn  von  dem  theatralischen  Teufelskostüm  sonst 
wissen.  Wahrend  die  Texte  der  Dramen  uns  wie  gewöhnlich  ganz 
im  Stich  lassen,  bieten  einen  gewissen  Anhalt  die  Rechnungen 
über  die  Ausstattung  des  Johannisspiels,  das  im  15.  und  16.  Jahr- 
hundert prozessionsweise  in  Dresden  aufgeführt  wurde.  Hier  sehen 
wir'^),  daß  die  Teufelskleider  aus  Leinwand  angefertigt  und  dann 
mit  Ruß  schwarz  gemacht  wurden.    Damit  stimmen  unsere  Bilder 


1)  Germania  30,  S.  325. 

2)  Die  Mitra,  ohne  Bänder,  in  einer  alten  französischen  Osterfeier  (Heinzea.a.  0., 
S.  20)  und  noch  1572  auf  der  Lüneburger  Schulbiihne:  wenigstens  wüßte  ich  nicht,  wer 
den  in  den  dortigen  Rechnungen  über  die  Kosten  einer  Aufführung  der  Komödie  vom 
reichen  Mann  und  armen  Lazarus  erwähnten  biscoppes  hoet  anders  getragen  haben  sollte 
als  der  Engel.  In  der  bildenden  Kunst  scheint  dieser  Kopfschmuck  des  Engels  nicht  vor- 
zukommen. 

3)  Vgl.  Otto  Richter,  Das  Juhannisspiel  zu  Dresden:  NASächsG.  4  (1883),  S.  112. 


Die  Teufcls(larstelIiino;en  der  Weinsartenhandschrifl. 


493 


Abb.  122.     J.  Rixof,  Weingartenspiel.     Teufelsbote  und  Luzifer  (Wyß  N.  10). 


Abb.  123.     .1.  Ruof.  Weingartenspiel.     Satan  (Wyß  N.  11). 


494 


Die  Teufelsdarstellungeii  der  Weingarteiihandschrift. 


Abb.   124.     J.  Ruof,  Weingartenspie].     Teufel  Bell  (Wyß  N.  12). 


Abb.   12r).     J.  Ruof,  Weingartenspiel.     Teufel  Aslaroth  (Wyß  N.  13l 


Teufel  auf  dem  Theater.  '  495 

offenbar  nicht  überein.  Die  Teufelsausstattung  war  aber  offenbar 
nicht  an  allen  Orten  die  gleiche.  Und  wenn  wir  auch  keinen  Nach- 
weis für  eine  andere  Grundanlage  des  Kostüms  unmittelbar  von 
einer  theatralischen  oder  dem  Theatralischen  ganz  eng  verwandten 
Vorführung  bieten  können,  so  wird  man  doch  auch  wohl  die 
Ausstattung  der  Teufel  mit  heranziehen  können,  wie  sie  beim 
Nürnberger  Schembartlaufen  zur  Anwendung  kam :  es  ist  nicht  an- 
zunehmen, daß  bei  einer  solchen  öffentlichen  Verkleidung  die 
Teufel  anders  aussahen  als  auf  dem  Theater  und  bei  den  theatra- 
hschen  Prozessionen.  Und  da  hören  wir  nun^),  daß  im  Jahre 
1539,  also  genau  im  Jahre  der  Aufführung  des  Weingartenspiels, 
in  Nürnberg  eine  große  Anzahl  von  Personen  durch  die  Straße  ge- 
laufen seien  in  Rauhen  Teuffels  Kleidern;  hier  kommt  also  offen- 
bar ein  Stoff  zur  Verwendung,  wie  er  sonst  auch  für  die  Aus- 
staffierung der  „wilden  Männer"  benutzt  wird,  und  einen  derartigen 
Stoff  haben  wir  jedenfalls  auch  auf  den  Züricher  Bildern  vor  uns. 
Die  Dresdener  Rechnungen  verzeichnen  ferner  zum  Jahre  1500  einen 
Posten:  1  gr.  vor  2  teuffelröckenn  für  fus  unden  anzumachen. 
Auch  diese  Füße  finden  sich  auf  unsern  Zeichnungen  wieder,  und 
man  wird  es  gewiß  nicht  für  theaterunmöglich  ansehen,  wenn  hier 
nun  auch  die  Hände  in  der  gleichen  Weise  ausgestattet  sind ;  zum 
Überfluß  lassen  sich  die  tierischen  Teufelshandschuhe  anderweitig 
auch  urkimdlich  nachweisen:  in  den  Notizen  über  die  Aufführung  des 
Luzerner  Antichristspiels  v.  J.  1549  wird  vom  Kostüm  der  „Laster" 
gesagt:  sie  sollen  haben  hend  und  füß  clauen  wie  tüffel^).  Die 
gleichen  Luzerner  Notizen  zeigen  uns  nun  auch,  daß  die  Theater- 
teufel tatsächlich  Masken  auf  dem  Kopf  getragen  haben.  Nicht 
nur  heißt  es  von  den  Lastern,  daß  sie  im  Gegensatz  zu  ihrer  son- 
stigen teuflischen  Ausstattung  khein  tiiffels  kopff  tragen  sollen ;  es 
wird  vielmehr  hier  für  die  Teufel  selbst  vorgeschrieben:  kein  tiiffel 
soll  ein  beschlossnen  tiiffels  kopff  harn;  offenbar  werden  hier  im 
Gegensatz  zu  primitiven  Masken  mit  geschlossenem  Munde  solche 
mit  beweglichen  Rachen  verlangt,  wie  sie  wohl  auch  auf  den  Zü- 
richer Teufelsbildern  (vgl.  z.  B.  Abb.  124)  uns  vor  die  Augen  treten  3). 
Es  findet  sich  aber  in  den  Zlmcher  Bildern  nun  doch  noch 
Verschiedenes,  was  sich  nicht  auf  solche  Weise  durch  urkundliche 
Quellen  für  die  Bühne  nachweisen  läßt.    Da  sind  einmal  die  fleder- 


1)  Das  Nürabergische  Schembartbuch   her.  von  K.  Drescher  (Weimar  1908)  S.  18. 

2)  Vgl.  Brandstetter:  ASNS.  75,  S.  394. 

3)  Sehr  interessant  ist  es,  daß  auf  dem  mittelalterlichen  Theater  außer  den  Teufeln 
offenbar  nur  noch  Judas  gelegentlich  eine  Maske  trägt  {1  qr.  idem  [Straßberger]  hath  die 
Judaslarffe  anders  gemacht:  Rechnung  vom  Jahre  1504,  Richter  a.a.O.  S.  111),  wo- 
durch er  also  von  vornherein  als  Angehöriger  des  Höllenkreises  charakterisiert  wird.  In 
der  Löbauer  Kreuzerfindungsprozession  schreitet  Judas  mit  Teufel  und  Tod  zusammen  in 
einer  Gruppe;  vgl.  Preusker,  Blicke  in  die  vaterländische  Vorzeit  1  (1841),  S.  98. 


496 


Teufelstrachten  und  Teufelsmasken. 


mausartigen  Flügel,  die  unmittelbar  an  die  Ärmel  des  Gewandes 
angenäht  zu  sein  scheinen.  Schon  diese  Art  der  Befestigung  wird 
uns  aber  von  der  Theaterwirklichkeit  der  Flügel  einigermaßen  über- 
zeugen: rein  zeichnerisch  wäre  es  gewiß  wirksamer  gewesen,  die 
Flügel  auf  dem  Rücken  anzubringen;  dort  aber  hätten  sie  steif 
und  starr  gesessen,  während  die  Teufelsspieler  sie  mit  den  Armen 


f 


Abb.  126  u.   127.     Teufelskostüm  aus  Tirol  (vgl.  S.  497,  Anm.  \). 
Vorderansicht.  Seitenansicht. 


zugleich; in  Bewegung  setzen  konnten.  Zum  Überfluß  können  wir 
aber  auch  durch  die  Wiedergabe  eines  wirklichen  Teufelskostüms, 
das  aus  Tirol  und  sicherlich  aus  alter  Zeit  und  noch  älterer  Tradition 
stammt,  zeigen,  daß  dabei  Flügel  zur  Verwendung  gekommen  sind 
(Abb.  126  u.  127);  wir  erhalten  hier  gleichzeitig  ein  Bild  von  dem 
oben  erwähnten  beweglichen  Rachen  der  Teufelsmasken,  während 
die  andern  von  uns  (Abb.  128  u.l29,  S.  497  f.)  wiedergegebenen  Teufels- 


Teufelstrachten  und  Teufelsniasken.  497 

larven  aus  Sterzing  und  aus  Oetz  diesen  beweglichen  Rachen  nicht 
haben  1).  Es  bleibt  somit  nur  ein  Letztes  auf  den  Züricher  Bildern 
übrig,  was  sich  nicht  direkt  für  das  Theater  nachweisen  läßt:  das 
ist  der  Umstand,  daß  sich  die  Tiergesichter  der  Teufel  nicht  nur  vor 
dem  Gesicht,  sondern  bei  den  meisten  Teufelsgestalten  auch  sonst 
am  Körper  noch  wiederfinden.  Diese  merkwürdige  Ausstattung 
treffen  wir  zwar  gar  nicht  selten  in  der  bildenden  Kunst;  dadurch 
ist  ja  aber  ihre  Theaterwirkhchkeit  noch  keineswegs  erwiesen,  im 
Gegenteil,  es  besteht  zunächst  der  Verdacht,  daß  der  Züricher  Zeichner 
sich  in  diesem  Zuge  nui-  an  die  Bildkunst  gehalten  hat  und  daß  seine 


Abb.  128.     Teufelsmaske  aus  Sterzing,  Museum  Ferdinandeum  zu  Innsbruck. 

Darstellungen  darin  mit  dem  Theater  nichts  mehr  zu  tun  haben. 
Zum  Glück  bleibt  auch  hier  ein  Material  übrig,  das  uns  die  prak- 
tische Verwendung  jener  Tiermasken  für  wirklich  getragene  Kostüme 
nachweist:  die  schon  oben  genannten  Nürnberger  Schembartbücher. 
Im  Jahre  1516  wurde  beim  Schembartlaufen  auf  der  sogenannten 
Hölle  ein  kinderfressender  Teufel  gezeigt,  dessen  Abbildung  in  den 
verschiedenen  Schembartbüchern  sich  erhalten  hat,  und  so  wenig 
wir  uns  nach  irgendeinem  von  ihnen  ein  genaues  Bild  von  dem 
wirklichen  Aussehen    der   tatsächlich    damals   vorgeführten  Figur 


1 )  Das  zuerst  genannte  Stück  befindet  sich  im  Besitz  Sr.  Exzellenz  des  Herrn  Grafen 
Dr.  Hans  Wilczek  auf  Schloß  Seebarn  bei  Korneuburg,  der  mir  auf  meine  Bitte  gütigst  Photo- 
graphieen  anfertigen  ließ;  auch  dem  gräflichen  Bibliothekar  Hrn.  C.  Sawertal  bin  ich  für 
freundliche  Auskünfte  sehr  verpflichtet.  Die  andern  gehören  dem  Museum  Ferdinandeum  in 
Innsbnick,  das  mir  ebenfalls  mit  größter  Bereitwilligkeit  photographische  Abbildungen  zurVer- 
fügung  stellte.  —  In  der  Schweiz  habe  ich  vergebens  nach  alten  Teufelsmasken  und  -kostümen 
Umfrage  gehalten;  doch  gehen  die  im  Baseler  Museum  vorhandenen  tierartigen  Fastnachts- 
trachten aus  dem  Lötschtal  vielleicht  auf  alte  Teufelstrachten  zurück.  Masken  aus  dem 
18.  Jh.  z.  B.  im  Nürnberger  Germanischen  Museum.  Auch  solches  jüngere  Material  könnte 
natürlich  durch  eine  vergleichende  Betrachtung  für  die  Erschließung  der  älteren  Tradition 
fruchtbar  gemacht  werden. 

Herrm  an n,  Theater.  32 


498 


Teufelstrachten  und  Teufelsmasken. 


machen  können,  da  sie  zum  größten  Teil  aus  späterer  Zeit  stammen 
und  im  einzelnen  willkürliche  Änderungen  vornehmen,  so  stimmen 
sie  doch  allei)  in  dem  hier  entscheidenden  Zuge  überein,  daß  der 
Teufel  vorn  auf  dem  Leib  und  auf  den  beiden  Knien  sonderbare 
Masken  trägt,  in  der  Weise,  wie  sie  auf  unsern  Züricher  Bildern 
genau  an  der  gleichen  Stelle  zu  finden  sind.  Über  den  Ursprung 
solcher  Hypertrophie  in  der  Verwendung  der  Masken   dürfen  wir 

vielleicht  um  so  eher  eine  Vermutung 
wagen,  als  diese  gerade  auf  unseren 
Zusammenhang  sich  bezieht.  Nichts 
spricht  dafür,  daß  diese  Ausstattung  des 
Teufelskörpers  in  theologischen  oder  in 
volkstümlichen  Vorstellungen  ihren  Ur- 
sprung hat;  an  eine  Übertragung  von 
den  antiken  Rüstungen,  bei  denen  ja 
ebenfalls  Köpfe  an  verschiedenen  Stel- 
len als  Schmuck  verwendet  werden,  ist 
nicht  zu  denken,  da  das  erste  Auftreten 
dieser  Ausstattung  des  Teufelskostüms 
einerseits  in  eine  Zeit  fällt,  in  der  man 
von  antiken  Rüstungen  sicherlich  keine 
Ahnung  mehr  hatte,  anderseits  aber  den 
neuen ,  gelehrten  Berührungen  mit  der 
römischen  Kultur  in  der  Renaissancezeit 
vorausgeht.  Daß  solche  Anbringung  von 
Masken  der  reinen  Phantasie  der  Maler 
ihren  Ursprung  verdanken  soll,  ist  eben- 
falls durchaus  unwahrscheinlich;  die 
einleuchtendste    Erklärung   wird  viel- 

Abb.  129,  Teufelsmaske  aus  Oetz,  mehr  die  Seiu,  daß  eS  sich  um  eine  Er- 
Museum Ferdinandeum  zu  Innsbruck,  fii^^ung  des  mittelaltedichen  Thcatcrs 
handelt :  es  ist  durchaus  der  Psychologie  der  Schaubühne  gemäß,  die 
Effekte  durch  Multiplikation  zu  verstärken.  So  lag  der  Gedanke  nahe, 
sich  nicht  mit  der  Maske  des  Gesichtes  zu  begnügen,  sondern  ähn- 
liche Fratzen  auch  an  andern  Teilen  des  Körpers  anzubringen ;  das 
oben  abgebildete  Tiroler  Teufelskostüm  und  die  Oetzer  Maske 
zeigen  solche  Hypertrophie  wenigstens  am  Kopf.  Vom  Theater 
her  wird  dieses  Moment  dann,  wie  soviel  andere,  von  den  Malern 
auf    die   Bilder    herübergenommen    sein;    in   solchem   Zusammen- 


1)  Nur  drei  unter  den  mir  bekannt  gewordenen  Handschriften  haben  die  Masken 
weggelassen  unci  an  die  Stelle  der  einen  dem  Teufel  die  Mutter  des  Kindes  in  den  Schoß 
gesetzt,  das  er  eben  verspeist;  alle  drei  stammen  aus  dem  späten  17.  Jahrhundert,  wo 
jenes  Teufelskostüm  nicht  mehr  lebendig  war,  und  so  hat  offenbar  die  gemeinsame  Vor- 
lage jener  drei  Handschriften  den  unverständlicii  gewordenen  Zug  der  Maske  im  Schoß 
durch  ein  anderes  Motiv  ersetzt. 


Teufelstrachten  und  Teufelsmasken.  499 

hange  ist  es  bemerkenswert,  daß  die  liier  behandelte  Ausstattung 
des  Teufels  in  der  bildenden  Kunst  neben  der  immerhin  häufigeren 
Verwendung  grotesker,  kaum  noch  menschenähnlicher  Tierkörper 
erst  im  spätesten  Teil  des  Mittelalters,  also  zu  einer  Zeit  auftritt, 
in  der  das  Theater  seine  letzten  Steigerungen  bereits  durchgesetzt 
hattet).  Eine  Übertragungsstelle  zeigen  etwa  die  Teufel  auf  Fouc- 
quets  dem  Theater  so  besonders  nahe  stehender  Apolloniaminiatur 
(um  1460). 

Auf  dem  Theater  ließ  sich  ferner  diese  Erfindung  besonders 
gut  benutzen,  um  den  Zuschauer  in  die  Lage  zu  versetzen,  die  ver- 
schiedenen Teufelsgestalten  auseinander  zu  halten.  Daß  dieses 
Problem  die  Regisseure  des  15.  und  16.  Jahrhunderts  beschäftigte, 
ist  keine  bloße  Hypothese,  sondern  wir  können  einen  urkundlichen 
Beweis  dafür  erbringen.  In  den  Luzerner  Bühnenrodeln  vom  Jahre 
1583  heißt  es  nämUch^):  die  übrigen  Tüffel.  All  j res  Gfallens,  jn 
griiwlichen,  doch  ansehenlichen  Kleidungen,  doch  seltzam  und 
vnderschydenlich,  keiner  nit  wie  der  ander.  Zur  Erreichung  dieses 
Zwecks,  zur  Unterscheidung  der  Satan,  Bell,  Astaroth  und  Genossen 
sind  denn  auch  auf  dem  Züricher  Theater,  das  uns  durch  die  hier 
behandelten  Zeichnungen  teilweise  lebendig  gemacht  ist,  abgesehen 
von  dem  einen  Teufelsboten  (Abb.  122,  s.  S.  493),  der  wie  ein  städti- 
scher Postbote  mit  dem  Stab  und  dem  kleinen  Brustschild  aus- 
gestattet ist 3),  wesentlich  diese  Masken  am  Körper  benutzt  worden. 
Ein  besonderes,  kennzeichnendes  Requisit  steh  tim  übrigen  nur,  ab- 
gesehen von  den  Blasbälgen  des  einen  Höllenbildes  (Abb.113,  S.479), 
für  Luzifer  zur  Verfügung :  es  ist  die  Kette,  an  die  er  bei  Christi  Höllen- 
fahrt von  dem  Heiland  gelegt  wird.  Diese  Kette,  die  z.B.  imRedentiner 
Osterspiel  des  15.  Jahrhunderts  eine  Rolle  spielt,  die  auch  in  den  schon 
herangezogenen  Luzerner  Bühnenrodeln  des  Jahres  1583  für  Lu- 
zifer verlangt  wird,  trägt  er  auch  auf  dem  Züricher  Theater,  offen- 
bar als  ständiges,  ihn  kenntlich  machendes  Attribut,  um  den  Hals. 

Mit  dieser  Ermittlung,  daß  die  Kostüme  der  Züricher  Zeich- 
nungen einen  entschiedenen  Theatersinn  besitzen,  sind  wir  auch 
am  Ende  unserer  Feststellungen  über  den  theatergeschichtlichen 
Wert   des   Kodex.     Denn    für    die    theatralische   Gebärdensprache 


1)  Freilich  fehlt  es  leider  völlig  an  einer  ausreichenden  Untersuchung  über  die  Dar- 
stellung des  Teufels  in  der  bildenden  Kunst.  Die  alte  Arbeit  von  Blomberg  (Berlin 
1867)  und  die  neue  Darstellung  von  W.Michel  (München  1911  sind  für  unsere  Zwecke 
kaum  zu  brauchen;  die  kleine  italienische  Untersuchimg  von  Bastoni:  II  diavolo  nell' 
arte,  Neapel  1902,  habe  ich  nicht  gesehen.  Die  einzige  Arbeit  von  wissenschaftlichem 
Charakter,  die  Dissertation  von  A.  Koppen,  Der  Teufel  imd  die  Hölle  in  der  darstellenden 
Kunst  (Jena  1895),  reicht  nur  bis  zur  Zeit  Dantes  vmd  Giottos.  Immerhin  ist  es  bemerkens- 
wert, daß  in  dieser  Untersuchung  von  der  hier  interessierenden  Ausstattung  des  Teufels 
garnicht  die  Rede  ist. 

2)  Vgl.  R.  Brandstetter:  Germania  30  (1885),  S.  334. 

3)  Vgl.  den  Nürnberger  Postboten:  Abb.  10,  S.  123. 

32* 


500  Schweizerische  und  elsässische  Dramenillustrationen. 

geben  die  Darstellungen  gar  nichts  her.  Auf  die  Nachbildung  der 
individuellen  Haltung  eines  der  Schauspieler  ist  bei  dem  großen 
zeitlichen  Abstand  zwischen  Aufführung  und  Illustration  gewiß 
nicht  zu  denken,  und  bestimmte  Affekte,  durch  die  wir  etwa  eine 
typische  Gebärdensprache  beobachten  könnten,  werden  auf  den 
Zeichnungen  nicht  berücksichtigt. 

Und  damit  stehen  wir  am  Ende  unserer  Untersuchungen  über 
die  schweizerischen  Dramenillustrationen  überhaupt.  Was  noch 
folgt :  die  reizenden  Federzeichnungen,  die  der  Maler  Tobias  Stimmer 
zu  seiner  allerliebsten  Komödie  geliefert  hat,  und  die  Holzschnitte 
zu  Christoph  Murers  „Ecclesia  Edessana",  geht  zeitlich  über  die 
hier  behandelte  Periode  hinaus.  Die  wichtigsten  Bilder  aus  der 
zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  aber,  die  endlich  einmal  auch 
das  lokale  Element  der  Bühne  überall  deutlich  berücksichtigen:  die 
Holzschnitte  zu  Johann  Rassers  „Spiel  von  der  Kinderzucht",  ge- 
hören nicht  mehr  in  die  Schweiz,  sondern  in  den  Elsaß:  der  sie 
enthaltende  Druck  ist  im  Jahre  1574  bei  Thiebolt  Berger  in  Straß- 
burg erschienen  1).  Eine  kritische  Prüfung  dieser  Bilder  aber  kann 
hier  nicht  mehr  erfolgen,  sondern  muß  im  Zusammenhange  einer 
besonderen  Betrachtung  der  elsässischen  Dramenillustrationen  vor- 
genommen werden,  die  von  Grüningers  Locher  über  Frölichs  Wick- 
ram zu  Bergers  Rasser  zu  führen  hat.  Immerhin  durfte  es  auch 
in  unserm  Zusammenhange  zum  Schluß  betont  werden,  daß  die 
einzige  deutsche  Landschaft,  die  neben  der  Schweiz  im  16.  Jahr- 
hundert wichtige  Dramenillustrationen  liefert,  der  der  Schweiz  so 
eng  verbundene  Elsaß  ist.  Die  Schweiz,  das  Mutterland  des  neueren 
deutschen  Dramas,  ist  auch  der  ursprünglichste  und  wichtigste 
Boden  für  die  deutschen  Dramenillustrationen. 


1)  Proben  daraus  bietet  Bolte:  Wickrams  Werke  6  (1905),  S.  81  ff. 


Schlußwort: 

Die  theatergeschichtlichen  Gesamtergebnisse  und 

ihr  geistiger  Sinn. 


„Der  Ruf  zum  Tische  ist  mehr  als  das  Brot."  In  der  Ein- 
leitung dieses  Buches  ist  auseinandergesetzt  worden,  daß  es  in  ihm 
noch  mehr  darauf  ankommt,  eine  bisher  wenig  geübte  wissenschaft- 
liche Betrachtungsweise  durchzuführen,  als  darauf,  eine  wesentliche 
Bereicherung  unserer  Kenntnisse  zu  liefern.  Immerhin  zeigt  sich 
wohl,  nun  wir  am  Ende  des  Ganzen  stehen,  daß  auch  in  bezug  auf 
die  unmittelbaren  Ergebnisse  die  Untersuchung  einigermaßen  loh- 
nend gewesen  ist,  und  so  empfiehlt  es  sich,  diese  Ergebnisse  aus 
der  Zerstreuung,  in  der  das  Buch  sie  bietet,  zu  sanmieln  und  sie, 
so  gut  es  geht,  zu  einer  theatergeschichtlichen  Gesamtdarstellung 
und  zur  Beleuchtung  des  geistigen  Sinns  der  Entwicklung  zu- 
sammenzufügen. In  keiner  Weise  freilich  kann  diese  Darstellung 
den  Anspruch  darauf  machen,  ein  wenn  auch  nur  vorläufiger  Ersatz 
für  die  noch  fehlende  Geschichte  des  älteren  deutschen  Theaters 
überhaupt  zu  sein,  da  sie  es  verschmähen  muß,  die  anderweitig 
bekannt  gewordenen  Einzelheiten  heranzuziehen,  und  da  sie  sogar 
die  unmittelbaren  Ergebnisse  der  vorangegangenen  Untersuchungen 
nur  andeutend,  nicht  ausbreitend  vorlegen  darf,  obschon  der  Reiz 
der  Ermittlung  vielleicht  besonders  gerade  in  der  Anschaulichkeit 
der  Einzelheiten  besteht.  Ganz  und  gar  nicht  aber  soll  man  er- 
warten, in  diesem  Schlußabschnitt  auch  an  die  literarhistorischen, 
bildkunstgeschichtlichen,  bildungsgeschichtlichen  und  volkskund- 
lichen Nebenergebnisse    des  Buches  nochmals  erinnert  zu  werden. 

Mit  einem  völlig  neuen  Atemzug  setzt  bekanntlich  das  Leben  des 
mittelalterlichen  Theaters  ein:  das  antike  Drama  hatte  schon 
lange  die  letzten  Regungen  gezeigt,  und  auch  von  Aufführungen 
war  nirgends  mehr  die  Rede.  So  kam  es,  daß  auch  die  Erinnerung 
an  die  alten  Darbietungen  verblaßte  und  sich  mit  seltsamen  Phan- 
tasievorstellungen über  ihr  Wesen  mischte.  Wenn  schon  Isidorus 
im  7.  Jahrhundert  nicht  völlig  Zutreffendes  mehr  über  theatrum 
und  scena  und  über  die  Art  der  Aufführung  zu  berichten  wußte, 
so  wird  das  in  den  Handbüchern  des  eigentlichen  Mittelalters  noch 
wunderlicher:  bei  Papias  im  11.,  bei  Hugutius  im  12.,  bei  Johannes 
von  Janua  im  13.  Jahrhundert.  Scena  ist  nun  entweder  ein  auf 
dem  Theater  stehendes  Häuschen  mit  einem  Pult,  an  dem  der 
Dichter  sitzt  und  seine  Gedichte  vorliest,  oder  aber  ein  von  Vor- 
hängen umgebener  Bau,  in  welchem  maskierte  Personen  sich  auf- 
halten, die  heraustreten  und  gestikulieren,  sobald  der  Dichter  die 
ihnen  in  den  Mund  gelegten  Worte  spricht.  Wirkliche  Reste  des 
Altertums,  freilich  ganz  herabgekommener  Art,  bestehen  nicht  mehr 
im  Zusammenhang  mit  dem  Theater,  das  der  Verlebendigung  von 
Dramendichtungen  dient,  sondern  nur  als  Abkömmlinge  des  alten, 
ursprünglich  gewissermaßen  dramenlosen  Theaters,  des  Mimus. 
Die  Nachkommen  seiner  echten  Vertreter,  die  als  mtmi,  histriones 


504  Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

oder  ioculatores  in  mittelalterlichen  Texten  erscheinen  und  dann 
oft  mit  den  Spielleuten  zu  identifizieren  sind,  führen  eine  Existenz, 
in  die,  namentlich  was  ihren  Zusammenhang  mit  der  Theatersphäre 
betrifft,  nur  durch  kühne  Hypothesen  ein  unsicheres  Licht  geworfen 
wird;  um  so  willkommener  mag  es  sein,  daß  wir  jetzt  wenigstens  ihre 
äußere  Erscheinung  deutlich  im  Bilde  vor  uns  sehen,  wenn  es  sich 
auch  erst  um  die  allerletzte  Zeit  des  Mittelalters  handelt:  das  eine 
Mal  die  ioculatores  auf  dem  Hauptbild  des  „Terence  des  ducs"  im 
beginnenden,  das  andere  Mal  den  histrio  der  Handschrift  des 
Brüsseler  Einzugs  im  ausgehenden  15.  Jahrhundert. 

Ganz  ohne  Zusammenhang  mit  der  neu  sich  entwickelnden 
Form  des  mittelalterlichen  Theaters  sind  die  Spielleute  ja  nicht;  in 
der  Hauptsache  aber  handelt  es  sich  bei  ihm  um  eine  völlig  neue 
Schöpfung:  einerseits  aus  den  sozialen  Instinkten  der  neuen  Kultur- 
völker, anderseits  aus  dem  der  dramatisch-theatrahschen  Form 
zustrebenden  epischen  Inhalt  der  neuen  Religion.  Zu  einem  wirk- 
lichen dramatischen  Gebilde,  einer  für  sich  allein,  ohne  die  Auf- 
führung lebendigen  Dichtung  hat  es  eigentlich  keine  der  beiden 
so  gekennzeichneten  Entwicklungsreihen  gebracht:  weder  das  Er- 
gebnis der  einen,  das  Fastnachtspiel,  wenigstens  in  seiner  spezifisch 
mittelalterlich-deutschen  Form,  noch  das  der  andern,  das  Christus- 
spiel, ist  in  einem  höheren  Sinne  als  Drama  zu  bezeichnen.  Beide 
Leistungen  gehören  im  Grunde  mehr  in  die  Theater-  als  in  die 
Literaturgeschichte :  die  Aufführung  ist  das  Wichtigste  und  umfaßt 
den  Text  als  einen  Teil  ihres  eigenen  Wesens. 

Da  ist  es  denn  um  so  mehr  zu  bedauern,  daß  wir  über  das  eine 
Hauptgebiet,  über  die  Fastnachtspielaufführung  nur  so  überaus 
mangelhaft  unterrichtet  sind.  Der  wesenthchste  Grund  dafür  ist 
jedenfalls  das  völlige  Fehlen  der  szenischen  Bemerkungen  in  den 
überlieferten  Fastnachtspieltexten.  Schwerlich  wird  man  an  eine 
alle  Lokalgrenzen  überschreitende,  allgemein  gleiche  Art  der  Auf- 
führung denken  dürfen,  zumal  wenn  man  den  Blick  über  Deutsch- 
land hinaus  auch  auf  die  übrigen  in  Betracht  kommenden  Länder 
ausdehnt.  Aber  daß  das  Publikum  von  allen  Seiten  die  Darsteller 
einschließt,  ist  doch  wohl  das  Normale  gewesen :  ist  es  doch  der 
Ursinn  dieses  sozialen  Spiels,  das  ursprünglich  ein  Spiel  aller  für 
alle  war,  ein  Spiel,  in  dem  Publikum  und  Darsteller  zusammen- 
fielen, daß  die  Sonderdarsteller,  die  allmählich  gewissermaßen  die 
Vertreter  der  Gesamtheit  sind,  wenigstens  immer  noch  einen  nicht 
herauslösbaren  Teil  der  ganzen  am  Spiel  beteiligten  Menge  bilden. 
Eine  ungefähre  Vorstellung  von  diesem  die  Aufführung  ohne 
trennende  Schranken  einschließenden  Publikum,  allerdings  nicht 
von  einem  deutschen,  sondern  einem  französischen,  bietet  uns  die 
schon  vorhin  angeführte  Titelminiatur  des  „Terence  des  ducs", 
freilich    ohne    daß    der   Künstler    etwas    Derartiges    beabsichtigte. 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  5Q5 

der  vielmehr  das  Publikum  des  römischen  Theaters  vorzuführen 
meinte.  Etwas  anders  ist  offenbar  der  Schauplatz  bei  der  Auf- 
führung des  Brunnerschen  Fastnachtspiels  v.  J.  1484  angeordnet 
gewesen:  hier  haben  wir  uns,  wie  die  oben  wiedergegebene  Illu- 
stration Edlibachs  zeigt,  das  Publikum  nur  von  drei  Seiten  her  als 
„Umstand"  zu  denken,  aber  nicht  weil  auf  solche  Art  schon  eine 
Trennung  von  Pubükum  und  Darstellung  erfolgen  soll,  sondern  weil 
auf  der  vierten  Seite  die  Tür  hegt,  durch  die  neue  Personen  ein- 
treten. Der  Ort  der  Handlung  ist  ein  wirkliches  Zimmer,  um  dessen 
Tisch  die  beteiligten  Personen  herumsitzen;  besondere  Theater- 
kostüme scheinen  hier  so  wenig  wie  in  dem  fastnachtspielartigen 
Aufzug  der  zehn  Lebensalter  verwendet  worden  zu  sein,  wenn 
wir  von  einem  Engel  absehen,  die  Charakteristik  der  einzelnen  Per- 
sonen erfolgt  vielmehr  in  der  Art,  daß  die  ins  bürgerliche  Alltags- 
gewand gesteckten  Personen  durch  einfache  Requisiten  gekenn- 
zeichnet werden :  der  Ritter  durch  Hellebarde  und  Helm,  der  Jägers- 
mann durch  ein  Hörn;  noch  minder  realistisch  wird  das  Alter  der 
einzelnen  Personen  des  Fastnachtspielaufzuges  durch  Fahnen  mit 
den  betreffenden  Ziffern  angegeben,  wozu  vielleicht  zur  Unter- 
scheidung der  ganz  Alten  von  den  Jüngeren  noch  künstliche  Barte 
kamen.  Für  die  Spielweise  gibt  unser  Material  leider  nur  die  eine 
Vermutung  her,  daß  die  einfache  Rede  von  Bewegungen  einer 
Hand  begleitet  zu  werden  pflegte ;  immerhin  wäre  das  eine  gewisse 
künstliche  Beschränkung  rein  naturalistischer  Willkür,  so  wie  auch 
die  eben  geschilderte  Inszenierung  neben  der  ungenierten  Be- 
nutzung des  Alltäglichen  Neigung  zur  Stilisierung  erkennen  ließ. 

Viel  besser  sind  wir  über  die  Aufführung  des  geistlichen  Spiels 
unterrichtet:  längst  namentlich  über  die  Anlage  und  die  dekorative 
Einrichtung  des  Schauplatzes,  und  unsere  Kenntnisse  auf  diesem 
Gebiet  zu  erweitern,  hat  das  vorliegende  Buch  eigentlich  nirgends 
unternehmen  wollen.  Ebensowenig  ist  es  den  Problemen  der 
eigentlichen  Inszenierung,  der  Regie,  im  einzelnen  nachgegangen, 
wenn  nicht  vielleicht  daran  erinnert  werden  darf,  daß  als  das  vor- 
nehmste Prinzip  mittelalterlicher  Inszenierung  betont  wurde:  die 
Herbeiführung  einer  ständigen  Bewegung  auf  dem  Gesamtschau- 
platz, die  Ordnung  des  Hin-  und  Hergehens  der  Hauptpersonen, 
das  dem  Zuschauer  ein  dauerndes  Verständnis  für  die  jeweilige 
Entwicklung  der  Handlung  zu  vermitteln  hatte.  Dagegen  hoffen 
diese  Untersuchungen  auf  ein  anderes  Gebiet  der  geistlichen 
Theaterkunst  des  Mittelalters,  das  bisher  so  gut  wie  ganz  im 
Dunkeln  lag,  ziemlich  helles  Licht  gebreitet  zu  haben.  Dies  Gebiet 
ist  die  Schauspielkunst  im  engeren  Sinne. 

Nun  sollte  man  freilich  im  Grunde  das  Wort  „Schauspielkunst" 
für  die  Leistung,  um  die  es  sich  hier  handelt,  für  das  Verhalten 
der  einzelnen    an    der  Aufführung  beteihgten  Personen,   gar  nicht 


506  Diß  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

in  Anwendung  bringen.  Denn  jeden  Gedanken  an  moderne  Dar- 
stellung, an  eine  wenn  auch  noch  so  primitive  Verwandlung  des 
Spielers  in  die  von  ihm  vertretene  Person  muß  man  völlig  aus- 
schalten. Natürlich  läßt  es  sich  nicht  geradezu  beweisen,  daß  es 
nicht  auch  unter  den  beim  geistlichen  Spiel  des  Mittelalters  Mit- 
wirkenden einzelne  schauspielerische  Talente  gegeben  hat,  die 
gegen  die  Regel  eine  derartige  Transformation  des  Ich  unwillkür- 
lich vorgenommen  haben.  Aber  wir  hören  nirgends  von  ihnen, 
und  einen  bedeutsamen  Teil  der  ganzen  Aufführung  bedeuteten 
ihre  Leistungen  keinesfalls.  Die  Regel  ging  nicht  auf  Schauspiel- 
kunst, sondern  auf  Vortragskunst. 

Diese  Vortragskunst  aber  hat  wieder  mit  dem,  was  wir  so  zu 
bezeichnen  pflegen :  mit  der  wissenschaftlich  ausgebildeten  Rhetorik, 
die  überhaupt  im  Mittelalter  eine  ganz  geringe  Rolle  gespielt  zu 
haben  scheint,  kaum  etwas  zu  schaffen.  Sie  ist  vielmehr  bedingt 
einmal  durch  die  Raumverhältnisse  der  Aufführung,  ferner  durch 
die  Notwendigkeit,  auf  die  wenigstens  in  den  letzten  Jahrhunderten 
des  Mittelalters  durchschnittlich  doch  geringe  geistige  Bedeutung 
der  Darsteller  Rücksicht  zu  nehmen,  und  endlich  ganz  besonders 
durch  den  geistlichen  Charakter,  der  der  Vorführung  doch  gewahrt 
bleiben  sollte,  auch  als  sie  mehr  und  mehr  zum  sozialen  Volksspiel 
wurde,  als  das  liturgische  Oratorium  zum  geistlichen  Stadttheater 
sich  entwickelte.  Die  Aufführung  auf  dem  großen  Marktplatz,  die 
schließlich  das  Normale  war,  bringt  es  mit  sich,  daß  auf  alles 
Intime  der  Kunst,  auf  feine  Stimmschattierung  und  auf  die  Mimik 
des  Gesichts  verzichtet  werden  muß:  alles  Stille  und  Zarte  wäre 
von  den  im  ganzen  doch  weit  entfernten  Zuschauern  nicht  gehört 
und  nicht  gesehen  worden;  das  laute  Schreien  und  die  Bewegung 
der  Extremitäten  und  des  ganzen  Körpers  sind  für  das  mittelalter- 
liche Theater  viel  geeigneter.  Und  in  ähnliche  Richtung  weist  die 
Rücksichtnahme  auf  das  Personal  und  die  Unmöglichkeit,  ihm  die 
Darstellung  seelischer  Feinheiten  zuzumuten.  In  der  älteren  Zeit, 
da  die  Darsteller  vornehmlich  Geistliche  waren,  konnte  man  eher 
derartige  Intimitäten  von  ihnen  erwarten:  Spuren  davon  haben  sich 
in  den  szenischen  Vorschriften  des  alten  Benediktbeurer  Weih- 
nachtsspiels erhalten.  In  den  späteren  Jahrhunderten  nimmt  dann 
das  Interesse  an  der  Erfassung  des  Seelischen  stark  zu,  und  zwar 
ist  es,  während  die  Wahrnehmungsbetonung  und  die  Äußerung  des 
Intellekts  ganz  im  Hintergrunde  bleiben,  gemäß  der  starken  Senti- 
mentalität dieser  Zeit  durchaus  das  Gefühl  —  ganz  besonders  Un- 
lust und  Antipathie  —  und  der  stark  gefühlsbetonte  Willensakt 
des  Bittens  und  Betens,  zu  deren  Ausdruck  die  Vortragskunst  neigt. 
Aber  die  Ausdrucksmittel,  die  den  simpeln  Darstellern  des  geist- 
lichen Stadttheaters  zur  Verfügung  stehen,  sind  für  die  Betätigung 
dieses  psychologischen  Interesses  doch  allzu  gering.    Nur  in  bezug 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  507 

auf  ein  paar  ganz  einfache  Seelenzustände  kann  die  geistliche 
Regie  von  ihren  Darstellern  eine  innere  Erfüllung  mit  dem  domi- 
nierenden Gefühl  beanspruchen;  im  übrigen  wird  mit  erlernbaren 
Gesten  gearbeitet,  die  den  betreffenden  Seelenzustand  anzudeuten 
haben  —  öfters  auch,  ohne  daß  entsprechende  Worte  dabei  ge- 
redet werden. 

Gerade  hier  aber  tritt  das  dritte  und  wichtigste  Grundelement 
mittelalterlicher  Theaterkunst   in    sein   entschiedenstes    Recht:    die 
Notwendigkeit,  den  religiösen  Charakter  des  Ganzen  doch  in  etwas 
zu  wahren.     Die  Gebärdensprache  durfte  weder  dem  Naturalismus 
des  sozialen  Spiels  ausgeliefert  werden  und  die  bürgerliche  Alltags- 
geste zugrunde  legen,  noch  zugunsten  des  weithin  Gesehenwerdens 
einer  pathetischen,  weit  ausholenden  Rhetorik  weltlicher  Art  anheim- 
fallen.   Eher  konnte  man  den  Wirklichkeitswünschen  des  halb  zu- 
schauenden,  halb   mitspielenden  Publikums  in  bezug  auf  die  Aus- 
gestaltung  des   Schauplatzes    starke  Zugeständnisse  machen    oder 
auch    in   bezug    auf   die  eigentliche  Aktion,    die  ja    doch    nur    an 
einigen  Stellen   vor   sich  ging  und  dann  immer  von  der  Regie  zu 
überw^achen  war;   ja    sogar   in    bezug    auf   den  rein    körperlichen 
Habitus:  Schlafen,  Krankheit,  Tod,  durfte    man   um  so  eher  etwas 
Freiheit  gew^ähren,   als   er  verhältnismäßig  selten  in  Betracht  kam 
und    als   die  biblische  Grundlage  des  Spiels  über  den  Hergang  im 
einzelnen    keine  Anweisungen  gab.     Der  rein  seelische  Gestus  da- 
gegen w^ar  über  die  gesamte  Aufführung  verbreitet,  die  biblischen 
Angaben    über   ihn    waren  Gegenstand    dogmatischer  Erklärungen 
und  endlich:    dieser    religiöse  Gestus    war   im  Zusammenhang  der 
gottesdienstlichen  Handlung,  der  Liturgie,  Gegenstand  eines  streng 
beobachteten,  zeremoniellen  Rituals.     Sein  Grundzug  ist  Sparsam- 
keit, Zurückhaltung,  Abneigung  gegen  Neuerungen,    und  einen  an 
der  Liturgie  und  an  den  Evangelien  orientierten  Gebärdenstil  durch 
den  geistlichen  Regisseur  auf  dem  Theater  durchführen  zu  lassen, 
empfahl  sich  um  so  mehr,   als  man   dadurch  gegenüber  den  welt- 
hchen  Gelüsten    der   bürgerlichen  Darsteller   das  Heft    fest  in  der 
Hand    behielt    und    der   ganzen  Aufführung  eine  gewisse  religiöse 
Ruhe  und  Weihe  sicherte,  wie  sich  ja  denn  in  einigen  Texten  sogar 
noch  Reste    des  alten  lateinischen  Gesanges  aus  dem  hturgischen 
Oratorium   bis    aufs   bunte    geistliche  Stadttheater  gerettet  haben. 
Von    den    wenigen    Einzelheiten    dieses   biblisch-liturgischen   Stils 
braucht   nach    den    früher   gebotenen  Auseinandersetzungen  nicht 
nochmals   die  Rede  zu  sein;    nur  auf  die  wichtige  Unterscheidung 
zwischen    labilen    und  stabilen  Gesten  mag  hier  noch  einmal  hin- 
gewiesen werden :  die  ersten,  die  minder  prägnanten,  w^erden  ohne 
Gleichmäßigkeit    an    den    verschiedensten   Stellen    verwendet,    an 
denen    der    seelische  Sinn  es  wünschenswert  erscheinen  läßt;    die 
andern,    sechs    an    der  Zahl,    die    ganz  charakteristischen  und  aus 


508  Di^  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

dem  Gewöhnlichen  mehr  herausfallenden,  finden  sich  offenbar  bei 
allen  Aufführungen  des  Passionsdramas  stabil  an  den  entscheiden- 
den Stellen  der  Peripetie  des  Christusspiels:  beinahe  nicht  sowohl 
Leistungen  der  Schauspielkunst  als  Mittel  der  Inszenierung,  um  die 
Aufmerksamkeit  des  mehr  schauenden  als  hörenden  Publikums 
auf  diese  bedeutsamen  Momente  hinzulenken. 

Diese  durch  eine  lange  Zeit  völlig  entwicklungslos  festgehaltene 
karge  Art  einer  religiös  gebundenen  Vortragsweise  bezog  sich  freilich 
in  aller  Strenge  offenbar  nur  auf  die  Personen,  die  unmittelbar 
aus  der  Bibel  in  das  Spiel  hineingerufen  wurden,  die  eigenthchen 
Träger  der  heiligen  Vorgänge.  Die  frei  hinzuerfundenen  Personen 
aber  oder  diejenigen,  die  wenigstens  nicht  in  so  großer  Zahl  von 
der  Vorlage  verlangt  wurden:  die  Teufel  einerseits,  die  Juden  u.  dgl. 
anderseits  wurden  gewiß  nicht  mit  derartiger  Energie  an  die  spar- 
same, liturgisch  stilisierte  Gestensprache  gehalten.  Ihre  Profanie- 
rung tat  dem  religiösen  Ernst  des  Spielkerns  keinen  starken  Ein- 
trag; sie  waren  sowieso  die  stärkste  Konzession  an  den  sozialen 
Spieltrieb  der  Menge,  mit  den  Gestalten  des  Fastnachtspiels  nahe 
verwandt  oder  geradezu  mit  ihnen  identisch,  und  so  mochte  denn 
auch  ihre  Darstellung  der  des  nicht  geistlichen  Spiels  sich  nähern, 
vielleicht  ins  Groteske  oder  ins  Alltagswirkhche  übergehen.  Wir 
wissen  nichts  davon,  denn  gerade  wie  für  die  Texte  der  Fast- 
nachtspiele sind  für  die  betreffenden  Szenen  der  geisthchen  Spiel- 
texte kaum  szenische  Bemerkungen  aufgewendet;  aber  wo  einmal 
eine  Spur  sich  findet,  da  weist  sie  durchaus  in  die  bezeichnete 
Richtung:  imitando  gestus  Jiiclei  in  omnibus  heißt  es  im  Bene- 
diktbeurer  Weihnachtsspiel  sogar  vom  Archisynagogus.  Selbst  die 
in  der  eigentlichen  Darstellung  des  Heiligen  verschmähte  Indivi- 
dualisierung scheint  hier  also  vorhanden  zu  sein.  Allerdings  han- 
delt es  sich  um  jenes  alte  Spiel,  in  dem  die  Darstellung  wohl 
wesentlich  von  Geistlichen  übernommen  war:  da  war  man  jeden- 
falls vor  jenem  Zuviel  gesichert,  das  vor  allen  Dingen  vermieden 
werden  mußte. 

Die  gleiche  Scheidung  der  gesamten  Darsteller  in  zwei  Haupt- 
klassen finden  wir  auch  auf  einem  Nebengebiet  der  Schauspiel- 
kunst: in  der  Fürsorge  für  das  Kostüm.  Ganz  so  scharf  wie  in 
bezug  auf  die  Gebärdensprache  scheint  die  geistliche  Aufsicht  hier 
freilich  nicht  geübt  zu  sein,  aber  der  dadurch  einreißenden  Willkür 
trat  man  doch  öfter  mit  dem  Hinweis  auf  die  Notwendigkeit  ent- 
gegen, dem  feierlichen  Grundcharakter  der  Aufführung  gebührende 
Rechnung  zu  tragen.  Dabei  wurde  nun  den  unwichtigen  Personen 
am  meisten  Freiheit  gelassen,  so  daß  hier  das  Alltagsgewand  und 
wohl  auch  manche  Fastnachtmummerei  ungeniert  sich  eindrängten; 
umgekehrt  wird  besonders  in  bezug  auf  die  Kleidung  der  heiligen 
Personen   die  Einhaituns    einer   stark   stilisierenden  Tradition  ver- 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  509 

langt,  der  sich  auch  fürsthche  und  allegorische  Gestalten  zu  fügen 
haben.  Zu  dem  wichtigsten  Gesichtspunkt,  der  Fürsorge  für  den 
feierlichen  Charakter  der  Haupthergänge,  kommen  auch  hier  wie 
bei  der  Gebärdensprache  speziell  theatralische  Umstände  hinzu: 
für  die  Hauptdarsteller  konnten  unmöglich  stets  wieder  neue  Ge- 
wänder beschafft  werden,  sie  vererbten  sich  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  und  gewannen  auch  auf  solche  Art  jenes  altertümliche, 
aus  dem  Alltäglichen  ganz  herausfallende  Ansehen;  die  weite  Ent- 
fernung der  Spieler  von  den  meisten  Zuschauern  mußte  es  wün- 
schenswert machen,  daß  die  Hauptpersonen  wenigstens  an  der 
Kleidung  auch  von  fern  erkannt  werden  konnten,  und  auch  das 
war  nur  durch  eine  strenge  und  konservative  Stilisierung  möglich. 
So  ist  Christus  schon  durch  seine  Tracht  für  jeden  kenntlich;  so 
gibt  es  für  die  Propheten  einen  bestimmten,  ihnen  eigentümlichen 
Kleiderschnitt;  neben  der  Tracht  werden  hier  wie  im  Fastnacht- 
spiel auch  symbolische  Attribute  zur  Charakteristik  benutzt. 

Aber  nicht  bei  der  Scheidung  in  kontrollierte  und  unkontrol- 
lierte Personen  setzt  die  innere  Unruhe  der  spätmittelalterlichen 
Welt  ein,  um  endlich  auch  in  der  Gebärdensprache  jene  biblisch- 
liturgische Strenge  und  Starrheit  zu  überwinden,  nicht  in  der  Weise 
also,  daß  der  Grotesknaturalismus  der  Juden  und  Teufel  auch  auf 
die  übrigen  Personen  Überträgen  worden  wäre ;  die  Revolution,  die 
hier  gegen  Ende  des  15.  Jahrhunderts  siegreich  anhebt,  kann  ihren 
Triumph  vielmehr  nur  erringen,  indem  man  innerhalb  der  heiligen 
Welt  selbst  an  einer  Stelle  nachgiebig  zu  werden  beginnt.  Diese 
Stelle  sind  die  Szenen,  in  denen  Maria  um  Christus  klagt.  Hier 
war  die  Pathetik  der  großen  Geste,  zumal  die  Leidgebärde  der 
weitausgestreckten  Arme  und  Hände  seit  dem  13.  Jahrhundert  in 
die  lyrisch-epischen  Darstellungen  eingedrungen,  und  indem  nun 
halb-kanonische  Quellen  für  eine  antiliturgische  Gebärdensprache 
vorhanden  sind,  kann  .das  ausgehende  15.  Jahrhundert  in  seiner 
Sehnsucht  nach  neuem  Pathos  zunächst  in  den  selbständigen 
Marienklagen  theatralischen  Charakters,  dann  auch  in  den  ent- 
sprechenden Szenen  des  Passionsspiels  die  große  Geste,  be- 
sonders die  weitausladende  Bewegung  der  Arme  existenzberech- 
tigt machen.  Damit  aber  ist  die  religiöse  Gebundenheit,  wenn  auch 
nicht  gelöst,  so  doch  gelockert,  und  das  Donaueschinger  Passions- 
spiel ist  ein  charakteristisches  Beispiel  dafür,  daß  zu  dem  ängst- 
lich gewahrten  Alten  nun  auch  Symptome  der  Gegenwart,  ihrer 
Neigung  für  neues  Pathos,  ihrer  Sentimentalität,  ihrer  Nervosität 
sich  in  der  Gesamtaufführung  hervorwagen  können. 

Immerhin:  hier  formt  sich  noch  kein  Neues,  nur  ein  Zeichen 
der  Auflösung  haben  wir  vor  uns,  in  der  Theaterkultur  geradeso 
wie  auf  den  meisten  Lebensgebieten  in  jener  Zeit.  Ein  innerer 
Umschwung  ist  historische  Notwendigkeit,  aber  die  neuen  Lebens- 


510  Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

kreise  sind  in  Deutscliland  nicht  stark  genug,  aus  eigener  Kraft 
die  modernen  Leistungen  hervorzubringen.  Die  lange  Periode,  in 
der  bei  dem  Mangel  einer  eigenwüchsigen  dramatischen  Dichtkunst 
die  Niederkunst  des  Theaters  allein  am  Regiment  war,  neigt  sich 
zum  Ende,  und  es  beginnt  die  bis  auf  den  heutigen  Tag  reichende 
neue  Zeit,  in  der  die  feindlichen  Gewalten  Drama  und  Theater 
miteinander  um  die  Vorherrschaft  ringen :  in  dem  einen  Zeitraum  hat 
nun  das  Dramatische,  in  dem  andern  das  Theatralische  die  führende 
Stellung,  und  nur  einmal:  im  Zeitalter  Lessings  und  Schillers  er- 
leben, nein,  ahnen  wir  in  Deutschland  eine  jener  Wunderstunden 
der  Weltgeschichte,  wie  sie  für  Athen  im  Zeitalter  des  Sophokles, 
in  England  zur  Zeit  Shakespeares,  in  Frankreich  zur  Zeit  Molieres 
geschlagen  haben:  die  klassische  Vereinigung  des  Dramatischen 
mit  dem  Theatrahschen  zu  harmonischen  Gebilden  für  die  Ewigkeit. 

Die  Signatur  der  Renaissancezeit  muß  jenem  eben  gekenn- 
zeichneten Turnus  gemäß  im  wesentlichen  antitheatralisch  sein,  das 
Theatralische  darf  nicht  länger  als  Selbstzweck  erscheinen,  sondern 
muß  sich  zum  Dienen  verstehen.  In  dreifacher  Hinsicht  hat  dieser 
Wandel  in  die  Erscheinung  zutreten.  Der  Schauplatz  darf  nicht 
länger  die  von  allen  Seiten  vom  Publikum  umstandene,  gewisser- 
maßen aus  ihr  losgelöste,  einen  Teil  seines  Seins  bildende  Markt- 
platz- oder  Stubenbühne  sein,  sondern  muß  als  ein  für  sich  beste- 
hendes Etwas,  als  ein  Bild  erscheinen,  dem  das  Publikum,  nur  noch 
locker  mit  ihm  verbunden,  gegenübersitzt.  Die  Ausstattung  darf 
nicht  mehr  auf  die  reine  Theaterfreude:  das  Vergnügen  an  der 
Nachbildung  der  Wirklichkeit,  auf  die  Lust  am  Schauen  berechnet 
werden,  sondern  muß  sich  auf  das  Einfachste  beschränken  lassen, 
damit  alle  Aufmerksamkeit  des  Publikums  für  die  Aufnahme  des 
dramatischen  Kunstwerks  in  Anspruch  genommen  werden  kann. 
Die  Schauspielkunst  endhch  hat  nicht  mehr  irgendwelchen  rein 
theatralischen  Grundsätzen:  weder  naturalistischen  noch  religiös- 
liturgischen nachzuleben,  sondern  soll  in  erster  Reihe  der  Wortkunst 
des  Dramas  zum  Siege  verhelfen. 

Das  Drama  muß  zuvörderst  da  sein,  damit  die  neue,  vornehm- 
lich für  den  Dienst  des  Dramatischen  bestimmte  Theaterkultur  ihr 
Wesen  entfalten  kann.  Hier  aber  tritt  der  reinen  und  geradhnigen 
Entfaltung  der  historischen  Notwendigkeit  jener  tragische  Zug  im 
Wesen  der  Renaissancekultur  entgegen,  daß  sie  zwar  im  tiefsten 
Sinn  zur  Ausbildung  des  Dramatischen  prädestiniert,  aber  infolge 
anderer  innereigenster  Lebenszüge  an  der  wirklichen  Schöpfung 
eines  Dramas  verhindert  ist,  bis  dann  zum  grandiosesten  Ersatz  ganz 
zuletzt,  als  schon  der  Übergang  in  eine  neue  Form-  und  Bildungs- 
welt sich  vollzieht,  der  ungeheuerste  dramatische  Aufstieg  erfolgt, 
den  die  Weltgeschichte  kennt.     Die  eigentliche  Werde-  und  Glanz- 


Die  Gesamtergebnisse  und  ilir  geistiger  Sinn.  511 

zeit  der  Renaissancekultur  ist,  auch  wenn  wir  den  Blick  von 
Deutschland  ausdehnen  auf  die  internationale  Entwickhuig,  völlig- 
arm an  dramatischen  Dichtungen,  die  durch  den  Zwang  ihrer  inneren 
Notwendigkeit  die  Welt  hätten  erobern  können;  wunderliche  Um- 
wege müssen  gemacht  werden,  um  auch  nur  7AI  Surrogaten  drama- 
tischer Poesie  zu  führen.  Und  noch  wunderlicher  sind  infolgedessen 
die  Wege,  die  die  neue  Theaterkultur  zu  gehen  hat,  um  dem  dunklen 
Drange  zum  Gehorsam  gegen  ein  nur  in  der  Tendenz,  nicht  in  der 
Wirklichkeit  vorhandenes  Prinzip  des  Dramatischen  folgen  zu  kön- 
nen, und  es  ist  begreiflich,  daß  beträchtliche  Reste  der  mittelalter- 
lichen Theaterformen  mit  zäher  Kraft  sich  gegen  einen  Gegner 
halten,  der  einem  im  Grunde  noch  ungeborenen  Führer  dient. 

Das  Bemühen  um  die  Erschaffung  einer  neuen  Bühnenform, 
die  den  Ausdruck  einer  dramatischen  Dichtung,  nicht  den  Schau- 
platz eines  sozialen  Spiels  darstellt,  kann  höchstens  an  ein  drama- 
tisches Gebilde  des  sonst  dramenlosen  Mittelalters  anknüpfen:  an 
die  vor  1400  ganz  isoliert  in  Holland  entstandenen  abele  speien,  die, 
ohne  nach  dem  Gliche  des  geistlichen  Theatertextes  oder  des  bürger- 
lichen Fastnachtspiels  zu  arbeiten,  ernste  weltliche  Stoffe  in  drama- 
tischer Form  behandeln.  Diesen  neuen  Dramen  scheint  auch  eine 
besondere  Bühnenform  entsprochen  zu  haben,  von  der  wir  kaum 
etwas  Sicheres  sagen  können,  die  aber  anscheinend  eine  stärkere 
Trennung  von  Publikum  und  Darstellung  an  die  Stelle  der  üblichen 
Zusammengehörigkeit  setzen  will;  jedenfalls  scheint  es  erwiesen,  daß 
der  Mann,  der  hundert  Jahre  später  das  Wichtigste  für  die  theore- 
tische Vorbereitung  der  bedeutsamsten  Renaissancebühnenform  ge- 
tan hat,  der  niederländisch-französische  Humanist  Jodocus  Badius, 
auch  Erinnerungen  an  solche  heimatlichen  Bühneneindrücke  mit  in 
sein  Werk  verwebt  hat. 

Das  zweite  dramaartige  Gebilde,  dessen  Bühnenform  für  die  Syn- 
these des  Neuen  in  Betracht  kommt,  ist  nun  schon  eine  Schöpfung 
der  Renaissancezeit,  aber  es  ist  doch  nur  ein  Surrogat  für  das  im 
tiefsten  ersehnte  Drama,  denn  es  verzichtet  auf  das  für  das  Drama 
entscheidende  Material,  auf  das  gesprochene  Wort.  Es  ist  die  Panto- 
mime der  burgundisch-französischen  Hofsphäre  und  ihre  Erstarrung, 
das  lebende  Bild,  das  bei  den  Fürsteneinzügen  des  ausgehenden  15. 
und  beginnenden  16.  Jahrhunderts  allbeliebt  ist,  zu  dessen  Vorfüh- 
rung sich  die  Rederijkers  als  Vertreter  der  Literatur  und  die  Lukas- 
gilden als  Vertreter  der  bildenden  Kunst  vereinen.  Auch  hier  ist 
der  Zug  zu  einer  grundlegenden  Veränderung  der  Vorführungsform 
gegenüber  dem  Mittelalter  unverkennbar,  sobald  wir  dessen  ent- 
sprechende Gebilde:  die  lebenden  Bilder  der  Fronleichnams- 
prozessionen mit  diesen  Renaissanceschöpfungen  vergleichen.  Jene 
werden  auf  Wagen  gefahren  und  wie  das  Passionsspiel  von  allen 
Seiten  angesehen,  sie  sind  wie  dieses  gewissermaßen  eine  Leistung 


512  Diß  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

des  Publikums;  diese  dagegen  werden  als  Werke  einer  individuellen 
Künstlerschaft  vor  das  Publikum  hingestellt,  der  Vorhang,  der  das 
Bild  zunächst  bedeckt,  wird  gewissermaßen  von  der  Seele  des  einen 
schaffenden  Meisters  fortgezogen,  so  daß  die  Beschauer  nun  in  eine 
ihnen  eigentlich  fremde  Welt  hineinschauen.  Von  der  Art  dieser 
neuen  Bühnenform  vermögen  wir  uns  durch  zeitgenössische  Illustra- 
tionen, zumal  durch  die  Wiedergabe  der  Bilder  vom  Brüsseler  Ein- 
zug des  Jahres  1496  bis  in  die  technischen  Einzelheiten  des  Gerüst- 
baues eine  greifbare  Vorstellung  zu  machen. 

Aber  das  Erbe  des  Mittelalters  und  die  Eigenkraft  der  Renais- 
sancemenschen reicht,  wie  auf  so  vielen  Gebieten,  so  auch  hier  nicht 
aus,  wo  es  gilt,  zum  neuen  Drama  und  seiner  Bühnenform  zu  kom- 
men, und  wie  gewöhnlich  muß  der  Humanismus  ergänzend  eintreten. 
Dem  Mangel  an  moderner  dramatischer  Poesie  muß  zunächst  die 
Wiederbelebung  der  dramatischen  Literatur  der  Römer  abhelfen; 
von  der  inneren  Bedeutung  des  Mißgriffs,  den  man  tat,  indem  man 
auf  solche  Art  sich  um  Werke  bemühte,  die  im  Grunde  nie  ein 
eigentlich  dramatisches  Leben  besessen  hatten,  kann  hier  nicht  die 
Rede  sein.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  daß  die  Frührenaissance 
dem  eigenthchen  Problem,  der  Erfassung  des  theatralischen  Wesens 
der  römischen  Dramatiker,  sehr  energisch  sich  zugewandt  habe; 
die  richtige  Fragestellung  wurde  ja  auch  dadurch  sehr  erschwert, 
daß  es  sich  um  ein  völlig  anderes  theatralisches  Sein  handelte  als 
um  das,  das  dem  mittelalterlichen  Menschen  geläufig  war,  und  daß 
man  daher  auf  die  Möglichkeit  einer  Identifikation,  geschweige  denn 
einer  Differenzierung  zunächst  gar  nicht  kommen  konnte.  Mehr  als 
ein  Jahrhundert  lang  betrachtete  man  Seneca,  Plautus  und  Terenz 
wesentlich  als  Gegenstand  der  Lektüre,  im  Grunde  immer  noch, 
wie  es  das  eigentliche  Mittelalter  getan,  als  eine  Art  epischer  Dich- 
tungen, und  die  Szenenbilder,  die  im  Anfang  des  15.  Jahrhunderts 
die  Miniaturen  des  französischen  ,,Terence  des  Ducs",  in  seinem 
Ausgang  die  Holzschnitte  der  Ulmer,  Basler,  Straßburger  Terenz- 
ausgaben  enthalten,  machen  gar  keinen  Versuch,  eine  Bühnenform 
vorzuführen,  sondern  gleichen  völlig  den  Illustrationen  zu  epischen 
Werken.  Daneben  zeigt  sich  aber  gerade  gelegentlich  solcher 
Illustrationsarbeiten  ein  Bemühen  um  ein  Verständnis  für  die  Theater- 
einrichtung des  Altertums;  es  kümmert  sich  nicht  um  die  überlie- 
ferten Dramen  und  die  Möglichkeit  ihrer  Inszenierung,  sondern  hält 
sich  an  die  überkommenen  Notizen  über  die  Anlage  der  Szene  und 
dessen,  was  zu  ihr  gehört.  Je  mehr  die  Altertumswissenschaft  fort- 
schreitet, um  so  mehr  gelingt  es,  an  Stelle  der  trüben  Berichte  des 
Mittelalters  die  reineren  Quellen  der  alten  Zeit  selbst  fließen  zu 
lassen.  Ein  vollkommenes  Verständnis  aber  und  die  Möglichkeit 
der  zeichnerischen  Vorführung  einer  neuen  Bühnenform,  die  für 
die  Praxis  der  modernen  Bühnenkultur  Bedeutung  gewinnen  kann, 


Die  Gesanitert^ehnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  513 

wird  dadurch  lange  hintangehalten,  daß  nun  allmählich  die  Identi- 
fikation des  Antik -Theatralischen  und  des  Mittelalterlich -Theatra- 
lischen sich  einzustellen  beginnt  und  daß  die  ersten  Aufführungen 
des  Plautus  und  des  Terenz,  wie  sie  in  den  achtziger  und  neunziger 
Jahren  des  15,  Jahrhunderts  in  Italien  stattfanden,  sich  offenbar 
wesentlich  noch  mittelalterlicher  Bühnenformen  bedienten.  So  sind 
es  denn  wunderliche  Unmöglichkeitsformen,  die  die  vorher  genannten 
Illustrationswerke  zeigen,  wo  sie  die  antike  Theateranlage  vorzu- 
führen sich  bemühen,  —  die  wunderlichste  die  Anordnung  des 
senecaischen  „Hercules  furens",  die  noch  dem  14.  Jahrhundert  an- 
gehört; und  wo  man  ihnen,  wie  den  Titelbildern  des  „Terence  des 
Ducs"  und  des  Baseler,  namentlich  aber  den  Vollbildern  des  Straß- 
burger Terenz  von  1496  irgendwelche  theatralischen  Wirklichkeits- 
elemente entnehmen  kann,  da  handelt  es  sich  nicht  um  Dinge  der 
antik-modernen,  sondern  um  Formen  der  mittelalterlichen  Theater- 
kultur. 

Der  entscheidende  Schritt  aber  gelingt  dem  schon  genannten 
Humanisten  Jodocus  Badius  aus  Flandern  und  dem  ihm  verbündeten 
niederländischen  Künstler,  die  1493  zu  Lyon  einen  illustrierten  Terenz 
erscheinen  lassen.  Badius  ist  auf  der  einen  Seite  in  der  philologischen 
Erklärung  der  antiken  Berichte  über  das  Theater  weiter  als  einer  der 
andern  Gelehrten,  die  sich  an  jenes  Problem  wagten;  er  zieht  ander- 
seits zur  Verlebendigung  der  bloßen  Archäologie  ebenfalls  leben- 
diges Theater  heran;  aber  er  muß  einen  tiefen  Blick  in  die  absolute 
Wesensverschiedenheit  der  antik-modernen  und  der  mittelalterlichen 
Theaterkultur  getan  haben:  denn  er  verschmäht  jene  sonst  immer 
noch  sich  herandrängenden  Formen  des  sozialen  Theaters  voll- 
ständig und  hält  sich,  ohne  daß  wir  die  Einzelheiten  nachzuprüfen 
vermöchten,  an  jene  Gebilde,  die  dem  individuellen  Drama  dienen: 
an  die  Bühne  der  abele  speien  und  der  lebenden  Bilder.  Und  so 
ist  zwar  sein  Zuschauerraum  noch  einigermaßen  seltsam  angelegt, 
aber  das  Entscheidende  ist  doch  da:  sein  Publikum  sitzt  vor  dem 
geschlossenen  Vorhang,  und  seine  Szenenbilder  sind  zum  erstenmal 
wirkliche  Bühnendarstellungen,  nicht  mehr  Illustrationen  zu  Erzäh- 
lungen. An  die  zahlreichen  italienischen  Nachbildungen  dieser  Lyoner 
Holzschnitte  kann  sich  dann  die  Praxis  der  Theaterkunst  nach- 
ahmend halten,  und  so  sind  die  Plautus-  und  Terenzaufführungen, 
die  man  im  beginnenden  sechzehnten  Jahrhundert  in  Italien  ver- 
anstaltet, nun  nicht  mehr  mittelalterlichen,  sondern  modernen 
Charakters.  Und  von  hier  aus  erobert  sich  die  Dramabühne  die  Welt 
und  spielt  bald  auch  in  Deutschland  neben  dem  alten  Theaterschau- 
platz eine  bedeutsame  Rolle.  Ob  freiUch  das  Podium,  das  uns  die 
Holzschnitte  zu  Gengenbachs  „Zehn  Altern"  zeigen,  auch  schon  in 
diese  neue  Reihe  gehört,    läßt  sich  schwerlich  ausmachen. 

Die  gleiche  Entwicklung  bringt  nun  auch  der  Wandel  der  Aus- 
Herr mann,  Theater.  33 


514  Diß  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

stattung.  Ohne  bis  zu  der  völligen  Orientierungslosigkeit  des 
Fastnachtspielschauplatzes  gehen  zu  dürfen,  muß  die  Renaissance- 
bühne auf  die  verwirrende  Buntheit  der  mittelalterlichen  Bühnen- 
anlage verzichten  und  eine  Einrichtung  herbeiführen,  die,  das  Auge 
nicht  eigentlich  beschäftigend  und  auf  Sonderwege  lockend,  alle 
Aufmerksamkeit  auf  den  geistigen  Inhalt  des  Dargebotenen  und  auf 
seinen  entscheidenden  Ausdruck,  das  Wort,  lenkt.  Die  Vermeidung 
aller  naturalistischen  Nachbildung  der  lokalen  Elemente  und  ihrer 
Stoffe  ist  die  wichtigste  Aufgabe,  und  dazu  die  Verhüllung  aller  nicht 
sprechend  oder  doch  stumm  handelnd  an  der  jeweils  vorgeführten 
Szene  beteiligten  Personen :  das  mittelalterliche  Theater  hatte  auch 
sie  in  jedem  Moment  der  Aufführung  zum  Schaden  der  Aufmerk- 
samkeit für  den  Gang  der  Handlung  dem  Publikum  zur  Schau  ge- 
stellt. Unauffälhge  und  sinnvolle  Stellen  für  ihr  Auftreten  und  Ab- 
gehen müssen  als  etwas  im  Grunde  völlig  Neues  geschaffen  werden, 
und  die  diese  Stellen  verhüllenden  Vorhänge  bieten  zugleich  das 
unnaturalistische  Material,  das  überhaupt  für  die  Ausstattung  der 
neuen,  wesentlich  dienenden  Bühne  in  Betracht  kommen  darf.  Schon 
für  die  Darstellung  der  abele  speien  scheinen  sie  verwendet  worden 
zu  sein;  auf  den  lebenden  Bildern  treten  sie  so  stark  hervor,  daß 
die  Gesamtvorführung  mitunter  etwas  Teppichartiges  erhält,  —  da- 
neben freilich  zeigt  sich  hier,  \vo  es  nicht  gilt,  dem  dramatischen 
Worte  zu  dienen,  und  wo  die  Vertreter  der  bildenden  Künste  mit 
am  Werke  sind,  die  Tendenz  zu  einer  Malerisches  und  Plastisches 
vereinigenden  Panoramakunst,  die  auf  eine  viel  fernere  Zukunft  der 
Theaterkultur  vorausweist.  Den  entscheidenden  Weg  zur  orientie- 
renden Einfachheit  der  Bühnenausstattung  findet  wieder  Jodocus 
Badius,  indem  er  zu  den  Anregungen  der  lebendigen  Darstellungen 
in  Flandern  wiederum  archäologische  Notizen  über  die  antike  Bühne 
und  nun  wohl  auch  Andeutungen  der  vom  Altertum  her  bis  in  die 
ottonische  Renaissance  vererbten  Terenzillustrationen  heranholt. 
Die  „Häuser"  der  einzelnen  Hauptpersonen  bilden  in  einer  auf  den 
von  uns  wiedergegebenen  Holzschnitten  sofort  verständlichen  Art 
den  Hintergrund  der  Bühne,  bestehen  aber  völlig  unnaturalistisch 
nur  aus  „Schwimmbadezellen",  die  durch  je  einen  Vorhang  verhüllt 
sind.  Die  dekorative  Gesamtanlage  des  Hintergrundes  sorgt  für 
einen  dem  Auge  wohlgefälligen,  aber  es  nicht  zu  stark  beschäfti- 
genden Anblick;  der  Hauptvorzug  bleibt,  daß  das  Publikum  durch 
die  Stelle,  die  die  Personen  zum  Betreten  und  Verlassen  der  Bühne 
benutzen,  sofort  zur  richtigen  Identifikation  gebracht  und  dadurch 
in  der  leichteren  Erfassung  des  dramatischen  Dichtwerks  unter- 
stützt wird.  Als  dann  durch  Vermittlung  jener  italienischen  Nach- 
ahmungen die  Terenzbühne  des  Badius  die  Grundlage  der  ersten 
Renaissancebühnenform  wird,  da  wird  der  Grundsatz,  mit  den  ein- 
fachsten Mitteln  zu  arbeiten  und  in  erster  Reihe  das  Publikum  über 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  515 

die  Richtung  des  Auftretens  und  Abgehens  der  Personen  zwingend 
zu  orientieren,  alles  übrige  Lol^ale  aber  der  diskreten  Bereitwillig- 
keit seiner  Phantasie  zu  überlassen,  noch  weiter  durchgeführt,  in- 
dem zu  jenen  Portierenhäusern  des  Hintergrundes  rechts  und  links 
noch  eine  „Via  ad  forum"  hinzukommt.  Von  Italien  wird  diese 
Bühnenausstattung  mit  den  „Szenen",  d.  h.  den  vorhangartigen 
Häusern  für  die  wichtigsten  Personen,  offenbar  auch  der  deutschen 
Schulbühne  übermittelt;  an  Requisiten  ist  daneben  wohl  nur  das 
Unentbehrlichste  verwendet  worden,  —  nur  auf  den  lebenden  Bildern 
spielen  sie  begreiflicherweise  eine  größere  Rolle. 

Minder  charakteristisch  scheint  die  Entwicklung  des  ja  auch 
zur  Ausstattung  gehörigen  Theaterkostüms  zu  sein:  um  ein 
so  scharfes  Gegeneinander  von  Alt  und  Neu,  von  Theatralisch 
und  Antitheatralisch  wird  es  sich  hier  kaum  handeln;  aller- 
dings sind  die  vorangegangenen  Untersuchungen  gerade  in  be- 
zug  auf  die  Kostüme  fast  durchweg  so  sehr  in  der  Hypothese 
oder  sogar  noch  vor  der  Hypothese  stecken  geblieben,  daß  es 
schwer  möglich  ist,  die  Ergebnisse  zu  ein  paar  allgemeinen 
Sätzen  zusammenzuballen.  Immerhin  scheint  es,  daß  die  auf 
der  mittelalterlichen  Bühne  beliebte  Charakteristik  durch  das 
Attribut,  das  auch  noch  bei  der  Aufführung  von  Gengenbachs 
„Zehn  Altern"  in  bedeutsamster  Art  verwendet  wird,  in  der 
Theaterkultur  der  neuen  Welt  zurücktritt;  ferner  findet  sich  die 
mittelalterliche  Scheidung  in  zwei  Arten  von  Kostümen:  die  der 
Nebenpersonen,  die  wesentlich  das  Alltagsgewand  tragen,  und  die 
der  heiligen  Hauptgestalten,  für  die  offenbar  eine  stilisierte  Tracht, 
z.  B.  ein  besonderer  habitiis  prophetalis  vorhanden  ist,  auf  dem  neuen 
Schauplatz  nicht  mehr.  Aber  das  ist  ja  die  beinahe  notwendige 
Folge  des  Wandels  der  dramatisch-theatralischen  Gegenstände;  wo 
die  neue  Bühne  noch  einige  der  alten  Gestalten  des  geisthchen 
Spiels,  wie  etwa  die  Engel  und  die  Teufel,  weiter  verwendet,  da  hat 
man  gewiß  die  alte  Art  der  Stilisierung  in  der  Hauptsache  beibehalten. 
Gleich  aber  bleibt  sich  besonders  eine  gewisse  Buntscheckigkeit  in 
der  Gesamtheit  der  bei  den  Aufführungen  verwendeten  Kostüme: 
ein  Nebeneinander  von  Modern  und  Unmodern,  das  sicherhch  vor 
allem  auf  die  zu  allen  Zeiten  unentbehrliche  Einrichtung  einer  nur 
allmählich  ihre  Bestände  erneuernden  Theatergarderobe  zurück- 
zuführen ist,  und  ein  Eindringen  von  allerhand  zunächst  nicht 
theatralischen  Mummereien:  ja,  in  der  festesfrohen  Zeit  der  Renais- 
sance nehmen  solche  Elemente  offenbar  sogar  noch  mehr  überhand, 
und  so  scheint  in  dieser  Hinsicht  der  neue  Schauplatz  wirklich  mehr 
Schauplatz  gewesen  zu  sein,  als  es  eigenthch  in  der  Tendenz  der 
neuen  Theaterkultur  lag.  Anderseits  meint  man  auf  den  Terenz- 
szenen  des  Radius  das  Bestreben  zu  erkennen,  die  neuesten  Aus- 
wüchse der  Mode  bei  der  Kostümierung  der  Personen  zu  vermeiden, 

33* 


516  Die  Gesamtergebnisse  und  ilir  geistiger  Sinn. 

um  so  nicht  gar  zu  sehr  die  Aufmerksamkeit  der  Zuschauer  von 
den  inneren  Hergängen  und  dem  gesprochenen  Wort  abzulenken. 
Die  geringste  Ausbeute  endhch  bietet  unser  Material  für  die 
Veränderung  der  Schauspielkunst  in  der  eigentlichen  Werde- 
zeit der  neuen  Theaterkultur:  über  den  Vortrag  der  abele  speien 
läßt  sich  nichts  sagen,  und  die  lebenden  Bilder  kommen  ja  in  bezug 
auf  Schauspielkunst  überhaupt  nicht  in  Frage.  Immerhin  scheint  sich 
bei  einem  Vergleich  des  Lyoner  Terenz  und  der  „Zehn  Alter"  des 
Pamphilus  Gengenbach  zu  ergeben,  daß  am  Ende  des  15.  und  im 
Beginn  des  16.  Jahrhunderts  jene  große  Geste  der  Arme,  die  die 
strenge  mittelalterliche  Theaterkunst  durchaus  verschmäht  hatte 
und  die  zuletzt  an  einzelnen  Stellen  eingedrungen  war,  ohne  doch 
innerhalb  des  geistlichen  Dramas  mehr  als  eine  Auflösung  des 
alten  Zurückhaltungsstils  herbeizuführen,  nun  geradezu  zum  Haupt- 
element eines  neuen  Stils  geworden  ist,  von  dem.  wir  freilich  nicht 
sagen  können,  wie  weit  er  im  einzelnen  wirklich  ausgebildet  worden 
ist.  Die  Tendenz  aber  ist  jedenfalls  Einfachheit,  Antinaturalismus 
und  starkes  Pathos,  diese  neue  Kunst  hat  wesentlich  deklamato- 
rischen Charakter:  so  ist  sie  durchaus  willig,  dem  ersehnten  neuen 
Drama  zu  dienen,  als  dessen  Wesensnotwendigkeit  gewiß  ein  stark 
pathetischer  Stil  empfunden  wurde. 

Solche  Blütenträume  sind  nicht  gereift  oder  doch  erst  viel  später 
und  dann  in  andern  Formen,  als  sie  jenen  gelehrten  Träumern  der 
Werdezeit  vor  der  Seele  schwebten.  Die  Zeit  aber,  in  der  man  sich 
mät  Surrogaten  für  ein  eigenes  Drama  begnügt,  geht  vorüber,  und 
um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  herrscht  auch  in  Deutschland 
eine  sehr  rege  dramatische  Schriftstellerei.  So  fragen  wir  zuletzt 
nach  der  Theaterkultur,  die  sich  in  der  Zeit  der  Hochrenaissance 
bei  uns  herausgebildet  hat,  insofern  die  schärfere  Beleuchtung  der 
vorangegangenen  Untersuchungen  neue  Züge  erkennen  läßt. 

Nur  dramatische  Schriftstellerei,  nicht  dramatische  Dichtung  ist 
vorhanden,  und  so  ist  es  kein  Wunder,  daß  die  Theaterkultur  noch 
keineswegs  überall  willig  ist,  dem  Drama  sich  unterzuordnen.  Von 
seltsamen  Mischungen  zwischen  Alt  und  Neu  abgesehen,  wie  sie 
das  ganze  Jahrhundert  hindurch  anzutreffen  sind,  sind  es  drei  Stätten 
theatralischer  Reinkultur,  die  wir  auseinanderzuhalten  haben:  die 
Fortsetzung  der  mittelalterlichen  Bühne,  ferner  die  vor 
allem  den  Zusammenhang  mit  der  Antike  betonende  Kunst  des 
Schultheaters  und  endhch  die  bürgerliche  Sphäre,  in  der 
man  der  neuen  Art  jener  gelehrten  Welt  sich  anzupassen,  aber 
anderseits  die  Bedürfnisse  des  eigenen  Lebens  nicht  ganz  aufzu- 
geben geneigt  ist. 

Die  Weiterexistenz  des  mittelalterlichen  Theaters  be- 
schränkt sich  keineswegs  auf  jene  südlichen  Gegenden,  in  denen  die 


Die  Gesaintergehiiisse  und  ihr  «eistiKer  Sinn.  517 

katholische  Kirche  auch  während  der  siej^reichsten  Vorstöße  der  Re- 
formation ihre  Macht  uneingeschränkt  erhält  und  wo  infolgedessen 
auch  jenes  geistliche  Stadttheater  ruhig,  ja  z.  T.  mit  gesteigerter 
Gewalt  weiter  lebt:  Tirol  und  einen  Teil  der  Schweiz.  Auch  an 
andern  Stellen,  so  besonders  in  den  protestantischen  Gebieten  der 
Schweiz,  wo  man  im  Bann  der  neuen  Ideen  die  Gegenstände  der 
alten  Spiele  nicht  mehr  auf  dem  Theater  sehen  will,  sondern  in- 
differente, ja  geradezu  antikatholische  Stoffe  behandelt,  bleibt  man 
doch  der  alten  Bühnenkultur  Untertan,  ja,  erhält  sie  wohl  geflissent- 
lich aufrecht,  um  den  Gegner  mit  den  eigenen  Waffen  zu  schlagen. 
Wieweit  dabei  etwa  doch  in  bezug  auf  irgendwelche  Punkte  in  der 
Anlage  der  Bühne,  in  der  Schauspielkunst,  in  der  Ausstattung  dem 
Modernen  Konzessionen  gemacht  wurden,  dafür  gibt  unser  Material 
leider  wenig  her,  und  auch  auf  die  alte  Welt,  die  sich  hier  er- 
halten hat,  fällt  im  ganzen  kein  Licht,  wenn  wir  absehen  von  der 
Darstellung  des  Höllenrachens,  in  der  die  alte,  die  Schaulust  be- 
friedigende Phantastik  mit  einer  modernen  bretternen  Einfachheit 
sich  paart.  Nur  hinsichtlich  der  Kostüme  erhalten  wir  durch  die 
Schweizer  Illustrationen  aus  den  vierziger  Jahren  ein  etwas  reicheres 
Bild,  und  es  deckt  sich  entschieden  mit  dem,  was  wir  für  die  Periode 
des  ausgehenden  Mittelalters  in  freilich  viel  unsichereren  Umrissen 
gesehen  haben.  Für  die  Personen,  die  auch  im  alten  neutestament- 
lichen  Spiel  aufgetreten  sind,  gibt  es  offenbar  ein  bestimmtes, 
stilisiertes  Kostüm :  für  die  Propheten  nicht  nur,  sondern  auch  für 
die  Apostel;  das  andeutende  Attribut  erscheint  wiederum:  die 
Königskrone  z.  B.  bei  Titus  und  Vespasianus,  obschon  im  Drama 
ihre  Herrscherwürde  völlig  vernachlässigt  ist,  und  die  Stola  zur 
Kennzeichnung  der  gesamten  geistlichen  Tracht.  Besonders  hand- 
greiflich sehen  wir  die  Engel,  die  Teufel  und  die  Herolde  vor  uns, 
und  auch  ihre  Ausstattung  werden  wir  im  Prinzip  mit  der  mittel- 
alterlichen identifizieren  dih-fen,  obschon  die  Hypertrophie  in  der 
Verwendung  der  Fratzen  am  Körper  der  Teufel  vielleicht  erst  eine 
Ausschreitung  der  spätesten  Zeit  ist  und  die  besonderen  Formen  in 
der  phantastischen  Ausgestaltung  der  Heroldstracht  gewiß  erst  dem 
16.  Jahrhundert  angehören.  Daß  der  Herold  das  Wappen  des  Drama- 
tikers auf  dem  Schilde  trägt,  ist  vielleicht  ein  leises  Zugeständnis 
an  die  neue  Zeit,  und  die  Rolle,  die  der  Verfasser  als  Regisseur  und 
Souffleur  während  der  Aufführung  auf  der  Bühne  zu  spielen  scheint, 
weist  möglicherweise  ebenfalls  in  diese  Richtung. 

Die  entgegengesetzte  Tendenz:  der  früheren  Theaterkultur  so 
wenig  Zugeständnisse  wie  möglich  zu  machen,  herrscht  auf  dem 
Schultheater.  Von  der  Bühnenform  und  der  Ausstattung,  mit  der 
hier  gearbeitet  wird,  ist  in  den  Untersuchungen  dieses  Buches  nicht 
die  Rede  gewesen;  wir  halten  hier  nur  die  Hauptsache  fest:  daß 
das    deutsche     Schultheater    die    Einrichtung    jener    französisch- 


518  Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

italienischen  Terenzbühne  übernimmt.  Wohl  aber  hat  sich  in  bezug 
auf  die  hier  angewendete  Darstellungskunst  Neues  ergeben,  und 
der  Sinn  des  ihr  zugrunde  liegenden  Gedankens  ist  ohne  Frage 
der:  Opposition  zu  machen  gegen  alles,  was  mit  dem  bisherigen 
Theater  in  Verbindung  stehen  kann,  und  darum  auch  in  der  Schau- 
spielkunst nur  die  Formen  anzuwenden,  die  man  für  antik  hält.  In  be- 
stimmten Teilen  der  antiken  Rhetorik,  der  actio  und  der  prominciaüo, 
glaubt  man  die  Grundsätze  wiederzufinden,  die  in  der  römischen 
Schauspielkunst  maßgebend  gewesen  sind.  So  wird  nur  in  geringem 
Maße  ein  Vortrag  und  ein  körperlicher  Ausdruck  aus  dem  Gefühl 
heraus  gewünscht;  das  Wesentliche  ist  die  Aufstellung  einer  Reihe 
von  Affekten  und  Leidenschaften  und  einer  andern  Reihe  von 
Ausdrucksbewegungen,  die  ihnen  zukommen.  Diese  Ausdrucks- 
bewegungen aber  gehören  in  liberwiegender  Zahl  der  Gesichtsmimik 
an,  die  in  der  bisherigen  Theaterkunst  nur  eine  geringe  Rolle  ge- 
spielt hatte,  und  lassen  die  große  Geste  der  Arme  und  Hände  fast 
ganz  beiseite,  die  in  der  Darstellungsart  der  Frührenaissance  ge- 
rade das  Wesentliche  gewesen  war.  Mit  diesem  Mühen  um  echteste 
Theaterkultur  aber  führt  das  Schultheater  im  Grunde  schon  wieder 
aus  ihr  heraus:  es  bringt  ein  Fremdelement  hinein:  das  pädagogische 
Prinzip,  und  es  verfehlt  seine  eigenthche  Aufgabe,  durch  die 
Bühnenkunst  nur  dem  Drama  zu  dienen.  Denn  für  das  antike  Lust- 
spiel der  Terenz  und  Plautus  mag  diese  rhetorische  Vortragskunst 
sich  geeignet  haben:  da  ist  die  psychologisierende  Gesichtsmimik 
und  die  antipathetische  Fesselung  der  Armgesten  recht  gut  am 
Platze ;  aber  die  neue  dramatische  Schriftstellerei,  die  für  die  Schul- 
bühne vor  allem  in  Betracht  kommt,  hat  nur  ausnahmsweise  einen 
psychologischen  Zug,  strebt  vielmehr  im  ganzen  durchaus  dem  Pathos 
zu,  und  so  kommen  Drama  und  Theaterkunst  hier  doch  nicht  recht 
zusammen. 

In  gewissem  Sinne  ist  jener  pädagogische  Einschlag  auch  an 
der  dritten  Stelle  der  deutschen  Theaterkultur  des  16.  Jahrhunderts, 
auf  der  Bühne  des  bürgerlichen  Dramas  vorhanden.  Ihre 
interessanteste  Stätte,  das  Theater  der  Meistersinger  von  Nürnberg, 
überschauen  wir  nach  den  Untersuchungen  des  vorliegenden  Buches 
bis  in  alle  Einzelheiten  so  deutlich  wie  keine  andere  Leistung  des 
älteren  deutschen  Theaters;  auch  hier  aber  müssen  wir  uns  mit 
einer  historischen  Einordnung  der  Hauptsachen  begnügen,  um  den 
Rahmen  dieser  Skizze  nicht  zu  sprengen. 

Es  ist  der  Sinn  der  Lebensarbeit  Hans  Sachsens  gewesen, 
neben  der  Erhaltung  der  noch  lebenskräftigen  Elemente  der  mittel- 
alterlichen Kultur  und  neben  der  Berücksichtigung  der  einfachen 
Instinkte  des  städtischen  Publikums,  so  gut  es  ging,  eine  demo- 
kratische Rezeption  des  Humanismus  zu  betreiben,  und  wie  wir 
nach    anders    gearteten  Anfängen    einen  gewissen  Zusammenhang 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  519 

mit  dem  Modernen  in  seinen  dramatischen  Werken  finden,  so  hat 
er  auch  als  Regisseur  der  Nürnberger  Meistersingeraufführungen 
vor  allem  nach  einer  Übereinstimmung  mit  den  Grundtendenzen 
der  neuen  Theaterkultur  gestrebt.  Die  Bühnen  form  dieser  Auf- 
führungen, die  seit  1550  besonders  in  der  Marthakirche  stattfanden, 
stimmt  insofern  mit  denen  der  Renaissancebühne  überein,  als  der 
Chorrauin  zum  Schauplatz  gewählt  wird  und  als  infolgedessen  für 
das  ernste  Drama  so  gut  wie  für  das  Fastnachtspiel  das  Publikum 
nicht  mehr  die  Aufführung  wie  einen  Teil  seiner  selbst  in  seiner 
Mitte  hat,  sondern  der  Darstellung  als  einer  außerhalb  seiner 
eigenen  Existenz  in  die  Erscheinung  tretenden  Leistung  gegenüber- 
sitzt. Anderseits  haben  wir  es  doch  nicht  mit  der  radikalen  Tren- 
nung von  Publikum  und  Bühne  zu  tun,  wie  wir  sie  etwa  auf  dem 
Theater  des  Jodocus  Badius  vor  uns  sehen.  Nicht  nur  fehlt  der 
trennende  Vorhang,  sondern  das  Podium,  auf  dem  gespielt  wird, 
ragt  bis  in  das  Schiff  der  Kirche  hinein,  in  dem  die  Zuschauer 
sitzen,  und  Stufen  führen  von  dort  in  den  Zuschauerraum  hinunter. 
Ja,  noch  deutlicher  kommt  es  zum  Ausdruck,  daß  auf  diesem 
bürgerlichen  Theater  das  Publikum  doch  einen  gewissen  Anteil  an 
der  Leistung  der  Bühne  besitzt:  auf  dieser  Brücke,  die  räumlich 
zwischen  ihm  und  dem  Schauplatz  des  Dramas  geschlagen  ist, 
steht  eine  Gestalt,  die  in  die  Handlung  einzugreifen  berufen  ist, 
die  aber  anderseits  als  eine  Gestalt  des  wirklichen  Lebens  mit  dem 
Publikum  in  eine  rein  theatralische  Berührung  tritt:  der  Herold, 
als  ein  Symptom  dafür,  daß  hier  neben  der  Betonung  der  Vor- 
rechte des  Dramas  auch  den  älteren  Instinkten  noch  ein  leises 
Recht  zugestanden  wird. 

Auch  die  Ausstattung  der  Bühne  Hans  Sachsens  strebt  im 
ganzen  sichtlich  dem  Modernen  zu.  Nachdem  er  in  seiner  Frühzeit 
den  Schauplatz  offenbar  noch  in  der  mittelalterlichen  Art  ange- 
ordnet hat,  ringt  er  in  den  vierziger  Jahren,  in  denen  seine  thea- 
tralische Tätigkeit  einen  neuen  Aufschwung  nimmt,  entschieden 
nach  engstem  Anschluß  an  die  Einrichtung  der  Schulbühne:  jede 
der  Hauptpersonen  hat  ihr  besonderes  Haus.  Als  dann  aber  1550 
die  Hauptzeit  der  Meistersingerbühne  einsetzt,  da  muß  die  In- 
szenierung etwas  verändert  werden:  die  größere  Zahl  der  Personen, 
die  viele  der  neuen  Hans  Sachsischen  Dramen  verlangen,  und  die 
beschränkten  Raumverhältnisse  der  Marthakirche  gestatten  die 
Gliederung  der  Hinterwand  nicht  mehr.  Die  neue  Einrichtung 
aber  gibt  mit  den  letzten  Andeutungen  der  „Häuser"  zugleich  den 
letzten  Rest  der  Erinnerung  an  die  mittelalterliche  Bühnenanlage 
auf  und  strebt  dem  modernen  Grundsatz  der  Vereinfachung  unter 
stärkster  Inanspruchnahme  der  Phantasie  des  Publikums  mit  noch 
größerer  Energie  zu.  Die  Bühne  kann  nun  bald  diesen,  bald  jenen 
Schauplatz   bedeuten,    ohne   daß    dem  Auge  des  Zuschauers  dafür 


520  Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

irgendein  Anhalt  geboten  würde;  wo  es  sich  nicht  um  Innen- 
räume handelt,  lenkt  des  Dramatikers  Wort  mit  leisem  Wink  die 
Einbildungskraft  in  die  rechten  Wege.  Festgehalten  wird  mit  großer 
Entschiedenheit  nur  eines:  die  Korrektheit  der  Richtung,  aus  der 
die  Personen  auftreten  und  in  die  sie  sich  beim  Abgehen  wenden; 
hier  verstand  die  Aufmerksamkeit  des  Publikums  gewiß  keinen 
Spaß:  war  es  doch  durch  die  jahrhundertelange  Übung  der  mittel- 
alterlichen Aufführung  dazu  erzogen  worden,  gerade  in  der  Be- 
achtung der  Richtung,  in  der  die  Hauptpersonen  auf  dem  Schau- 
platz sich  bewegten,  den  Fortschritt  der  Handlung  zu  verfolgen. 
Und  nicht  zufrieden  damit,  den  Auftritt  aus  dem  hmern  des  Hauses 
—  aus  dem  Mittelspalt  des  die  Bühne  abschließenden  Vorhangs  — 
und  das  Kommen  aus  der  Fremde  —  von  der  rechten  Seite  jener 
aus  dem  Schiff  zur  Bühne  emporführenden  Treppe  —  so  ausein- 
anderzuhalten, daß  z,  B.  Boten  und  feindliche  Heere  stets  von  vorn 
kommen,  schafft  der  Regisseur  sich  durch  eine  höchst  geschickte 
Benutzung  der  Sakristei  noch  einen  dritten  Aufgang,  der  sogar  eine 
dekorationsartige  Besonderheit  besitzt:  er  wird  durch  die  vom 
Chorraum  in  die  Sakristei  führende  Tür  gebildet,  die  nur  zum 
kleinsten  Teil  über  das  Bühnenpodium  herausragt  und  sich  dadurch 
ungemein  dafür  eignet,  als  Höhle,  als  Gefängnis,  als  Flußbett  usw. 
verwendet  zu  werden;  man  mag  es  oben  nachlesen,  wie  wirksam 
der  Regisseur  es  durch  Verwendung  dieser  Auftrittsorte  versteht, 
dem  dramatischen  Leben  der  vorgeführten  Dichtungen  zu  dienen. 
Auch  die  sonst  auf  dem  Schauplatz  vorhandenen  Dinge:  der  Chor- 
stuhl, die  Kanzel  werden  in  ähnlichem  Sinne  benutzt;  niemals 
aber  erhalten  sie  eine  dekorative  Ausschmückung,  eine  rein  thea- 
tralische Ablenkung  des  Publikums  kann  also  nicht  erfolgen.  Wenn 
die  Handlung  verlangt,  daß  jemand  über  einen  Graben  springt, 
stellt  ein  Kreidestrich  diesen  vor.  Anderseits  aber  sorgt  die  Regie 
dafür,  daß  die  Phantasie  des  Publikums,  der  soviel  im  Interesse 
des  Dramas  zugemutet  wird,  umgekehrt  in  dem  gleichen  Interesse 
auch  nicht  aus  der  mit  suggestiven  Mitteln  des  Wortes  erreichten 
Illusion  gerissen  wird:  keine  Theaterdiener  erscheinen,  um  Requi- 
siten fortzuschaffen,  die  nicht  mehr  auf  der  Bühne  bleiben  dürfen, 
ebensowenig  wie  die  vielen  Toten  des  Hans  Sachsischen  Dramas 
auf  solche  Art  oder  gar  dadurch,  daß  sie  sich  erheben  und  davon- 
schleichen, vom  Schauplatz  verschwinden  dürfen,  —  stets  ist  dafür 
gesorgt,  daß  solche  Dienste,  ohne  daß  es  zu  sehr  stört,  durch  Per- 
sonen des  Stückes,  öfters  durch  besonders  dafür  eingeführte  Sta- 
tisten entfernt  werden.  Das  Requisit,  das  im  Gegensatz  zur  Deko- 
ration stets  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  den  Trägern  des 
Dramas,  den  Menschen,  steht,  durch  die  Phantasie  zu  erschaffen, 
mutet  Hans  Sachs  seinen  Zuschauern  nicht  zu;  das  was  wirklich 
für  die  Handlung  nötig  ist,  aber  eben  auch  nur  das,  wird  aus  der 


Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  521 

Wirklichkeit  auf  den  Schauplatz  geholt  oder  mit  einfacher  Hand- 
werkskunst direkt  für  die  Aufführuntr  geschaffen;  die  Verwendung 
gar  zu  absonderlicher  Dinge  aber  wird  dabei,  soweit  es  irgend 
geht,  vermieden.  Nur  einmal,  gegen  Ende  der  Blütezeit,  kann  die 
Meistersingerbühne  der  Versuchung  nicht  widerstehen,  ein  Mittelding 
zwischen  Dekorationsstück  und  Requisit,  nämlich  ein  Schiff  zu 
schaffen;  und  alsbald  steckt  auch  der  Theaterteufel  seine  Krallen 
aus,  um  die  Folgen  dieser  Entgleisung  auszubeuten:  dieses  Schau- 
stück spielt  dann  in  der  Folgezeit  eine  stärkere  Rolle,  als  es  für 
den  reinen  Dienst  am  Drama  wünschenswert  gewesen  wäre.  Das 
Kostüm  endlich,  bei  dem  wir  in  der  eigentlichen  Reinkultur  des 
Modernen  nichts  grundsätzlich  Neues  getroffen  hatten,  weist  auch 
auf  der  Meistersingerbühne  mehr  auf  die  mittelalterliche  Art  zurück. 
Reste  der  Unterscheidung  zwischen  typischen  Personen  und  Neben- 
figuren finden  sich  immer  noch ;  auch  die  Verwendung  des  Klage- 
kleides weist  auf  eine  gewisse  Stilisierung.  Ganz  der  alten  Weise 
entsprechend  ist  besonders  die  starke  Benutzung  des  Attributs  zur 
Charakteristik:  da,  wo  die  Personen  im  übrigen  ihr  AUtagsgew^and 
tragen.  Eine  entschiedene  Fürsorge  zeigt  sich  für  die  Praxis  des 
Kostümwesens:  für  die  Ermöglichung  des  Umkleidens,  für  die 
Unterkleidung  wird  gesorgt;  aber  an  eine  rein  theatralische  Wir- 
kung der  Kostüme  auf  das  Auge  der  Zuschauer  wird  höchstens 
nach  der  Seite  der  Farbe  gedacht.  Nur  zuletzt,  in  der  gleichen  Zeit, 
als  in  dem  Requisitenmagazin  jenes  Schiff  eine  zu  große  Wichtigkeit 
erhält,  zeigt  sich  auch  unter  den  Kostümen  eines,  das  auf  die  bloße 
Schaulust  spekuliert:  ein  Drachengewand,  und  die  rein  theatralische 
Vorführung  ist  auch  hier,  wo  doch  der  beste  Wille  zur  künstleri- 
schen Unterordnung  des  Nurtheatralischen  herrscht,  so  stark,  daß 
offenbar  in  der  nächsten  Zeit  von  diesem  Schaustück  die  Wahl  der 
dramatischen  Stücke  oder  doch  die  Ausgestaltung  einiger  Szenen 
beeinflußt  wird.  Ein  deutliches  Symptom  wiederum,  daß  die  Macht 
des  Theaters  nicht  gebrochen  ist,  sondern  sich  nur  freiwillig  eine 
Zeitlang  gebeugt  hat. 

Solche  Unterwerfung  unter  die  Macht  des  Dramas  spüren  wir 
endlich  auch  in  der  Darstellungskunst  der  Meistersingerbühne: 
sie  ruht  nirgends  in  sich  selbst  oder  in  dem  eigentlichen  Bereich  des 
Gesamttheaters,  ist  —  wenigstens  bei  der  Aufführung  des  großen 
Dramas  —  streng  antinaturalistisch  und  von  der  liturgisch-religiösen 
Art  der  mittelalterlichen  Darstellung  durchaus  entfernt.  Jener 
herausfallende  Zug,  den  wir  in  der  Kunst  des  Schultheaters  fanden: 
das  pädagogische  Element  fehlt,  wie  schon  angedeutet,  auch  hier 
nicht:  die  Kunst  ist  so  eingerichtet,  daß  sie  gelernt  werden  kann; 
aber  dieses  Lernen  erfolgt  hier  nicht  im  Dienste  einer  Aufgabe, 
die  im  Grunde  noch  über  der  Aufführung  eines  Dramas  steht, 
sondern  erschöpft  sich  in  dem  Bestreben,   bei   den  bescheidensten 


522  Die  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

Kräften  die  Darstellung  einer  dramatischen  Dichtung  zustande  zu 
bringen.  Eine  starke  Stilisierung  tritt  uns  infolgedessen  überall 
entgegen,  eine  gewisse  pathetische  Feierlichkeit,  wie  sie  das  neue 
Drama  auch  so  gern  zum  Ausdruck  bringen  möchte.  So  schon  in 
der  eigentlichen  Aktion,  z.  B.  in  der  Vorführung  von  Schlachten, 
die  statt  einer  blinden  Drauflosholzerei  als  eine  Art  Nachbildung 
der  städtischen  Turniere  gegeben  werden  und  in  denen  der 
Kämpfer  gern  in  einer  pathetischen  Pose  gezeigt  wird;  auch  die 
Darstellung  körperlicher  Hergänge:  des  Schlafes,  der  Krankheit, 
des  Todes  wird  mit  der  entschiedensten  Abwendung  von  aller 
Naturnachahmung  nur  in  wenigen,  einfachen,  großzügigen  Be- 
wegungen symbolisiert,  hi  der  Darstellung  des  Seelischen  endlich 
kommt  es  noch  nirgends  darauf  an,  die  einzelnen  Gestalten  mit 
individuellem  Leben  zu  erfüllen:  das  ginge  durchaus  über  die 
Kräfte  der  Mitwirkenden,  das  ist  ferner  ein  Ziel,  das  die  Schau- 
spielkunst sich  erst  stecken  kann,  nachdem  sie  sich  aus  einer  ge- 
legentlich geübten  Dilettantenleistung  in  eine  auf  sich  selbst  ge- 
stellte Berufskunst  gewandelt  hat,  das  ist  endlich  ein  Ideal,  das 
dem  tiefsten  Sinne  der  Renaissancetheaterkultur  durchaus  zuwider 
ist,  weil  dabei  die  Gefahr  vorliegt,  daß  der  Darsteller  um  der 
Herausarbeitung  der  Individualität  willen  die  Grenzen  seiner  dra- 
matischen Dienstleistung  überschreitet.  Die  Schauspielkunst  der 
Renaissancetheaterkultur  muß  reine  Vortragskunst  sein.  Am  sicher- 
sten aber  wird  dieses  Ziel  erreicht,  wenn  es  „Regeln  für  Schau- 
spieler" gibt,  wenn  die  Zahl  der  Fälle,  in  denen  er  sich  selbst  auf 
suggestivem  Wege  mit  dem  darzustellenden  Gefühl  füllt  und  dann 
unwillkürlich  den  entsprechenden  Körperausdruck  schafft,  be- 
schränkt bleibt.  So  ist  es  auch  auf  der  Meistersingerbühne,  mit 
um  so  größerem  Recht,  als  den  guten  „Meistern"  jene  autosuggestive 
Kraft  gewiß  nicht  in  hohem  Grade  zur  Verfügung  stand;  hier  wie 
schon  auf  dem  mittelalterlichen  Stadttheater  und  wie  auf  dem  Podium 
der  Schulaufführungen  wird  aus  der  schauspielerischen  Not  eine 
theatralische  Tugend  gemacht.  Wie  auf  der  Schulbühne  haben  die 
Darsteller  vielmehr  in  der  Hauptsache  nach  einem  System  von  Einzel- 
vorschriften zu  arbeiten.  Nur  ist  es  bei  weitem  nicht  so  eingehend 
wie  das,  an  das  die  Schüler  sich  zu  halten  haben,  und  vor  allem: 
es  wendet  sich  nicht  ab  von  jenem  Zuge  zur  großen  Geste,  den  wir 
um  die  Wende  des  15.  zum  16.  Jahrhundert  getroffen  hatten,  sondern 
macht  ihn  mit  der  innerlichsten  Freude  mit.  Wenn  wir  bei  der 
Betrachtung  jener  Zeit  zweifeln  konnten,  ob  sie  es  wirklich  schon 
zu  einer  Stilisierung  der  neuen  Tendenz  gebracht  hat  —  jetzt  ist 
diese  Stilisierung  durchaus  vorhanden. 

So  fehlt  denn  hier  die  Gesichtsmimik,  die  in  der  Kunst  der 
Schulbühne  besonders  gern  verwendet  wird,  ganz  und  gar,  und 
neben  dem  Kniefall  ist  es  in  allererster  Reihe  die  große  Bewegung 


Die   Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn.  523 

der  Arme  und  der  Hände,  durch  die  hier  das  gesprochene  Wort 
unterstützt  wird.  Im  Zentrum  der  so  den  Darstellern  einstudierten 
Gesten  steht  eine  ganze  Bewegungsskala,  die  gelegentlich  in  ihrer 
steigernden  Folge,  gewöhnlich  aber  je  nach  der  Situation  in  ihren 
einzelnen  Elementen  benutzt  wird:  Händezusammenlegen,  Hände- 
aufheben, Händewinden,  Händezusammenschlagen,  Armeaufheben, 
Händeüberdemkopfzusammenschlagen.  Alles  andere  tritt  daneben 
zurück;  ein  paar  Reste  der  religiös-liturgischen  Bewegung  zeigen 
sich  im  biblischen  Drama,  gewöhnlich  aber  wird  einfach  das  aus- 
wendig gelernte  Wort  vorgetragen,  auch  ohne  besondere  Nüancierung 
der  Stimme,  die  auch  zum  Schreien  nur  erhoben  wird,  wenn  die 
räumliche  Situation  es  verlangt.  Um  so  mehr  tritt  die  Bedeutung 
jener  großen  Gebärden  hervor,  in  denen  Trauer,  jäher  Schmerz, 
Entsetzen,  flehentliche  Bitte,  leidenschaftliche  Zuneigung  zum  ein- 
prägsamsten Ausdruck  kommen.  Lyrisch-pathetisch  oder  vielleicht 
noch  richtiger  sentimental-pathetisch  unter  Verzicht  auf  jede  psycho- 
logische Verfeinerung :  das  ist  der  Grundcharakter  dieser  Vortrags- 
kunst, und  er  eint  sich  mit  jener  pathetisch  stilisierten  Art  der 
Aktion  zu  einem  einheitlichen  Gesamtbilde,  in  das  auch  der  feierlich- 
zeremonielle Zug,  der  durch  die  pedantische  Einhaltung  jeder  Ge- 
legenheit zur  Begrüßung  entsteht,  sich  trefflich  einfügt.  Und  im 
Gegensatz  zu  der  Differenz,  die  in  der  Schauspielkunst  der  Schul- 
bühne besteht  zwischen  dem  Sinn  der  Vortragsart  und  dem  Wesen 
des  Dramas,  dem  jene  doch  dienen  möchte,  ist  hier  entschiedenste 
Übereinstimmung  mit  den  Grundtendenzen  der  bürgerlichen  Dramen- 
kunst des  16.  Jahrhunderts  vorhanden. 

Zum  Fastnachtspiel  freilich  hätte  diese  Darstellungsart  in  völlig 
reiner  Durchführung  ganz  und  gar  nicht  gepaßt:  denn  in  diesem 
dramatischen  Gebilde,  zumal  in  der  Form,  die  Hans  Sachs  ihm  gab, 
ist  die  Nähe  der  Wirklichkeit  des  Alltagslebens  allzu  greifbar  zu 
spüren,  treten  lyrische  Pathetik  und  Mühen  um  Feierlichkeit  allzu 
sehr  zurück,  wird  eine  verhältnismäßig  subtile  Seelenkunst  allzu 
deutlich,  als  daß  jene  lyrisch-pathetische,  zeremonielle,  antinatura- 
listische, antipsychologische  Vortragsart  irgendwie  hätte  genügen 
können.  So  ist  denn  tatsächhch  hier  eine  andere  Grundlage  der 
Darstellung  auf  der  Meistersingerbühne  zu  finden:  in  der  Aktion 
macht  sich  ein  Naturalismus  geltend,  der  jeder  Versuchung  aus  dem 
Wege  geht,  etwa  eine  Prügelei  zu  stilisieren;  die  körperlichen  Zu- 
stände werden  viel  drastischer  und  wirklichkeitsgemäßer  vorgeführt, 
als  der  große  Stil  es  erlaubte,  wobei,  besonders  auch  in  der  Dar- 
stellung der  Krankheit,  die  kostümliche  Charakteristik  in  ganz 
anderm  Umfange  angewendet  wird  als  im  großen  Drama;  für  die 
körperliche  Ausprägung  des  Seelischen  wird  die  dort  verschmähte 
Gesichtsmimik  in  verhältnismäßig  weitem  Umfange  zugelassen,  und 
auch  Ansätze  zu  einer  Differenzierung  der  Stimmstärke  in  anderm 


524  I^iö  Gesamtergebnisse  und  ihr  geistiger  Sinn. 

als  bloß  räumlichem  Interesse  fehlen  nicht.  All  dem  gegenüber  aber 
herrscht  doch  auch  hier  auf  der  Meistersingerbühne  das  Gefühl, 
einer  zu  weiten  Ausdehnung  dieser  naturalistisch-psychologischen 
Kunst  entgegentreten  zu  müssen,  weil  sie  die  in  der  Renaissance- 
theaterkultur am  meisten  bekämpfte  Gefahr  in  sich  birgt,  dem  rein 
Theatralischen  zu  starke  Zugeständnisse  machen  zu  können.  So 
wird  denn  auch  hier  stilisiert:  neben  jenen  naturahstischen  Elementen 
zeigen  sich  die  Grundzüge  des  Stils,  der  sich  bei  der  Aufführung 
des  großen  Dramas  bewährte. 

Das  Ganze  des  meistersingerischen  Theaters  iiberschauend 
müssen  wir  sagen,  daß  hier  immerhin  das  Prinzip  der  Renaissance- 
theaterkultur in  der  Praxis  am  meisten  ausgeprägt  ist,  ja,  daß  neben 
dem  Streben,  in  erster  Reihe  dem  dramatischen  Wort  zu  dienen, 
ein  gewisses  Bemühen  sich  zeigt,  auch  den  rein  theatralischen  In- 
stinkten des  Publikums  in  ungefährlichem  Umfange  zu  Willen  zu 
sein.  Wir  haben  an  dieser  Stelle  also  zum  ersten  Male  so  etwas 
wie  einen  Zug  zu  dem  vor  uns,  was  wir  als  das  Klassische  be- 
zeichneten :  zu  einem  harmonischen  Miteinander  und  Nebeneinander 
von  Drama  und  Theater.  Nur  daß  leider  einerseits  das  Dramatische 
noch  auf  einer  sehr  tiefen  Stufe  steht  und  daß  anderseits  auch  die 
Theaterkunst  fast  ganz  im  Bann  eines  philiströsen  Dilettantismus 
bleibt.  Und  so  hat  das  Ganze  denn  wie  aller  meistersingerische 
Betrieb  auch  nur  als  Symptom  der  Sehnsucht  und  des  Strebens, 
nicht  als  künstlerische  Leistung  seinen  Wert. 

Mit  den  gleichen  Verhältnissen  aber  hängt  es  auch  zusammen, 
daß  solche  Sehnsucht  in  dem  Zeitalter,  von  dem  hier  geredet  wird, 
überhaupt  nicht  erfüllt  wurde,  daß  eine  Fortentwicklung  über  den 
auf  der  Nürnberger  Meistersingerbühne  erreichten  Punkt  nicht  er- 
zielt ist.  Hans  Sachs  hat  Schüler  gehabt,  aber  es  sind  kleine  Leute  wie 
Andreas  Pfeilschmidt  und  Sebastian  Wild,  und  wenn  er  selbst  schon 
nur  in  den  engsten  Bezirken  seines  weiten  Reichs  ein  Meister  war, 
so  haben  die  Schüler  weder  im  Dramatischen  noch  im  Theatralischen 
es  zu  Eigenem  und  Wertvollem  gebracht.  Und  erst  bei  Hans 
Sachsens  Nürnberger  Nachfahren  Jakob  Ayrer  gesellt  sich  um  die 
Wende  des  17.  Jahrhunderts  zu  dem,  was  er  von  jenem  Vorgänger 
überkommen  hat,  das  wesentliche  Grundelement  der  Theaterkultur 
einer  neuen  Epoche.  Für  diese  neue  Theaterkultur  aber,  die  ganz 
und  gar  nicht  mehr  geneigt  ist,  sich  dem  Dramatischen  unter-  oder 
auch  nur  nebenzuordnen,  die  vielmehr  im  Interesse  ihrer  eigenen 
zügellosen  Entfaltung  auch  den  grandiosesten  Dramatiker  rücksichts- 
los unter  die  Füße  tritt,  hat  das  vorliegende  Buch  neue  Aufschlüsse 
nicht  mehr  zu  geben  versucht,  und  so  darf  hier  nun  endlich  der 
Vorhang  fallen. 


Berichtigungen  und  Nachträge. 

S.  5  lies  philologische. 

S.  8,  Anm.  3.  Die  Schrift  von  H.  Knudsen  [niclit  Kundsen]  über  Beck  ist  inzwischen 
erscliienen:  Heinrich  Beck,  ein  Schauspieler  aus  der  Blütezeit  des  Mannheimer  Theaters 
im  18.  Jahrhundert.  Theatergeschichtliche  Forschungen  24  (Leipzig  und  Hamburg  1912). 
—  Ich  nenne  hier  ferner  noch:  R.  Bitterling,  J.  F.  Scliink,  ein  Schüler  Diderots  und 
Lessings.  Beitrag  zur  Literatur-  und  Theatergeschichte  der  deutschen  Aufklärung.  Theater- 
geschichtliche Forschungen  23  (Leipzig  und  Hamburg  1911)  und  B.  Diebold,  Das  Rollen- 
fach im  deutschen  Theaterbetrieb  des  18.  Jahrhunderts.  Theatergeschichtliche  Forschungen  25 
(Leipzig  imd  Hamburg  1913). 

Die  Sclirift  von  J.  Mau  er  mann.  Die  Bühnenanweisungen  im  deutschen  Drama 
bis  1700  (Berlin  1911),  leidet  empfindlich  darunter,  daß  sie  theatergeschichtliche  Ergeb- 
nisse fast  allein  aus  den  szenischen  Bemerkungen  gewinnen  will.  So  hätte  sie,  auch 
wenn  sie  früher  erschienen  wäre,  mit  ihren  Darlegungen  S.  17ff.,  S.  38  ff.,  S.  50  fL  die 
Untersuchungen  des  vorliegenden  Buches  kaum  gefördert.  —  Die  nach  dem  Abschluß  des 
ersten  Kapitels  veröffentlichte  Dissertation  von  A.  Glock,  Die  Bühne  des  Hans  Sachs  I 
(München  1903)  auch  nur  polemisch  nachträglich  heranzuziehen,  lag  ebenfalls  keine  Ver- 
anlassung vor. 

S.  8,  Anm.  4.  Jetzt  kann  auch  noch  auf  Kost  er  s  wichtige  Studie  „Das  Bild  an 
der  Wand.  Eine  Untersuchung  über  das  Wechselverhältnis  zwischen  Bühne  und  Drama" 
verwiesen  werden:  Abhandlungen  der  phil.-hist.  Klasse  der  sächs.  Akademie  27  (1909), 
S.  267—302. 

S.  9,  Anm.  2.     Die  Schrift   von   G.  Cohen,    Geschichte   der  Inszenierung    im   Geist- 
lichen Schauspiele    des  Mittelalters    in   Frankreich.     Vermehrte    und   verbesserte   Auflage. 
Ins  Deutsche  übertragen  von  C.  Bauer  (Leipzig  1907),    die   hier  vielleicht   neben   den   auf 
die  englische  Bühne  bezüglichen  Schriften  genannt  werden  könnte,    vertritt,    bei  mannig- 
fachen Vorzügen,  noch  nicht  die  Forderung  einer  wirklich  kritischen  Prüfung  des  Materials. 
S.  15,  Anm.  4.     Vgl.  das  Vorwort. 
S.  25,  ZI.  16  V.  u.  lies  gelesener  statt  gelesene. 
S.  36,  Anm.  1  vgl.  zu  S.  15,  Anm.  4. 
S.  39,  ZI.  24  lies  Orlientz. 
S.  49,  ZI.  4  lies  in  ir  schos. 

S.  61,  Anm.  2.  Einiges  Material  auch  bei  E.  Soll,  Tappisseries  conservees  ä  Quedlin- 
bourg,  Halberstadt  et  quelques  autres  villes  du  Nord  de  l'Allemagne:  Bulletin  de  la  Gilde 
de  St.-Thomas  et  St.-Luc  22  (Brügge  1889).  —  Vor  allem  scheinen  die  Teppiche  im 
Rathaus  zu  Regensburg  (vgl.  v.  d.  Leyen  und  Spam  er  in  „Das  Rathaus  zu  Regens- 
burg", Regensburg  1910,  S.  71—105)  dafür  zu  sprechen,  daß  doch  auch  Deutschland  im 
Mittelalter  einige  Leistungen  von  größerer  Bedeutung  aufzuweisen  hat;  oder  man  müßte 
annehmen,  daß  diese  Teppiche  mit  den  in  sie  eingewirkten  deutschen  Worten  auf  Bestellung 
in  den  Niederlanden  oder  in  Frankreich  hergestellt  worden  sind. 

S.  66,  ZI,  13  V.  u.    Bei  den  Kleinmeistern  handelt  es  sich  wohl  mehr  um  Klassizismus. 
S.  89  unten :  Die  Erörterung  über  den  Kahn  in  der  Züricher  TeUaufführung  ist  nach 
S.  462  ff.  nicht  aufrecht  zu  erhalten. 

S.  90,  ZI.  10  V.  u.  lies  Romuhis  und  Remiis. 
S,  96,  ZI.  14.     Der  Sims  ist  allerdings  schräg  (vgL  Abb.  4). 

S.  112,  Anm.  1.     Das   ost-  und  westpreußische  Trachtenbuch   ist  jetzt   in  den  Besitz 
der  Generalintendantur  der  Kgl.  Schauspiele  zu  Berlin  übergegangen. 
S.  118,  ZL  15  lies  Aufstellung. 
S.  128,  ZL  16  V.  u.  tilge  die  Klammer  vor  genau. 


526  Berichtigungen  und  Nachträge. 

S.  129  letzte  Zeile  lies  1555. 

S.  142,  Anm.  1,  ZI.  2  lies  Harscherin. 

S.  145,  ZI.  15  lies  sachsischen. 

S.  187f.  Der  hier  hervorgehobene  Gegensatz  zwischen  dem  Ideal  der  Zucht,  die 
die  Unterdrückung  des  Schmerzes  vorschreibt,  und  der  Neigung,  unter  besonderen  Um- 
ständen die  Tränen  fließen  zu  lassen,  tritt  höchst  sinnfällig  Willehalm  152,1  ff.  hervor. 

S.  161,  ZI.  19  V.  u.  hinter  (jaiiz  ist  allein  ausgefallen. 

S.  165,  Absatz  2.     Diese  Darstellung  ist  nach  S.  508   zu  berichtigen. 

S.  166,  ZI.  22  lies  Dirigierrolle. 

S.  174,  ZI.  18  lies  Sachs'. 

S.  193,  ZI.  2  lies  Helmbrecht. 

S.  193,  ZI.  23  lies  bliuclichen. 

S.  194,  ZI.  4  lies  eislicher. 

S.  198,  ZI.  9  V.  11.  lies  kontrastieren. 

S.  203,  Anm.  3  lies  lese. 

S.  204,  ZI.  3  f.  lies  besser  Ehrerbietungsbezeuguncj. 

S.  212,  Anm.  2.  Nachzutragen  wären  etwa  noch:  Speculum  humanae  salvationis 
ed.  J.  Lutz  u.  P.  Perdriget  (Mühlhausen  1907—9),  bes.  Bd.  1,  S.  175  ff.,  u.  Die  Biblia 
Pauperum  u.  Apokalypse  der  großherzog!.  Bibl.  zu  Weimar,  her.  v.  H.  von  der  Gabelentz 
(Straßburg  1912),  bes.  S.  19  ff. 

S.  220,  ZI.  1  lies  Überlieferung. 

S.  220,  ZI.  9  ff.  Eigentlich  erübrigt  es  sich  wohl,  hier  noch  besonders  zu  betonen, 
daß  für  die  a.  a.  0.  gebotene  Gesamtdarstellung  den  S.  220,  224,  226  als  wichtig  be- 
zeichneten Schriften  wichtige  Erkenntnisse  entnommen  sind. 

S.  224,  ZI.  10  V.   u.  statt  von  lies  voll. 

S.  233,  ZI.  16  statt  gebogenen  lies  gehobenen. 

S.  286,  ZI.  8  V.  u.  lies  (S.  208  f.) 

S.  291,  Anm.  7,  ZI.  4.  Dringend  nötig  ist  besonders  auch  eine  kritische  Untersuchung 
der  u.  S.  479  und  499  erwähnten  ApoUoniaminiatur  Foucquets. 

S.  331.  Von  späteren  Ablehnungen  erwähne  ich  noch  die  H.  Wölfflins,  Die  Kunst 
A.  Dürers  (München  1905),  S.  311;  dort  ist  auch  noch  andere  Literatur  genannt. 

S.  349,  Bildunterschritt  lies  111,1. 

S.  359,  ZI.  15  V.   u.  statt  für  lies  auf 

S.  368,  ZI.  12  V.  u.  statt  Über  die  lies  Von  der. 

S.  387,  Abb.  70.  Besonders  hingewiesen  sei  hier  noch  auf  die  Gestalt  des  Sisera 
und  die  Art,  wie  sein  Schlafen  dargestellt  wird:  allem  Natürlichen,  der  bildkünstlerischen 
Tradition  (vgl.  z.  B.  Abb.  71/2)  und  auch  der  biblischen  Quelle  zuwider.  Ob  wir  hier  ein 
Abbild  der  symbolischen  Darstellung  des  Schlafs  auf  dem  Theater  vor  uns  haben? 

S.  443,    Bildunterschrift    füge  hinzu    Der  Mönch  mit  dem  Gouclivogel  (vgl.  S.  441). 

S.  500.  ZI.  6.  Hingewiesen  hatte  hier  z.  B.  noch  auf  die  Drucke  V.  Boltzscher 
Dramen  werden  können,  die  J.  Kündig  1551  in  Basel  veranstaltete;  doch  hat  bereits  der 
Herausgeber  des  „Weltspiegels",  A.  Geßler  (Schauspiele,  Schweizerische  2,  S.  105)  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  die  ihm  beigegebenen  „Figuren"  größtenteils  Boltz'  nicht-drama- 
tischem „Illuminierbuch"   v.  J.  1549  entnommen  sind. 

S.  510,  ZI.  19ff.  Die  Annahme  von  Hammitzsch  S.  5f.  und  Cohen  S. 85, daß  auch  das 
mittelalterliche  Theater  wenigstens  in  Frankreich  bereits  die  vom  Publikum  losgelöste  Bühne 
gekannt  habe,  vermag  icii  nicht  zu  teilen;  ihre  Widerlegung  würde  hier  aber  zu  weit  führen. 
S.  517,  ZI.  12.  Auch  die  Schauspielkunst  der  Schweiz  scheint  konservativ  zu  sein: 
wenigstens  weist  H.  Bullingers  um  1529  entstandene  „Lucretia"  mit  ihren  für  die  Dar- 
steller bestimmten  Charakteristiken  der  Personen  (s.  Schauspiele,  Schweizerische  1,  S.  168  f.) 
auf  ältere  Art  zurück,  —  allerdings  nicht  auf  die  des  geistlichen  Sladttheaters,  sondern 
auf  den  typisierenden  Naturalismus  des  Fastnachtspiels,  mit  dem  die  „Lucretia"  auch 
hinsichtlich  der  dramatischen  Technik  durch  die  formale  Nachahmung  des  Waldisschen 
Fastnachtsspiels  vom  verlorenen  Sohn  verbunden  ist. 


Namen-  und  Sachregister. 

(Abkürzungen:  BK.  =  Bildkunst;  NTE.  =  Neutestamentliclie  Erzählung  in  Deutschland; 
P.  =  Passionsspiel ;  Th.  =  Theater. ) 


Abele  speien  288,  308  f.,  312,  317f., 
386,  398,  511. 

Abgehen  s.  Aufti-eten   u.    Abgehen. 

Abimelech  (Th.)  377,  382,  400. 

Ablehnung  (Th.)  263  f. 

Abneigung  (Th.)  162  f.,  166. 

Abscheu   (Epos)   193.  —  (Th.)   25-t. 

Abschied  (Epos)  180,  184  f.,  190  f., 
193.   —  (Th.)  248,  265. 

Actio  259. 

Actor  s.  Regie. 

Adolf  von  Cleve  369. 

Äi-ger  (Th.)  162,  249. 

Agricola,  J.  105. 

Ahasverus  (Th.)  386. 

Aktion  (Th.)  s    Schauspielkunst. 

Aktschluß,  Dramaschluß  42. 

Alberti,  L.  B.  310  f.,  314. 

Alexander  d.  Große  (Th.)  384. 

Alexanderlied  181,  183. 

Allegorie  384. 

Allegorisches  Epos  197,  200. 

Alsfelder  P.  83,  85,  160,  166,  173, 
243. 

Altdorfer,  A.  449. 

Altertum  s.  Antike. 

Altes  Testament  (BK.)  212,  390  ff.  — 
(Th.)  381,  385.  —  S.  auch  Abi- 
melech, Ahasverus,  David,  Debora, 
Esther,  Hiob,  Jakob,  Josua.  Judith, 
Moses,  Nebukadnezar,  Rebecca, 
Saba,  Salomo,  Susanna,  Tobias, 
Tubal;  s.  auch  Sachs,  Hans. 

Amerbach,  J.  330  ff. 

Amiens,    Kathedrale    zu    417,  425. 

Amman,  J.  91,  392. 

Anbetung  s.  Gebet. 

Anbetung  der  drei  Könige  (BK.)  233, 
235,    238,    240  f.   —   (Th.)    240  f. 


Andacht  (BK.)  222,  223,  225,  230, 
232,  238.  —  (Epos)  185,  188, 
193.  —  (Th.)  245. 

Angst  (BK.)  221,  222,  224,  229,  230, 
235.  —  (Epos)  180,  184  f.,  187  ff., 
192  f.,  200,  251  f.  —  (Th.)  162, 
172  f.,  246,  248,  263.  —  S.  auch 
Todesangst. 

Annaberg  (BK.)  426,  432. 

Annas  u.  Christus  (Th.)  249. 

Anshelm,  V.  105. 

Anspeien  s.  Speien. 

Antike.  Gesten  der  221,  223,  229  f., 
261  ff. 

Antike  Stoffe  (Th.)  386  ff.  —  S.  auch 
Alexander,  Argonauten,  Ast;y^ages, 
Cadmus,  Hercules,  Hippolyta, 
Jason,  Paris,  Pentesilea,  Perseus, 
Romulus,  Semiramis,  Sibylle,  Sino- 
pis,  Theodosius,  Tomyris,Tra.(anus, 
Troja;  s.  auch  Sachs,  Hans. 

Antike  Tracht:  Darstellung  auf  dem 
neueren  Th.  114,  llSff.,  122. 

Antikes  Drama,  moderne  Auffüh- 
rungen 294  ff.,  301. 

Antikes  und  mittelalterliches  Theater 
290,  299  f,  .307,  319. 

Antwerpen  (Th.)  366,  376,  380  f. 

Apokn^hen  2011,  2051,  2101 

Aposteltracht  (Th.)  117,  488  f. 

Apuleius  442. 

Argonauten  (Th.)  386. 

Armbewegungen  (Bibel)  117.  —  (BK.) 
219,  2211,  2991,  2321  —(Litur- 
gie) 204.  —  (Th.)  246,  267,  410.  ^ 
S.  Armeaufheben,  Armeausbreiten, 
Armeausstrecken, 

Armeaufheben  (BK.)  221,  223,  230, 
232,  269.  —  (Epos)  255  (Auf- 
recken).  —   (Th.)  242,   247,   264. 


52 


Namen-  und  Sachi-egister. 


Armeausbreiten   (BK.)  223.  —  (Th.) 

243. 
Armeausstrecken  (BK.)  239.  -  (NTE.) 

208  f.  —  (Th.)  244. 
Ars  dicendi  sive  perorandi  256. 
Assche  301. 

Astyages  (Th.)  382,  389. 
Attribute    (Th.)    103  f.,    115,    135  f., 

155,430,550.-8.  auch  Requisiten. 
Auffahren  (Epos)  252.  —  (Th.)  244, 

246. 
Aufmerksamkeit  (Th.)  263. 
Aufsangesichtfallen  (Th.)  250. 
Aufspringen  (Epos)  183,  190,  198.— 

(NTE.)  206.  —  (Th.)  246. 
Auftreten    u.    Abgehen    (Th.)  24  ff., 

30  ff.,  49,  51,  514  f.,  520. 
Augen  s.  Blicken. 
Augenreiben    (BK.)    237.   —   (Epos) 

253.  —  (Th.)  244. 
Augsburg  106,  109  ff.,  297,  413  f. 
Ausspeien  s.  Speien. 
Ausstattung  s.  Dekoration. 
Ayrer,  J.  524. 


Badius,  J.  300,  318  f.,  336  ff.,  348, 
352,  398,  511,  513  f. 

Barte  (Th.)  417,  432. 

Baibus,  H.  301. 

Bamberg,  Chorschranken  226 ;  Skulp- 
turen 228. 

Bartfassen  (-drehen,  -raufen)  (BK.) 
230,  238.  —  (Epos)  182,  195,  253. 

Bartholomäusmeister  239. 

Basel  (BK.)  419  ff.,  526.  —  (Kostüme) 
433.  —  (Th.)  123  f.,  421  ff. 

Baseler  Terenz  329  ff.,  363  f. 

Basken  108. 

Beda  205. 

Beham,  H.  S.  66,  269,  442,  525. 

Beileid  (Th.)  248. 

Beleuchtung  (Th.)  400. 

Bembo,  P.  278. 

Benediktbeurer  Weihnachtsspiel  85. 
165,  172,  438,  506,  508. 

Berger,  Th.  500. 

Bergmann,  J.  331. 

Berlin  112. 

Bernhard  von  Clairvaux    s.  Planctus. 

Bern  413,  444  ff.  (Th,) 

Bertelli,  D.   108,  111. 

Bertram,  Meister  234. 


Beten  s    Gebet. 

Bewunderung  (Th.)  262. 

Bibel,  Gesten  der  176,  261. 

Bibel,  Lübecker  317,  387,  408,  410; 
Wittenberger   114;   Züricher  489. 

Bibliae  pauperum  211  f.,  215,  526. 

Bibhae  picturatae  213. 

Bibliophilen  in  Frankreich  283. 

Bilderhandschriften  212. 

Bildkunst  (Gesten)  210  ff.,  268  ff.  — 
(Kostüme)  114,  357  ff.  —  (Stoff- 
wahl) 211  ff.  —  (BK.  u.  Dichtung) 
25  103,  240, 242.  —  (BK.  u.  Kirche) 
210  ff.,  214,  217.  —  (BK.  u.  Th.) 
47,  114,  116,  240  ff.,  268  ff.,  353  f., 
376  ff.,  405,  408  f.,  491,  498. 

Binder,  J.  258,  455,  460. 

Birck,  S.  455,  459,  467. 

Bitten  (BK.)  221,  229.  —  (Epos)  180, 
183,  191,  252.  —  (Th.)  162  f.,  246, 
254,  410.  —  S.  auch  Flehen. 

Bleich  werden  s.  Erbleichen. 

Blicken  (Bibel)  176f.(BK.)  226,  230f., 
233,  235  f.,  238  f.  -  (Epos)  184, 
192,  194  f.,  198,  200,  251,  253.  — 
(Liturgie)  203.  —  (NTE.)  205.  — 
(Prediger)  202.  —  (Th.)  161,  166, 
242,  245,  247,  254,  263. 

Blondeel,  L.  390. 

Blut  auf  dem  Th.  132. 

Boccaccio,  G.  279. 

Böhmische  Malerschule  232. 

Boldini  392. 

Boltz,  V.  127,  352,  526. 

Boner,  U.  324. 

Bordesholmer  Marienklage  242. 

Borghini  63. 

Bouts,  D.  392. 

Braguettes  407  f. 

Brant,  S.  330  ff.,  336  ff.,  340  ff . 

Breslau,  Regeln  für  die  Schulauf- 
führungen in  259. 

Brevier  Grimani  391. 

Breydenbach,  D.  105 

Briefe  (Th)  147. 

Brigitte,  hl.  439. 

Brosamer,  H.  442. 

Brügge  365,  377.  —  (Th.)  370,  379  f., 
383  f.,  397,  400,  403  f. 

Brüssel  (bes.  lebende  Bilder)  301, 
365  ff.,  404,  490,  492,  504. 

Brunner  von  Zofingen  418,  505. 

Brusts{!hlagen  (und  -greifen)  202.  — 
(Bibel)  177.  —  (BK.)  230.  —  (Epos) 


Namen-  und  Sachregister. 


529 


182,  188,  195,  252.  —  (Liturgie) 
203.  —  (NTE.)  205,  207  f.  —  (Tli.) 
250,  264,  284. 

Bruyn,  N.  de  427,  430. 

Bühne,  Bühnenfonii :  (Bilder,  lebende) 
368  ff.,  397  f.  —  (Fastnachtspiel-) 
504  f.  —  (Marktplatz-)  25,  526.  — 
(Meistersinger-)  13ff.,  bes.  56,  519. 
—  (Renaissance-)  353  f.,  510  ff.  — 
(Schultheater-)  354,  517. 

Bürgerliche  Epik  197  ff. 

BulHnger,  H.  455,  526. 

Burgfelden,  Weltgerichtsbilder    221. 

Burgund  (Th.)  374. 

Byzantinische  Bildkunst  225  f. 


Cadmus  (Th.)  384. 

Calcar,  Altar  v.  239. 

Calixt  und  Melibia  114. 

Calhopius  257,  284,  286  f.,  345. 

Calphurnius,  J.  344,  348. 

Cambrai  (Th.)  374. 

Cappuge,  J.  378. 

caveae  321. 

Chöre  (Th.)  305. 

Christus:  Geburt  u.  Jugend  (BK.) 
212,  214,  217,  230,  237f.,  437 ff.  — 
Lehre  u.  Wunder:  (BK.)  212,  214, 
221  f.;  (Th.)  159.  —  Einzug  in  Jeru- 
salem (BK.)  445  ff.  —  Ölberg  (BK.) 
215f.,466f.;  (NTE.)244;  (Th.)159f., 
178,  244,  249.  — Leiden  (BK.)  212, 
214,  217,  234f.,  237,  413ff.;(NTE.) 
207;  (Th.)  148,  159  f.,  202,  249, 
370.  —  Kreuzigung  (BK.)  223,  230, 
232ff.,  237,  239;  (NTE.)  207,  209; 
(Th.)  159.  —  Ki-euzabnahme  (BK.) 
230;  (NTE.)  207.  —  Grablegung 
(NTE.)  207.  —  Glorie  (BK.)  212, 
2221,  227,  229.  —  S.  auch  An- 
betung der  drei  Könige,  Annas, 
Ehebrecherin,  Judas,  Kaiphas,  Lon- 
ginus,  Maria,  Maria  Magdalena, 
Peti'us,  Pilatus'  Frau,  Zenturio. 

Christuskostüm  115  f. 

Chronikenillustration,Schweizerische 
412  f. 

Cicero  256  ff.  261. 

Cliches  323  ff. 

Clichemanier  353  f. 

Clicheverkauf  420  f. 

H  e  r  r  m  a  n  u  ,  Theater. 


Codex  Egberti  222. 

Comes  211. 

Commedia  dell'  arte  308  f. 

Concordantiae  caritatis  213. 

Cortez,  F.  108,  110. 

Cranach,  L.  d.  ä.  442,  446  ff.,   479. 

Culmann,  L.  15,  256. 

Curio,  V.  444. 

Curti,  J.  362. 


D 


Dank  (Epos),  180,  183f.,  189ff. — 
(Th.)  162,  246  ff.,  263. 

David  (BK.)  390.  —  (Th.)  382,  384, 
386. 

David,  G.  390,  392. 

Debora  (Th.)  382,  385. 

Dekoration  43  ff.,  57  ff.,  398  ff.,  510, 
513  ff. 

Dekorationsmalerei  62  ff. 

Demut  (BK.)  222  f.,  230,  232,  363. 
—  (Th.)  262. 

Devotion  s.  Demut. 

Dialog  als  theatergeschichtliche 
Quelle  102  f. 

Dialogliteratur  452,  454. 

Dinckmut,  C.  292. 

Donatus  257,  306  f.,  310  f.,  348. 

Donaueschinger  F.  159  f.,  166,  173, 
243,  509. 

Drachenkostüm  (Th.)  130,  378,  521. 

Drama  (u.  Gottesdienst)  176.  — 
(Illustrationen)  273  ff.  —  (als  Lese- 
hteratur)  454.  —  (des  Mittelalters) 
504.  —  (Manuskripte)  164.  — 
(der  Renaissance)  510  f.,  516.  - — 
(u.  Theater)  3  f.,  41,  130,  132, 
510  fL 

Dramen  des  Mittelalters,  geistliche 
s.  Alsfeld,  Benediktbeuren,  Bordes- 
holm, Donaueschingen,  Dresden, 
Eger,  Erlau,  Frankfurt,  Heidelberg, 
Nürnberg,  Redentin,  Rheinau, 
Ronen,  Tirol,  Trier,  Wolfenbüttel. 

Dreikönige  s.  Anbetung. 

Dreireim  418. 

Dresdener  Johannisspiel  490,  492  f. 

Drohung  (Th.)  162,  244. 

Dürer,  A.  105,  239,  268  ff.,  329  ff., 
409,  442,  449,  467. 

Dummheit  (Th.)  263. 

Dupuys,  R.  380. 

34 


530 


Namen-  und  Sachregister. 


E 

Eberlin,  J.  440. 

Edlibach,  G.  413  ff.,  431,  490,  505. 
Egerer  Fronleichnamspiel  159,  166. 
Ehebrecherin  u.  Christus  (Th.)  178. 
Ehrerbietung     (Bibel)     204;     (BK.) 

222  f.    —    (Epos)    180,    189.    — 

(Th.)  265. 
Ehrfurcht  (Epos)  190  f.,  197.  —  (Th.) 

247,  263. 
Eilhart  von   Oberge    186,  190,  196. 
Einfühlung,  mimische  (Epos)  186.  — 

(Th.)  175  f.,  507,  522. 
Einzüge  s.  Fürsteneinzüge. 
Ekel  (BK.)  223.  —  (Th.)  161,    254. 
Elsaß,   Dramenillustrationen   457 ff., 

500. 
Emporfahren  s.  Auffahren. 
Engel    117,    226,    232,    406,    418, 

489  ff. 
Entrüstung  (Th.)  434. 
Entsetzen  (BK.)  223.  —  (Epos)  189. 

—  (Th.)  162  f.,  167,  409,  434. 
Enttäuschung  (Th.)  248. 
Epigonenepik,  ritterliche  195. 
Epilog  41  ff.,  58. 
Epos  178  ff.,  205  ff.    S.  auch  Sachs, 

Hans. 
Erasmus  300,  443  f. 
Erbleichen    (BK.)     233.    —     (Epos) 

185  f.,  192,  251.    —    (NTE.)  205, 

208. 
Ercole  d'Este  295. 
Ergebung  (BK.)  223.  —  (Th.)  162. 
Erkennen  (Th.)  245. 
Erlauer  Dreikönigsspiel  115. 
Erlösung,  Gedicht  von  der  206. 
Ermahnung  (Th.)  410. 
Ernholt  s.  Herold. 
Ernst  (Th.)  263. 

Erregtheit  (BK.)  231.  —  (Epos)  183. 
Erröten  (Epos)  185,    192,    195,  197, 

251. 
Eulenspiegel  326. 

Eselbohren  (Epos)  253.  —  (Th.)  254. 
Esther  (BK.)  390.  —  (Th.)  382,  384, 

386,  400. 
Evangeliarien  211 
Eyck,  J.  van  390. 


Fastnachtsspiel     130,     137f.,     145, 
147  f.,    156  f.,    162  f.,     165,     167, 


169  ff.,  253  f.,  285,  418,  421  ff., 
444 ff.,    450  ff.,    504 f.,  508,  523  f. 

Faustballen  (Epos)  187,  191,  196. 
—  (Th.)  254. 

Faustus  Andrehnus  301,  303. 

Feigezeigen  (Epos)  253.  —  (Th.)  254. 

Feindschaft  (Th.)  263. 

Ferrara  (Th.)  295,  301,  307. 

Feste  90,  295,  370.  —  S.  auch  Für- 
steneinzüge. 

Feuerwerk  90,  130  f. 

Fingergesten  (BK.)  223,  225,  234  f., 
238.  —  (Epos)  252  f.  —  (Th.) 
248,  265,  267. 

Flandern  (Th.)  307  ff.,  311. 

Flehen  (Th.)  247. 

Fornices  312  f.,  321. 

Foucquet,  J.  376,   479,  499,  526. 

Franck,  H.  443. 

Franeker  (Friesland)  456. 

Frankfurt  a.  0.,  Schulbühne  260. 

Frankfurter  Dirigierrolle  166. 

Frankfurter  Passionsspiel  82 f.,  159f., 
166. 

Frankreich  (Holzschnitt)  354  f.,  s. 
auch  Lyon.  —  (Humanismus) 
283  ff.,  300  ff.,  —  (Miniaturen) 
283  f.  —  (Th.)  364. 

Frauen  als  Darsteller  78. 

Frechheit  (Th.)  262  ff. 

Freiburg,  Skulpturen  228,  231. 

Freude  (Epos)  180,  183  ff.,  188f., 
192  ff.,  252.  —  (Th.)  162  f.,  166, 
174  f.,  246  f.,  263,  265. 

Freundschaft  (Epos)    184,  191,  263. 

—  (Th.)  162. 
Fries,  L.  439. 

Frieß,  A.  455  ff.,  476  f. 
FröhHch  sprechen  (Th.)  170 f. 
Fröhch,  J.  456  ff.,  465,  500. 
Froissart,  J.  368. 
Fronleichnamsprozessionen    373, 

511  f. 
Froschauer,  Ch.  455,  457,  467,  477. 
Fürsteneinzüge    63  f.,    103,    364  ff., 

371  ff.,  376  ff.,  382  ff.,  400  f. 
Furcht  s.  Angst. 
Fußfall  (auch  Umfassen,  Küssen  der 

Füße  des  andern)  (BK.)  222,  233. 

—  (Bibel)  177.  —  (Epos)  180.  — 
(Th.)  177,  243.  S.  auch  Aufsan- 
gesichtfallen, Kniefall  usw.  ,Nieder- 
fallen. 

Fußzucken  (Epos)  183.  —  (Th.)  244. 


Namen-  und  Sacliregister. 


531 


G  1 

Gaguin,  R.  352. 

Gang  (Epos)  89.  —  (Th.)  155,  175. 

Garderoberauni  23. 

Gebärden  (Altertum)  179,  219.  — 
(Bibel)  176,  218,  248.  —  (BK.) 
210  ff.,  220  ff.,  268  ff.,  360  ff.,  403. 

—  (Epos)  138,  178ff.,  251  ff.  — 
(Liturgie)  202 ff.  —  (Th.)  177 f., 
204,  242  ff.,  245 ff.,  254  f.,  262 ff., 
360,  409  ff.,  419,  433 f.,  505 ff., 
516,  518,  522  ff. 

—  (ausgestorbene)  256.  —  (deuten- 
de) 220.  —  (sakrale)  220;  s.  auch 
Liturgie.    —    (soziale)    238,    266. 

—  (stabile  und  labile)  177  f.,  201, 
203,  205  f.,  215  ff.,  249  f.  —  (sym- 
bolische) 180.  —  (wirkliche)  179, 
200,  360.  —  (wortlose)  166.  — 
Geschichte  der  262.  —  S.  auch 
Antike,  Armbewegungen,  Arme- 
aufheben, Armeausbreiten,  Arme- 
ausstrecken, Auffahren,  Aufsange- 
sichtfallen, Aufspringen,  Augen- 
reiben, Bartfassen  usw.,  Bibel, 
Brustschlagen,  usw.,  Eselbohren, 
Faustballen,  Feigezeigen,  Finger-  \ 
gesten,  Fußfall,  Fußzucken,  Gang, 
Gesamtkörperhaltung,  Gesichtver- 
hüllen, Gesichtzerkratzen,  Haar- 
raufen, Hand, Hinhören, Hin  weisen, 
Hutrücken,  Kniebeugen,  Knien, 
Kniefall,  Kopf,  Kuß,  Minnelyrik, 
Neigen,  Niederfallen,  Prostratio, 
Eedegebärde,  Rockzupfen,  Schul- 
terklopfen, Sichsegnen,  Sichum- 
sehen, Sitzen,  Umarmen,  Winken, 
Zittern,  Zeremonialgebärde. 

Gebet  (Altertum)  203.  —  (BK.) 
222 f.,  225,  229,  231,  244.  —(Epos) 
180,  184,  189,  191,  200,  252.  — 
(Liturgie)  244.  —  (Th.)  162  f., 
166,  244,  247,  263,  265. 

Gedächtnis  (Th.)  146,  258,  266. 

Geiler,  J.  443. 

Geistliche  als  Bildkünstler  211.  — 
als  Darsteller  506,  508. 

Gelöbnis  (Epos)  184.  —  (Th.)  248,409. 

Generalprobe  472  ff. 

Gengenbach,  P.  270,  419 ff.,  457  f. 
—  (Gouchmat)  439  ff.  —  (Noll- 
hart)  434  ff.  —  (Zehn  Alter) 
457  ff.,  513,  516. 


Gent   301,    375.  —  (Th.)  374,   378, 

380. 
Gerichtsverfahren     auf    der    Bühne 

147  f. 
Gesamtkörperhaltung  (Bibel)  177.  — 

(BK.)  222,  224  f.,  227  f.,  229,  232, 

234,    237  f.    —   (Epos)   183,   189, 

252  f.    —    (NTE.)    208.    —    (Th.) 

174  ff.,  245. 
Geschichtliche    Stoffe    (BK.)   390  ff. 

—    (lebende   Bilder)  382. 
Gesichtsmimik  s.  Mimik. 
Gesichtverhüllen  (BK.)  223.  —  (Th.) 

248. 
Gesichtzerkratzen    (Epos)     189.    — 

(NTE.)  208. 
Gesten  s.  Gebärden. 
Glücksrad  (Th.)  384,  388. 
Glückwunsch  (Th.)  162,  248. 
Gnapheus,  G.  123. 
Goes,  H.  van  der  377,  390. 
Gotik  226  ff.,  235. 
Gottfried  von  Straßburg  186 f.,  190f., 

194. 
Gourmond,  Gilles  de  380. 
Grabfiguren  225. 
Grauen  (Th.)  247. 
'Grausamkeit    (BK.)    237 f.    —   (Th.) 

263. 
Griseldis  (Petrarca-Wyle)  460. 
Groote,  G.  202. 

Grüninger,  J.  31 8  ff.,  345,  353,  500. 
Gruß  (BK.)  222,  235,  266.  ^  (Epos) 
180,  189  f.,  191,  197  ff.  —  (Th.) 
161,  245  f. 
Guarino  d.  J.  295  ff.,  301,  435,  440. 
Güte  (Epos)  185.  —  (Th.)  263. 
Guido  JuvenaKs  302,  318,  348. 

H 

Haarraufen  (BK.)  223.  —  (Epos) 
182,  188,  195,  199,  252.  — 
(NTE.)  206,  208.  —  (Th.)  434. 

Halberstadt,    Liebfrauenkirche    225. 

Hamburger  Stadtrecht,  Miniaturen 
405. 

Hammer,  W.  392. 

Han,  W.  67. 

Hand,  Hände:  aufheben  (BK.)  221, 
232,  238,  269;  (Epos)  184,  191; 
(Th.)  244,  246  f.,  265,  523.  —  auf- 
recken (BK.)  238;  Epos  184,  191. 
—  ausstrecken  (Bibel)  177;  (BK.) 
34* 


532 


Namen-  und  Sachregister. 


221  ff.,  225;  (Liturgie)  203;  (NTE.) 
208;  (Th.)  177,  243,  265.  —  fal- 
ten (BK.)  229,  232  f.,  238;  (Epos) 
184,  191;  (Th.)  265,  434.  —  rei- 
chen (BK.)  238;  (Epos)  191,  253; 
(Th.)  248.  —  ringen,  winden 
(BK.)  232,  235,  238  f.,  269;  (Epos) 
182,  195,  252;  (NTE.)  208;  (Th.) 
247  f.  —  zusammenlegen  (BK.) 
225,  230,  269;  (Epos)  252;  (Lit- 
urgie) 203;  (Th.)  247,  523.  —  zu- 
sammenschlagen (BK.)  269 ;  (Epos) 
182,  252;  (NTE)  208;  (Th.)  247, 
434,  523. 
—  vor  der  Brust  (BK.)  223,  225, 
230,  233,  409;  (Th.)  409  f.  — 
über  dem  Kopf  zusammenschla- 
gen (BK.)  239,  269;  (Epos)  255 f.; 
(Th.)  247 f.,  255 f.,  410,  523.  — 
an  der  Wange  (BK.)  222 f.;  (Epos) 
191,  252;  (Th.)  248. 

Hans  vom  Bühel  196. 

Hartmann  von  Aue  186  ff.,  193. 

Hausbuchmeister  392. 

Hechler,  H.  460. 

Heere  auf  der  Bühne  39. 

Heidelberger  P.  159  f. 

Heinrich  von  Veldeke  186,  189, 
192. 

Heldenepos  194  f. 

Heldenhed  180. 

Heldt,  S.  106,  llOff.,  128. 

Hehand  206. 

Helmschmidt  s.  Kolmann. 

Hennin  362,  403,  406. 

Hercules  (Th.)  370,  384,  386. 

Herenniusrhetorik  256,  258,  261. 

Hermann  von  Sachsenheim  197. 

Herold  32,  40,  50,  58,  98,  100  f., 
129,  133,  437,  458,  471  ff.,  483 ff. 
—  S.  auch  Knabenherold,  Prae- 
cursor,  Prolog. 

Heros,  J.  117,  123f.,  129. 

Heyden,  L.  van  der  378. 

Hildesheim  (Michaelskirche)  225; 
(Taufbecken)  226. 

Hilferuf  (Epos)  184.  —  (Th.)  169, 
171,  173. 

Hinhören  (Th.)  166. 

Hinweisen  (Bibel)  177.  —  (BK.) 
221,  225,  230,  234,  241.  —  (Th.) 
162,  177,  241,  243,  264. 

Hiob  (Th.  u.  BK.)  468 ff. 

Hippolyta  (Th.)  382. 


Hisü-iones  282,  287,  367  f.,  503  f. 
Hölle  (BK.)  479  f.  —  (Th.)  378,  474, 

478  f. 
Hof  trachten  106. 
Hohn  (BK.)    234,    237  f.    —    (Epos) 

200.  —  (Th.)  254. 
Holbein,  A.  420,  435  ff.,  440. 
Holbein,  H.  der  ältere  440. 
Holbein,    H.    d.  J.    47,    105f.,    420, 

433,  443,  455. 
Holzschnitt    (Basel)    329  ff.,    419  ff. 

—   (Lyon)    316  ff.   —  (Straßburg) 

325  f.,    457  f.     —     (Ulm)    292  ff., 

339  f.     —     (Venedig)     349  f.     — 

(Zürich)  455  ff. 
Holzschnitzereien  82  f. 
Horaz  260,  318,  326,  335,  345,  362, 

423,  440,  443. 
Hugo  Schapler  362. 
Hugo  von  Trimberg  208". 
Hugutius  287,  314,  503. 
Huldigung  (BK.)   229.  —  (Th.)  162. 
Hutrücken     (BK.)     238.    —    (Epos) 

197. 


J  I 

Jael  (Th.)  382,  526. 
Jakob  u.  Laban  (Th.)  384. 
Jammer    (Epos)    188.   —  (Th.)  247, 

251  f. 
Jason  (Th.)  370,  386,  388. 
Jenichen,  B.  426. 
Jesuitentheater  267. 
Ikonographie  210. 
Indianer  108. 

Inklination  s.  Neigen  (Liturgie). 
Inspizient  36. 
Inszenierung  s.  Regie. 
Intellektuelle    Hergänge   (Th.)    161; 

s.    auch   Erkennen,    Nachdenken, 
ioculatores  286  ff.,  504. 
Johann,  Künstler  in  Lyon  317. 
Johanna    die  Wahnsinnige  365  ff. 
Johannes  von  Frankenstein  209. 
Johannes  de  Janua  287,  503. 
Jongleurs  288. 
Josua  (Th.)  384. 
Isidorus  286,  312,  503. 
Judas    (BK.)    215;    (Th.)    169,    178, 

249    495. 
Juden'  (Th.)  508. 
Judith  (Th.)  381,  395. 


Namen-  und  Sachregister. 


533 


K 


Kaiphas  u.  Christus  (NTE.)  206. 

Kalenberger  199. 

Kampf  auf  der  Bühne  32  f.,  39, 
147  ff. ;  s.  auch  Heere. 

Karl  V.  365. 

Karhneinet  189. 

KaroHngische  Bildkunst  211  f.,  215, 
220  ff. 

Kinder  auf  der  Bühne  86  f. 

Kistener,  K.  423. 

Kläglich  sprechen  (Th.)  170. 

Klage  unser  Frauen  208. 

Klagen  (Bibel)  176.  —  (BK.)  229, 
232  f.  237  ff.  —  (Epos)  182,  184, 
194,  197.  —  (NTE.)  208.  —  (Th). 
242  f.,  255.  —  s.  auch  Jammer, 
Kummer,  Totenklage. 

Klassikerillustrationen  der  Renais- 
sance 279  ff. 

Kleidzerreißen  (Bibel)  177.  —  (BK.) 
215,  222.  —  (Epos)  188,  252.  — 
(NTE.)    208.    —    (Th.)    178,    244, 

248,  250. 
Knabenherold  473. 
Knaust,  H.  457. 

Kniebeugen  (BK.)  229,  237.  —  (Lit- 
urgie) 203  f.  —  (NTE.)  206.  — 
(Th.)  204,  242,  265. 

Knieen  (BK.)  204,  222  (Knielauf), 
229,  232  f.  —  (Epos)  183,  252. 
—  (Th.)  178,  243,  246. 

Kniefall  (Bibel)  177.  —  (Epos)  189, 
199  f.  —  (Th.)  247. 

Köln,  (BK.)  232,  235. 

Kolmann,  D.  109. 

Kolmar  (Th.)  458. 

Könige  auf  der  Bühne  46  ff.,  103, 
120  f.,  485. 

Könige,  drei  s.  Anbetung. 

Königsberg  112. 

Königstochter   aus   Frankreich   362. 

Köpfe,  künstliche  als  Requisiten  82  f. 

Konkordanz    in   der  Bildkunst   213. 

Konrad  von  Fußesbrunnen  266  f. 

Konrad   von   Würzburg    189,  195  ff. 

Konstanzer  Konzil  372. 

Kopf:  kratzen  (Epos)   252 f.;     (Th.) 

249,  254.  —  neigen  (BK.)  222 : 
(Epos)  191,  198.  —  nicken  (Th.) 
245.  —  schlagen  (Epos)  252; 
(NTE.)  208.  —  schütteln  (Th.) 
245.     —     stützen     (BK.)      222  f; 


(Epos)     191,     252  f.;    (Tli.)     248, 

254  f. 
Kostüm  s.  Tracht. 
Kraft,  A.  239. 

Krankheit  (Epos)  1 5  7  ff .  —  (Th.)  153  ff. 
Kudrun  191,  194. 
Kündig,  J.  526. 
Kunmier   (Epos)    185,   198.    —  (Th.) 

246.  —  s.  auch  Jammer,  Schmerz. 
„Kunstbüchlein"  82. 
Kuß,   Küssen    (Bibel)    177.  —  (BK.) 

239.    —    (Epos)   184,  188  f.,    190, 

195,  197,   252.  —  (Liturgie)  203. 

—  (NTE.)  208.  —  (Th.)  178,  249. 


Lachen   (BK.)    235.    —    (Epos)    184, 

192  ff.,  198  ff.,  251  f.  —  (Th.)  168, 

170,  173,  254,  266. 
Lächeln   (BK.)   231,   233.    —  (Epos) 

184  f.,  192,  197. 
Landjuweel  374. 
Landmetere,  N.  de  378. 
Landschaft  auf  den  Bildern  66. 
Laufen  (Th.)  254. 
Lauingen  62. 
Lazarusdrama  (reicher Mann  u.  armer 

Lazarus)  455  f. 
Lebende  Bilder  364  ff.,  511  f. 
Lebensalter  (Zehn  Alter)  (BK.)  425  ff. 

—  (Th.)  416  ff.,  421  ff. 
le  Roy,  Guillaume  de  317. 
Le  Fevre  317. 
Leibkleider  116,  132,  469. 
Leipzig,  Schultheater  354. 
Leo  X.  448. 

Leu,  H.  412. 
Lichtenberger,  J.  436. 
Liebe  (Bibel)  177.  —  (BK.)  233.  — 
(Epos)  180,  185,  190  ff.,  200,  251. 

—  (Th.)  162,  263.  —  s.  auch  Zärt- 
lichkeit. 

Liebesgarten  (BK.)    392  ff.  —    (Th.) 

382,  397. 
Lille  (Th.)  370. 
Limburger  Chronik  105. 
Lippen  s.  Mund. 
Lirer,  Th.  292,  299,  360. 
List  (Epop)  185.  —  (Th.)  263. 
Liturgie  202  ff.,  211  f.,  261. 
Livius  283. 
Locher,  J.  260,  305,  318,  325,  343ff., 

500. 


534 


Namen-  und  Sachregister. 


Lochner,  St.  235. 

Lötschtal,  Fastnachtstrachten  im  497. 

Longinus  (Th.)  160. 

Lucca  78. 

Lübeck  (Th.)  387. 

Lübecker  Bibel  s.  Bibel, 

Lüneburg,  Schiiltheater  490,  492. 

Lukas  malt  die  Madonna  (BK.)  389  ff. 

—  (Th.)  376,  382,  384,  391,  396, 

399,  490. 
Lukas  von   Levden    114,    390,   394, 

467. 
Lukasgilden  376  ff. 
Luzern   (Th.)   64,    82  f.,    85,   87,  90, 

101,  117f.,  495. 
Lyon  300,  316  f.,  372. 
Lyoner  Terenz  87,  270,  300  f. f,  321, 

337,    340  ff.,   348  f.,   355  f.,    361  f., 

364,    398,    406  ff.,     409  ff.,     513, 

516. 


M 


Mahnung  (Th.)  264. 
Mailand  297,  353. 
Malchus'  Verwundung  (Th.)  159. 
Maler  als  Regisseure    63,   274,  448. 
Malleolus,  P.  352. 
Mander,  K.  van  376,  386. 
Mantegna,  A.  235. 
Mantua  297. 

Manuel,  N.  444  ff.  —  (Ablaßkrämer) 
446,  450  ff.  —  (Barbali)  452,  457. 

—  (Papstspiele)  444  ff.,  452,  457. 
Marche,  0.  de  la  369. 

Maria:  Verkündigung  (BK.)  223,  226, 
363  f.  —  Heimsuchung  (BK.)  238. 

—  Geburt  Christi  (BK.)  230.  — 
Klagen  (BK.)  230,  232,  237,  239; 
(NTE.)  207 ff.;  (Th.)  242 f.;  s.  auch 
Marienklage.   —   Tod  (BK.)  233  f. 

—  Himmelfahrt  (BK.)  238.  —  Krö- 
nung (BK.)  233.  —  Thronende  (BK.) 
230.  —  Verehrung  217.  —  S.  auch 
Lukas. 

Maria  Magdalena  (BK.)  228,  239.  — 

(Th.)  244. 
Marienklage,      Bordesholmer      115, 

242 f.;  episch-lyrische  207 ff. 
Masken  (Teufel)  61,  288,  307f.,  368, 

417. 
Masles,  Roboam  de  317. 
Massenszenen  150  ff. 


Mauren  108. 

Meister  b  350. 

Meister,  E.  S.  392. 

Meister  J.  A.  449. 

Meister  J.  R.  426. 

Meister  M.  J.  449. 

Meister  des  Amsterdamer  Kabinetts 
238. 

Meister  der  Bergmannschen  Offizin 
332  ff.,  526. 

Meister  der  Berliner  Passionstafeln 
235. 

Meister   mit   dem    Namen  Jesu  437. 

Meister  der  Sibylla  392. 

Meister  von  Sterzing  234. 

Meistersinger   14  fL,    141,   374,  522. 

Melanchthon,  Ph.  259  f. 

Melhs,  A.  456. 

Memhng,  H.  390. 

Metz  (Th.)  354. 

Metzen  Hochzeit  198. 

Meure,  G.  van  der  392. 

Meyre,  Jan  van  der  392. 

Mimik  (Bibel)  176.  —  (BK.)  219,  221, 
223  ff.,  2301,  233,  235,  239.  — 
(Epos)  184,  186,  192,  195,  199, 
253.  —  (NTE.)  208.  —  (Th.)  167, 
169 f.,  201,  245,  249,254,  262 ff., 
267.  —  (der  Tiere)  194,  198,  200, 

253,  261,  263.  —  S.  auch  Bhcken, 
Erbleichen,  Erröten,  Lachen, 
Lächeln,  Mund,  Naserümpfen, 
Parodistische  Mimik,  Sauersehen, 
Speien,  Zähne. 

Mimus  282,  287,  503  f. 

Miniaturen    211,   222,    226,    278 ff., 

391 L 
Minnelyrik,  Gebärden  179,  192. 
Mitleid    (BK.)    232,    237.   —    (Epos) 

180,  188,  193. 
Moden   in   der  Tracht    105  ff,,    357. 
Mohnet,  J.  366. 
Moses  (Th.)  384. 
Mund    (BK.)    224,    226,    231,    239, 

—    (Epos)     197,     253.    —    (Th.) 

254,  263  f.  —  S.  auch  Lachen, 
Lächeln. 

Murer,  Ch.  500. 

Murmeln  (Bibel)  176.  —    (Th.)  243. 
Murner,  Th.  436. 
Muschler,  J,  354. 
Musik  (Th.)  173,  311, 
Musikanten    102,    129,    285  f.,    268, 
371, 


Namen-  und  Sachregister. 


535 


N 

Nachdenken  (BK.)  223,  238.  —  (Epos) 
183,  185,  191. 

Nachsehen  s.  Sichumsehen. 

Nacktheit  (Th.)  s.  Leibkleider. 

Narhamer,  J.  65,  86,  90  f.,  469  f. 

Narr  129,  146,  351,  361,  368f.,  392. 

Naserümpfen  (Epos)  253.  — (Th.)  263. 

Naumburg,  Skulptur  228. 

Nebukadnezar  (Th.)  384. 

Necker,  de  426. 

Neid  (Epos)  252.  —  (Th.)  513. 

Neigen  (BK.)  229,  233.  —  (Epos) 
183,  189,  197  ff.,  252.  —  (Liturgie) 
203  f.  —  (Th.)  204,  243,  245,  262. 
—  S.  auch  Kopfneigen. 

Neugier  (BK.)  222.  —  (Epos)  180, 
193. 

Nemvich,  E.  105. 

Nibelungen  194. 

Nicodemusevangelium  202,  206. 

Nicolav,  N.  107. 

Niederfallen  (Bibel)  177,  206.  —(BK.) 
160,  228,  232,  239.  —  (Epos)  182  f., 
195,  252.  —  (Liturgie)  203  f.  — 
(NTE.)  208 f.  —  (Th.)  159  f.,  178, 
204,  242  ff.,  250.  —  S.aueh  Aufs- 
angesichtfallen, Fußfall,  Kniefall, 
Ohnmacht. 

Niederlande  (BK.)  316  f.,  388  ff. 

Nithart,  Hans  257,  292,  297  f.,  343. 

Nithart,  Heinrich  292. 

Novella  423,  428,  433,  441. 

Nürnberg  111  ff.,  128  f.  —  (Lorenz- 
kirche) 19.  —  (Marthakirche)  14, 
16  f.,  36,  53,  60.  —  (Prediger- 
kloster) 20.  —  (Rat)  14  f.,  43.  — 
(Rathaus)  15.  —  (Teppichindustrie) 
61. 

Nürnberger  Osterfeier  115. 

0 

Octavian  460,  477. 

Öffentliche  Handlung  auf  der  Bühne 

147. 
Oesterreich  (Th.)  117. 
Ohnmacht  (BK.)  232,  237.  —  (Epos) 

182f.,  189  f.  —  (NTE.)  208.  —  (Th.) 

153. 
Ohrfeigen  (Th.)  254. 
Orendel  182. 

Orient  107,  118,  121  f.,  222. 
Oswald,  Sankt  182. 


Otfrid  205,  240. 

Ottonische  Kunst  211  f.,  215,  220  ff. 
Ottonische  Renaissance  277. 
Ovidillustration  283. 


Fächer,  M.  235. 

Padua  344. 

Pädagogik  der  Humanisten  258. 

Panoramakunst  (Th.)  514. 

Pantomimen  369  f.,  511. 

Papias  282,  287,  503. 

Papier  mache  82. 

Paris  301  f.,  305  f.,  354  f.,  374. 

Paris'  Urteil  (Th.)  382,  388,  391,  399. 

Parodistische  Mimik  193. 

Passion  s.  Christi  Leiden. 

Passional  206. 

Passionserzählungen  in  Prosa  209  f. 

Passionsfolgen  (BK.)  217,  413. 

Passionsspiel,  Allgemeines  217. 

Patriarchentracht  117. 

Pauh,  J.  443. 

Paumgartner,  L.  78. 

Pavia  344. 

Pentesilea  (Th.)  382. 

Peutz,  G.  66,  449,  525. 

Perikopenkunst  211,  215  f. 

Peripetie  im  Drama  des  Mittelalters 
216. 

Perreal,  J.  376. 

Perseus  (Th.)  384. 

Personnagia  366  ff. 

Peruzzi,  B.  65. 

Peter,  Künstler  in  Lyon  317, 

Petrarca,  F.  279. 

Petrus  (Verleugnung  u.  Reue)  (NTE.) 
205.  —  (Th.)  178,  249.  —  (Theo- 
logie) 201,  205. 

Pfeilschmidt,  A.  524. 

PhiHpp,  Bruder  209. 

Philipp  der  Schöne  365  f.,  375. 

Pilatus'  Frau  (Th.)  159. 

Pius,  B.  344. 

Planctus  beatae  Mariae  207  f. 

Platter,  F.  123,  127  f. 

Plautus  124,  257,  259,  277,  296, 
301,  311,  344,  349,  352. 

Plautusillustrationen  277,  352  f. 

Podium  (Th.)  37  f.,  314. 

Pohziano,  A.  278. 

Pollux,  Scholiast  354. 


536 


Namen-  und  Sachregister. 


Pomponius  Laetus  295,  301,  303, 
310,  315. 

Postbote  (Th.)  31,  499. 

Praecursor  115. 

Predigtvortrag    202.    —    (BK.)    225. 

Prolog,  Prologsprecher  401,  407, 
408 f.;  s.  auch  Herold,  Praecursor. 

Pronuntiatio  259  ff. 

Prophetentracht   (Th.)  116  f.,    487  ff. 

Prosaromane  196  f. 

Proskynein  s.  Zubodenfallen. 

Prostratio  204. 

Prüß,  J.  352. 

Psychisches  s.  Seele. 

Publikum  (Th.)  6,  504,  518,  520.  — 
(Aufmerksamkeit)  508.  —  (Denk- 
tätigkeit) 25,  116,  505.  —  (Entfer- 
nung vom  Darsteller)  155,  201.  — 
(Phantasie)  21,  25  ff.,  30  f.,  45,  51, 
59ff.,  66  ff.,  92  f.,  126,  150,  159, 
169,  519.  —  (Schaulust)  150,  520  f. 
—  (Spannung)  149. 

Pulpitus  282. 

Pulsnitz  i.  S.  (Th.)  65. 

Pyrotechnik  91. 

Q 

Quintilianus  257  f.,  261  ff.,  266f. 

R 

Rappolt,  L.  15. 

Rasser,  J.  500. 

Raumkunst  6. 

Realistische  BK.  des  15.  Jh.  234. 

Rebecca  (Th.)  381  f. 

Redegebärde  (BK.)  222  f.,  225  f.,  230, 
234,  238,  361,  363,  409,  411.  — 
(Th.)  256,  264  f.,  409,  411,  419, 
434,  505.  —  S.  auch  Predigtvortrag. 

Redekunst  s.  Rhetorik. 

Redentiner  Osterspiel  159,  499. 

Rederijkers  371,  374  ff. 

Regie,  Regisseur  46 f.,  147,  177  f., 
274,  473  f.,  505,  509. 

Regieaufgaben  s.  Aktschluß,  Be- 
leuchtung, Blut,  Briefe,  Dekoration, 
Feuerwerk,  Garderoberaum,  Gene- 
ralprobe, Gerichtsverfahren,  Heere, 
Inspizient,  Kampf,  Kinder,  Könige, 
Maler,  Musik,  Musikanten,  Pano- 
ramakunst, Requisiten,  Requisiten- 
raum, Schiffe,  Souffleur,  Statisten, 
Steine,      Theaterdiener,     Theater- 


I      garderobe,    Tiere,     Tote,    Tracht, 

I      Tür,  Vorhang. 
Reichenau,    Weltgerichtsbilder    222. 

[  Reicher  Mann  u.    armer  Lazarus  s. 

'      Lazarusdrama. 

Reimformeln  183,  199,  205  f. 

Reinolt  von  Montelban  196  f. 

Requisiten    57,    70  f.,   78  ff.,    122  ff., 
400,    483,     485,     505,    520  f. 
S.    auch    Attribute. 

Requisitenraum  24. 

Reue  (Th.)  178,  247,  264. 

Rezitator  s.  Calliopius. 

Rheinauer  Weltgerichtsspiel  300. 

Rhetorik  258  ff.,  506. 

Riarius,  R.  295,  315. 

Richtungskontraste  s.  Auftreten. 

Riemenschneider,  T.  238. 

Ritter  vom  Thurn  330  ff.,  363. 

Ritterepos  s.  Epos. 

Ritterkultur  185  ff.,  227  f. 

Ritualbücher    des  Mittelalters    203  f. 

Robetta,  Bildkünstler  392. 

Rockzupfen  (Th.)  254. 

Roigny,  J.  de  351. 

Rolandslied  181  ff. 

Rom  301.  —  (Th.)  301,  353. 

Romanische  Kunst  224  ff. 

Romans  63. 

Romulus  (Th.)  384. 

Rosengarten  195. 

Rothe,  J.  209. 

Rother,  König  181  ff. 

Rotwerden  s.  Erröten. 

Rouener  Prophetenspiel  438. 

Rouener  Weihnachtsspiel  438. 

Rubens,  P.  P.  392. 

Rudolf  von  Ems  196. 

Ruof,  J.  117,  132,  455  ff.,  459  ff.  — 
(Job)  456  f.,  459  ff.,  464  f.  —  (Jo- 
seph) 456  f.  —  (Passionsspiel)  459, 
466  f.  —  (Teil)  459,  461  ff.,  466, 
471.  525.  —  (Weingarten)  461, 
464,  471  ff.,  474  ff. 


Saba,  Königin  v.  (BK.)  390  f.  —  (Th.) 
382,  386. 

Sachs,  Hans  13—270  (passim),  518  ff. 
—  (u.  d.  Antike)  103  f.  —  (u.  d. 
Bildkunst)  114  f.,  269.  —  (Drama) 
14  f.,  247.  —  (Episches)  103,  138, 
157  f.,   171,   251.  —    (Farbensinn) 


Namon-  und  Sachregister. 


537 


104,  121,  126.  —  (Gesamtbedeu- 
tung) 270,  524.  —  (Landschafts- 
u.  Menschendarstellung)  67  f.  — 
(Phantasie)  67f.,  103,  126.—  (u. 
s.  Quellen)  75 ff.,  138 f.,  168 f.,  171, 
174,  250 f.,  252.  —  (als  Schau- 
spieler) 137.  —  Text:  (Hss.  u. 
Drucke)  89. 
-  (Abraham)  42,  72,  80,  84,  86, 
90,  94f.,  168.  —  (Absalon)  131.  — 
(Adam  u.  Eva)  132.  —  (Ahab)  29, 
39,  81,  94,  98.  —  (Alexander)  59, 
76,  81,  90,  98,  100,  130,  153,  155. 

—  (Andreas)  40,  42,  50  f.  —  (An- 
tonius) s.  Cleopatra.  —  (Aretaphila) 

39,  47,  70.  —  (Aristoteles)  42.  — 
(Arsinoe)42,  96,  99.  —  (Artaxerxes) 
121,  154.  —  (Bei)  52,  72 f.,  83.  — 
(Belsazar)  246.   —    (Beritola)   31, 

40,  54,  77,  85,  87,  168,  174.  — 
(Burger,  der  alt  reich)  52,  93,  98. 

—  (Circe)  84.  —  (Cleopatra)  31, 
37,  42,  84,  88,  96,  98,  101.  — 
(Chnia)  101.  —  (Concretus)  s.  Gis- 
monda.  —  (Cyrus)  39 f.,  50,  59, 
75  f.,  86,  93.  —  (Daniel)  42,  52, 
54,  83,  96,  140.  —  (Daphne)  13. 

—  (David  zählt  seine  Mannschaft) 
132,  152.  —  (Davids  Verfolgung) 
71.  —  (Eh)  45.  —  (Esopus)  85, 
170.  —  (Esther)  142,  245.  —  (Evä 
ungleiche  Kinder)  50.  —  Fastnacht- 
spiele 128;  (Goetze  N.  4)  142; 
(N.  5—8)  143;  (N.  10)  143,  146; 
(N.  11)  143,  157;  (N.  14,  16,  18) 
143;  (N.  19)  144;  (N.  20)  144,  146; 
(N.  22)  144;  (N.  25)  157;  (N.  27) 
138,  144;  (N.  28)  175;  (N.  34) 
138,  157;  (N.  42,  51)  157;  (N.  75) 
138,  157;  (N.  81)  157.  —  (Ferdi- 
nands I.  Einzug)  64.  —  (Florio) 
31,  79,  93.  —  (Fortunatus)  40,  44, 
50,  93  f.,  246.  —  (Frankreich, 
Königin  aus)  144.  —  (Franziska, 
Wittfrau)  99.    —    (Galmi)   47,  54. 

—  (Genura)  143.  —  (Gericht, 
jimgstes)  153,  245.  —  (Gideon) 
71,  82,  90,  156.  —  (Gismonda) 
143,  153  f.,  168,  173.  —  (Griselda) 
15,  143.  —  (Hagvvartus)  42,  49, 
96,  98  f.  —  (Hiob)  15  f.,  153,  156, 
469.  —  (Historien)  139.  —  (Horatier 
u.  Curiatier)  149.  —  (Hugschapler) 
39  f.,    43,    58,    68,    100,    133.    — 


(Jael)  99,  153  f.  —  (Jakob)  158, 
168.  —  (Jephthe)  32.  —  (Jerusa- 
lems Belagerung)  40.  —  (Jerusa- 
lems Zerstörung)  86.  —  (Jocaste) 
38,  40,  144,  146,  149,  247.  —  (Jo- 
hannes' u.  Christi  Geburt)  83,  86. 

—  (Johannes  wird  enthauptet)  38, 
82.  —  (Jonas)  88 f.  —  (Josua)  39, 
54,  151.  —  (Isaac)  14,  80,  84.  — 
(Judith)  68.  —  (Jüngling  im  Kasten) 
47,  50,  96,  99.  —  (Julianus)  40,  42, 
71  f.,  132.  —  (Jupiter  u.  Juno)  142. 

—  (Kämpfer,  sechs)  38,  59.  — 
(Kaiserin,  falsche)  168.  —  (Kai- 
serin, unschuldige)  86  f.,  128,  131. 

—  (Kaiserin,  vertriebene)  42.  — 
(Karls  V.  Einzug)  63  f.,  91.  — 
(Lazarus)  54,  84.  —  (Leviten  Kebs- 
weib) 69,  151,  168.  —  (Lieb- 
habende, vier)  40,  47,  50,  59,  69, 
100  f.,  126  f.  —  (Machabäer)  83, 
99,  161.  —  (Magelone)   50,  129  f. 

—  (Marina  aus  Frankreich)  40, 
47,  50.  —  (Marina  mit  Dagmano) 
50.  —  (Marschall  u.  sein  Sohn) 
46  f.,  70,  84.  —  (Meistergesänge) 
14,  139.  —  (Melusine)  31,  50,  52, 
54,   246.  —  (Menechmi)   15,  148. 

—  (Mose  Kindheit)  86,  249.  — 
(Mucius  Scaevola)  36,  155.  — 
(Nürnberger  Siegesfest)  64.  — 
(Ohvier)  47,  151.  —  (Paridis  ludi- 
cium)  142.  —  (Passion)  132,  148, 
153  f.,  173,  249.  —  (Perseus)  42 f., 

82,  84,  100,  130.  —  (Pontus)  39  f., 
47,  50,  59,  153.  —  (Pura)  133.  — 
(Romulus)   28  f.,   39,  81,   90,  101, 

174.  —    (Rosimunda)  50,  68,  93. 

—  (Salomonis  ludicium)  144.  — 
(Samariae  Belagerung)  98.  —  (Saul) 

83,  96,  99,  101,  245.  —  (Sedras) 
39  f.,  43,  69,  84  f.,  96  f.  —  (Seufrid, 
Hürnen)  13,  23ff.,  58,  73,  79,  90f., 
94,  96,  98,  100,  130,  173,  246.  — 
(Simson)  69,  84,  90, 174.  —  (Sohn, 
verlorene)  50,  70,  132.  —  (Sohn, 
verlorene,  den  man  richten  wollt) 
50.  —  (Stulticia)  133  ff.,  142.  — 
(Thais)  42.  —  (Tobias)   155,  167, 

175.  —  (Tristan)  31,  44,  81,  89, 
128  f.,  153  f.,  169,  175,  246.  — 
(Troja)  40,  42  f.,  246.  —  (Ulixes) 
40.  —  (Violanta)  144.  —  (Wilhelm 
v.  Ostreich)  31,  50,  96,  99,  150.  — 


538 


Namen-  und  Sachregister. 


(Wilhelm  v.  Orlientz)  31,  39,  88.  — 
(Wittfräulein  mit  dem  Ölkrug)  98. 

Salomo  (Th.)  379,  382,  384,  388,  401. 

Sauersehen  (Epos)  195,  252.  —  (Th.) 
254. 

Scena  16,  282,  284  f.,  286  f.,  503. 

Schäufelin,  H.  L.  449. 

Scham  (Epos)  185,  188,  191  ff.,  197f., 
200,  251  ff.  —  (Th.)  245,  262  f. 

Schatzbehalter  438. 

Schauplatz  (Th.)  s.  Bühne. 

Schauspieler  (Alter)  146,  447.  — 
(Persönlichkeit)  146.  —  (Zahl  der) 
42.    S.  auch  Frauen,  Geistliche. 

Schauspielkunst:  (römische)  257.  — 
(des  geisthchen  Stadttheaters)  1 59f., 
163ff.,  172ff.,  241  ff.,  249,  505 ff. 

—  (des  Fastnachtspiels)  137 f.,  148, 
152,  156  f.,  165,  170  f.,  174,  253 f., 
418  f.,  433 f.,  505,  523  f.  —  (des 
Schultheaters)  256  ff.,  410,  518.  — 
(der  Meistersingerbühne)  137  ff., 
173  ff.,    244  ff.,    268  ff.,    521  ff. 

(Autosuggestion)  175  f.,  265.  — 
(Individuelles)  141  f.,  165  f.  —  (Lit- 
urgie u.)  201.  —  (Rhetorik  u.) 
258  ff.,  267.  -  (Svmbohsches) 
148,  152. 

Schembartbücher  107,  113  f.,  136, 
495  ff. 

Scheu  (BK.)  238,  273.  —  (Epos)  191. 

Scheurl,  Ch.  63. 

Schiffe  (Th.)  87 f.,  521. 

Schilhng,  D.  413. 

Schlaf  (Epos)  157  f.  —  (Th.)  153  f., 
159,  262,  526. 

Schmeichelei  (Th.)  263. 

Schmerz  s.  Trauer. 

Schmidlein,  Meistersinger  14  f.,  142  ff. 

Schnitzaltäre  231. 

Schongauer,  M.  238,  330,  339,  420, 
424,  449. 

Schreck  (BK.)  222  f.,  225,  229  f., 
238.  —  (Epos)  185,  189,  191  ff., 
251  ff.  —  (Th.)  162  f.,  167,  169, 
244,    247.  —  S.   auch    Entsetzen. 

Schreien  (Bibel)   176.  —  (BK.)  231. 

—  (Epos)  182,  184,  187f.,  193f., 
198,  200,  251.  —  (NTE.)  208  f.  — 
(Th.)  169,  171  ff. 

Schullerklopfen  (Th.)  254. 
Schuitheater  15,   256 ff.,  517f.  —  S. 

auch  Breslau,  Leipzig,   Lüneburg, 

Speyer. 


Schwarz,  M.  u.  V.  K.  106. 
Schweiß  (Bibel)  176  f.  —  (Epos)  252. 

—  (Th.)  244. 

Schweiz,  Dramenillustrationen  412  ff. 

Seele  (Hergänge,  Zustände  usw.) 
161ff. ;  S.Ablehnung,  Abneigung, 
Abscheu,  Abschied,  Ärger,  An- 
dacht, Angst,  Aufmerksamkeit, 
Beileid,  Bewunderung,  Bitten, 
Dank,  Demut,  Drohung,  Dumm- 
heit, Ehrerbietung,  Ehrfurcht,  Ekel, 
Entrüstung,  Entsetzen,  Enttäu- 
schung, Erkennen,  Ermahnung, 
Ernst,  Erregtheit,  Ergebung,  Feind- 
schaft, Flehen,  Frechheit  Freude, 
Freundschaft,  Gebet,  Gedächtnis, 
Gelöbnis,  Grauen,  Grausamkeit, 
Gruß,  Güte,  Hohn,  Huldigung, 
Jammer,  Intellektuelle  Hergänge, 
Klagen,  Kummer,  Liebe,  List, 
Mahnung,  Mitleid,  Nachdenken, 
Neid,  Neugier,  Reue,  Scham,  Scheu, 
Schmeichelei,  Schreck,  Sehnsucht, 
Spott,  Stammeln,  Streit,  Teilnahme, 
Todesangst,  Trägheit,  Trauer, 
Treue,  Trotz,  Tücke,  Überraschung, 
Unlust,  Unmut,  Unruhe,  Unter- 
werfung, Verabredung,  Verlegen- 
heit, Verneinung,  Vertraulichkeit, 
Verwunderung,  Verzeihung,  Ver- 
zweiflung, Wollust,  Wut,  Zärthch- 
keit,  Zank,  Zorn,  Zugeständnis, 
Zuneigung,  Zweifel. 

Sehen  s.  Blicken. 

Sehnsucht  (Epos)  180,  185,  188  f., 
193.  —  (Th.)  245. 

Semiramis  (Th.)  382. 

Seneca  277  ff.  —  (Hercules  furens) 
280  f.  —  (Medea)  280. 

Senecaillustration  279  ff. 

Sentimentahtät  des  15.  Jh.  166,  237. 

Serho,  S.  65,  274. 

Seufzen  (Bibel)  176.  —  (Epos)  184, 
193, 198,251,253.  — (Th.)  168,243. 

Shakespeare,  W.  510,  524. 

Sibylla  437  ff. 

Sichbücken    s.  Neigen. 

Sichniederwerfen   s.    Zubodenfallen. 

Sichsegnen  (Epos)  184,  191,  252.  — 
(Th.)  244,  248,  265,  434. 

Sichumsehen,  Nachsehen  (Bibel)  177. 

—  (Epos)  185,  193.  —  (Th.)  161, 
178.  —  (Theologie)  201. 

Siegfriedslied  460. 


Namen-  und  Sachregister, 


539 


Sinopis  (Th.)  393. 

Sippenbilder  238. 

Sitzen  in  Trauer  (BK.)  222.  —  (Epos) 
183.  —  (Th.)  47,  245,  248. 

Soardus,  L.  346,  349,  352. 

Souffleur  473. 

Spätgotische  Bildkunst  236  ff. 

Spätromanische  Bildkunst  225  f. 

Spanien  107  ff. 

Spanische  Tracht  129,  135. 

Spaziergangsgedichte  197. 

Specula  humanae  salvationis  213, 526. 

Speien  (Epos)  253.  —  (Th.)  245,  254, 
vgl.  176  (Anspeien,  Bibel). 

Speyer,  Regeln  für  Schulaufführungen 
in  259. 

Spielmännische  Epik  189,  191,  194  f. 

Spott  (Epos)  180,  184  f.,  192,  199.  — 
(Th.)  163,  172,  254,  262  ff. 

Statisten  58 f.,  100,  115,  150  f. 

Staunen  (BK.)  222  f.,  225,  230,  233, 
235,  271.  —  (Epos)  180,  193.  — 
(Th.)  248,  263  f. 

Steine  (Th.)  81  f.,  400. 

Sterben  (Epos)  157  f.  —  (Th.)  152  ff., 
156,  159. 

Stern  bei  Christi  Geburt  437  ff. 

Stichreim  95. 

Stimmer,  T.  426,  444,  500. 

Stimmnuancen  (Epos)  184,  193,  199, 
251  f.  —  (NTE.)  206.  —  (Th.)  154  f., 
161,  169,  173  f.,  177,  218,  262,  266. 
—  S.  auch  Fröhhch  sprechen, 
Hilferuf,  Kläglich  sprechen,  Lachen, 
Murmeln,  Schreien,  Seufzen,  Trau- 
rig sprechen,  Protzig  sprechen, 
Weinen,  Zornig  sprechen. 

Stoßen  (Th.)  254. 

Straßburg  (Buchdruck)  456  ff.  — 
(Holzschnitt)  362  f.,  500.  —  (Pla- 
stik) 231.  —  (Th.)  120. 

Straßburger  Terenz  299  f.,  318  ff., 
334,  352,  354,  361,  513. 

Streit  (Th.)  264. 

Stumpf,  J.  455,  463  f. 

Sturm,  Job.  259,  261. 

Stymmelius,  Ch.  260. 

Sulpicius  Verulanus  295. 

Susanna  v.  J.  1534  77,  457. 

Susanna  (BK.  u.  Th.)  467. 

SyrUn,  J.,  d.  J.  237. 

Szenische       Bemerkungen       (Allge- 
meines) 28  ff.,    31,   49  ff.,  68,    79,' 
102ff.,  137ff.,  164,  176,  254,  257.! 


Tagzeiten  209. 

Teilnahme  (Th.)  248. 

Teil,  Lied  v.  459,  463  f. 

Teildrama  (Uri)  89,  458  f. 

Teppiche,  Teppichwirkerei  61  ff., 
392,  407,  525.  —  (Th.)  307,  514. 

Terence  des  Ducs  283  ff.,  294,  298, 
303,  334,  504,  51 2  f. 

Terenz  259f.,  277-364  passim, 
512  ff.  —  (Adelphi)  258,  324, 
328.  —  (Andria)  288,  290,  301  ff., 
316,  319,  324  f.,  328,  330,  335, 
341  f.,  362  f.  —  (Eunuchus)  257, 
289,  291  ff.,  303,  322,  324,  330, 
339  f.,  343,  346,  360  ff.  —  (Heau- 
tontimoroumenos)  328,  354.  — 
(Hecyra)  329,  354.  —  (Phormio) 
328,  354. 

Terenzaufführungen  290,  354. 

Terenzillustrationen  der  ottonischen 
Renaissance  284,  288,  294,  303, 
315,  318f.,  411,  514. 

Terenzillustrationen  des  15.  u.  16. 
Jh.  283  ff.,  422.  —  s.  auch  Ba- 
seler, Lyoner,  Straßburger,  Ulmer, 
Venetianer  Terenz,  Terence  des 
Ducs. 

Terenzkommentare  302  f.,  306,  351, 
355. 

Terenzübersetzungen  257,  292, 
343  ff. 

Teufel    132,    146,  406,   492  ff.,  508. 

Teufelskostüm  492  ff. 

Teufelsmasken  308,  495  ff. 

Theater:  und  Bildkunst  s.  Bildkunst. 
—  u.  Drama  s.  Drama.  —  u.  Epos 
254f.,  283.  —  u.  Liturgie  202 ff. — 
S.  auch  Alsfeld,  Antwerpen,  Basel, 
Bern,  Brügge,  Brüssel,  Cambrai, 
Dresden,  Eger,  Ferrara,  Flandern, 
Frankreich,  Frankfurt,  Gent,  Jesu- 
itentheater, Lille,  Lübeck,  Luzern, 
Metz,  Nürnberg,  Österreich,  Puls- 
nitz,  Rom,  Ronen,  Schultheater, 
Straßburg,  Tirol,  Zürich. 

Theaterabbildungen  274,  500. 

Theaterdiener  92  ff.,  100  f.,    520. 

Theatergarderobe  116,  127,  509, 
515. 

Theatergeschichte,  antike  9  f. 

Theatergesctiichte,  Methode  der  3  ff. 

Theaterkostüm  s.  Tracht. 


540 


Namen-  und  Sachregister. 


Theaterkunst  3  f.,  8. 

Theatrum  280  ff.,  284ff.,  286,  303f., 
306,  309 f.,  310 ff.,  318 ff.,  347 f., 
362  f.,  503. 

Theodosius  (Th.)  384. 

Theologie  201  ff. 

Thevenot  Maler  63. 

Tiere  auf  der  Bühne  84  ff.,  400. 

Tiergesichter  am  Körper  497. 

Tiermimik  s.  Mimik. 

Tiroler  Mariälichtmeßspiel  115. 

Tiroler    Passionsspiele    159  f.,  243  f. 

Tobias  (Th.)  375,  382,  490,  492. 

Todesangst  (Th.)  169. 

Tomyris  (Th.)   382. 

Tortellius,  J.  306,  309. 

Tote  (Th.)  58,  98  ff. 

Totenklage  (Epos)  180,  182,  188, 
194 f.,  208,  237ff..  246.  —  (NTE.) 
208 f.  —  (Th.)  242 f.,  246. 

Totentanz  370. 

Tracht  (Basel)  433.  —  (Zürich)  417, 
419.  —  (BK.)  358 f.,  405.  —  (Th.) 
43,  92,  102  ff.,  401  ff,  412,  419, 
433,  468  ff.,  473 f.,  482  ff.,  505, 
508  f.,  515 ff.,  521.  —  S.  auch  An- 
tike Tracht,  Aposteltracht,  Attri- 
bute, Braguettes,  Christuskostüm, 
Drachenkostüm,  Hennin,  Hof- 
trachten, Könige,  Leibkleider,  Mas- 
ken, Moden,  Patriarchentracht, 
Prophetentracht,  Schuhe,  Spa- 
nische Tracht,  Trachtenbücher, 
Trachtengeschichte,  Türkische 
Tracht,  Teufelskostüm,  Unterklei- 
dung, Wilde  Männer. 

Trachtenbücher  104  ff.,    525. 

Trachtengeschichte  (Prinzipielles) 
105  ff.,  356 ff.,  401  f. 

Trägheit  (Th.)  263. 

Trajanus  (Th.)  384. 

Trauer  (Bibel)  177.  —  (BK.)  222  f., 
229ff.,  237,  239.  —  (Epos)  183f., 
188,  195.  —  (Th.)  162,  166  f., 
170  ff.,  242,  244,  263  f.,  523.  — 
s,  auch  Jammer,  Kummer,  Sitzen 
in  Schmerz,  Totenklagen. 

Traurig  sprechen  (Th.)  170 f. 

Trechsel,  J.  300  ff. 

Treveth,  N.  279  ff.,  286 f. 

Treue  (Th.)  263. 

Trierer  Marienklage  243. 

Tristan  und  Isolde,  Prosa  196. 

Trithemius,  J.  300  f.,  337. 


trionfi  372. 

Triumphbogen  380. 

Troia  (Th.)  388. 

Trotz  (Th.)  162f.,  171  f.,  174. 

Trotzig  sprechen  (Th.)  170  f. 

Trunkenheit    (Epos)    158,    199.    — 

(Th.)  156  f.,  265. 
Tubal  (Th.)  381,  384. 
Tücke  (Epos)  193.  —  (Th.)  245. 
Tür  auf  der  Bühne  69  ff.,  419. 
Türkische  Tracht  129. 
Türzuschlagen  (Th.)  254. 
Turniere  128,  149  ff. 
Typologie  in  der  Malerei  212,  215  f. 

U 

Überraschung  (BK.)  238.  —  (Epos) 
189. 

Ulm  292  ff.,  339,  344. 

Ulmer  Terenz  (Eunuchus)  292ff., 
318,  322  ff.,  337  ff.,  360  f.,  363. 

Umarmen  (BK.)  222,  229.  —  (Epos) 
184,  190,  197,  200,  252.  —  (Lit- 
urgie) 203. 

Umkleiden  (Th.)  23  f.,  43,  131. 

Unlust  (Th.)  170,  254. 

Unmut  (Epos)  189,  252.  —  (Th.)  262. 

Unruhe  (Epos)  183,  186,  189.  — 
(NTE.)  208  f. 

Unser  Frauen  Klage  242. 

Unterkleidung  (Th.)  131. 

Unterwerfung  (BK.)  222.  —  (Epos) 
190  f. 

Unwille  s.  Unmut. 

Urbino  297. 


Venedig   353,  372.  —  (Holzschnitt) 

349  ff. 
Venetianer    Terenz    346,    355,   411. 
Verabredung  (Th.)  248. 
Verard  A.  354. 
Verehrung  s.  Ehrerbietung. 
Vergil  345,  362. 
Vergilillustration  283,  291. 
Vergleichende  Künstegeschichte  179, 

240. 
Verlegenheit    (BK.)    231.  —    (Epos) 

185,  193  f.,  253.  —  (Th.)  249. 
Verneinung  (Th.)  262. 
Versicherung  (Th.)  262  f. 
Vertooning  371. 
Vertraulichkeit  (Th.)  254. 


Namen-  und  Sachregister. 


541 


Verwunderung  (BK.)  223.  —  (Epos)  1 
191. 

Verzeihung  (Epos)  184.  —  (Th.)  162. 

Verzweiflung  (Bibel)    177.  —  (BK.)  \ 
221,    230.    —    (Epos)    189,    195, 
252.  —  (Th.)  163,  167,  169,  247, 
255,  264,  410,  434. 

Vesperbilder  228,  233,  239. 

Vico,  E.  108. 

Vincentius,  P.  260. 

Virdung,  M.  439. 

Vitruvius  295,  306,  309,  314. 

Vita  beatae  Virginis  208. 

Vita  Terentii  286  f. 

Vitry,  Ph.  de  283. 

Vocabularius  breviloquus  287. 

Voellius,  J.  267. 

Volkskundliches  47,  104  ff.,  364 ff.; 
s.  auch  Feste,  Feuerwerk,  Fürsten- 
einzüge, Gebärden,  Glücksrad, 
Histriones,  Holzschnitzereien,  Jo- 
culatores,  Kunstbüchlein,  Lötschtal, 
Masken,  Narr,  Publikum,  Schem- 
bartbücher, Teppiche,  Teufel, 
Tracht,  Trachtenbücher,  Triumph- 
bogen, Volkslied,  Wachsplastik, 
Wilde  Männer. 

Volkshed  67,  163. 

Vorauer  Handschrift  (Leben  Jesu) 
206. 

Vorhang  (Th.)  57  ff.,  307,  315,  378, 
512  f. 

Vos,  M.  de  390. 

W 

Wachsplastik  82. 

Wächterszene  (Th.)  244. 

WächtUn,  J.  346,  480. 

Wagner,  Gregor  261. 

Wahnsinn  (Th.)  156. 

Waldis,  B.  526. 

Walter  von  Rheinau  209. 

Walter  von  der  Vogelweide  208. 

Wange  in  der  Hand  s.  Hand. 

Wechselburg  226. 

Weiditz,  Ch.  109. 

Weiditz,  Hans  109. 

Weinen  (Bibel)  176.  —  (BK.)  219, 
231,  235,  239.  —  (NTE.)  206, 
208.  —  (Predigt  u.  dgl.)  202.  — 
(Th.)  167, 170,172  f.,  177,  242,  266. 

Weltz,  D.  259. 

Wernher  der  Gärtner  193. 

Weyden,  R.  van  der  390,  392,  398. 


Wickram,  J.   457  f.,   460,    465,   500. 
Wild,  S.  266,  524. 
Wilde  Männer  368,  406. 
Wilhelm  von  Österreich  195. 
Wilhelm  Teil-Spiel  s.  TeUdrama. 
Willich,  J.  255,  259  ff. 
Winken  (Th.)  243. 
Wittenweiler,  H.  197  f. 
Wolfdietrich,  großer  195. 
Wolfenbüttler  Marienklage  243. 
Wolfenbüttler  Sündenfall  85. 
Wolfram    von    Eschenbach    186  ff., 

191,  194,  252,  526. 
Wollust  (Th.)  263. 
Wouveringen,  A.  van  378. 
Wut  (BK.)  224,  226,   229,    235.    — 

(Epos)  185,  190,  194,  197,    252  f. 
-  (Th.)  245. 


Zähne,  mimische  Verwendung  (Epos) 
192,  252  f.  —  (Th.)  264. 

Zärtlichkeit  (BK.)  230,  233,  238  f. 
—  (Epos)  188,  191,  198. 

Zank  (Th.)  264. 

Zehn  Alter  s.  Lebensalter. 

Zeigen  s.  hinweisen. 

Zenturio  nach  Christi  Tod  (BK.  u. 
Th.)  241. 

Zeremonialebärde  (Epos)  180,  182  ff., 
186,  189,  191,  196  f.,  199,  225, 
228,  230.  —  (Th.)  161  f.,  266, 
523.  —  S.  auch  Gruß,  Neigen, 
Niederfallen. 

Zeroplastik  s.  Wachsplastik. 

Zirkelbrüder,  Lübecker  387. 

Zittern  (Bibel)  177.  —  (Epos)  190, 
199.  —   (Th.)  244. 

Zorn  (BK.)  230  f.,  238.  ~  (Epos) 
180,  183,  188  f.,  191  ff.,  195, 
198 f.,  251  f.  —  (Th.)  162,  170ff., 
244,  263  ff. 

Zornig  sprechen  (Th.)  170  f. 

Zürich  (BK.)  412  f.,  455,  464.  — 
(Drama)  455.  —  (Kostüme)  417, 
419.  —  (Münsterhof  als  Spiel- 
platz) 463  ff.,  478,  481  f. 

Zugeständnis  (Th.)  263, 

Zuneigung  (Th.)  162  f.,  166. 

Zuschauerraum  18ff.,  21,  31,  41, 
285,  310  f.,  321,  334  f.,  348,  513. 
—  S.  auch  Publikum,    Theatrum. 

Zw^eifel  (BK.)  230.  —  (Th.)  262. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (August  Pries),  Leipzig. 
Cliches  von  Meisenbach,  Riffarth  &  Co.,  Berlin-Scliöneberj 


/ 

PN  Herrmann,   I4ax 

264.7  Forschungen  zur  deutschen 

HA  Theater-geschichte  des  Mit- 

telalters und  der  Renaissance 


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